Die nationalsozialistische „Programmatik“ ist nicht identisch mit dem Parteiprogramm der NSDAP, das zugleich mit der Umbenennung aus DAP (Deutsche Arbeiterpartei) in NSDAP als „25-Punkte-Programm“ im Februar 1920 verkündet und im Mai 1926 für unabänderlich erklärt wurde [14]. Über das Parteiprogramm hinaus wird in Mein Kampf die Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung, das Verhältnis zu den Klassen der Gesellschaft und die für das Verständnis des 3. Reichs besonders wichtige außenpolitische Orientierung entwickelt. Außerdem gibt es einige Differenzen, über die noch zu sprechen sein wird.
1. Die Weltgeschichte als Rassenkampf
Der Nationalsozialismus wurde von einem entschiedenen Fortschritts- und Entwicklungsdenken beherrscht, das sich auf sozialdarwinistische Überzeugungen gründete. Die Natur „setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu“, schrieb Adolf Hitler in Mein Kampf. „Der Stärkste an Mut und Fleiß erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen.“ [15]
1859 hatte der englische Naturforscher und Biologe Charles Darwin sein Werk über die Pflanzen- und Tierwelt „Vom Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl“ (1859) veröffentlicht. Damit war zum erstenmal auf dem Gebiet der Biologie das bis dahin vorherrschende Denken vom Kreislauf der Natur und der dauernden Wiederkehr des Gleichen durch den Gedanken der Entwicklung durchbrochen worden. Die „natürliche“ Herkunft des Menschen, aber auch eine von Darwin selber vorgenommene Vereinseitigung seiner Lehre auf den „Kampf ums Dasein“ legte es nahe, den Grundsatz vom „survival of the fittest“ auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen [16]. Denn wenn in der Natur das Gesetz der Auslese der Besten im Kampf um den „Platz an der Sonne“ galt, warum sollte dasselbe Gesetz nicht auch für die Menschheit gelten? Mithilfe der Biologie und speziell der Vererbungslehre konnte die Verbreitung und Vererbung bestimmter Merkmale wie der Haut- und Augenfarbe erklärt werden. Musste sich dann nicht die ganze Unterschiedlichkeit der Individuen wie der Völker aus rassischen Eigenschaften begründen? Mit dem Fortschritt der Wissenschaften im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Rassenkunde bzw. Rassentheorie in den verschiedensten Spielarten. Der Analogieschluss, der den Darwinschen Lehren volle Gültigkeit auch für die gesellschaftliche Entwicklung zusprach, war weit verbreitet. „Die Übertragung der Darwinschen Prinzipien auf die Gesellschaft machte den Sozialdarwinismus zu einer mächtigen geistig-politischen Grundströmung in Europa und Nordamerika. (…) Bei dem rapide steigenden Prestige, das den Naturwissenschaften in der Industrialisierung zufiel und sie geradezu zur modernen Ersatzreligion stilisierte, gewann die naturwissenschaftliche Begründung des Rassismus durch die Biologie zusätzliches Gewicht.“ [17]
Hand in Hand damit gingen Degenerationsängste und Züchtungsutopien. Durch die ungehinderte Vermehrung von erbkranken, womöglich geistesschwachen Menschen wurde einerseits eine biologische Katastrophe befürchtet, aber andererseits bot die Biologie auch Chancen. Denn warum sollten die Erfolge der Pflanzen- und Tierzüchtung sich beim Menschen nicht wiederholen lassen? Konnte so nicht der „neue Mensch“ geschaffen werden? Der Nationalsozialismus verlangte daher: „Der völkischen Weltanschauung muss es im völkischen Staat endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst“. [18] Führende Nationalsozialisten wie Himmler und Darré gehörten als studierte Agronomen (Himmler war Hühnerzüchter) zu den begeistertsten Anhängern des Züchtungsgedankens.
