Vorbemerkung: Die Debatte um den Faschismusbegriff

Nach dem 1. Weltkrieg und der Oktoberrevolution war weit über die Reihen der Kommunisten hinaus die Überzeugung verbreitet, dass das Zeitalter des liberalen Kapitalismus zu Ende sei. Die Konkurrenz schien vor dem Monopol zu kapitulieren und die liberale, bürgerliche Gesellschaft von Kommunismus oder Faschismus abgelöst zu werden. Russland und Italien, sodann Deutschland schienen der übrigen Welt auf dem Marsch in eine nichtbürgerliche Zukunft nur voranzugehen.

In der Tat offenbarte der 1. Weltkrieg in Europa das Zu-Ende-Gehen einer Epoche. Aber die Frage war, ob die Gesellschaft, die da in Krieg und Nachkriegswirren versank und erst nach einem weiteren Weltkrieg zu einem neuen Gleichgewicht fand, tatsächlich die bürgerliche des industriellen Kapitals war. Auf der anderen Seite des Atlantik, auf dem nordamerikanischen Halbkontinent, hatte sich das Kapital, nicht eingezwängt in überkommene Verhältnisse, von Anfang an in ganz anderem Maße entwickeln können. Von hier aus wirkte das alte Europa schon lange wie eine urtümliche Welt, trotz Einzugs der Industrie und der demokratischen Regierungsformen, die Länder wie Frankreich oder Großbritannien hatten.

Nach dem 2. Weltkrieg konnten kommunistische Parteien, abgeschirmt durch die sowjetische Armee, zwar im Osten Europas die Macht übernehmen, nicht hingegen in den entwickelteren Staaten des Westens. Die „Zwei-Lager-Theorie“ formulierte daraus die Gegenüberstellung eines sozialistischen Ostens und eines kapitalistischen Westens. Indem sie zur Grundlage ihres strategischen Denkens und Handelns wurde, zementierten die Kommunisten selber den Graben zwischen den Blöcken – und den Zusammenhalt der bürgerlichen Mächte. An die Stelle einer Politik der Ausnutzung der Widersprüche zwischen den westlichen Ländern trat der Rüstungswettlauf der Sowjetunion zur Erreichung der militärischen Parität.

Währenddessen begann der Marxismus seinen Siegeszug in der 3. Welt. Nicht nur in den Agrargesellschaften Asiens mit China an der Spitze, sondern auch in anderen Teilen der Welt sprengten antiimperialistische Umwälzungen unter Berufung auf den Marxismus den kolonialen oder halbkolonialen Status der abhängigen Länder auf und ging man in den verschiedensten Staaten daran, einen „arabischen“ oder „afrikanischen“ Sozialismus aufzubauen. Und auch dort, wo kein grundlegender Wandel stattfand, bedrohten linksrevolutionäre Bewegungen die alten Mächte.

Der Siegeszug der bürgerlichen Demokratie

Im Westen des europäischen Kontinents dagegen bedeutete die Niederlage des Faschismus den Siegeszug der parlamentarischen Demokratie. Zuletzt fiel der Faschismus in den 70er Jahren im Süden des Kontinents, in Spanien und Portugal, und wiederum war sein Erbe nicht der Sozialismus, sondern die bürgerlich-demokratische Ordnung. Zwar stürzte in Portugal eine „Nelkenrevolution“ sozialrevolutionär gesinnter Offiziere das Salazar-Regime, das im Kolonialkrieg um die Erhaltung der restlichen portugiesischen Afrikakolonien zugrunde ging, aber die revolutionäre Bewegung trug nicht weit. Es musste auch auffallen, welche Rolle die Agrarfrage spielte, die die Landarbeiterschaft des Alentejo gegen die vorzeitlich wirtschaftenden Großgrundbesitzer aufbegehren ließ.

