Arbeiterschaft und SED-Sozialismus

eine gescheiterte Beziehung

Heiner Karuscheit

Vorbemerkung: Das Schweigen der Linken

Mit dem Untergang der vor siebzig Jahren gegründeten DDR ging nicht nur der erste Sozialismusversuch auf deutschem Boden zu Ende, sondern endete auch die vor hundert Jahren aus der Novemberrevolution 1918/19 hervorgegangene kommunistische Bewegung. Mittlerweile sind seit dem Untergang der DDR drei Jahrzehnte vergangen, deshalb hätte man erwarten können, dass die marxistische Linke den siebzigsten Jahrestag nutzen würde, um den Ertrag von dreißig Jahren Analyse und Diskussion zur Geschichte der DDR und zum Scheitern des Sozialismus vorzustellen. Wie nutzte sie diese Gelegenheit?

Die der DKP nahestehenden „Marxistischen Blätter“ beschränkten sich darauf, in einer Schwerpunktausgabe den „Kulturstaat DDR“ zu feiern (MBl 4/2019). Im 2006 verabschiedeten Parteiprogramm der DKP heißt es, dass man für die Niederlage des realen Sozialismus in Europa „bisher noch keine abschließenden Erklärungen“ hat und „sich der Aufgabe (stellt), die Ursachen für die Niederlage aufzudecken (…) Die Diskussion dazu findet in der DKP statt.“ Wer die Debatten in der DKP und ihrem Umfeld verfolgt hat, weiß, dass es bei der Absichtserklärung geblieben ist, dokumentiert durch die Beschränkung der MBl auf den „Kulturstaat DDR“.

Die Monatszeitschrift „Rotfuchs“, das ostdeutsche Gegenstück zur DKP und den MBl, getragen hauptsächlich von ehemaligen SED-Mitgliedern oder nachgewachsenen Sympathisanten, brachte im Oktober 2019 eine Sonderbeilage zum 70. Jahrestag heraus, die neben Interviews mit Pieck und Grotewohl aus dem Jahr 1945 u.a. den Leitartikel „Sagen wird man über unsere Tage…“ vom Rotfuchs-Chefredakteur Arnold Schölzel (früher Chefredakteur der jungen welt) enthielt. Darin stand zum Werdegang der DDR nichts, umso mehr hatte Schölzel zum wiederauflebenden Faschismus und Militarismus in der BRD sowie der „Kriegsvorbereitung Richtung Osten“ zu sagen.

Den Abschluss bildete der Wiederabdruck eines von Karl-Eduard von Schnitzler, dem Chefpropagandisten des DDR-Fernsehens, 1998 geschriebenen Artikels, der die DDR als Friedens- und Rechtsstaat gegen den „Unrechtsstaat BRD“ pries und dessen Kernaussage lautete: „Wer sagt eigentlich, dass die sogenannte Aufarbeitung der DDR-Geschichte mit der Analyse ihres Zusammenbruchs beginnen muss?“ So polemisch und unernsthaft – seinem Urheber entsprechend – der Satz auch daherkommt, so treffend bringt er gleichzeitig die Rat- und Sprachlosigkeit der Linken auf den Punkt.

Eine „antifaschistisch-demokratische“ Ausflucht

Auffällig war, dass der „Rotfuchs“, anstatt den Sozialismus zu thematisieren, die DDR wesentlich ihrer antifaschistisch-demokratischen Errungenschaften wegen pries. Als antifaschistische Demokratie existierte sie jedoch lediglich bis Mitte 1952, denn am 9. Juli dieses Jahres beschloss die SED auf ihrer II. Parteikonferenz den Übergang zum Sozialismus und setzte damit der bisherigen Beschränkung ihrer Politik ein Ende.

