Einige Streitpunkte in der Reflexion des NS-Regimes

Fritz Gött

In einer älteren Ausgabe der AzD schrieb Kolja Wagner zum „Verhältnis der Arbeiterklasse zum NS-Staat“ Folgendes: „Bekanntlich blieb die proletarische Revolution, selbst ein Massenwiderstand der Arbeiterklasse gegen den nationalsozialistischen Staat aus. Der Terror ist jedoch keine Erklärung dafür, dass Millionen Arbeiter überzeugte Hitleranhänger wurden, andere Millionen das System freiwillig mittrugen und zwar bis in die letzten Kriegsmonate. Durch die praktischen sozialen Erfahrungen eroberte die NSDAP bis zum Krieg die große Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse. Diese Erfahrungen reichten aus, um den Raubkrieg des Verbrecherregimes als Krieg für die eigenen Interessen zu betrachten und den Nationalsozialismus bis zur letzten Kugel zu verteidigen. Bis die Nazis die Masse der Arbeiter gewonnen hatten, dauerte es aber Jahre.“ (AzD 69, 2000, S. 33) Im zweiten Teil des Artikels (AzD 70, 2001, S. 67) heißt es: „Die Bombenangriffe der Alliierten richteten sich im Laufe des Krieges gezielt gegen die deutsche Bevölkerung. Durch die Zerstörung ganzer Wohngebiete glaubten vor allem die Briten, dem Widerstand gegen Hitler Auftrieb zu geben. Die Bombardements bewirkten aber genau das Gegenteil. Die Geschlossenheit der „Volksgemeinschaft“ verstärkte sich wie in keiner anderen Situation. Statt wie im 1. Weltkrieg die Gewehre umzudrehen und die eigene Regierung zu stürzen, kämpfte die große Mehrheit der Arbeiter bis zum 8. Mai weiter.“

Ich teile diese Einschätzung. Doch hat der Artikel im Einzelnen auch Schwächen:
– So bleibt im Artikel unklar, wer sich aus der Arbeiterschaft den ‚Sirenenklängen‘ der Nazis verweigerte und warum?
– Im zweiten Teil des Artikels wählt der Autor auch Formulierungen, die auf Differenzierung verzichten: „Ein Arbeiter, der zum Beispiel 1939 eingezogen wurde und bis 1945 in der Armee blieb, veränderte sich. Er war in erster Linie Soldat und nur in zweiter Linie noch Arbeiter. Die Arbeiter kämpften in der Armee aufopferungsvoll für den Nationalsozialismus.“ (S. 67) Wirklich alle Zwangsrekrutierten? – Kämpften nicht wenige – unabhängig von ihrer politischen Überzeugung – ums nackte Überleben im Feld? Bezogen auf die „sich abzeichnende Kriegsniederlage“ heißt es beim Autor: „Auch jetzt verteidigten die Arbeiter den Nationalsozialismus und waren bereit, große Opfer an der Front und im Reich durch die alliierten Bombenangriffe auf sich zu nehmen.“ (S. 66) – Gilt das wirklich für alle Arbeiter?

In einer jüngeren Diskussion mit einem anderen Autor wurde ich mit folgenden Argumenten konfrontiert: a) Wenn ältere Zeitzeugen der NS-Zeit von eigenen Hungerphasen in den letzten Kriegsjahren berichten, so sei das eine falsche Erinnerung der Personen. b) Wenn behauptet würde, die positive Haltung der Arbeiter / der Klasse zum NS-Regime habe sich in den letzten Kriegsjahren abgeschwächt oder verändert, so sei das falsch ….

Da ich von dritter Seite aufgefordert wurde, doch meine eigene Position zu den verschiedenen Fragen aufzuschreiben, komme ich dem nach. Letztlich liegt darin auch die Chance – für alle Seiten – den eigenen Kenntnisstand – in einer erweiterten Diskussion – zu vertiefen und zu überprüfen.

I.

Mir haben 2 unterschiedliche Quellen von persönlichen Hungerphasen in den Kriegsjahren 44/45 berichtet (Zeitzeugen aus Hannover und eine Person aus Sachsen-Anhalt). Die einen waren Gegner des NS-Regimes, die andere Einzelperson aus dem ländlichen Sachsen-Anhalt war zeitweise Sympathisantin der NSDAP. Zeitzeugen können sich irren, Fakten und Zeiträume verwechseln. Sicher. Ich sehe bei diesen Personen jedoch keinen Hinweis darauf. – Liegen meine Gewährs-Personen also falsch oder richtig?

