Martin Schlegel
Rezension und Diskussion des Buchs
„Chinas große Umwälzung“
von Felix Wemheuer
Vorbemerkung
Wemheuers Buch „Chinas große Umwälzung Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem“ verfolgt einen bemerkenswerten und interessanten Ansatz. Im ersten Teil des Buchs beschreibt er den Aufstieg Chinas im Kontext der politischen Entwicklung der Welt nach dem zweiten Weltkrieg, im zweiten Teil die innere Entwicklung der chinesischen Gesellschaft vor allem in der Reform-Ära ab 1978. Beide Teile könnten gut für sich alleine stehen und beide Themen hätten eine ausführlichere Behandlung verdient. Da der zweite Teil über die heutige Gesellschaftsform in China für die Debatte in der Linken der wichtigere ist, lege ich den Schwerpunkt der Rezension auf ihn. In der Linken gibt es dazu im Wesentlichen drei Positionen: Zum einen, dass die VRCh noch sozialistisch ist, zum anderen, dass sie kapitalistisch geworden ist. Eine dritte sieht in der VRCh heute zwar kapitalistische Elemente, ordnet sie aber als vorübergehende Erscheinungen in einer langen Übergangsperiode auf dem Weg zum Sozialismus ein. Wie im Folgenden dargestellt,wird, positioniert sich Wemheuer in seinem Buch klar zu dieser Frage.
1. Zum Themenkomplex Aufstieg Chinas im Weltsystem
Wemheuer teilt die Geschichte der VR China in die Mao-Ära von 1949-1978 und die Reform-Ära ab 1978 ein. Dementsprechend gliedert er seine weltgeschichtliche Darstellung als Kontext zu diesen Etappen. Sein Ansatz folgt der Welt-Systemtheorie Immanuel Wallersteins, die das kapitalistische Weltsystem in Zentren, Semiperipherie und Peripherie einteilt. Die Zentren schöpfen aus den globalen Produktionsketten den größten Teil der Profitmasse ab.1 Wemheuer stuft China als Teil der Semi-Peripherie ein, weist aber darauf hin: „Mit dem Projekt >>Made in China 2025<< verfolgt die chinesische Regierung das Ziel, das Land global als Produzent hochwertiger Markenprodukte zu etablieren.“2
Wallersteins These, dass es seit Ende des 19. Jahrhunderts keine Region mehr gibt, die außerhalb des kapitalistischen Weltsystems liegt, greift Wemheuer in Kapitel 2.4 auf: „Der Aufbau einer emanzipatorischen sozialistischen Gesellschaft scheiterte im 20. Jahrhundert jedoch offensichtlich [..]. Bei der Analyse der Gründe ist auch die Frage wichtig, ob es überhaupt möglich war, außerhalb des kapitalistischen Weltsystems eine andere Gesellschaftsform zu schaffen.“3 Mit der Aussage wird die Frage umschrieben, ob der Aufbau des Sozialismus in einem Land möglich ist. Es wird darüber hinaus thematisiert, ob eine nachholende Industrialisierung heute nur noch bei kapitalistischer Produktionsweise möglich ist. Dies ist eine interessante Fragestellung, die der Autor aber nicht weiter untersucht. Von der technologischen Seite scheint mir klar, dass eine nachholende Entwicklung heute nur mit einem Technologietransfer von entwickelteren Ländern gelingen kann, da die Entwicklungslücke zwischen ihnen und den Entwicklungsländern heute zu groß ist, als dass sie durch eine autarke Entwicklung zu schließen wäre. Technologietransfer fand auch – bei einer geringeren Entwicklungslücke – im 19. Jahrhundert bei der Industrialisierung der USA, Deutschlands und anderen Ländern durch Austausch/Spionage mit Großbritannien statt. Das Thema der Notwendigkeit von Technologietransfer ist jedoch eine andere Frage als die, ob eine nachholende Entwicklung nur bei kapitalistischer Produktionsweise gelingen kann.
Für Wemheuer sind die wesentlichen weltgeschichtlichen Entwicklungen der Mao-Ära: Revolution, Kalter Krieg, Entkolonialisierung und die Spaltung der kommunistischen Weltbewegung. Es gab eine Reihe sozialistischer Revolutionen in Osteuropa und in der sogenannten „Dritten Welt“. Diese Länder standen ebenso wie die Entwicklungsländer vor der Notwendigkeit einer nachholenden Industrialisierung, um sich gegen die Länder des Zentrums behaupten zu können. Für die meisten dieser Länder war damals der Aufbau der Sowjetunion das Vorbild.
1.1 Der Systemwettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus
Im Systemwettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus machten die sozialistischen Länder große Versprechen, dass sie die westlichen kapitalistischen Länder in kurzer Zeit einholen und dann überholen würden: die UDSSR die USA, die DDR die BRD und China Großbritannien. Keines dieser Versprechen konnte erfüllt werden, und Wemheuer wirft die Frage auf: „Es stellt sich natürlich generell die Frage, ob eine Wirtschaftsform, die nicht auf ständige Profitmaximierung durch Steigerung des Mehrwerts ausgerichtet ist, produktiver als der Kapitalismus sein kann.“4 Worauf Wemheuer nicht eingeht, ist die schnelle Produktivitätsentwicklung der Industrie in der Sowjetunion vor und während des 2. Weltkriegs und in der ersten Nachkriegszeit. Es stellt sich die Frage, warum diese Entwicklung zum Erliegen kam. Dazu ist von Karuscheit der Artikel „Die Schlüsselkrise der 50er Jahre in der Sowjetunion“ erschienen.5 Im zweiten Teil des Buches wird uns die Frage wieder begegnen, da das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum in der Reform-Ära bisher höher ist, als es in der Mao-Ära der Fall war. Auf die Frage, warum das so ist, bleibt Wemheuer dem Leser eine Antwort schuldig, obwohl er die Frage aufgeworfen hat.