In den westeuropäischen Kernstaaten des Kapitals führte die Jugend- und Studentenbewegung der ausgehenden 60er Jahre zur Wiedererstehung oder -erstarkung auch der kommunistischen Bewegung. Die Gesellschaft blieb aber weiterhin erstaunlich stabil, nicht zuletzt gestützt durch die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums, die Arbeiterklasse, die sich gegenüber allen revolutionären Parolen als resistent erwies. Dieser Widerspruch brachte zwei Flügelpositionen hervor. Die eine nahm unter der Parole „Die Dörfer kreisen die Städte ein“ Abschied vom Proletariat. Erst nach dem Sieg der Revolution in den „Weltdörfern“, sprich in den Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika, würde die Revolution auch in den Metropolen des Kapitals anstehen. In der Tradition dieser Trikontstrategie stehen heute in Deutschland die „Antiimperialisten“. Der andere Flügel versuchte, durch die Strategie einer „antimonopolistischen Demokratie“ im Bündnis mit bürgerlichen Schichten auf friedlichem Weg zum Sozialismus zu gelangen. Beiden Flügeln und den meisten der dazwischen stehenden Linken, die ml-Bewegung eingeschlossen, gemeinsam war die Auffassung von einer steten „Rechtsentwicklung“ der bürgerlichen Gesellschaft. Nur im Ausnahmefall wurde daraus eine formelle Theorie der „Faschisierung“ gemacht, aber im Kern lief die Auffassung von der „Rechtsentwicklung“ genau darauf hinaus, denn was konnte am logischen Ende einer Rechtsentwicklung anderes stehen als der Faschismus? Der Satz der kritischen Theorie „Kapitalismus führt zum Faschismus“ beherrschte, von wenigen Organisationen abgesehen, das Denken der Linken; er tut es bis heute.

Gepaart waren diese Strategien meist mit Vorstellungen von einer „allgemeinen Krise“ des Kapitals. Danach war die Stabilität der westlichen Gesellschaften nicht mehr als ein dünner Firnis, hinter dem die Krise von einer Stufe zur nächsten eilte, bis es zum Kladderadatsch kam, der das ganze Kartenhaus zusammenbrechen ließ und dem Kommunismus die Macht übertragen würde, es sei denn, faschistische oder kryptofaschistische Lösungen kämen dazwischen. In welcher Variante auch immer – die Überzeugung von Faschismus oder Sozialismus als den unausweichlichen Nachfolgern einer niedergehenden bürgerlichen Ordnung war das Credo der Mehrheit der Kommunisten und der Linken insgesamt.

Die Jahre 1979 und 1989 bedeuteten den Zusammenbruch der bestehenden Weltordnung, nicht aber der Weltanschauung der Linken. Wenige Jahre nach dem Triumph des vietnamesischen Befreiungskampfes siegte 1979 im Iran eine Revolution unter ganz anderem Kriegszeichen, dem des islamischen Fundamentalismus. Bis dahin hatten in den Agrarstaaten der 3. Welt bäuerliche Massen unter Führung kommunistischer Parteien die Hauptlast des Kampfes gegen den Imperialismus getragen und so die Strategie des Bündnisses von Arbeiterklasse und Bauernschaft in der revolutionären Praxis bestätigt. 1979 aber machten keine Bauern, sondern die mustafizim der iranischen Vorstädte, die „Armen und Entrechteten“ der vom Land entwurzelten Millionenmassen, die Revolution; ihre Führer waren keine Marxisten, sondern islamische Mullahs, und sie folgten nicht den Symbolen von Hammer und Sichel, sondern der grünen Fahne des Propheten.

Diese Massen wenden sich nicht mehr nur gegen den westlichen Imperialismus und seine Statthalter, sondern auch gegen den „Sozialismus“ arabischer und anderer Prägung, der sich als unfähig erwiesen hat, ihnen Arbeit, Brot und ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. Heute steht insbesondere Algerien vor der Herausforderung durch eine islamisch-revolutionäre Bewegung, die das korrupte Regime des arabischen Sozialismus erschüttert. Ihr Sieg droht eine Flutwelle auszulösen, die die umliegenden Staaten und am Ende auch den „Damm der Versöhnung“ hinweg reißen könnte, den Israel und die zur palästinensischen Honoratiorenvertretung gewordene PLO gegen die gemeinsame Bedrohung durch die islamische Revolution zu errichten versuchen.