Wie selbstverständlich die biologische Erklärung sozialer Phänomene war, zeigt sich nicht zuletzt in der Arbeiterbewegung. Das asoziale Verhalten des Lumpenproletariats und der Gewohnheitsverbrecher wurde weithin auf angeborene Eigenschaften, d. h. minderwertiges Erbgut zurückgeführt [19]. Darum war es kein einmaliger Ausrutscher, sondern die Konsequenz weitverbreiteter, scheinbar durch die biologische Wissenschaft gestützter Überzeugungen, als die sozialdemokratische Fraktion im Februar 1931 in einem Antrag im Reichstag forderte, die freiwillige Sterilisierung von gefährlichen Gewohnheitsverbrechern wegen deren schlechter Erbanlagen einzuführen. Das Denken in Klassenkategorien blieb in der Arbeiterbewegung diesem sozialen Biologismus gegenüber allerdings nach wie vor übergeordnet.
Umgekehrt war es beim Nationalsozialismus. Er begriff die Weltgeschichte als Jahrtausende alten Kampf der Rassen. „Alles weltgeschichtliche Geschehen ist aber nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne.“ [20] Auf der Basis des Sozialdarwinismus schien die Einteilung der Menschheit in Rassen ein neues Deutungsmuster von scheinbar großer Erklärungskraft zu liefern. Die „farbigen“ Völker zeigten sich auf der ganzen Welt den „Weißen“ unterlegen, waren kolonisiert oder abhängig und technisch hoffnungslos zurückgeblieben. Bei den Weißen wiederum standen die „nordischen“ Völker an der Spitze. Großbritannien war die weltumspannende Seemacht, Deutschland führend in Wissenschaft und Kultur und die Vereinigten Staaten von Amerika in der Entwicklung der Technik. Fügte man hinzu, dass England von germanischen Angeln und Sachsen besiedelt war, die USA ebenfalls eine angelsächsische Nation mit einem starken deutschen Einwanderungsanteil waren, die Zwischenstellung Frankreichs mit dem Einfluss der germanischen Franken im Norden einerseits, den rassisch minderwertigen Südfranzosen andererseits erklärt werden konnte, so lag der Schluss nahe, dass die „nordischen“ Menschen die führende Rasse waren.
Dafür gab es historische Gründe, die in der Tat mit der germanischen Vergangenheit zu tun hatten. Aus dem siegreichen Zusammenprall der barbarischen Germanen mit dem römischen Weltreich vor anderthalb Jahrtausenden war die spezifische Gesellschaftsformation des (west-)europäischen Feudalismus hervorgegangen, die ihrerseits die Voraussetzung für die Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus bildete. Die germanischen Völker waren also die ersten, die den ewigen Geschichtskreislauf der früheren Gesellschaftsformationen durchbrachen und eine Dynamik in der Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte entfesselten, die das Antlitz der Erde im Lauf weniger Jahrhunderte von Grund auf umgestaltete. Darum lag es nahe, nicht in den historischen Bedingungen ihrer Existenz, sondern in ihren rassischen Eigenschaften die Ursache für die Überlegenheit der „nordischen“ Völker zu sehen.
Die Abstufung der Rassen
Die überragenden Gegner im Rassenkampf waren der Jude und der Arier, der vom Nationalsozialismus mehr oder weniger gleichgesetzt wurde mit dem „nordischen“ Menschen bzw. dem „Germanen“; dazwischen standen die anderen Rassen. Der Arier war der Schöpfer der Kultur, und „Kultur“ meinte den menschlichen Fortschritt insgesamt. Andere Rassen wie z. B. die Japaner konnten die vom Arier geschaffene Wissenschaft und Technik zwar anwenden, aber nicht schöpferisch weiterentwickeln. Wenn die arische Einwirkung aus Europa und Amerika aufhörte, würde das asiatische Inselreich nach wenigen Jahrzehnten wieder erstarren. Die Arier dagegen waren die einzige schöpferisch begabte Rasse. „Menschliche Kultur und Zivilisation sind auf diesem Erdteil unzertrennlich gebunden an das Vorhandensein des Ariers. Sein Aussterben oder Untergehen wird auf diesen Erdball wieder die dunklen Schleier einer kulturlosen Zeit senken.“ [21]
Nicht die Intelligenz als solche, sondern Intelligenz in Verbindung mit Opferwillen für die Gemeinschaft machte den Arier zum Kulturschöpfer. „Der Arier ist nicht in seinen geistigen Eigenschaften an sich am größten, sondern im Ausmaße der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Der Selbsterhaltungstrieb hat bei ihm die edelste Form erreicht, indem er das eigene Ich dem Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer bringt.“ [22] Der „Persönlichkeitswert“ des Einzelnen war von hervorragender Bedeutung, hatte sich aber im Dienst an der Gemeinschaft zu bewähren. Damit ergab sich aus den rassischen Eigenschaften eine Verhaltensweise, die im Nationalsozialismus eine zentrale Rolle spielte: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Das richtete sich gegen Liberalismus und bürgerliche Individualität und war gleichzeitig etwas anderes als die klassenbedingte Solidarität des Proletariats.