Wemheuer schildert, wie das Ende des Revolutionszyklus nach dem zweiten Weltkrieg mit der Spaltung der kommunistischen Weltbewegung und der kapitalistischen neoliberalen Offensive ab den 1970er Jahren zusammenfiel. Der Neoliberalismus führte zur schrittweisen Auflösung des nach dem Krieg in vielen westlichen Ländern geschlossenen Klassenkompromisses. Kennzeichen des Revolutionszyklus in der dritten Welt im Gefolge des 2. Weltkriegs ist nach Wemheuer: „Nicht industrielle ArbeiterInnen waren die Hauptkraft dieser Bewegung, sondern BäuerInnen.“6 Die Wirtschaft des sozialistischen Lagers und Chinas – Wemheuer fasst sie als staatssozialistische Länder zusammen – gerieten in eine Krise, die ein Umsteuern erforderlich machte. Insbesondere gelang es diesen Ländern nur schwer, ihre Bevölkerung ausreichend mit Lebensmitteln und Konsumgütern zu versorgen. Daraufhin führten die meisten staatssozialistischen Länder marktwirtschaftliche Prinzipien ein und verschuldeten sich ebenso wie viele Entwicklungsländer bei kapitalistischen Staaten oder beim IWF. Die VRCh machte in der Reform-Ära erste Schritte zu einem industriellen exportorientierten Wirtschaftssektor, um Technologieimporte zu finanzieren. Die USA bekundeten nach 1978 ihre Bereitschaft zu einem Technologietransfer. Damit endete auch die in der Mao-Ära vorhandene Vorstellung, dass eine autarke industrielle Entwicklung ohne Kontakt zum kapitalistischen Weltsystem auf den Stand der entwickelten Länder möglich sei.7 Bei dem Zustrom ausländischen Kapitals nach China in der Reform-Ära spielte auch die Überakkumulation des Kapitals im kapitalistischen Westen eine Rolle, die davon getrieben war, ihren Lohnarbeitern trotz Reallohnabbau durch Billigimporte aus China ein gleichbleibendes oder sogar steigendes Konsumniveau zu ermöglichen. Insofern begünstigte die neoliberale Offensive in den entwickelten kapitalistischen Ländern die wirtschaftliche Neuordnung Chinas. Für die Bereitschaft des kapitalistischen Westens, in China zu investieren, spielte auch die Spaltung der kommunistischen Weltbewegung eine Rolle, „da es sich als zuverlässiger Verbündeter gegen die Sowjetunion erwiesen hatte.“8
1.2 Auflösung des sozialistischen Lagers
Die globale Lage wurde dann vor allem durch die Auflösung des sozialistischen Lagers in Osteuropa verändert. Das sozialistische Lager zerfiel in einzelne Staaten, die sich in das kapitalistische Weltsystem einzugliedern versuchten, die DDR wurde von der BRD übernommen. Wemheuer folgert: „Der KPCh ist es als einer der wenigen Regierungen des Globalen Südens gelungen, sich dem ausländischen Kapital zu öffnen und trotzdem >>Herr im eigenen Haus<< zu bleiben.“9
Die KPCh betrachtete die Entwicklung in den anderen realsozialistischen Ländern sorgfältig und zog ihre Schlüsse daraus: „Gorbatschows größter Fehler war, das Machtmonopol der Kommunistischen Partei aufzugeben.“10 Und weiter auf der gleichen Seite: Er habe auch die Sowjetunion als Vielvölkerstaat zerstört, weil: „die KPdSU der eigentliche Kern war, der dies Reich zusammenhielt.“ Auch zog die KPCh die Lehre: „dass die Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung ein zentrales Ziel sein müsse und die Sowjetunion auf ökonomischem Gebiet gescheitert sei.“ Diese Darstellung zeigt überzeugend einen direkten Zusammenhang zwischen der Politik der KPCh und der Entwicklung innerhalb des sozialistischen Lagers. Andere Zusammenhänge, die Wemheuer anführt, sind weniger gut belegt. Aber wahrscheinlich ist zum Beispiel die Hundert-Blumen-Kampagne im Zusammenhang mit den gleichzeitigen Demokratiebewegungen in einigen osteuropäischen Ländern zu sehen. Mit Sicherheit hatte auch der Zusammenbruch der Ostblockstaaten Einfluss auf die Diskussionen in China während der Reform-Ära. Eine Analyse der wichtigen Frage, warum es der KPCh im Unterschied zur KPdSU gelang, ihr Machtmonopol aufrecht zu erhalten, enthält das Buch nicht. Mao war der Überzeugung, dass die „revisionistische Entartung“ der Sowjetunion ihre Ursache in der „bürokratischen Entartung“ der KPdSU hatte. Um dies in China zu verhindern, startete er die Große Proletarische Kulturrevolution, die das Denken der Massen umgestalten und die KPCh von „konterrevolutionären Elementen“ säubern sollte.
2. Zu Teil 2: „Sozialer Wandel der Gesellschaft und Konflikte“
In der Reform-Ära wurde China zum größten Exporteur der Welt und konnte auch seine weltpolitische Stellung immer weiter ausbauen. Insofern ist die VRCh der Hauptgewinner des Endes des Kalten Kriegs und der zunehmenden Globalisierung des Kapitalismus.
2.1 Die Mao-Ära
Die Hauptepochen der Geschichte der VRCh sind die Mao-Ära und die Reform-Ära nach 1978.