Zehn Jahre nach dem Sturz des Schahs in Teheran machte eine unblutige Revolution in der DDR Schluss mit der Blockteilung Europas. Als die Arbeiterklasse der DDR 1989 die demokratischen Parolen der „Bürgerbewegung“ übernahm, aber mit der Parole „Wir sind ein Volk“ im Unterschied zu den Pfarrern, Künstlern und Intellektuellen auch für die dazugehörige bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik auf die Straße und dann an die Wahlurnen ging, brach zuerst der vorgeschobene Eckpfeiler des staatssozialistischen Lagers und anschließend die Zentralmacht zusammen.

Heute haben weder Faschismus noch Kommunismus eine staatliche Verkörperung mehr. Die bürgerliche Gesellschaft, zu Beginn des Jahrhunderts bereits totgesagt, steht an seinem Ausgang auf dem alten Kontinent als unangefochtene Siegerin da. Der Kampf gegen den Faschismus, für die Kommunisten jahrzehntelang Leitbild und identitätsstiftend, hat seinen Sinn verloren.

Die neuerliche Faschismuskontroverse

Im Angesicht dieser Entwicklung erweist sich die deutsche Linke noch im Untergang von einer denkwürdigen Zeitlosigkeit. Immer noch ist man sich über alle Lager hinweg einig im antifaschistischen Kampf „gegen rechts“. Nur an den Rändern ist eine Diskussion über die Neubewertung des Faschismus in Gang gekommen. Unter Berufung auf eine bürgerliche Forschungsrichtung um Rainer Zitelmann, die den Nationalsozialismus als totalitäre Modernisierungsdiktatur im Reifungsprozess der gegenwärtigen Gesellschaft deutet, betrachtet die um die Zeitschrift „Krisis“ gruppierte Strömung den deutschen Faschismus nicht länger als Zerfallsprodukt eines niedergehenden Kapitalismus, sondern als „Moment im Herausbildungsprozess der modernen Marktwirtschaftsdemokratie, als eines ihrer Vor- und Durchsetzungsstadien“. Nach dem wilhelminischen Kaiserreich soll der Nationalsozialismus die historisch „nächste Stufe des marktwirtschaftsdemokratischen Systemprozesses“ gebildet haben [1]. Nach dieser Auffassung war das Dritte Reich ein „Modernisierungsregime“ auf dem Weg des sich entwickelnden Kapitalismus, nicht anders als die untergegangene Sowjetunion, die gleichermaßen als Stufe in der Herausbildung des „warenproduzierenden Weltsystems“ begriffen wird.

Die historische Rückdatierung des Nationalsozialismus hält die „Krisis“ nicht davon ab, mindestens ebenso entschieden wie die restliche Linke gegen die heutige „Rechtsentwicklung“ zu sein, mit der folgenden Begründung: Früher war die „Marktwirtschaftsdemokratie“ eine fortschrittliche Alternative zum barbarischen Nationalsozialismus. Diese Zeiten sind vorbei, weil der Faschismus geschichtlich überholt und die „Marktwirtschaftsdemokratie“ zur alleinigen Herrschaftsform des Kapitals geworden ist. Aber nunmehr wird diese Demokratie als solche barbarisch. „Mord, Terror, Wahnsinn, Rassismus und zähnefletschende Irrationalität“ [2] werden Wesensmerkmale der bürgerlichen Ordnung. Es gibt keinen Ausweg aus der Barbarei mehr, es sei denn, die „Herrschaft des Werts“ wird gestürzt. Auf diese Weise wird die frühere Alternative „Sozialismus oder Barbarei“, die als „Kommunismus oder Faschismus“ für ihre Zeit kritisiert wird, für die Gegenwart als wurzelhafte Neuerkenntnis aus dem Grab geholt.