Die arische Rasse war zwar Schöpferin der Kultur, nahm dazu aber die Dienste minderwertiger Rassen in Anspruch, denn ohne die „Möglichkeit der Verwendung niederer Menschen hätte der Arier niemals die ersten Schritte zu seiner späteren Kultur zu machen vermocht“. Damit „war der Weg, den der Arier zu gehen hatte, klar vorgezeichnet. Als Eroberer unterwarf er sich die niederen Menschen und regelte dann deren praktische Betätigung unter seinem Befehl, nach seinem Wollen und für seine Ziele.“ Diese Rassenordnung beizubehalten, war Grundbedingung für die Fortentwicklung. „Solange er den Herrenstandpunkt rücksichtslos aufrechterhielt, blieb er nicht nur wirklich der Herr, sondern auch der Erhalter und Vermehrer der Kultur.“ [23] Auf diese Weise war den Unterworfenen sogar ein besseres Los als in der sogenannten Freiheit beschieden, weil sie von der höheren Kultur der Arier nur profitieren konnten. Leider hatte das Herrenvolk die Rassentrennung in der Vergangenheit immer nur wenige Generationen lang praktiziert, dann war es zur Rassenvermischung, dadurch zur Blutsverschlechterung und dann zum Abstieg der höheren Rasse gekommen. Um so wichtiger war es, dass der bislang nur mehr oder weniger unbewusst geführte Rassenkampf bewusst und gezielt geführt wurde.
Aufgabe einer „völkischen“ Politik war es, dieser Erkenntnis gemäß zu handeln. „Demgegenüber erkennt die völkische Weltanschauung die Bedeutung der Menschheit in deren rassischen Urelementen. Sie sieht im Staat prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und fasst als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf. Sie glaubt somit keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höheren und minderen Wert und fühlt sich durch diese Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen, das dieses Universum beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern, die Unterordnung des Schlechteren und Schwächeren zu verlangen.“ [24]
Auf der gegenüberliegenden Seite der Rassenskala stand das Weltjudentum. „Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude. Bei kaum einem Volke der Welt ist der Selbsterhaltungstrieb stärker entwickelt als beim sogenannten auserwählten.“ [25] Zwar könne man dem Juden intellektuelle Fähigkeiten nicht absprechen, aber die allerwesentlichste Voraussetzung der Kultur fehlte: die „idealistische Gesinnung“. Die Angehörigen niederer Völker waren zur Zurückstellung rein persönlicher Interessen nicht fähig und daher über die Bildung der Familie nicht hinaus gekommen; die Schaffung großer Gemeinwesen war ihnen unmöglich. Weil die höheren Instinkte wie die Opferbereitschaft für die Gemeinschaft bei ihm fehlten und die niederen Instinkte wie der tierische Selbsterhaltungstrieb bei ihm um so ausgeprägter waren, rief der Satz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ im Judentum nur Spott hervor.
Unfähig zur Staatsbildung und Kulturschöpfung, nährte der Jude sich von der Kultur anderer und nistete sich vorzugsweise in den von Ariern gegründeten Staaten ein. Gemäß den Gesetzen des Kampfes ums Dasein strebte er wie der Arier zur Weltherrschaft und steckte im wesentlichen hinter dem internationalen Börsen- und Finanzkapital, mit dessen Hilfe er sich die Arbeit anderer Völker aneignete und diese sich unterwarf.