Die Mao-Ära unterteilt Wemheuer in folgende Etappen11:
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Die Neue Demokratie 1949-1952, während der die Bodenreform 43% des Bodens an 60% der ländlichen Bevölkerung verteilte.
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Die sozialistische Umwälzung 1953-1956, während der eine Planwirtschaft, basierend auf staatlicher Industrie und kollektiver Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild eingeführt wurde.
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Der Große Sprung im Jahr 1958, der das Land in kürzester Zeit in die industrielle Moderne bringen sollte. Er endete in einer Hungersnot von 1959-1961 mit geschätzten 15-40 Millionen Toten.
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Die Ausrichtungsbewegung 1962-1965.
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Die Große Proletarische Kulturrevolution 1966-1976, die ihrerseits in zwei oder mehrere Phasen eingeteilt werden kann. In ihr versuchte die KPCh mit den Roten Garden, Rebellengruppen und Massenkampagnen, die Partei von „Vertretern des kapitalistischen Wegs“ zu säubern.
Insgesamt war die Mao-Ära durch eine fast unaufhörliche Folge größerer und kleinerer Kampagnen geprägt.
In der Mao-Ära wurden die VRCh industrialisiert. Die Finanzierung der Industrialisierung erfolgte durch die Bereitstellung billiger Lebensmittel für die Arbeiter, die geringe Löhne ermöglichten und damit hohe Investitionsquoten.12 Das durchschnittliche Wachstum des BIPs in der Mao-Ära lag bei 6,7%, nach Maddison bei 4,7%, wobei es in den einzelnen Etappen sehr unterschiedlich war. Insbesondere brachen die Wachstumsraten während des Großen Sprungs und in Teilphasen der Kulturrevolution ein13. Dies ist für den fast dreißigjährigen Zeitraum der Mao-Ära ein hoher Wachstumswert. Das durchschnittliche Wachstum lag in der Mao-Ära unter dem von Taiwan oder Südkorea, die von den USA als Frontstaaten gegen den Kommunismus aufgebaut wurden. Diese Länder versuchten nicht, eine autarke Wirtschaft aufzubauen, wie es für die VRCh gemäß dem Vorbild der Sowjetunion erfolgte und aufgrund der äußeren Bedrohung notwendig war. Wemheuer weist darauf hin, dass das Produktivitätswachstum in der Landwirtschaft mit 2% ziemlich gering war, ein Problem, mit dem auch die Sowjetunion zu kämpfen hatte. Da die Bevölkerung in der VRCh etwa im gleichen Maßstab wie die landwirtschaftliche Produktion wuchs, verbesserte sich die Ernährungslage in der Mao-Ära kaum. Das Problem unzureichender Ernährung konnte in der Mao-Ära nicht gelöst werden. Auch konnte nur selten ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Entwicklung der Landwirtschaft und der Industrie erreicht werden. Große Fortschritte gab es im Aufbau eines Gesundheitssystems, der Alphabetisierung, bei der Bewässerung und der Infrastruktur.14
Ausführlich geht Wemheuer auf die Hierarchien und Klassifizierungen in der chinesischen Gesellschaft der Mao-Ära ein.15 Darstellen möchte ich nur das Hukou-System, da es auch in der Reform-Ära eine große Rolle spielt. Hukou bedeutet die Registrierung der chinesischen Bevölkerung in Agrar- und Nichtagrarhaushalte, er verbietet Personen mit ländlichem Hukou, sich in Städten anzusiedeln, sichert Personen mit ländlichem Hukou aber auch einen Anspruch auf die Bearbeitung von Land. Andere Klassifizierungen, wie die in „gute oder schlechte Elemente“ spielten in der Kulturrevolution eine große Rolle. Das Hukou wurde 1958 eingeführt und gilt trotz Lockerungen im Prinzip noch heute. Die Lockerungen hängen davon ab, wie groß der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften in den Städten ist. Die städtische Gesellschaft wurde weitgehend in gesellschaftlichen Basisorganisationen, den Danwei, organisiert. In der Mao-Ära übernahmen die Volkskommunen auf dem Land teilweise die sozialen Aufgaben, die das Danweisystem in der Stadt erfüllte. Die Mitglieder des Danwei hatten lebenslange Beschäftigung und danach eine Rente, kostenlose Gesundheitsversorgung, Zugang zum Bildungswesen, billigem Wohnraum, gesellschaftlichen Veranstaltungen und zu Rationierungsmarken für Lebensmittel und Gebrauchsgüter. Dieses System hat den Namen „Eiserne Reisschüssel“. Es wurde in der Reform-Ära Schritt für Schritt abgebaut. Allerdings gab es auch in der Mao-Ära Vertragsarbeiter außerhalb des Danweisystems.
Insgesamt charakterisiert Wemheuer die Gesellschaft der Mao-Ära als semi-sozialistisch, allerdings ohne den Begriff zu definieren, weshalb daraus kein größerer Erkenntnisgewinn zu ziehen ist. Seine Begründung lautet: „In Form von Parzellen zur privaten Nutzung gab es innerhalb der Volkskommune noch Familienwirtschaft. Die Familie blieb auf dem Land eine Einheit von Produktion, Konsum und Reproduktion. Auch eine Trennung von Landwirtschaft und Handwerk hatte sich kaum herausgebildet. Die Volkskommunen waren bestenfalls semi-sozialistische Produktionsformen. Die Landbevölkerung blieb weitgehend >>außerhalb des Systems<<.“16 Ich halte es für falsch, heute die Beurteilung des Charakters einer Gesellschaft an der Agrarproduktion festzumachen. In seinem Buch schreibt er auf Seite 198, dass es in der Mao-Ära außer dem zeitweiligen Besitz von Privatparzellen keinen Privatbesitz an Boden gab. Außerdem wurden die Bauern vorwiegend nach Entgeltpunkten gezahlt, das heißt, es gab praktisch keine Lohnarbeit auf dem Land. Was die Warenproduktion auf dem Land betrifft, war die Situation in den verschiedenen Phasen der Mao-Ära uneinheitlich. So gab es, wie im Buch genannt, zeitweise Privatparzellen und damit auch die Möglichkeit des Verkaufs der dort erzeugten Produkte. Die Neigung Wemheuers zum Kategorisieren bringt mit sich, dass die Dynamik und die Widersprüche der Entwicklung, die bei dem Versuch des Aufbaus des Sozialismus unvermeidlich sind, zu kurz kommen, oder anders gesagt seine Darstellung statisch ist.