Nur ist nicht länger das Proletariat Trägerin des gesellschaftlichen Umsturzes. Es hat „seine Chance gehabt“ – und verspielt. Die Arbeiterklasse wird heute im Gegenteil dem Lager der offenen Reaktion zugerechnet, weil sie einem „altproletarischen Rechtsradikalismus“ huldigt – gemeint ist die Ablehnung von offenen Grenzen für alle Zuwanderer sowie die Stimmabgabe für die Partei der Republikaner. Statt dessen propagiert man die „neue Klasse“ aus Jobbern, alternativen Kleinunternehmern, Arbeitslosengeld-Beziehern und Bafög-Empfängern, die den Kampf gegen die „Wertherrschaft“ aufnehmen und den sonst drohenden Verfall in Rassismus und Mordbrennerei verhindern sollen. Von diesen Bezügen abgesehen, die die „Krisis“ zu einem unverkennbaren Bestandteil der Linken machen, handelt es sich bei der Auffassung vom Faschismus als einem historisch vergangenen und nicht wiederholbaren Stadium um eine – für die Linke – neue Interpretation.

Die Gegenposition zum „modernisierenden“ Nationalsozialismus wurde in den Aufsätzen zur Diskussion (AzD) bereits einige Jahre zuvor vertreten: Anknüpfend u. a. an die Historiker H. A. Winkler und H. A. Turner sah Frank Grabow die „Grundelemente nationalsozialistischer Politik und Programmatik (…) von den agrarischen Dogmen und Wünschen der Bauern diktiert“, fasste die SS als „Prätorianergarde der Bauernklasse“ auf [3] und erklärte die Reagrarisierung der deutschen Gesellschaft zum eigentlichen Ziel des Nationalsozialismus [4].

Diese Positionen verschieben die Schlachtordnung in der Faschismusfrage vollständig. Bislang begriff die kommunistische wie die nichtkommunistische Linke den Faschismus über alle Differenzen hinweg als Produkt des niedergehenden Kapitalismus und folgerichtig als Herrschaftsform, die in jeder Krise wieder aktuell werden kann, wenngleich nicht unbedingt in derselben Art wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Jetzt treten sich zwei Positionen gegenüber, die den Faschismus in Deutschland gemeinsam der Zeit des aufstrebenden Kapitalismus zuordnen. Auf dieser Basis wird er das eine Mal als vorwärtsgerichtete Modernisierungsdiktatur und das andere Mal als Versuch einer Rückkehr in die agrarische Vergangenheit bewertet. Beide Male hält man ihn aber für historisch abgeschlossen.

In den AzD wurde die Diskussion seinerzeit nicht fortgesetzt, u. a. weil der Urheber der Reagrarisierungsthese sich aus dem Trägerkreis der AzD verabschiedete und bald gänzlich aufhörte zu publizieren. Erst vor einigen Monaten ist Klaus Lehmann in den AzD 58 und 59 auf die zugrundeliegende Fragestellung zurückgekommen. Er hält es für absurd, dem Nationalsozialismus ein bäuerlich-rückwärtsgewandtes Wesen zu unterstellen, und ordnet ihn im Gegenteil einer Modernisierungspolitik zu. Seiner Auffassung nach war das maßgebliche Ziel des NS-Regimes „der mit ‚totalitären‘ und terroristischen Mitteln vorangetriebene Aufbruch des in der Geschichte ‚zu spät gekommenen Deutschland‘ in die Modernisierung“ [5]. Mit dieser Einschätzung als „Modernisierungsdiktatur“ gesellt er sich an die Seite von Kurz (den er nicht zitiert, vielleicht auch nicht kennt) und Zitelmann (den er seitenweise zitiert).