Ein weiteres Instrument zur Erreichung der Weltherrschaft war der Marxismus. Er stellte sich Hitler als „der in Reinkultur gebrachte Versuch des Juden dar, auf allen Gebieten des menschlichen Lebens die überragende Rolle der Persönlichkeit auszuschalten“. [26] Besonders gefährlich war der Bolschewismus, der meist nur als „jüdischer“ Bolschewismus bezeichnet wurde. „Im russischen Bolschewismus haben wir den im zwanzigsten Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen“. [27] Finanzkapital und Marxismus standen nur scheinbar im Gegensatz zueinander. In Wirklichkeit waren beides sich ergänzende „internationalistische“ Instrumente des Judentums zur Zerstörung des Nationalstaats. Die überdurchschnittlich hohe Zahl von Juden sowohl im großen Bankgeschäft (Rothschild, Herstatt etc.) als auch unter den Führern der Arbeiterbewegung (Marx, Lasalle, Kautsky, Bernstein, Trotzki, Luxemburg) gab derartigen Auffassungen Nahrung.
Weil der Jude ein „Parasit am Körper anderer Nationen und Staaten“ war [28] und dabei seine Wirtsvölker vergiftete, war er im Unterschied zu anderen Völkern nicht für Hilfsdienste zu verwenden, sondern ab- und auszusondern. Noch am Tag vor seiner Selbsttötung, am 29. April 1945, gab Hitler in seinem „politischen Testament“ als sein Vermächtnis an die Nachwelt: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“
Ein vorkapitalistischer Standpunkt
Die Darstellung des Werdegangs des Judentums in „Mein Kampf“ enthüllt den historisch-ökonomischen Kern des nationalsozialistischen Antisemitismus. Mit dem Entstehen der ersten festen Siedlungen nach der Völkerwanderung lässt Hitler den Juden „plötzlich ‚da'“ sein, und zwar als Händler, um sodann fortzufahren: „Allmählich beginnt er sich langsam in der Wirtschaft zu betätigen, nicht als Produzent, sondern ausschließlich als Zwischenglied. In seiner tausendjährigen händlerischen Gewandtheit ist er den noch unbeholfenen, besonders aber grenzenlos ehrlichen Ariern weit überlegen, so dass schon in kurzer Zeit der Handel sein Monopol zu werden droht.“ [29] Neben dem Handel wird das Geldgeschäft zum jüdischen Betätigungsfeld. Nachdem der Jude sich über Jahrhunderte hinweg immer tiefer eingenistet hat, ist er mit der Beherrschung des Waren- und Geldhandels unter den hergebrachten Verhältnissen nicht mehr zufrieden; er „wird auf einmal auch liberal und fängt an, vom notwendigen Fortschritt der Menschheit zu schwärmen. Langsam macht er sich so zum Wortführer einer neuen Zeit. Freilich zerstört er auch immer gründlicher die Grundlagen einer wahrhaft volksnützlichen Wirtschaft. Über den Umweg der Aktie schiebt er sich in den Kreislauf der nationalen Produktion ein, macht diese zum käuflichen, besser handelbaren Schacherobjekt und raubt damit den Betrieben die Grundlagen einer persönlichen Besitzerschaft. Damit erst tritt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jene innere Entfremdung ein, die zur späteren politischen Klassenspaltung hinüber leitet. Endlich aber wächst die jüdische Einflussnahme auf wirtschaftliche Belange über die Börse nun unheimlich schnell an. Er wird zum Besitzer oder doch zum Kontrolleur der nationalen Arbeitskraft.“ [30]
Hitler setzt sich mit der Stellung der Juden vom Standpunkt vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse auseinander. Auf dem Boden der Beschränktheit der einfachen Warenproduktion stellten sich die Angehörigen des jüdischen Handelsvolks, denen der Zugang zu Ackerbau und Handwerk durch Herkunft und Glauben verschlossen war, als etwas Fremdes dar. Durch die nichtkörperliche Tätigkeit, ihren nichtchristlichen Glauben und als Angehörige eines Volkes, das für den Tod Christi verantwortlich war, dazu meistens auch Geldverleiher und damit Wucherer, waren sie – und hielten sie sich – von der Masse der Bevölkerung getrennt und wurden in Krisenzeiten regelmäßig Opfer von Pogromen. Von diesem Standpunkt aus zeichnet er sie und macht sie zugleich verantwortlich für die Auflösung dieser Verhältnisse durch Entwicklung des Kapitals, für die Unterwerfung aller Beziehungen unter die Herrschaft des anonymen Werts und für die Herausbildung der modernen Klassen. Sein Gegenbild ist ökonomisch die „wahrhaft volksnützliche“ Wirtschaft der einfachen Warenproduktion und eine nicht in Klassen gespaltene Gesellschaft.