2.2 Die Reform-Ära
„Zentrale Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise sind nach Marx Ware, Wert, Mehrwert, Lohnarbeit sowie Geld als universeller Repräsentant von Reichtum (siehe 1. Kapitel für eine Einführung). Die Gesellschaft der Mao-Ära war nicht von diesen Kategorien geprägt. Es gab kein Privateigentum an Produktionsmitteln, sieht man von wenigen Kleinbetrieben ab.“17 Abgesehen davon, dass mir diese Aufzählung von Merkmalen kapitalistischer Produktionsweise zu unbestimmt ist, weil sie nicht die Lohnarbeit und die Warenproduktion ins Zentrum stellt, so folgt doch aus der Darstellung, dass das China der Mao-Ära eine sich immer mehr zum Sozialismus entwickelnde Gesellschaft war.
2.3 Entwicklung der neuen Lohnarbeiterklasse
Wemheuers Hauptziel bei der Beschreibung der Reform-Ära ist, nachzuweisen, dass eine neue Lohnarbeiterklasse, eine neue Staatsklasse und insgesamt eine kapitalistische Gesellschaftsordnung entstanden ist. Die Wirtschaftsentwicklung in der Reformära wird folgendermaßen dargestellt: Die Wirtschaftsreformen begannen in der Landwirtschaft, die Volkskommunen wurden aufgelöst, der Boden wurde an Familienhaushalte verpachtet. Diskussionen über Anreizsysteme und Modellversuche mit der Reprivatisierung des Bodens gab es aufgrund der schwierigen Ernährungslage auch in der Mao-Ära. In der Reform-Ära wurden Abgabequoten festgelegt, die darüber hinaus erzeugten Güter durften frei verkauft werden. Welche Auswirkung diese Reformen auf die Produktivität der Landwirtschaft hatte, beschreibt Wemheuer nicht.
Die Umgestaltung der Industrie in der Reform-Ära bestand aus der Ausrichtung der Staatsbetriebe auf Gewinn, der Errichtung von Sonderwirtschaftszonen an der Küste für eine Exportindustrie, dem Wachstum der kollektiven Gemeindeunternehmen auf dem Land (Town Village Enterprises, TVE) und der Zulassung von Kleinbetrieben mit weniger als acht Beschäftigten in der Stadt. Für jemand, der sich nicht anderweitig informiert, wird aus dem Buch nicht ersichtlich, wie der schrittweise Übergang zu einer kapitalistischen Produktionsweise stattfand. Laut Naughton18 fand der schrittweise Übergang zu einer kapitalistischen Produktionsweise mit den TVEs und dem damit einhergehenden Wettbewerb als Motor statt. Der Grund ist, dass die TVEs von Anfang an keine Planvorgaben hatten, also für den Markt produzierten, im Wettbewerb mit den Staatsbetrieben standen, keine Beschäftigungsgarantien und keine Sozialleistungen anboten. Im Jahr 1996 produzierten sie 26% des BIPs. Sie nahmen die überschüssige Landbevölkerung auf, die Arbeitsmigration über die Provinzgrenzen begann erst 1995.19 In den 1990er Jahren wurden die meisten TVEs privatisiert. Einige TVEs waren von Anfang an privat, tarnten sich aber als Kollektivbetriebe. Die TVE-Bewegung war eine von unten kommende Bewegung, die die Entwicklung hin zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft förderte. Interessant ist, dass die TVEs auf der ländlichen Industrialisierung während des großen Sprungs basierten.
Eine wesentliche Strategie bezüglich der SOEs bestand darin, die Planvorgaben für die Produktion gleich zu halten, so dass sie einen immer größeren Anteil für den Markt produzierten.20 Dadurch wurde die Einführung von Warenmärkten, Marktpreisen und Konkurrenz vorangetrieben. Nach Naughton21 war die Wirtschaft in den 1990er Jahren aus dem Plan herausgewachsen, das heißt die Mehrheit der erzeugten Produkte wurde auf dem Markt verkauft. Die gegenüber den SOEs angewandte Politik entsprach der bei der Landwirtschaftsreform: eine Koexistenz von Plan- und Marktwirtschaft mit Anreizen zur Erweiterung marktwirtschaftlicher Verhältnisse zum Beispiel durch die Zulassung neuer Marktteilnehmer. Hinzu kam, dass eine Individualwirtschaft in Form von Betrieben mit bis zu acht Angestellten zugelassen wurde. Der Übergang zu einer profitorientierten Marktwirtschaft wurde mit lokalen Experimenten durchgeführt, die nachträglich meist gebilligt wurden. Die Darstellung in Wemheuers Buch zu den Sonderwirtschaftszonen ist sehr kurz, obwohl in ihnen immer noch fast die gesamte Exportwirtschaft konzentriert ist und sie als Experimentierfeld für kapitalistische Wirtschaft und Managementmethoden dienten Es fehlen Angaben zu den Hauptexportgütern und ihrer Entwicklung, sowie zu den in China erzeugten Wertbestandteilen ebenso wie Angaben zu ihrer Rolle bei dem Übergang zum Kapitalismus. Inzwischen gibt es unterschiedliche Typen von Industrieparks, die über ganz China verteilt sind. Insgesamt entwickelten sich gleich zu Beginn der Reform-Ära vier Arten von Privatunternehmen, die zunehmende private Landwirtschaft, die TVEs, die Sonderwirtschaftszonen und das Wachstum der selbstständigen Erwerbsarbeit in den Städten. Da ich einige der Einschätzungen Wemheuers teile, empfinde ich die statische, nicht am Entwicklungsprozess orientierte und ungenaue Darstellung der konkreten Entwicklung der VRCh zu einer kapitalistischen Gesellschaft als ärgerlich, zumal es zu diesen Themen genügend Untersuchungen gibt.