Die These vom „modernen“ Nationalsozialismus versucht Lehmann, klassenmäßig zu untermauern. Bisher verwiesen nicht nur die Zeitgenossen des Nationalsozialismus, sondern auch spätere Forschungen regelmäßig auf dessen Verbindung mit den alten Mittelklassen, d. h. mit den selbständigen, über einige Produktionsmittel verfügenden Kleinbürgern in Stadt und Land (Handwerker, Kleinhändler, Bauern). Demgegenüber hat Lehmann als entscheidende Träger des NS die modernen städtischen Mittelschichten ausgemacht, also die mit der Industrialisierung emporgestiegenen, nichtproletarischen Teile der Gesellschaft, die über keine eigenen Produktionsmittel verfügen. Für ihn steht „der durch die Mittelschichten geprägte soziale Charakter des nationalsozialistischen Staates, seiner Kriegs- und Großraumplanungen“ außer Frage. Der Nationalsozialismus stelle „im Kern (…) die spezifisch ‚deutsch‘ (völkisch/rassistisch) geprägte soziale und nationale Aufstiegsbewegung“ der modernen Mittelklassen dar. Ihr Vertreter sei Hitler gewesen, „dessen Politik aber die aufstrebenden Mittelklassen nicht nur in die Armee- und Staatsführung integrierte, sondern sie ans Ruder des Staates brachte.“ Waren also die neuen Mittelschichten die herrschende Klasse im Dritten Reich?

An anderer Stelle schreibt er, dass der Nationalsozialismus seit der Niederschlagung der SA im Jahr 1934 „ein gut funktionierendes Interessenbündnis zwischen Bourgeoisie und neuen städtischen Mittelklassen“ verkörperte. Das hört sich so an, als ob die Mittelschichten ab 1934 die Macht mit der Bourgeoisie teilten. Mit diesen Widersprüchen wollen wir uns indes nicht länger aufhalten.

Als wichtigsten empirischen Beleg für seine Theorie führt Lehmann die soziale Zusammensetzung der NS-Führung und insbesondere des SS-Führerkorps an. Weil nicht die Bauern, sondern die „städtischen Mittelschichtler (…) den tonangebenden, sozialen Kern der SS“ bildeten, könne es sich bei der SS nicht um die „Prätorianergarde der Bauernklasse“ gehandelt haben, sondern um die Herrschaftsorganisation der modernen Mittelschichten [6]. Aus der sozialen Herkunft des Führungspersonals auf das Klassenwesen einer Massenbewegung zu schließen, ist sicherlich kühn. Mit dieser Beweisführung lässt sich seit bald zweihundert Jahren die Herrschaft der gebildeten Mittelschichten behaupten. Davon abgesehen ist die aufgestellte Theorie in sich selber logisch. Das alte Kleinbürgertum ist schwerlich als sozialer Träger der Modernisierung vorstellbar, die von Zitel- wie Lehmann und Kurz als das Hauptmerkmal des Nationalsozialismus angesehen wird.

Von seinem Ausgangspunkt aus bewertet K. Lehmann auch den 2. Weltkrieg seit dem Überfall auf die Sowjetunion prinzipiell anders als F. Grabow, nämlich nicht als völkischen Vernichtungskrieg zwecks Ansiedlung germanischer Wehrbauern im Osten, sondern als einen normalen Krieg mit dem Ziel, ein „agrarisches Anhängsel“, eine „Rohstoffquelle“ und einen „Absatzmarkt“ für Deutschland zu erobern [7]. Darum meint er im Anschluss an Zitelmann: „Der Griff nach dem agrarischen Hinterland ist kein Ausdruck rückwärtsgewandter Bauernromantik, sondern des vorwärtsgewandten Bestrebens, das wirtschaftliche Entwicklungsniveau der USA zu erlangen bzw. zu überholen.“ [8] Wieso ein hohes wirtschaftliches Entwicklungsniveau ein ausgedehntes „agrarisches Hinterland“ voraussetzt und der Griff danach „vorwärtsgewandt“ sein soll – auch dieses Geheimnis wollen wir hier ungelüftet sein lassen und uns statt dessen weiteren Gemeinsamkeiten zwischen Lehmann, Kurz und Zitelmann zuwenden.