Vier Monate zuvor hatte Stalin die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unter der Bedingung der außenpolitisch-militärischen Neutralität bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung angeboten – was auf ein bürgerliches Gesamtdeutschland und das Ende der SED-Herrschaft in der DDR hinauslief. Mit ihrem Sozialismusbeschluss beendete die SED daher nicht nur die von ihr bis dahin verfolgte Politik der antifaschistischen Demokratie, sondern torpedierte vor allem das soeben gemachte Wiedervereinigungsangebot, denn es war klar, dass es keine Wiedervereinigung zwischen einer sozialistischen DDR und einem bürgerlichen Weststaat geben konnte.

38 Jahre später fand diese Wiedervereinigung unter bürgerlichem Vorzeichen statt – nur mit dem Unterschied, dass das vereinigte Deutschland jetzt das militärische Bündnis der Westrepublik mit den USA in Gestalt der NATO-Mitgliedschaft fortsetzte. Wäre es da nicht naheliegend gewesen, sich Gedanken über die 1952 eingeleitete Sozialismuspolitik zu machen, anstatt sich mit Unschuldsmiene auf die antifaschistische Demokratie bzw. den „Kulturstaat DDR“ zu berufen?

Rotfuchs und DKP stehen gemeinsam in der Nachfolge der 1918/19 aus der Novemberrevolution hervorgegangenen kommunistischen Bewegung. Die 1949 gegründete DDR war jahrzehntelang „ihr“ Staat. Was besagt es, wenn sie immer noch keine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Untergangs haben? Wie will man jemals wieder Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn man weder zum Scheitern des Sozialismus noch zum Ende der kommunistischen Bewegung eine substantielle Erklärung vorzuweisen hat?

Ökonomie und Gesellschaft

Auf einem anderen Flügel der Linken gab Thomas Kuczynski in dem Artikel „Woran ist der Sozialismus in der DDR gescheitert“ eine ökonomische Antwort auf die gestellte Frage. Er schrieb, dass das Scheitern „vor allem ökonomischer Natur“ war. Dafür verantwortlich soll das internationale Kapital gewesen sein, das den „Nominalsozialismus“ – wie er ihn nennt – im Rahmen der sogenannten Systemkonkurrenz ökonomisch in die Knie zwang“. (Zeitschrift „Sozialismus“ 10/2019, S.39, 45) Aber wie konnte das gelingen? Warum war die SED nicht in der Lage, durch die planmäßige Regelung der Produktion die gesellschaftlichen Produktivkräfte so zu entwickeln, dass man den westlichen Kapitalismus überholte anstatt ihm zu unterliegen?

Anders als Kuczinsky thematisierten zwei Autoren in der „Z“ Nr. 119 vom September 2019 diese Frage, indem sie auf das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft eingingen. Beide konstatierten die zurückbleibende Produktivität der DDR-Wirtschaft, blieben bei dieser Feststellung aber nicht stehen, sondern verwiesen zur Erklärung auf die unzureichende Befolgung des Leistungsprinzips in der Produktion. Sie vermerkten, dass den Fachleuten und der Staatsführung anhand der Kontrollziffern des Wirtschaftsplans die Schwächen der DDR-Ökonomie klar waren und dass regelmäßig versucht wurde, der Leistungsorientierung Geltung zu verschaffen. Als Grund dafür, weshalb das nicht gelang, verwies Jörg Roesler auf das „nicht bzw. nicht mehr intakte Verhältnis der SED-Führung zu ‚ihren‘ Werktätigen“. Die Arbeiterschaft widersetzte sich allen Bemühungen, die Produktivität durch eine stärker leistungsorientierte Produktionsweise zu erhöhen; sie ließ alle Appelle an ihre Leistungsbereitschaft in die Leere laufen, weil das „Vertrauen in das Wirken von Partei und Regierung“ verloren gegangen war und nicht „wieder hergestellt werden konnte“. Da die entscheidende Produktivkraft jedoch der Mensch selber ist, war der Untergang der DDR, so der Autor, letztlich „auf das Versagen des politischen Systems der DDR zurückzuführen“. („Z“ Nr 119, S.121)