Das Hauptargument Wemheuers dafür, dass China in der Reform-Ära zu einer kapitalistischen Produktionsweise übergegangen ist, ist,000 dass in China eine Lohnarbeiterklasse in Analogie zu der von Marx beschriebenen ursprünglichen Akkumulation geschaffen wurde. Wemheuer schreibt: „Dieses Konzept entwickelte Marx, um den >>historischen Scheidungsprozess der Produzenten und der Produktionsmittel<<, sprich die Verwandlung von BäuerInnen in LohnarbeiterInnen und die Entstehung des Kapitalismus in England zu beschreiben. In diesem Zusammenhang wird die Kritik an Marxens Verständnis der Lohnarbeit diskutiert. Im Zentrum der Analyse dieses Kapitels stehen die Auflösung der staatssozialistischen ArbeiterInnenschaft, die Herausbildung einer neuen migrantischen ArbeiterInnenklasse sowie die Kommerzialisierung des Agrarlandes und der Landwirtschaft.“22
Die in der Reform-Ära neu entstandene Lohnarbeiterklasse rekrutiert sich vor allem aus der überschüssigen Landbevölkerung, die von den TVEs nicht mehr absorbiert werden konnten und in die Städte abwanderten, und der Freisetzung von Arbeitern der Staatsbetriebe. Bezüglich der Wanderarbeiter (Bauernarbeiter) vom Land in die Stadt unterscheidet Wemheuer zwischen denen der ersten und zweiten Generation, die bereits in den Städten geboren wurde: „Die erste Generation der ländlichen >>Wanderarbeiter<< der 1980er und 1990er verließ die Dörfer in der Regel nur temporär für Jobs in der Industrie, dem Baugewerbe oder dem Servicesektor.“23 Sie hatten und haben ein ländliches Hukou, das heißt einen Anspruch auf Land und durften sich nicht in der Stadt niederlassen. Insofern waren sie keine doppelt freien Lohnarbeiter. Wemheuer spricht von unvollständiger Proletarisierung. Er betont: „In der Kombination von Lohnarbeit und Subsistenzwirtschaft liegt ein Grund, warum China zum >>Billiglohnland<< wurde“.24 Das kann natürlich nur für diejenigen Wanderarbeiter gelten, die in der Nähe des Heimatdorfes arbeiteten, was vor allem zu Beginn der Reformära der Fall war.25 Aus den Daten Schuchers ist zu entnehmen, dass sich erst Mitte der 1990er Jahre nennenswerte Ströme von Wanderarbeitern über die Provinzgrenzen hinweg ausbildeten. Nach Naughton hat China etwa 770 Millionen Arbeitskräfte.26 In der Spitze waren davon 250 Millionen Bauernarbeiter.27 Der Anteil der Bauernarbeiter an der erwerbstätigen Stadtbevölkerung ist von 36% auf 60% gestiegen.28. Ursache der Wanderbewegung ist die Lohndifferenz zwischen Stadt und Land29 und die Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft. Als die Landwirtschaft mehr Bauern freisetzte, als die ländliche Industrie aufnehmen konnte, mussten sie in die Städte abwandern. Da die Wanderarbeiter oft ungelernt sind, sind ihre Arbeits- und Lebensbedingungen oft prekär, sie haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen und die Erziehung ihrer Kinder. Sie arbeiten oft in eigenen Arbeitsmärkten.30
Zu den Bauernarbeitern der zweiten Generation schreibt Wemheuer: „Diese >>Bauernarbeiter<< haben nie auf einem Feld gearbeitet und träumen von einem Leben in der Stadt.“31 Eine besondere Rolle spielen die vom Land vertriebenen Bauernfamilien. Wenn sie Arbeit in einem Unternehmen finden, sind sie doppelt freie Arbeiter. Wemheuer nennt Zahlen von 30-180 Millionen32, Liu für 2014 allein 112 Millionen33 aufgrund von Beschlagnahmung ihres Lands vertriebenen Bauern. Die Vertreibung von Bauernfamilien von ihrem Land und die Verpachtung des Bodens an Unternehmen, die ins Landesinnere ziehen, oder an agroindustrielle Konzerne ist eine wesentliche Einnahmequelle der Lokalregierungen.