Die Ausrottung des europäischen Judentums erwähnt Lehmann nicht. Da ihm nicht zu unterstellen ist, dass er sie der „Modernisierung“ zuordnet, kann sie vom Boden seiner Theorie aus nur als irrational erklärt werden. Ähnlich verfahren auch Zitelmann und Kurz. Sie haben keine Erklärung für den systematischen Völkermord und speisen den Leser mit allgemeinen Redensarten über „Barbarei“ und „verbrecherische Komponenten“ der NS-Herrschaft ab. Das ist natürlich unbefriedigend.

Zur Widersprüchlichkeit des Nationalsozialismus

In Widerspruch zu seiner „modernistischen“ Interpretation sieht Lehmann lediglich die von der NS-Führung propagierte „germanische Demokratie“. Er betrachtet den bürgerlichen Parlamentarismus als die der kapitalistischen Moderne adäquate Herrschaftsform, weil sich darin die formale Gleichheit aller Warenbesitzer – der von Produktionsmitteln wie von Arbeitskraft – widerspiegelt. Darum kann er die nationalsozialistischen Versuche, „das Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter als Warenbesitzer in ein Gefolgschaftsverhältnis nach vorkapitalistischen Vorbildern einzuzwängen“, im Unterschied zu anderen Seiten des Dritten Reichs nicht als fortschrittlich ansehen. Hier walte vielmehr „der grundsätzliche innere Widerspruch des Nationalsozialismus in Hinblick auf die ‚Moderne‘, der bislang weder in der marxistischen noch in der bürgerlichen Faschismusforschung deutlich genug herausgearbeitet worden ist„. [9]

Damit sind wir um nichts klüger als vorher, denn jedes einigermaßen komplexe Ding hat widersprüchliche Seiten. Darauf hinzuweisen, heißt daher nichts anderes, als die Oberfläche der Dinge – ihre Erscheinung – zu benennen. Daran ändert sich auch nichts, indem man das Ganze einen „inneren“ Widerspruch nennt und so den Anschein von Dialektik erweckt. Wenn Lehmann davon ausgeht, dass der Nationalsozialismus dem Wesen nach „modernisierend“ war, muss er erläutern, wie sich das germanische Gefolgschaftsverhältnis damit vermittelt. Schließlich geht es um nichts weniger als um die angestrebte Gesellschaftsform. Wenn er diese für „vorkapitalistisch“ hält (genauer gesagt, war das Gesellschaftsideal sogar vormittelalterlich, nämlich germanisch-vorfeudal) – worin bestand dann das modernisierende Wesen des Nationalsozialismus? In der Befürwortung der Technik?

So wenig Lehmann die Gesellschaftsvorstellungen des Nationalsozialismus der behaupteten „Modernisierung“ zuordnen kann, so überfordert ist auch sein Vorbild mit dieser Aufgabe und bemüht statt dessen die Dialektik. Zitelmann schreibt über Hitlers Weltanschauung: „Dabei ist die Verbindung von antidemokratischen und modernen Elementen sowie von elitären und egalitären Komponenten charakteristisch für Hitlers Vorstellungswelt. Die antidemokratischen und die modernen Elemente, die verbrecherischen und die progressiven Komponenten seiner Weltanschauung sind nicht im Sinne von unversöhnlichen Antagonismen zu begreifen, sondern bestenfalls als dialektische Gegensätze, die in einem konsistenten weltanschaulichen System aufgehoben sind.“ [10] Das ist die Art Dialektik, die Nilpferd und Zahnbürste zur Einheit erklärt, weil beide Borsten haben, und die aus den vier Beinen des Nilpferdes im Unterschied zur Zahnbürste einen „inneren Widerspruch“ macht.