Entgegen den scheinbar unausrottbaren Vorurteilen der Marxisten war Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch keineswegs ein vollständig entwickelter bürgerlicher Staat, in dem der Klassenkampf auf den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat reduziert war. Die kapitalistische Produktionsweise hatte sich etabliert und bestimmte die große Produktion, aber neben ihr existierten weiterhin die überkommenen Produktionsverhältnisse der alten Agrargesellschaft, die sich in verschiedenen Stadien der Umwandlung und Zersetzung befand. Von den 32 Millionen Erwerbstätigen des Jahres 1925 waren zwischen 8 und 9 Millionen Industriearbeiter und ca. 9 Millionen Bauern; der Rest verteilte sich auf Landarbeiter, das Handwerk, den Handel, Bahn, Post etc. Die Bevölkerungsverteilung spiegelte die Übergangssituation wider. Einem Drittel der deutschen Bevölkerung, das in Großstädten wohnte, stand ein Drittel aus Dörfern und ländlichen Kleinstädten gegenüber, das restliche Drittel wohnte in Städten mittlerer Größenordnung.
Aus insgesamt fünf Klassen bzw. Schichten setzte sich die Gesellschaft zusammen: neben Bourgeoisie und Proletariat die städtischen Kleinbürger mit eigenen Produktionsmitteln, außerdem auf dem Land Bauern und Großgrundbesitzer. Dabei sind die Landarbeiter, deren Interessen (Wunsch nach eigenem Land) sich erheblich von denen des Industrieproletariats unterschieden, noch ebensowenig gezählt wie die neuen, lohnabhängigen Mittelschichten. Diese sozialen Kräfte kämpften gegen- und miteinander um Hegemonie und Macht.
Umbruch in Europa und Deutschland
Ganz Europa befand sich vom Ausgang des 18. bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in einer Zeit des Übergangs, der von Land zu Land unterschiedliche Formen annahm. Großbritannien, wo seit dem Ausgang des Mittelalters der selbständige Kleinbauer durch den kapitalistischen Pächter verdrängt worden war, blieb in dieser Zeit von bäuerlich-kleinbürgerlichen Massenbewegungen verschont. Anders war es in Kontinentaleuropa, wo entgegen der Marxschen Vorhersage über die Vorbildrolle Englands die alten Formen des Grundbesitzes (der selbstwirtschaftende Einzelbauer im Westen, patriarchalischer Großgrundbesitz und Gemeindebauern mit dörflichem Gesamteigentum an Boden im Osten) beim Vormarsch des Kapitals überdauerten. Hier waren in den bürgerlichen Revolutionen (Frankreich 1789, Deutschland 1848) Bauern und städtische Kleinbürger mit der Bourgeoisie gegen den Feudalismus gegangen und hatten zu den Kernschichten der Demokratie gehört. Im dem Maße, wie die bürgerliche Produktionsweise voranschritt und die hergebrachten Verhältnisse der kleinen Warenproduktion bedrohte, wandten sie sich von der Bourgeoisie ab. Auf dem Boden der Massendemokratie im Gefolge der französischen Revolution wurde hier seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer Vielzahl von Ländern der Antisemitismus zum Panier von nichtproletarischen Massenbewegungen. Insbesondere auf dem Land war die Abneigung gegen Juden verbreitet. „In ganz Europa wurden die Juden in der landwirtschaftlichen Krise der Jahrhundertwende zur Verkörperung für die verhasste Stadt, für die Entwurzelung und für die Modernität. In vielen ländlichen Gegenden waren die Juden als Viehhändler auch die Bankiers und standen so für Hypotheken und gerichtliche Enteignung.“ [31]
Friedrich Engels bezeichnete den Antisemitismus in einem Brief von Anfang 1890 als „Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur“. Nur dort, „wo noch keine starke Kapitalistenklasse existiert, also auch noch keine starke Lohnarbeiterklasse, wo das Kapital noch zu schwach ist, sich der gesamten nationalen Produktion zu bemächtigen und daher die Effektenbörse zum Hauptschauplatz seiner Tätigkeit hat, wo also die Produktion noch in den Händen von Bauern, Gutsherren, Handwerkern und ähnlichen aus dem Mittelalter überkommenen Klassen sich befindet – nur da ist das Kapital vorzugsweise jüdisch, und nur da gibt’s Antisemitismus. (…) Der Antisemitismus ist also nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel“. [32] Den agrarischen Kern seiner Judenfeindschaft benannte auch Hitler, indem er schrieb, dass die „Grundlage des arischen Lebenskampfes (…) der Boden (ist), der von ihm bebaut wird“, [33] und dem das nicht an die Scholle gebundene Judentum entgegensetzte.