Mein Kontrahent brachte in die Diskussion noch folgende Zusatzargumente ein: Das Naziregime habe wirtschaftlich auf Autarkie gesetzt. Hunger habe es in Deutschland im 2. Weltkrieg nicht gegeben. Die Nazis hätten aus dem Zusammenbruch und der Revolution von 1918 gelernt, dass es nie Unterversorgung an der Heimatfront geben dürfe, die zu Hunger- und Arbeiteraufständen führen könnten. Auch deshalb habe man die eroberten Gebiete ausgeplündert und deren Reichtümer in Deutschland umverteilt. Hungerexzesse wie die sogenannten Steckrübenwinter 17/18 wird man im Dritten Reich vergeblich suchen.

Diese Argumente werden von mir im Kern gar nicht bestritten: Ich hinterfrage lediglich: Konnte das NS-Regime sein eigenes Wollen, die Sicherstellung der Ernährung an der ‚Heimatfront‘ und in den eingeschlossenen Wehrmachtsteilen zu allen Zeiten und flächendeckend einlösen?

Nach der kontroversen Diskussion habe ich mir einige wissenschaftliche Arbeiten zum Themenkomplex erneut angesehen. Darin die Fakten:
* „Exemplarisch für die Situation der Lebensmittelrationierung einer deutschen Industriegroßstadt während des Krieges“, schreibt der Medizinhistoriker W.U. Eckart, „mag hier Gelsenkirchen angeführt werden. >Schnallt den Gürtel enger<, hatten die NS-Blockwarte den Bürgern der Stadt bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn empfohlen, nachdem bereits in den letzten Augusttagen 1939 die Bezugsscheinpflicht eingeführt worden war. Sie betraf die wichtigsten Lebensmittel, aber auch Hausbrand-Kohle oder Seife. Bezugsscheinpflichtig wurden während des Krieges ferner Brot, Tabakerzeugnisse und schließlich sogar Futtermittel für Haustiere. In der ersten Kriegsperiode erhielt der vom Ernährungsamt als >Normalversorgungsberechtigter< bezeichnete Bürger – im Volksmund >Normalverbraucher< – pro Woche 700 Gramm Fleisch oder Fleischwaren, 280 Gramm Zucker, 110 Gramm Marmelade, 150 Gramm Nährmittel, daneben ein fünftel Liter Milch und 60 Gramm Milcherzeugnisse, Öle oder Fette pro Tag. Tee wurde auf 20 Gramm im Monat rationiert, Kaffee oder Kaffee-Ersatzmittel auf 62,5 Gramm pro Woche. Insgesamt entsprach die Fett- und Fleischration etwa der Hälfte der Ration der Vorkriegsjahre. Schwer- und Schwerstarbeiter, Arbeiter der Rüstungsindustrie, Jugendliche, Kinder und werdende Mütter erhielten knappe Sonderzulagen. Prinzipiell galt für die Versorgung die Präambel zur Kriegswirtschafts-versorgung vom 4. September 1939, dass >jeder Volksgenosse sich die notwendigen Einschränkungen in der Lebensführung und Lebenshaltung< aufzuerlegen habe. Durch die >Kriegssondersteuer< um etwa 20 Prozent verteuert waren Tabakwaren, Bier, Branntweinerzeugnisse und Schaumwein. Die Höhe der Rationen sank im Laufe des Krieges; so etwa die Fleischration im Frühjahr 1942 auf 300 Gramm pro Woche, die von Fett auf 200 Gramm. In Geschäften und Verteilungsstellen kam es oft zu lautstarken Auseinandersetzungen, wenn Händler beim Wiegen nach unten abrundeten. Im Frühjahr 1945 schließlich hatte der >Normalverbraucher< nur noch Anrecht auf 250 Gramm Fleisch, 125 Gramm Fett und 1.700 Gramm Brot. / Die Erbitterung der Bevölkerung Gelsenkirchens über die unzureichende Menge und Güte der Lebensmittel stieg deutlich und wurde von den Parteiorganisationen sorgfältig beobachtet. Ebenso stetig stieg auch die Lebensmittel-Korruption und Schwarzmarktversorgung. In der Folge kam es zu einer Verschärfung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. Hamstertouren in die ländlichen Gegenden wurden zunehmend kostspieliger. Die Lage verschärfte sich insbesondere nach den verheerenden Luftangriffen der Jahre 1943 und 1944 weiter, als das städtische Lebensmittelversorgungs- und Transportwesen zeitweise zusammenbrach.“ (W. U. Eckart, 2012, S. 354)