In derselben Ausgabe der „Z“ illustrierte Siegfried Prokop diesen Tatbestand in einem Aufsatz über „Das Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der DDR (1970-1976)“. Um dem Leistungsprinzip Geltung zu verschaffen, versuchte die SED-Führung auf dem IX. Parteitag 1976, zusammen mit der Einführung neuer Sozialleistungen das Gestrüpp von 170 verschiedenen Tarifgruppen zu lichten, das nach dem Urteil der Fachleute einer leistungsgerechten Organisierung der Produktion entgegen stand. Doch als die Werktätigen darauf mit einem vernehmbaren Murren reagierten, verzichtete die Parteiführung nach den Worten Prokops „geradezu in Panik“ auf das Tarifprojekt und setzte lediglich die sozialpolitischen Beschlüsse um. Auf diese Weise hatte das Leistungsprinzip „immer weniger eine Chance“ und wandelte sich die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einer „Sozialpolitik auf Kosten der Wirtschaft“ um („Z“ Nr 119, S.113f), was dauerhaft nicht durchzuhalten war.

Die innere Staatsgründung der DDR

Mehr sagten die Autoren zu dem Thema nicht, doch es liegt auf der Hand, woher die Heidenangst rührte, mit der die SED-Führung 1976 reagierte: es war der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der ihr mehr als zwanzig Jahre später immer noch in den Knochen steckte und sie in Panik zurückrudern ließ, während die Arbeiterschaft dem Staat die eigene Produktivkraft verweigerte.

Nach der Niederschlagung der Unruhen gestaltete die SED den Staat so um, dass die Gefahr eines zweiten „17. Juni“ gebannt war und der weitere Aufbau des Sozialismus ohne Störung erfolgen konnte. Basierend auf dem Sozialismusbeschluss von 1952 erfolgte so die innere Staatsgründung der DDR als sozialistischer Separatstaat, indem Gesellschaft und Staat die Form erhielten, deren Grundzüge bis zum Schluss Bestand hatten. Auf diesen Zeitraum der inneren Staatsgründung konzentriert sich der nachfolgende Text, um den Werdegang der DDR zu entschlüsseln.

Dabei ist es unvermeidlich, die Deutschlandstrategie der Sowjetunion einzubeziehen, da diese als Siegermacht des Weltkriegs Richtung und Grenzen der in Ostberlin verfolgten Politik bestimmte. Diese Strategie war in Moskau heftig umstritten, jedoch wurde der Streit unter der Decke gehalten, um keine Zweifel an der „monolithischen Geschlossenheit“ der bolschewistischen Partei aufkommen zu lassen. Seitdem die frühere Debattenkultur der Bolschewiki in den Säuberungen und Schauprozessen der 30er Jahre zusammen mit den „Abweichlern, Volksverrätern und Trotzkisten“ liquidiert worden war, versteckten sich die dennoch geführten strategischen Debatten hinter allgemeinen Floskeln des Marxismus-Leninismus und nichtssagenden Konsensbekundungen. Damit korrespondiert eine Vorstellung von Stalin als einem die sowjetische Politik als Alleinherrscher bestimmenden Diktator, die es bis heute erschwert, die realen Machtverhältnisse und Entscheidungsprozesse zu durchschauen, zumal wichtige Archivalien in Moskau immer noch nicht frei zugänglich sind.

Dennoch liefern die vorhandenen Materialien, Dokumente und Erinnerungen genügend Fakten, um die Auseinandersetzungen nachzuvollziehen und von der SED-Politik sowie der DDR eine andere Geschichte zu erzählen als bislang üblich.

