Fritz Gött
Neue Erkenntnisse, neue Fragen
Noch in den 80er Jahren vertraten der Mediziner J.C. Eccles und der Philosoph K.R. Popper die Ansicht, Geist und Hirn seien getrennte Ganzheiten – mit einer jeweils eigenen Arbeitsweise. Wahrhaft obskur und dualistisch eine Theorie, bei der der Geist wie eine Fledermaus angesegelt kommt, um auf dem menschlichen Gehirn wie auf einem Piano zu spielen.
Zu erdrückend sind die Beweise, dass geistige Prozesse eine neuronale Grundlage haben. Praktisch gesagt: der menschliche ‚Geist’ geht mit bestimmten Aktivitäten des Gehirns einher. Das Psychische ist somit eine Funktion und ein Produkt des Gehirns, dabei nicht gegenständlich, sondern ideell.
Die neurophysiologischen Grundlagen des Psychischen bilden aber nicht die Inhalte des Psychischen. Das anzunehmen wäre verkehrt. Die Quelle der psychischen Tätigkeit geben Natur und Gesellschaft ab. Weil wir uns mit der Welt auseinandersetzen, der gesellschaftliche Mensch also tätig ist, existiert und entsteht Psychisches. Es ist die Funktion des ZNS (Gehirn usw.), sowohl die Wechselwirkung des Subjekts Mensch mit seiner Außenwelt als auch jene seines eigenen Zustandes widerzuspiegeln. Natürlich geht es dabei auch um unser Verhalten und die Körperfunktionen.
In diesem Zusammenhang ist zu erkennen, dass das Psychische zwar nicht die einzige, aber die höchste Steuerungsebene im menschlichen Organismus ist. Nicht jeder wird diese Modellvorstellung des Gehirns akzeptieren.
Neues vom Gehirn
Die Neurowissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stürmisch entwickelt. Neue Erkenntnisse provozieren auch neue Fragestellungen, hier zur funktionellen Anatomie des Gehirns:
– Gefallen ist das alte Dogma, wonach in ausgewachsenen menschlichen Gehirnen keine neuen Nervenzellen entstehen können. Das ist überholt. Wachstum ist möglich. In umschriebenen Hirnregionen – so der bisherige Forschungsstand – kann neues Zellmaterial entstehen. Das gilt sowohl für das junge als auch – wie jüngste Untersuchungen gezeigt haben ‑ für das alternde Gehirn. Vielleicht lässt die Dynamik im Alter nach, aber die Plastizität verschwindet nicht. Sie ist zudem stimulierbar, wie Experimente gezeigt haben. Sowohl Umwelteinflüsse, Lernvorgänge und körperliche Aktivitäten, aber auch Verletzungen des Gehirns konnten dabei als Faktoren identifiziert werden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Gehirn altert auch, zum Beispiel schrumpft es. Das ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Verfall. Frühere Hirn-Modelle gingen im Alter von einem massiven Verlust an Nervenzellen aus. Das ist überholt. Zwar büßt der Mensch zwischen voller Hirnentwicklung und Tod ca. 10 % seiner Neuronen ein, das ist theoretisch jedoch zu vernachlässigen. Der Hirnschwund im Alterungsprozess betrifft vor allem die so genannte weiße Hirnsubstanz. Ihre Funktion soll uns hier nicht interessieren. Jedenfalls heißt Neuronenverlust im Alter nicht, dass die Leistung im Denken abfällt. Sicher wird unser Denken im Alter langsamer, was Umbauprozessen im Hirn geschuldet ist. Automatisch werden wir damit jedoch nicht senil. Das müsste vor allen der professionellen ‚Altenbetreuung’ zu denken geben.
Spiegelneuronen und Gliazellen
– Neu ist der Fund der so genannten Spiegelneuronen. Dieser Zelltyp im Gehirn war bisher unbekannt. Er tritt z.B. in Aktion, wenn Handlungen einer anderen Person beobacht werden. Dabei wird das Gesehene widergespiegelt und eine gedankliche Nachahmung im eigenen Kopf in Gang gesetzt. Innerlich wird die fremde Handlung quasi im Seher nacherlebt. So können wir uns in eine andere Person hineinversetzen, mit ihr fühlen und leiden, ja vermutlich auch erkennen, was ihre Handlung bezwecken soll. – Natürlich arbeiten die Spiegelzellen im Verbund mit anderen Netzwerken in Gehirn. Die Forschung steht da erst am Anfang. Aber der theoretischen Medizin eröffnen sich neue Wege, Phänomene wie z.B. unser Talent des Nachahmens und des Lernens durch Anschauung zu verstehen, sowie die Intuition oder die Resonanz von Stimmungen wissenschaftlich zu erklären. Zudem eröffnen sich der Medizin neue therapeutische Möglichkeiten.
– Gliazellen galten lange als eine Art Kitt (oder Leim) im Gehirn. Nun aber zeigen sie ganz andere Seiten: Neben den Neuronen, den Nervenzellen sind auch Zellnetzwerke der Glia aktiv. Etwa die Hälfte der Hirnmasse besteht aus Gliazellen. Nicht alle arbeiten gleich. Einzelne Zelltypen sind für die Abwehr im Gehirn zuständig, andere für die Ernährung der Neuronen usw. Das alles war bekannt und wird nicht infrage gestellt, sondern gedanklich vertieft. Neu ist die Erkenntnis, dass Gliazellen im Verbund auch an der Informationsverarbeitung des Gehirns beteiligt sind: an Denken, Lernen, Erinnern und Fühlen.
