Dokumentation

Interview der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 23. Oktober 2020 mit Sahra Wagenknecht (Auszüge)

Für Renten kämpfen oder lieber für Gendersternchen? Sahra Wagenknecht, die nach wie vor bekannteste Politikerin der Linkspartei, über die Nöte kleiner Leute – sowie studierte Politiker, die diese Nöte gar nicht kennen.

SZ: Frau Wagenknecht, Sie haben sich vor anderthalb Jahren aus der ersten Reihe der Linkspartei zurückgezogen. Was machen Sie mit Ihrer neu gewonnenen Zeit?

Sahra Wagenknecht: Ich habe vor allem wieder viel mehr Zeit zum Lesen, zum Nachdenken und um neue Ideen zu entwickeln.

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie über den Zustand der Linken nachdenken?

Man muss erst einmal fragen: Was ist links? Was heute als links gilt, hat mit den traditionellen Anliegen linker Politik oft nicht mehr viel zu tun. Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen. Diejenigen, für die linke Parteien eigentlich da sein sollten, also die Beschäftigten, die untere Mittelschicht, die Ärmeren, wenden sich deshalb ab. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt. Wir sollten beunruhigt sein angesichts der Serie von Wahlniederlagen, die wir – mit Ausnahme von Thüringen – in den letzten zwei Jahren eingefahren haben. Zumal dieser Niedergang parallel zum Absturz der SPD verläuft.

Ist das ein rein deutsches Phänomen?

Nein. Die linken Parteien sind Akademikerparteien geworden. Thomas Piketty weist das ja in seinem neuesten Buch sehr anschaulich nach. Ob USA, Osteuropa oder Westeuropa, es ist überall der gleiche Trend: Anders als noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren sind es nicht mehr die Benachteiligten, sondern die Bessergebildeten und tendenziell auch die Besserverdienenden, die links wählen. Das ist schon ein Armutszeugnis für die Linke, wenn sie die Armen nicht mehr erreicht.

Wieso hat die deutsche Linke den Zugang zu ihrer Kernklientel verloren?

Linke Parteien sind heute vor allem in der urbanen akademischen Mittelschicht verankert, da kommen viele ihrer Mitglieder und Funktionsträger her. Vor allem letztere sind oft unter privilegierten Bedingungen aufgewachsen und haben kaum einen Zugang zum Leben normaler Menschen. Deshalb werden Debatten geführt, die an den Problemen vorbeigehen, die etwa eine Rentnerin hat, die von 900 Euro im Monat leben muss. Oder jemand, der jeden Tag Postpakete die Treppen hochschleppt. Oder als Schichtarbeiter in einem Industriebetrieb arbeitet. Diese Menschen können nichts anfangen mit der Debatte über Sabbaticals oder die Abschaffung des Autos. Sie reagieren allergisch, wenn der Klimawandel wieder nur das Alibi dafür ist, dass ihr Heizöl, ihr Strom und ihr Sprit noch teurer werden. Und sie wollen auch nicht dafür angemacht werden, dass sie ihr Schnitzel beim Discounter kaufen. Auch wenn man sieht, was in linken Kreisen heute als rassistisch gilt: Das hat mit dem originären Inhalt dieses Begriffs nichts mehr zu tun.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Nach Umfragen sind sehr viele Leute – zum Glück – der Meinung, dass man Menschen in Not helfen muss. Aber sie sind zugleich der Auffassung, dass Zuwanderung begrenzt werden muss. Das ist nach linker Auffassung Rassismus. Absurd! Hier gibt es große Tabuzonen. Aber man muss doch darüber reden können, ob die Förderung von Migration überhaupt eine linke Position ist.

Das geht. Wir reden ja gerade darüber.

Für die Herkunftsländer ist Migration ruinös, weil es in der Regel die Besserqualifizierten sind, die abwandern. Alle seriösen Entwicklungsökonomen bestätigen das. Wenn wir wirklich den Bedürftigen helfen wollten, dann müssten wir vor Ort helfen. Und natürlich gibt es in den Einwanderungsländern auch große Probleme, soziale und kulturelle, deren Thematisierung man nicht den Rechten überlassen darf.

Was ist für Sie rechts?