Ein „konsistentes weltanschauliches System“ hat der Nationalsozialismus in der Tat gehabt, aber eines, das keineswegs aus unvermittelten Gegensätzen bestand. Im Gegenteil verfügte er über eine in sich geschlossene Weltanschauung und Programmatik, deren verschiedene Seiten (Rassen-, Außen- und Innenpolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik) logisch miteinander zusammenhingen und deren Verwirklichung er Schritt für Schritt anstrebte. Darin waren der Antisemitismus und das persönliche Gefolgschaftswesen keine irrationalen Bestandteile oder wesensfremde Aufpfropfungen, sondern tragende Pfeiler.

Diese Geschlossenheit wird leicht durch das Vorhandensein einer Vielzahl unterschiedlicher Strömungen verdeckt, die vor wie nach der Machtergreifung Einfluss ausübten. Ideologisch wie politisch entscheidend war aber die um Adolf Hitler gruppierte Führung der NS-Bewegung, die künftig als „der Nationalsozialismus“ gemeint ist. Deren gemeinsame Grundüberzeugung fußte auf Mein Kampf, geschrieben in der Festungshaft 1924. [11] Eine Ergänzung dazu ist das sogenannte Zweite Buch Hitlers. [12] 1928 verfasst, aber seinerzeit nicht veröffentlicht, sollte es vor allem die nationalsozialistische Stellung zum Südtirolproblem erläutern und vertieft Mein Kampf insbesondere in außenpolitischen Fragen.

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Jede Beschäftigung mit dem Thema stößt auf zwei große Schwierigkeiten:

  • erstens die ungeheure Flexibilität, mit der Adolf Hitler als der Führer von Bewegung und Staat Kompromisse schloss, Umwege ging und Rückzüge antrat, wenn das seiner Sache nutzte. Darum kann es so scheinen, als ob der Nationalsozialismus keine wesensmäßig eigene Zielsetzung gehabt habe, sondern ausschließlich „von Fall zu Fall“ vorgegangen sei;
  • zweitens existierte das Dritte Reich nur zwölf Jahre und lag die Hälfte davon im Krieg. Dieser Krieg war einesteils das Mittel zur Erreichung des Hauptziels; darum spiegelt sich in ihm das Wesen des Nationalsozialismus deutlicher wieder als anderswo. Andernteils konnten alle Pläne zu einer tiefer greifenden Umgestaltung der Gesellschaft so lange nur beschränkt verwirklicht werden und mussten sich ansonsten auf die Zeit nach einem gewonnenen Krieg verschieben lassen.

Trotz dieser Einschränkungen muss ein Vergleich zwischen Programmatik und tatsächlicher Politik des Dritten Reiches zu dem Schluss führen, dass die programmatischen Ziele keineswegs bloß propagandistischen Charakter hatten. Ein solcher Vergleich wird hier nur ansatzweise vorgenommen. Im Mittelpunkt steht die Programmatik des Nationalsozialismus. Die Klassenpolitik vor und nach der Machtergreifung, die Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Außenpolitik des Dritten Reichs werden nur an einzelnen Punkten beleuchtet, um nachzuweisen, dass die nationalsozialistischen Aussagen ernst gemeint waren.

Der Artikel knüpft an die jetzt von Lehmann wiederaufgenommene geschichtliche Diskussion in den AzD an, deren Zwischenbilanz in den Thesen der AzD-Redaktion „Über die Zielrichtung einer revolutionären Programmdiskussion“ enthalten ist [13] und in deren Verlauf auch der Verfasser dieser Zeilen andere Auffassungen über das Verhältnis von Bourgeoisie und Nationalsozialismus hatte als heute. Von „Nationalsozialismus“ statt von „Faschismus“ wird bewusst gesprochen, weil der Begriff des Faschismus eine wesensmäßige Identität der verschiedenen „faschistischen“ Bewegungen und Staaten voraussetzt, die erst noch untersucht werden muss.