Nach Eckard existiert zur Lebensmittellage im Reich auch eine Arbeit zur Gesamtsituation: Holmsten, 1982. Ich konnte aber weder den Titel der Studie identifizieren, noch den Text für mich beschaffen.
* Versorgungslücken, allgemein und im Krieg (bei Nahrung / Medizin), und deren Wahrnehmung in der Bevölkerung waren schon mal Gegenstand der Berichterstattung von Gestapo und SD, dem geheimen Sicherheitsdienst der SS. (dok. bei Carsten)
* Der Kriegsverlauf traf die deutsche Zivilbevölkerung im Reich allgemein, aber auch einzelne soziale Gruppen im Besonderen:
*Hierbei betrachte ich nicht nur die Geistig-Behinderten, die nun einer ‚zweiten Welle‘ der staatlichen Euthanasie zum Opfer fielen (siehe W. Süß, 2003). Darüber hinaus:
* TBC-Kranke wurden vermehrt zur Arbeit herangezogen, ohne dass die Kost der Belastung angepasst wurde (ebenda, S. 295). Anm: Antibiotika gab es damals noch nicht.
* Da die Wehrmacht im Kriegsverlauf vermehrt Ärzte, Medizin sowie Lazarette für die eigenen Verwundeten im Reich anforderte, verengte sich die Versorgung der Zivilbevölkerung im Reichsgebiet fortschreitend (siehe u.a. W. Süß, 2003).
* Infolge des verstärkten alliierten Bombenkrieges über Deutschland kam es vielerorts zur weiteren Verlegung der Alten und Siechen aus der Regelversorgung der Akutkrankenhäuser, Altenheime und Pflege-Anstalten in ortsferne Hilfskrankenhäuser, auch um für verwundete Soldaten und die lokalen Bombenopfer Platz zu schaffen. Hier in den Behelfsheimen aber waren die ärztliche Versorgung und die Kost quantitativ und qualitativ schlechter. Die lokalen Behörden zeigten sich vielerorts überfordert oder desinteressiert. Den Patienten fehlte die ortsnahe hausärztliche Versorgung, der Druck der Angehörigen auf die lokalen Behörden war dahin … Nicht alle Betroffenen werden diese Tortur überlebt haben. Die zu erwartenden Opfer nahm das NS-Regime jedoch im Krieg für ‚Volk und Vaterland‘ hin, wenn nicht sehend und kalkulierend.
Zeitweise kursierte dann im Ruhrgebiet das Gerücht, nach den Behinderten sollten wohl nun auch die alten und siechen Volksgenossen umgebracht werden. Viele Alte versuchten hier (und nicht nur hier) der ortsfremden Unterbringung zu entgehen bzw. zurück zu den Angehörigen zu gelangen. Doch einen solchen Führerbefehl zur Vernichtung der Alten hat es nie gegeben. — Was es gab, waren wohl ‚einzelne‘ rabiate NS-Funktionäre, furchbare Richter und Naziärzte, die den Sozialdarwinismus auch gegen alte, gebrechliche, auffällige und unheilbar kranke Deutsche anwandten. Dabei schöpften sie die gesellschaftspolitischen Spielräume aus, mit mehr oder weniger Rückendeckung von oben. – Kam es bei den evakuierten Alterskranken auch zu aktiven Tötungen? Die Anklagevertretungen im Nürnberger Ärzteprozess nach dem Kriege gingen ursprünglich von etwa 75.000 ermordeten Alten aus. Doch wurde die Sache nicht weiterverfolgt, zumal das Ausmaß des Verbrechens schwer einzusehen war. Es gibt jedoch einige Fälle, in denen sich eine Tötung größerer Massen unter den Alters-Kranken und Siechen dokumentarisch nachweisen lässt (ebenda, S. 308 ff). – Auch wird in der Spezialliteratur von der vereinzelten Beseitigung schwer verwundeter Soldaten berichtet sowie davon, dass auch „psychisch dekompensierte“ und psychiatrisch auffällige ‚therapieresistente‘ Soldaten dem Henker zugeführt wurden (siehe z.B.: P. Riedesser/ A. Verderber, 1996).
* Hinweise auf die Diskussion über die (zeitweilig prekäre) Ernährungslage in den Führungszirkeln des NS-Staates lassen sich auch in den Schriften des NS-Arztes Ernst Günther Schenck finden. Dieser Autor hat sowohl für die Wehrmacht als auch für die SS als Ernährungs-Inspekteur gearbeitet (siehe u.a.: G. Elsner, 2010).