1. Um Demokratie, Sozialismus und die Zwei-Lager-Politik

Mit der Vernichtung des Hitlerismus gilt es gleichzeitig, … die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen hat, zu Ende zu führen, die feudalen Überreste vollständig zu beseitigen und den reaktionären altpreußischen Militarismus mit all seinen ökonomischen und politischen Ablegern zu vernichten.
Wir sind der Auffassung …, dass die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland … den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes (vorschreiben), einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.“ Mit diesem programmatischen Aufruf verkündete die aus dem russischen Exil zurückgekehrte KPD-Führung am 11. Juni 1945 die Ziele ihrer künftigen Politik.

Ein neues KPD-Programm zur Vollendung der bürgerlichen Revolution

Die propagierte Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution mit dem Ziel einer parlamentarisch-demokratischen Republik war eine Reaktion auf die zwölfjährige Herrschaft des Nationalsozialismus und bedeutete eine vollständige Abwendung von der bis dahin verfolgten sozialistischen Revolutionsstrategie. Die Kehrtwende war unter dem Einfluss der sowjetischen Kommunisten erfolgt. Bereits 1938 hatte der „Kurze Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU (B) verlautbart, dass die Novemberrevolution in Deutschland keine sozialistische, sondern eine unvollendete bürgerliche Revolution gewesen sei, und sich damit von der Revolutionspolitik Luxemburgs und der KPD distanziert. In Fortsetzung davon war der demokratische Aufruf in Zusammenarbeit mit der sowjetischen Parteiführung zustande gekommen; Stalin hatte sich an der Ausarbeitung des Aktionsprogramms persönlich beteiligt.1

Der Politikwechsel warf eine Reihe von grundlegenden Fragen zu den früher vertretenen Einschätzungen auf, konkret zur bürgerlichen Revolution in Deutschland und zur Novemberrevolution, Schließlich hatte die KPD im Gefolge der SPD bis dahin negiert, dass sich die bürgerliche Revolution durch die Reichseinigung nicht erledigt hatte, sondern ihre demokratische Aufgabenstellung nach wie vor vollbracht werden musste.

Daran hatte auch die Novemberrevolution nichts Grundlegendes geändert, denn durch das Zusammengehen der SPD mit dem junkerlichen Militäradel am Ausgang des Kriegs (Ebert-Groener-Pakt) waren die Grundstrukturen des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaats, Eigentumsverhältnisse und Staatsmaschinerie komplett erhalten geblieben. Sie hatten lediglich einen parlamentarischen Überbau erhalten, aber eine soziale Umwälzung hatte es nicht gegeben. Insoweit traf die Feststellung aus dem Aufruf zu, dass die Novemberrevolution eine unvollendete bürgerliche Revolution gewesen war. Noch deutlicher ist zu sagen, dass die Weimarer Republik nicht aus der Novemberrevolution, sondern aus einer Konterrevolution, nämlich aus der Niederwerfung der Revolutionsbewegung hervorgegangen war.2

Darüber hinaus drängte sich die Frage auf, ob nicht auch der Nationalsozialismus mit seiner Gegnerschaft gegen die Moderne, gegen die Aufklärung, gegen Liberalismus und Sozialismus im Kontext mit der bislang gescheiterten bürgerlichen Revolution begriffen werden musste. Schließlich war Deutschland neben Italien das einzige kapitalistisch entwickelte Land, in dem der Faschismus – wenngleich in anderer Gestalt – an die Macht gelangt war, während die Staaten einer bürgerlichen Revolution resistent geblieben waren.

Unverstandene Novemberrevolution

Wenn die KPD also jetzt eine demokratische Umwälzung propagierte, gab es genügend Gründe, sich mit dem früher verfolgten Revolutionskonzept und den dahinterstehenden Einschätzungen auseinander zu setzen. Das war auch deswegen zwingend, weil der Aufruf bei der Mehrheit der Kommunisten, die in Deutschland geblieben waren und illegale Arbeit geleistet hatten, auf Unverständnis bis Ablehnung stieß. „Im Gegensatz zu vielen während des Moskauer Exils getroffenen Einschätzungen, wonach die mit den Beschlüssen der Brüsseler und Berner Konferenz vollzogene Abkehr von einem Sowjetdeutschland bei den Mitgliedern in Deutschland auf große Zustimmung gestoßen sei, wurde diese Forderung wieder laut. Zahlreiche Berichte der Ulbricht-Mitarbeiter registrierten vor allem Widerstand gegen die Moskauer Sicht deutscher Realitäten“.3