Rechts ist für mich die Befürwortung von Krieg, Sozialabbau, großer Ungleichheit. Und das, was Rassismus in seinem Wortsinn ausmacht: Menschen herabzusetzen, die woanders geboren sind, eine andere Hautfarbe haben. Gegen diese Menschen zu hetzen und ihnen die Verantwortung für Probleme zuzuschieben, für die sie nicht verantwortlich sind. Nicht rechts ist es anzusprechen, dass Zuwanderer für Lohndrückerei missbraucht werden, dass es kaum möglich ist, eine Schulklasse zu unterrichten, in der mehr als die Hälfte der Kinder kein Deutsch spricht, oder dass wir auch in Deutschland ein Problem mit dem radikalen Islamismus haben. Wenn Linke das alles ausblenden, muss man sich nicht wundern, wenn manche Menschen das Gefühl bekommen, die AfD sei die einzige Partei, die ihre Probleme ernst nimmt.

Das hört sich an, als ob Sie die Politik der linken Parteien mitverantwortlich machen für den Aufstieg des Rechtspopulismus.

Ja, natürlich. Überall. Die linken Parteien haben ihre frühere Wählerschaft im Stich gelassen. Die ist zunächst einmal den Wahlen ferngeblieben. Erst dann kamen die Rechten und haben in diesen Milieus Stimmen gesammelt. Mir schreiben viele ehemalige Wähler der Linken, weshalb sie jetzt AfD wählen. Sie hatten nicht mehr das Gefühl, dass wir ihre Interessen vertreten, dass sie mit dem Kreuz bei uns ihren Ärger über die herrschende Politik ausdrücken können.

Gerade in ländlichen Gegenden Ostdeutschlands ist die Wählerschaft der Linken relativ alt. Muss die Partei sich da nicht zwingend auch um junge, liberale Großstädter kümmern?

Es gibt auch junge Leute, die in Bottrop oder Bitterfeld leben. Und viele, die keine Chance haben, je zu studieren. Die brauchen unsere Unterstützung mehr als gut behütete Kinder der Mittelschicht. Natürlich freue ich mich auch über jeden gut bezahlten Akademiker, der uns wählt. Die Frage ist nur, für wen wir in erster Linie Politik machen – orientieren wir uns vor allem an sozialen Problemen oder bedienen wir hippe grünliberale Modethemen. Wie wir in den letzten Jahren Politik gemacht haben, sollten wir nicht weitermachen.

Ist der Klimawandel ein hippes Modethema?

Das ist ein Menschheitsthema und darf kein Modethema der Besserverdienenden bleiben. Der Klimawandel bedroht unsere Lebensgrundlagen. Problematisch ist es, wenn sich der Kampf gegen den Klimawandel auf Lifestyle-Fragen konzentriert. Also: Fahren wir jetzt alle Fahrrad oder E-Auto? Essen wir vegan oder kaufen zumindest unser Fleisch im Bioladen? Viele Menschen können sich so einen Lebensstil schlicht nicht leisten. Außerdem ist das eine Ablenkungsdebatte. Die Globalisierung mit ihren endlosen Transportwegen und dreckigen Containerschiffen schädigt das Weltklima ungleich mehr als alle Diesel-Fahrer zusammen. Während man denen ein schlechtes Gewissen einredet, kürzt die Deutsche Bahn weiter ihr Streckennetz und fährt ihren Gütertransport runter. Statt Menschen, die oft schon in den letzten Jahren Einkommen verloren haben, Verzicht zu predigen, sollten wir lieber etwas dagegen tun, dass große Unternehmen viele Produkte extra so konstruieren, dass sie schnell kaputtgehen. Wir müssen weniger darüber reden, wie wir konsumieren, und viel mehr darüber, wie wir wirtschaften und produzieren.

Halten Sie sich selbst für eine Integrationsfigur der Linken?

Ich erfahre viel Zuspruch von Mitgliedern und möglichen Wählern. Klar, ich habe Überzeugungen, die polarisieren. Aber ich denke, dass wir mit einer anderen Politik erfolgreicher wären. Nach Umfragen gibt es seit Jahren Mehrheiten für eine sozialere Politik. Aber diese Mehrheit wählt schon lange nicht mehr links. Das würde ich gern ändern.

Sie haben es ja versucht mit Ihrer Sammelbewegung „Aufstehen“. In Ihrer Partei sagen aber viele, die habe mit ihren spalterischen Tendenzen zum Niedergang beigetragen.

Das hätte man uns vorhalten können, wenn wir eine Partei gegründet hätten – wie das viele Mitglieder von „Aufstehen“ wollten. Mein Anliegen war, aus einer Bewegung heraus so viel Druck zu erzeugen, um in den Führungsebenen der linken Parteien ein Umdenken auszulösen. Das ist leider komplett misslungen. Jetzt hat „Aufstehen“ einen neuen Vorstand. Junge Leute machen einen neuen Anlauf.

Treten Sie bei der Bundestagswahl 2021 noch einmal für die Linke an?

Wenn mein Landesverband Nordrhein-Westfalen meine Kandidatur unterstützt, ja.