Fazit: Ich sehe nach wie vor Anhaltspunkte, dass es in den letzten Kriegsjahren schon mal zu Ernährungsengpässen und Hungerphasen bei einzelnen Personen /Gruppen in der deutschen Bevölkerung gekommen ist. Zu untersuchen bleibt, ob es sich hier um regionale Ereignisse und zeitliche Phasen handelte oder ob mehr dahinter steckt.

II.

Wie umfassend war der Zuspruch zum NS-Regime in der Arbeiterschaft/der Arbeiterklasse? Gab es hier auch Differenzierungen und Schwankungen? Dazu gibt es unterschiedliche Einschätzungen.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Tatsache, dass es der Nazibewegung bereits vor 1933 gelang, tief in die Arbeiterschaft einzudringen. Woraus hat sich wohl die Masse der SA rekrutiert? Doch nicht nur aus verkrachten Akademikern, Adeligen und Kleinbürgern. (Zur Zahlenentwicklung der NS-Bewegung in den Jahren siehe u.a.: F.L. Carsten, 1996)

Lange hat der Heldenmythos, mit dem die SED die Widerstandskraft der Arbeiterklasse gegen die NS-Ideologie/den NS-Staat beschrieb und die Widerstandstätigkeit der KPD umgab, eine nüchterne Analyse des Arbeiterverhaltens bzw. -widerstandes behindert. – Eine solche Blüte fand ich z.B. in der Autobiographie des Schauspielers Erwin Geschonneck. Im DEFA-Film „Hans Beimler Kamerad“, so berichtet er, steht der misshandelte, aber standhafte Inhaftierte in heroischer Pose vor der KZ-SS und fordert seine KPD-Mithäftlinge zum Singen der Internationale auf, was diese auch tun. Sie werden dann zusammengeschlagen. Geschonneck fand die Film-Darstellung realitätsfern. Er kritisierte sie in der DDR öffentlich, denn er wusste es besser. Als junger Kommunist hatte Geschonneck 6 Jahre der Hölle des KZ erlebt. Ein Singen der Internationale wäre hier tödlich für alle Beteiligten gewesen. – Nach der öffentlichen Kritik erhielt er einen privaten Brief des ehemaligen hohen KPD-Funktionärs Franz Dahlem, der ihn für seinen „Mut“ zu der öffentlichen Kritik lobte. Dahlem war damals immerhin Stellvertretender Minister für Hoch- und Fachschulwesen des SED-Staates. Dahlem war selber daran gescheitert, die unsinnige Filmdarstellung zu verhindern. (Geschonneck, 1995, S. 211/12 ) Viel gefruchtet hat diese öffentliche Stellungnahme Geschonnecks im SED-Staat und gegenüber der SED offensichtlich nicht.

Mein ‚Kontrahent‘ in der obigen Neuzeit-Diskussion ging von einem anderen Zahlenspiegel zum Widerstand nach 1933 aus. In einer beidseitig emotional überschießenden Diskussion mit mir vertrat er u.a. die Ansicht: Dass die Zustimmung zum NS-Regime in der Arbeiterklasse in den letzten Jahren des Regimes schwächer wurde, sei so falsch. Die Klasse hätte doch den Aufstand wagen können. Hat sie aber nicht. Bis zuletzt stand die Arbeiterklasse hinter dem NS-Regime, das sich ihr Vertrauen durch Sozialpolitik verdient habe. Die paar Tausend Kommunisten und die wenig zahlreichen Gegner des NS-Regimes hebelten diese These nicht aus. Man bräuchte nur die Statistiken oder die Erinnerungen von Kommunisten zur Kenntnis zu nehmen.
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In der Literatur wird es differenzierter dargestellt: „Bei Kriegsausbruch waren (nach Weisenborn) etwa 300 000 Deutsche aus politischen Gründen in den Konzentrationslagern eingesperrt. „Man darf ohne Zweifel annehmen, daß bis zum Jahre 1939 die meisten dieser politischen Gefangenen der Arbeiterbewegung angehörten“ (Weisenborn …)“, so zitiert bei H. Grebing (S. 219). Nicht alle Teile der Arbeiterschaft sind ins Lager der Nazis übergewechselt. Auch das sollte man zur Kenntnis nehmen.