Dabei war die aus dem Mittelalter tradierte Judenfeindschaft, die Engels anspricht, ursprünglich nicht rassisch begründet. Rassendenken war dem Mittelalter fremd. Die Juden waren als Händler und Nichtchristen, aber nicht als Angehörige einer bestimmten Rasse Pogromen ausgesetzt. Die kirchliche wie weltliche Judengesetzgebung bezog sich regelmäßig auf die Angehörigen des mosaischen Glaubens, nicht auf die Rassenherkunft. Wenn ein Jude zum christlichen Glauben übertrat, wurde er assimiliert, d. h. in die christliche Gesellschaft aufgenommen. Das begann sich mit dem Voranschreiten des Jahrhunderts zu ändern, als das Jude-Sein nicht länger auf den Glauben, sondern auf die Rasse bezogen wurde. „Mit den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umwälzungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Rassismus – zumindest in Teilbereichen – zu einer Oppositionsideologie, in der sich das Unbehagen an dem säkularen Modernisierungsprozess, der industriellen Revolution, dem demographischen Übergang, der Herausbildung marktbedingter Klassen, des modernen Interventionsstaats, der Verstädterung, der gesteigerten Mobilität, der Technisierung des Alltags usw. gegen Außenseiter wandte.“ [34]
Diese Volksbewegungen entwickelten sich in Abgrenzung zu der teils bereits organisierten, teils sich unter dem Banner des Marxismus soeben formierenden Arbeiterbewegung. Sie nahmen im Unterschied zur „internationalistischen“ Arbeiterbewegung einen ausgeprägt „nationalen“ Charakter an und traten für einen diffusen „Sozialismus“ ein, der in letzter Instanz die Egalität der kleinen Warenproduzenten widerspiegelte. „Diese verschiedenen nationalen sozialistischen Bewegungen wussten nichts voneinander. Jede war eine Reaktion auf eine besondere Situation. Der Umstand, dass diese Reaktionen sich so ähnlich waren, ist von Bedeutung, weil er Teil jenes in ganz Europa stattfindenden Suchens nach einer egalitären Gemeinschaft im Geiste der Nation war.“ [35]
Historisch war Frankreich der Vorreiter, wo die Dreyfus-Affaire nur die Spitze eines Eisbergs zeigte. In Algerien, wohin der Landhunger französische Bauernsiedler aus dem „überfüllten“ Frankreich trieb, wurde kurz vor der Jahrhundertwende ein Mann zum Bürgermeister von Algier gewählt, der die Franzosen dazu aufrief, „den Baum der Freiheit mit jüdischem Blut zu gießen“. Er stand an der Spitze einer rassistischen Massenbewegung. „Der Rassismus wurde mit der Demokratie verknüpft, und gerade diese Verbindung sollte die Zukunft des europäischen Rassismus im Wesentlichen bestimmen. Der nationale Sozialismus blieb nicht lediglich auf Frankreich beschränkt, wenn er auch in dieser Nation zuerst seine tiefsten Wurzeln schlug“. [36]
In Deutschland gehörte der Antisemitismus zum verbindenden ideologischen Rüstzeug im 1893 gegründeten Bund der Landwirte, der Massenorganisation der (protestantischen) Bauern unter Führung der preußischen Rittergutsbesitzer. Eine Organisation wie der von 1885 bis 1894 bestehende „Hessische Bauernbund“ unter Otto Böckel wollte dem Missbrauch des Kapitals ein Ende bereiten, ohne das Privateigentum abzuschaffen, versuchte, ‚judenfreie‘ Viehmärkte zu unterhalten, die Juden als Geldverleiher auszuschalten und eigene Banken zu gründen, die Geld ohne Zinsen verleihen sollten. Seine Propagandaredner zogen „mahnend, erklärend und Juden und Kapital verdammend von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt“. [37] Immerhin 11 Reichstagsabgeordnete kontrollierte dieser Bund zeitweise.