Freie Lohnarbeiter gingen teilweise auch aus der Verkleinerung und Umstrukturierung der Staatsbetriebe hervor. Die Anzahl der in den Staatsbetrieben Beschäftigten fiel von 76 Millionen Beschäftigten im Jahr 1992 auf 43 Millionen im Jahr 2005, wobei der Rückgang in den industriellen Staatsbetrieben überproportional war34. Das bedeutet auch, dass der Staat in der Reform-Ära bewusst seinen Anteil am Besitz der Produktionsmittel zugunsten von Privatunternehmen reduzierte. Produzierten 1978 Staatsunternehmen noch 77% der industriellen Erzeugnisse, so waren es im Jahr 1996 nur noch 33%35, der Rest der industriellen Produktion im Jahr 1978 stammte aus städtischen und ländlichen Kollektivbetrieben36. Die Staatsunternehmen sind inzwischen vor allem in der Grundversorgung tätig und entwickeln staatlich geförderte Innovationen. Nach Schucher37 arbeiten heute 90% der chinesischen Werktätigen im Privatsektor. Insgesamt ist meiner Meinung nach die Darstellung Wemheuers zur Entstehung einer neuen Lohnarbeiterklasse in China gut belegt.
2.4 Gesellschaftsform und herrschende Klasse in der Reform-Ära
Zum Abschluss seines Buches geht Wemheuer auf die Frage des Staatscharakters und die herrschende Klasse ein. Er schreibt: „Die Wirtschaft der Volksrepublik hat sich heute weit vom klassischen Modell des Staatssozialismus entfernt, ohne sich vollständig den liberalen Formen des Kapitalismus anzugleichen. Offensichtlich gibt es Elemente wie die starke Rolle des Staates in Industrie und Finanzwesen, die auch nicht mit den Vorstellungen des Neoliberalismus übereinstimmen.“38 Auf der folgenden Seite schreibt er aber, dass die lokalen Regierungen zu wichtigen wirtschaftlichen Akteuren wurden, was impliziert, dass die Einwirkungsmöglichkeit des Zentralstaats abnimmt. In der Reform-Ära wurden die Branchenministerien für die verschiedenen Industriesparten aufgelöst. Ten Brink untersucht in seinem Buch die Nachfolgeinstitutionen und die Absprachemechanismen in wirtschaftlichen Fragen und kommt zu dem Schluss, dass der Zentralstaat hauptsächlich durch Kreditvergabe, Fiskalpolitik, die Parteikomitees in den Unternehmen und die Kontrolle bei der Besetzung von Führungspositionen Einfluss auf Unternehmensentscheidungen nehmen kann. Er betont, dass die chinesische Wirtschaft polyzentrisch strukturiert war und ist und spricht von „Planarchie“39. Ein immer wichtigeres Lenkungsinstrument der chinesischen Regierung ist inzwischen die Technologiepolitik, die mit Direktiven und Subventionen in immer mehr Bereichen weltweite Technologieführerschaft anstrebt. Aktuell stehen dafür neben bereits laufenden Programmen die Programme „Made in China 2025 und „Internet Plus“.40
Nach Wemheuer verstärkt Xi Jinping die Bemühungen, den Zentralstaat zu stärken und hebt die formale Trennung von Partei und Staat zunehmend auf. Inwieweit das angesichts der mächtigen Lokalregierungen und der Privatwirtschaft möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Unbestritten ist, dass „die Regierung die Pläne (nutzt), um makroökonomische Strategien der Entwicklung bestimmter Branchen, Technologien oder für die Spezialisierung von Regionen festzulegen.“41 Insgesamt wird die Frage, welche Bedeutung der Zentralstaat in der VRCh für die ökonomische Entwicklung hat, in der Chinaliteratur kontrovers diskutiert.
Interessant ist folgender Gedanke Wemheuers: „Aktiengesellschaften stellen für Marx eine weitere Form der Vergesellschaftung der Produktion dar, wenn auch nicht der Aneignung des Gewinns, die weiterhin privat bleibt.“42 Und weiter: „Für die Restrukturierung der Wirtschaft in der Jiang-Ära wurde die Umwandlung der >>volkseigenen<< Betriebe in Aktiengesellschaften gewählt, um sie auf den Markt auszurichten. Damit ist China den umgekehrten Weg gegangen, wie ihn sich Marx vorstellte.“43 Hinzu kommt: Der staatliche Industriesektor wurde durch Stilllegungen und Privatisierungen drastisch verkleinert. Der Staat zog sich aus der Leitung der Staatsbetriebe fast vollständig zurück, es wurden also die Möglichkeiten staatlicher Planung bewusst reduziert.44 Somit ist die chinesische Form der Überführung von Staatsbetrieben in Aktiengesellschaften ein Hebel zum Übergang in den Kapitalismus.
Insgesamt hält Wemheuer den chinesischen Staat für den wirklichen Gesamtkapitalisten, da er nicht das Organ der Privatkapitalisten sei. Er begründet das so: „Die Partei will grundsätzlich verhindern, dass sich die privaten KapitaIistInnen als eine neue Klasse formieren können, die einen starken Einfluss im politischen Bereich durchzusetzen vermag.“45 Diese Behauptung scheint mir nicht belegt, beschreibt er doch selber die Duldung der Umwandlung von Kollektivunternehmen in Privatunternehmen durch die Partei und Regierung(en), die Aufnahme von Privatunternehmern in die Partei bis hin ins ZK und die Unternehmertätigkeit von Parteimitgliedern über ihre Familie. Auf manche Entwicklungen, die Ten Brink in seinem Buch beschreibt, wie die Entstehung von Arbeitgeberverbänden und die Absprachen von Lokalregierungen und Zentralregierung mit Privatkapitalisten und die Netzwerkarbeit zwischen Unternehmen, Partei und Staat geht er praktisch nicht ein, obwohl sie nach Ten Brink eine große Bedeutung haben. So gibt es bei den Lokalregierungen wohl einen regelrechten Verkauf von Ausnahmeregelungen, Grundstücken und mehr.