Als ich meinem Opponenten auch noch von der sozialdemokratischen Widerstandsgruppe „Sozialistische Front“ Hannover berichtete, die bereits Ende 1932/Anfang 1933 in den Untergrund gegangen sei, leugnete er ihre Existenz. Das könne gar nicht sein, denn der nationale SPD-Parteivorstand habe 1933 abgewiegelt und zurückgepfiffen, auf Legalität gesetzt (und nach 1933 den aktiven Widerstand für sinnlos gehalten, d.V.)
Lügen also die real vorhandenen Gerichtsakten? Eine erste noch unvollständige Beschreibung der Organisation Sozialistische Front Hannover lieferte die Journalistin Gerda Zorn, 1965 (Vorwort Wolfgang Abendroth). Weitere wissenschaftliche Arbeiten folgten: B. Rabe, 1984 / K. Theilen, 2000. – Die Untergrundorganisation hatte nach derzeitigem Wissensstand 1000 Mitglieder. Der Verteilerapparat (ihrer Zeitschrift/ Flugblätter) war nach meiner Akteneinsicht größer. Die Gruppe hielt sich von der SPD-Exilleitung bewusst fern. Die Organisation wurde 1936 aufgedeckt und zerschlagen. Jedoch gelang es der Gestapo nicht, alle Mitglieder und Sympathisanten der Organisation zu identifizieren. – Ihre Wirkung in der Bevölkerung war allerdings bescheiden.

Der Historiker F.L. Carsten verzeichnet noch weitere sozialdemokratische Kleingruppen im Widerstand, die sich um die Weisungen des SPD-Parteivorstandes im Exil nicht scherten (siehe: Carsten, 1996).
Gemeint sind hier übrigens nicht die Linkssozialistischen ‚Splittergruppen‘: die SAP, ISK, Neu Beginnen …, die ebenfalls dem politischen Widerstand angehörten und sich von der SPD abgrenzten und selbstständig, neben und unabhängig von der KPD, (bzw. der KPO) und weiteren politischen Gruppierungen im Untergrund agierten.

Die diversen und verstreuten ‚Netzwerke‘ des Widerstands in Deutschland wurden bis 1939 weitgehend zerstört. Die Gruppen schwammen nicht wie die Fische im Wasser (des Volkes). Den Nazis war es vor allem zwischen 1936 – 38 gelungen, die übergroße Mehrheit des Volkes, einschließlich der Arbeiterschaft, für sich einzunehmen. Verantwortlich dafür waren vor allem die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, der Rüstungsboom, einige sozialpolitische Maßnahmen, etliche außenpolitische Erfolge … Die erfolgte weitreichende Zustimmung im Volk und der Arbeiterschaft zum Regime lässt sich mit Propaganda, Terror oder der Unterdrückung der Opposition nicht ausreichend erklären. – Doch vor allem im Verlauf des 2. Weltkrieges gab es in dieser Mehrheitszustimmung eben auch Höhen und Schwankungen.
Erst nach Eintritt in die deutschen Angriffskriege bzw. nach Stalingrad vermerkte die Gestapo/ der SD ein Wiederaufflackern des
organisierten Widerstandes von diversen Kleinstgruppen und wachsende Unruhe in der Bevölkerung.

Wenn also mein ‚Kontrahent‘ von den „Paar tausend Kommunisten und den wenig zahlreichen Gegnern des NS-Regimes“ im Widerspruch oder im Widerstand zum NS-Regime spricht, so ist das arg untertrieben, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich das NS-Regime nach 1933 auf die überwältigende Mehrzahl im Volk und der Arbeiterschaft stützte.

Zwei Bücher zum organisierten oder spontanen Arbeiter-Widerstand habe ich nachträglich noch einmal eingesehen: *Helga Grebing fasst den Kenntnisstand (aus sozialdemokratischer Sicht) 1970 mit Lücken zusammen, wobei sie auch die konfessionelle Arbeiterbewegung mit ins Blickfeld nimmt. Allerding fokussiert sie sich dabei auf deren Anführer. / Erheblich umfangreicher ist die Arbeit des linken Historikers * F.C.Carsten zum Arbeiterwiderstand – von 1996. Er fokussiert sich vor allem auf den sozialistischen Widerstand und den spontanen Widerspruch. Den konfessionellen erwähnt er kaum. Zudem konnte Carsten erklärtermaßen nur das Material behandeln, das ihm aus Deutschland zugeschickt wurde. Er schrieb seine Studie 1995 in England.
Viele neue Lokalstudien aus Deutschland wurden seitdem veröffentlicht. Gibt es eine Auswertung auch dieser Arbeiten? Sowie neuere Studien zum allgemeinen Thema Arbeiterwiderstand?