All diese Fakten zeigen den Wissenschaftsfortschritt an, aber auch, dass beileibe nicht alle Fragen der Anatomie und Physiologie des Hirns geklärt sind: Die neuronale Karte des menschlichen Gehirns ist unvollständig, ihr Leistungskatalog noch nicht komplett erfasst.
Neue Problemstellungen
Das Gehirn ‚offenbart’ nicht nur seine Geheimnisse. Das Ringen um Fortschritt provoziert auch neue naturwissenschaftliche und weltanschauliche Fragen. Zum Beispiel:
– Was ist eigentlich das menschliche Bewusstsein? Marx – Leser kennen vielleicht die Aussage: „Das Bewusstsein kann nie etwas Anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein des Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.“ Dieser Satz ist korrekt, reflektiert er doch das individuelle Denken und Fühlen sowie die gesellschaftlich-historische Seite der Erscheinung. Es gibt aber auch neue Blickwinkel und Fragestellungen. Zum Beispiel, auf welcher Matrix des Gehirns realisiert sich das Bewusstsein und wie ist es evolutionsbiologisch entstanden? Welchen Sinn und Nutzen macht es für unser Selbst und wie entstehen seine Inhalte?
Oder eine andere Frage: – Gibt es überhaupt so etwas wie den freien Willen? Diese Frage wird seit Jahrhunderten in der Philosophie (Geschichte) kontrovers diskutiert. Neu ist, dass dieser Streit nun auch in Deutschland auf der neurowissenschaftlichen Ebene ausgetragen wird. Bezugspunkt der Debatte ist ein Experiment von Benjamin Libet. Dieser hatte Versuchspersonen gebeten, zu einem zufälligen (aber erfassten) Zeitpunkt einen Finger oder Arm zu krümmen und sich dazu zu äußern. Während dessen maß man mit Elektroden die Hirnströme des Probanden. Das Resultat: die motorischen Areale des Hirns hatten die Handlung bereits 0,3 Sekunden vor einem bewussten Entschluss eingeleitet. Libet selber schrieb 1983: „Offenbar ‚beschließt’ das Gehirn, die Handlung zu initiieren, bevor ein mitteilbares subjektives Bewusstsein vorliegt, dass ein solcher Entschluss gefasst worden ist.“
Kontrollexperimente haben die Ergebnisse dieser Versuchsanordnung inzwischen bestätigt und vertieft. Bedeutet das: der Mensch denkt, das Gehirn lenkt? Oder was? Libet selber hat sich dazu zurückhaltend geäußert. Bekannte Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth erklären heute Bezug nehmend auf Libet forsch: Wir halten die Willensfreiheit für eine Illusion. Die Konsequenzen einer solchen Interpretation wären dann drastisch z.B. für das Strafrecht: Ist ein Verbrecher für seine Taten überhaupt verantwortlich? Hätte er Schuld auf sich geladen und wie sähe die Sühne aus?
Unterbewusstsein und Willensfreiheit
Was also treibt unser Handeln an? Sind wir Getriebene unseres Unterbewusstseins, unserer Triebe und Gene, wie die modernen und extremen Biologisten unterstellen? Über all diese Fragen wird unter Neurowissenschaftlern und Philosophen heftig diskutiert: Für die angesprochene These der fehlenden Willensfreiheit sprechen Gründe und gute Gegengründe (wir können sie hier nicht entwickeln). Dabei lässt sich nicht sagen, das Lager des philosophischen Materialismus sei durchgängig für den (mechanischen) Determinismus und das Lager des philosophischen Idealismus durchgängig für das Postulat der Willensfreiheit. Der Streit geht quer durch die Lager. Die Standpunkte in beiden sind buntscheckig.
Unwichtige Fragen für Marxisten? Wer das sagt, dem empfehle ich einen erneuten Blick in ein paar alte Klassiker: Josef Dietzgen: Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. (1869); Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. (1888); W.I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. (1908) usw. Mal ganz zu schweigen von dem, was danach kam.
Bekanntlich hockt der Mensch nicht außerhalb der Welt. Kopflos funktioniert sein Körper und Geist nicht lange. Ob ich nun willkürlich handele oder gedanklich reflektiere, ohne ihn geht nichts. Auch was mich in Bewegung setzt, muss durch ihn hindurch. Wobei wir also wieder beim integrierenden, ausrichtenden und denkenden Hirn wären. – Mit solchen Fragen haben sich die oben genannten linken Herren beschäftigt: mit Fragen der Erkenntnis (Theorie), mit den Handlungsmöglichkeiten des selbstbewussten menschlichen Geistes usw. Freilich gingen sie dabei vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus, der Philosophie des Marxismus und vom Wissensstand ihrer Zeit.
Über das Rauschen im Blätterwald
Blättert man nun in der aktuellen linken Presse, so wird man wenig zu den Fortschritten der Neurowissenschaft(en) finden, schon gar nichts zu ihren Streitfragen. Wo bleiben ‚unsere’ weltanschaulichen Standpunkte und Interpretationen? Das steht im Gegensatz zu den bürgerlichen Organen wie der FAZ oder der Süddeutschen. Hier arbeit man im Wissenschaftsteil nach dem Konzept: Was ist neu, was ist (uns) wichtig. Linke Blätter hingegen ‚leiden’ eher unter einer Verengung des Blicks auf Politik und Ökonomie. Wo dies zur Grundhaltung wird, zeigt sich eine Verarmung des Standortes. Marxismus wird man das wohl nicht nennen können.