Für Wemheuer herrscht in China die kapitalistische Produktionsweise. Er bezeichnet sie als Staatskapitalismus, definiert sein Verständnis dieses Begriffs aber nicht. Das wäre aber notwendig, da es zu diesem Begriff eine jahrzehntelange umfangreiche Debatte gibt, in der der Begriff ganz unterschiedliche Inhalte hatte. Offensichtlich geht es ihm vor allem um eine Abgrenzung zu den westlichen kapitalistischen Staaten. Ich frage mich, warum es nicht reicht, China als kapitalistisch zu kennzeichnen mit Besonderheiten, wie sie jedes kapitalistische Land hat. Ein solch klarer Standpunkt würde für die Debatte der Linken, die er anregen will, völlig ausreichen. Die Verwendung des Begriffs des Staatskapitalismus könnte dagegen suggerieren, dass der Staat zwar kapitalistische Prinzipien zulässt, dies aber unter der Kontrolle einer proletarischen Führung mit dem Ziel, Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Sozialismus weiterzuentwickeln. Der chinesische Staat zieht sich aber immer mehr aus den unternehmerischen Entscheidungen der Staatsunternehmen auf die Position des Anteileigners zurück und erlaubt Privatisierungen.
Wemheuer versucht, seinen Begriff des Staatskapitalismus anhand mehrerer Fragestellungen zu beschreiben. Er wirft die Frage auf, „ob Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft identische Begriffe sein müssen“46 und: „Es ist vielleicht an der Zeit, die Idee aufzugeben, dass Kapitalismus und liberale Demokratie zusammengehören.“47 Was die erste Frage betrifft, so fehlt in dem Buch eine Analyse des Charakters der chinesischen Gesellschaft und die Auskunft, was er unter einer bürgerlichen Gesellschaft versteht.
Zur zweiten Frage. Mir scheint es historisch unstrittig, dass die kapitalistische Produktionsweise sowohl mit liberalen wie autoritären Herrschaftsformen funktionieren kann. Insbesondere kann sich die kapitalistische Produktion auch in Ländern entwickeln, in denen das Kapital politisch nicht an der Macht ist, wie das zum Beispiel im deutschen Kaiserreich und danach, im japanischen Kaiserreich in der Meiji-Restauration, aber auch in England während der industriellen Revolution der Fall war. Offensichtlich kann das Kapital, solange die kapitalistische Entwicklung weitgehend ungestört verläuft, zeitweilig auf die Ausübung der Führung der politischen Macht verzichten. Die Staatsmacht besteht dann aus Vertretern unterschiedlicher Klassen unter Vorherrschaft der alten Klasse. Beide Klassen müssen, bis die Machtfrage entschieden ist, Kompromisse finden. Es hängt dann von der historischen Entwicklung ab, wann das Kapital die politische Herrschaft und die Macht über die Staatsorgane übernimmt.
Was mir nicht bekannt ist, ist, ob es wirklich in der KPCh so wenig marxistische und historische Kenntnisse gab, dass es keinen Flügel in der KPCh gegeben hat, der die Meinung vertrat, dass die unkontrollierte Zulassung kapitalistischer Prinzipien eine Eigendynamik entwickelt, die zu einer kapitalistischen Gesellschaft führen würde – so wie das Marx für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus beschrieb. Die dazu komplementäre Frage ist, ob der dominierende Flügel der KPCh bewusst auf eine kapitalistische Wirtschaftsordnung zusteuerte oder glaubte, die Zulassung von kapitalistischen Mechanismen im Griff behalten zu können. Ich gehe davon aus, dass es beide Linien in unterschiedlichen Ausprägungen sowohl in der Partei wie in der Gesellschaft gab. Es stellt sich auch die Frage, ob nicht die Kulturrevolution – entgegen ihrer Absicht – den Übergang in die nachfolgende Reform-Ära begünstigt hat. Das Buch wirft diese Fragen und die Frage, ob, und wenn ja, warum der Aufbau des Sozialismus in China auf offensichtlich schwer zu lösende Probleme stieß, nicht auf.
Die herrschende Klasse in China bezeichnet Wemheuer als Staatsklasse: „Die Staatsklasse umfasst meiner Meinung nach die Kader von Partei und Staat von der Zentralregierung bis zur Kreisebene sowie die ManagerInnen des Staatssektors.“48 Er begründet das damit, dass sie auf legalem und illegalem Weg Teile des Mehrwerts abschöpfen oder dass ihre Familienangehörigen mit – oft illegal angeeigneten49 – privatisierten Betrieben unternehmerisch tätig sind, also als Privatkapitalisten. Das Geld wird oft in Steueroasen versteckt. Die Privatunternehmen und ihre Organisationen sieht Wemheuer in staatliche Verbände eingebunden, beziehungsweise untergeordnet. Ich meine, wenn die Privatunternehmen 90% der Arbeitnehmer beschäftigen, lassen sie sich nur einbinden, wenn das staatliche Handeln ihren Interessen weitgehend entspricht. Es leuchtet daher nicht ein, warum sie Wemheuer dann nicht der Staatsklasse zuordnet. Offensichtlich besteht im Hinblick auf den Charakter der Staatsmacht in der VRCh noch Untersuchungsbedarf. Was interessant gewesen wäre, aber in dem Buch fehlt, ist ein Vergleich der Staatsklasse in China und Russland.
Wemheuer geht aber in seinen Fragestellungen noch einen Schritt weiter: „Jörg Goldberg argumentiert in einer generellen Debatte, dass im Globalen Süden gegenwärtig Formen des Kapitalismus entstünden, in denen es keine Bourgeoisie im Marxschen Sinne gebe. Nach Marx ist das eine Klasse, die nicht nur die Produktionsmittel besitzt und Lohnarbeiter beschäftigt, sondern auch auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene durch politische Bündnisse politische Hegemonie herstellen könne.“50 Wemheuers Beschreibung der Staatsklasse hat Ähnlichkeiten zu Goldbergs These. Eine Klasse im Marxschen Sinn ist die Wemheuersche Beschreibung der Staatsklasse in China nicht.