Fazit, trotz meiner fragmentarischen Kenntnisse: Die These, die deutsche Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit habe den Nationalsozialismus am Ende des Krieges bis zur letzten Kugel verteidigt, ist falsch. Das wird der Wirklichkeit in seinen Schattierungen nicht gerecht. – Dennoch, weder 1933 noch 1945 kam es zum Aufstand der Arbeiterklasse/der Arbeiterschaft und ihrer politischen Organisationen gegen das NS-Regime. – Die freien Werktätigen in der Heimat taten bis Kriegsende, bis zum bitteren Ende mehr oder weniger still ihre Arbeitspflicht, sei es aus Überzeugung für das Regime oder aus Resignation oder Hoffnungslosigkeit. Die entscheidenden politischen Fehler der politischen Arbeiterbewegung in Deutschland wurden zwischen 1918 und 1933 gemacht. Der spätere Widerstand stand auf verlorenem Posten. Die Befreiung Deutschlands musste von außen erfolgen. Der praktische Beitrag des nationalen Arbeiter-Widerstandes war zu Kriegsende dabei mehr als marginal. Die überlebenden oder freilaufenden Widerständler waren vereinzelt, ohne wirkliche organisatorische Anbindung, gesellschaftlich isoliert, räumlich zersplittert, ohne Waffen und Plan …; die noch vorhandenen organisierten (links-politischen) Gruppen/Parteigliederungen stark geschwächt und wenig handlungsfähig. Von daher war ein Arbeiteraufstand (von wenigen lokalen Ereignissen abgesehen) völlig illusorisch. Was blieb in der Heimat – für den Einzelnen – die weiße Fahne, die freiwillige Kriegsgefangenschaft oder Desertation aus der Wehrmacht, die heimliche Solidarität mit den Fremdarbeitern / Untergetauchten, kritische Bemerkungen, das Hören der ‚Feindsender‘, die Zusammenarbeit mit den vorrückenden Alliierten, das Aufatmen … Dennoch sind wir es den Opfern schuldig, ein differenziertes wahrheitsgemäßes Bild der Ereignisse zu zeichnen und nicht einfach in das bürgerliche Horn von der Kollektivschuld des Deutschen Volkes am Naziregime einzustimmen. Auch nicht in einer linken Variante. – Untersuchen wir also nicht nur Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus, sondern auch seinen Untergang auf der Faktenbasis neuerlich.

Verwendete Literatur:
* Francis L. Carsten: Widerstand gegen Hitler. Der deutsche Arbeiter und die Nazis. Frankfurt/M.: Insel Verl., 1996
* Wolfgang Uwe Eckart: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen. Wien Köln Weimar: Böhlau Verl., 2012
* Gine Elsner: Heilkräuter,>Volksernährung<,Menschenversuche. Ernst Günther Schenck (1904-1998): Eine deutsche Arztkarriere. Hamburg: VSA, 2010
* Erwin Geschonneck: Meine unruhigen Jahre. Lebenserinnerungen.(1984) Berlin: Aufbau Taschenbuch Verl. (2. erweit. -und unzensierte- Aufl.) 1995
* Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München: dtv, 1970
* Peter Riedesser / Axel Verderber: „Maschinengewehre hinter der Front“ Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1996
* Winfried Süß: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945. München: Oldenbourg 2003

* Kolja Wagner: Der Nationalsozialismus: Angriff des Kleinbürgertums auf die Moderne. Teil I in: AzD 69 (2000), Teil II in: AzD 70 (2001)
* Gerda Zorn: Stadt im Widerstand. Frankfurt/M.: Röderberg-Verl., 1965. // Bernd Rabe: Die >Sozialistische Front<. Sozialdemokraten gegen Faschismus 1933-1936. Vorwort: Peter von Oertzen. Hannover: Fackelträger-Verl., 1984. // Sozialistische Blätter. Das Organ der „Sozialistischen Front“ in Hannover 1933-1936. Bearbeitet von Karin Theilen. Hannover: Hahnsche Buchhandlung Hannover, 2000