Aber auch in zurückgebliebenen Teilen der Arbeiterklasse gab es Antisemitismus. In Böhmen gründete sich 1904 eine deutsche Arbeiterpartei, die sich 1918 in Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei umbenannte und für starke Gewerkschaftsorganisationen sowie die Freiheit der Presse und der Versammlung eintrat – während sie gleichzeitig den Kampf gegen das „jüdische“ Kapital und die „jüdische“ Sozialdemokratie führte. [38]
Die Klassenkräfte, die zwischen den Weltkriegen agierten, hatten einen besonders weiten Spielraum. Die Novemberrevolution hatte die junkerliche Monarchie zu Fall gebracht, aber keine stabile bürgerliche Ordnung an ihre Stelle gesetzt. Sie war keine soziale und nur eine halbe politische Revolution gewesen. Die Eigentumsverhältnisse waren vollständig und der politische Überbau zur Hälfte unberührt geblieben. Weder war der adelige Großgrundbesitz enteignet noch die monopolistische Schwerindustrie verstaatlicht worden. Beides wäre noch innerhalb der Grenzen einer bürgerlichen Revolution möglich – und notwendig gewesen, um die sozialen Grundlagen der Hauptkräfte der Reaktion zu zerschlagen und die Republik auf feste Füße zu stellen. Statt dessen hatte die SPD die Republik mit den Junkern und der Schwerindustrie gemeinsam aus der Taufe gehoben. Zwar gab es nunmehr einen verantwortlichen Reichstag, aber die Reichswehr blieb als „Staat im Staat“ in den Händen der Junkerkaste, und im Beamtenapparat änderte sich nichts Entscheidendes.
Das Kleinbürgertum und die Bauern standen der Weimarer Republik daher von Anfang an ebenso fremd gegenüber wie der linke Flügel der Arbeiterklasse. Nur vorübergehend täuschten die ersten Reichstagswahlen darüber hinweg. Noch vor Einsetzen der Agrarkrise und der anschließenden Weltwirtschaftskrise zeigte die Wahl des junkerlichen Monarchisten Hindenburg zum Reichspräsidenten, wie schwach die bürgerliche Demokratie war. Seit dem Ausgang der 20er Jahre war die Republik parlamentarisch nicht mehr regierbar.
Die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse (Spartakus/KPD) hatte schon in der Novemberrevolution kein Programm gehabt, das die Arbeiterklasse als Hegemon einer Volksbewegung zur Führerin der anstehenden bürgerlichen Revolution machen konnte, um diese zur gegebenen Zeit in eine sozialistische Revolution hinüber zu führen. Daran änderte sich trotz aller zwischenzeitlichen Auseinandersetzungen nichts. Die kommunistische Arbeiterbewegung hatte keinen Weg zur Macht. Im Widerspruch zum Kapital gefangen, führte der Kampf „Klasse gegen Klasse“, den die KPD zu Beginn der 30er Jahre auf ihre Fahnen schrieb, im Gegenteil in die vollständige gesellschaftliche Isolation. [39] Im Unterschied dazu entwickelte der Nationalsozialismus ein Hegemoniekonzept, das ihm ermöglichte, durch die Eroberung der Massen zuerst an die Macht zu gelangen und sodann die Errichtung eines bäuerlich-kleinbürgerlichen germanischen Großstaats in Angriff zu nehmen.