2.5. Aktuelle Fragen zur weiteren Entwicklung Chinas
Zum Schluss geht Wemheuer auf die Herausforderungen für die Staatsklasse ein.51 Als erstes nennt er den Konflikt zwischen der Selbstprivilegierung und dem Legitimationszwang der KPCh, der nur so lange entschärft bleibt, solange es den Massen ständig besser geht und solange auf Proteste nicht nur mit Repressionsmaßnahmen sondern auch mit Reformen reagiert wird. Als Zweites nennt Wemheuer die Abhängigkeit der chinesischen Wirtschaft vom Export, aber auch vom Import von Hochtechnologie. Zum technologischen Stand der chinesischen Wirtschaft gibt es im Buch keine Angaben. Die Anstrengungen der VRCh zu einem Übergang von der Werkbank der Welt zu einer High-Tech-Nation führen zu zunehmenden Konflikten mit den höher entwickelten Volkswirtschaften. Das Ziel, den Binnenmarkt zu entwickeln steht im Widerspruch zu einer Exportstrategie, die immer noch auch auf Billiglöhnen beruht. Als weitere Konflikte benennt Wemheuer den Kampf gegen die Umweltzerstörung, das Problem der nationalen Minderheiten, die Zukunft der Bauernschaft und ihrer strukturellen Benachteiligung sowie die Protestbewegungen zu unterschiedlichen Themen.52
3. Fazit
Wemheuer hat ein anregendes Buch geschrieben. Es wirft eine Reihe wesentlicher Fragen auf, der sich die linke Debatte stellen sollte. Er selbst beantwortet viele davon in seinem Buch nicht. Die zentrale Frage, in der in der Linken unterschiedliche Positionen vertreten werden, ist die nach dem Charakter der derzeitigen Gesellschaftsordnung in der VRCh. Hat sich die VRCh in der Reform-Ära zu einer kapitalistischen Gesellschaft entwickelt oder befindet sie sich in einer Übergangsphase zum Sozialismus oder ist sie sogar nach wie vor sozialistisch? Zu dieser Frage nimmt das Buch eine klare Haltung ein. Die Gesellschaftsform der VRCh in der Mao-Ära charakterisiert Wemheuer in seiner Terminologie als semi-sozialistisch, die der Reform-Ära als schrittweisen Übergang zum Staatskapitalismus. An der Darstellung der Transformation zum Kapitalismus fehlt mir die erforderliche Gründlichkeit. Eine solche fehlt ebenfalls zum Charakter der Staatsmacht in der VRCh und zu ihrer Entstehung. Es bleibt abzuwarten, ob es Wemheuer mit seinem Buch gelingt, die Auseinandersetzung in der Linken zu beleben.
Literatur
Karuscheit, Heiner: Die Schlüsselkrise der 50er Jahre in der Sowjetunion, Aufsätze zur Diskussion 67, März 1999.
Liu, Yansui; Li, Jintao; Yang, Yanyan: Strategic adjustment of land use policy under the economic transformation, Journal Land use policy 74(2018) 5-14.
Naughton, Barry: The Chinese Economy, Adaption and Growth, The MIT Press 2018.
Schucher, Günter: Chinas Arbeitsmärkte Umbrüche, Risiken, Perspektiven, In Länderbericht China, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2014.
Ten Brink, Tobias: Chinas Kapitalismus Entstehung, Verlauf, Paradoxien, Campus Verlag, 2013.
Wemheuer, Felix: Chinas große Umwälzung Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem, Papyrossa Verlag, 2019.
Fritz Göt
1 Wemheuer, S. 31
2 Wemheuer, S. 34
3 Wemheuer, S. 80
4 Wemheuer, S. 53
5 Aufsätze zur Diskussion 67
6 Wemheuer, S. 64
7 Wemheuer, S. 37
8 Wemheuer, S. 102
9 Wemheuer, S.115
10 Wemheuer, S. 110
11 Wemheuer, S.132 f.
12 Naughton, S. 67
13 Naughton, S. 74 ff
14 Wemheuer, S. 164 f.
15 Wemheuer, S. 134 f.
16 Wemheuer, S. 174
17 Wemheuer, S. 171
18 Naughton, S. 307 ff.
19 Naughton, S. 140, Schucher, S. 706, 707
20 Naughton, S. 104 ff.
21 Naughton, S. 106, 113
22 Wemheuer, S. 185
23Wemheuer, S. 188
24 Wemheuer, S. 189
25 Schucher, S. 706, 707
26 Naughton, S. 209
27 Naughton, S. 140
28 Ten Brink, S. 285
29 Naughton, S. 144
30 Naughton, S. 209 ff.
31 Wemheuer, S. 195
32 Wemheuer, S. 199
33 Liu, S. 7
34 Naughton, S. 116
35 Ten Brink, S. 126
36 Naughton, S. 343
37 Schucher, S. 712
38 Wemheuer, S .208
39 Ten Brink, S. 253 ff.
40 Naughton, S. 380 ff.
41 Wemheuer, S. 208, 209
42 Wemheuer, S. 213
43 Wemheuer, S. 215
44 Naughton, S. 342 ff.
45 Wemheuer, S. 218
46 Wemheuer, S. 218
47 Wemheuer, S. 219
48 Wemheuer, S. 227
49 Wemheuer, S.232
50 Wemheuer, S. 218
51 Wemheuer, S. 241 f.
52 Wemheuer, S. 246