Für die KPD-Mitglieder war die Revolution von 1918/19 nicht der Versuch einer demokratischen, sondern eine fehlgeschlagene sozialistische Revolution gewesen, und als damaliger Hauptfehler galt ihnen eine zu späte Parteigründung durch Rosa Luxemburg, mithin eine organisatorische Frage. Die vorhandenen Schwächen, so die vorherrschende Lesart, waren aber in den 20er Jahren durch die Bolschewisierung der Partei unter Ernst Thälmann behoben worden, und deshalb stand nun getreu dem Motto „nach Hitler kommen wir!“ der Übergang zum Sozialismus an, gestützt auf die siegreiche Sowjetunion.

Ulbricht selber musste bei seiner Rückkehr nach Deutschland angesichts verbreiteter Forderungen nach sofortiger Einführung des Sowjetsystems konstatieren, dass „die Mehrheit unserer Genossen sektiererisch eingestellt ist“.4 Doch obwohl er anfangs „der eifrigste Propagandist des Programms der bürgerlichen Revolution“ war5 und es ansonsten kaum eine Frage gab, zu der er sich nicht äußerte (später zeichnete er sogar für eine mehrbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ verantwortlich), setzte er sich nicht mit der linksradikalen Vergangenheit der KPD auseinander. Auch über das Verhältnis von bürgerlicher zu sozialistischer Revolution, zur Rolle des Proletariats in einer bürgerlichen Revolution und das Problem der Hegemonie oder einer Minderheitenrevolution ist bei ihm kein weitergehender Gedanke zu finden.6

Unter diesen Umständen war von Anfang an die Gefahr gegeben, dass der demokratische Aufruf als kurzzeitiger taktischer Rückzug aufgefasst wurde, den man rasch hinter sich bringen musste, um schnellstmöglich zum Sozialismus überzugehen.

Das Verhältnis zur Arbeiterschaft

Die vorhandenen politischen Überzeugungen verbanden sich mit einer bestimmten Einstellung zum Proletariat, die nie thematisiert wurde, aber das Denken und Handeln der Kommunisten stillschweigend beeinflusste. Sie ging zurück auf die Ablösung des linken Parteiflügels von der SPD im Ersten Weltkrieg, als entgegen aller Resolutionen und Solidaritätsversprechen der 2. Internationale die Proletarier aller Länder an der Seite „ihrer“ Regierungen gegeneinander Krieg führten – eine Schmach insbesondere für die deutsche Sozialdemokratie, die bis dahin als führende Kraft der internationalen Arbeiterbewegung gegolten hatte.

Rosa Luxemburg hatte keine Erklärung für den Weltkrieg gehabt, der mit ihrer Imperialismustheorie nicht zu begreifen war. Erst recht konnte sie das Bündnis der SPD mit dem preußisch-deutschen Militäradel und die jahrelange Folgsamkeit der Arbeitermassen im Krieg nicht verstehen.7 Obwohl sie selber bis zuletzt in der SPD und dann der USPD ausgeharrt hatte, warf sie den Massen vor, dass sie im Krieg vier Jahre lang „Kulturpflicht, Ehrgefühl und Menschlichkeit“ vergessen hätten und „sich zu jeder Schandtat missbrauchen“ ließen – ein Urteil, das nicht in einem beliebigen Artikel stand, sondern im Revolutionsprogramm der Spartakusgruppe vom Dezember 1918, das anschließend als Parteiprogramm der KPD fungierte, bis es 1930 von der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung“ abgelöst wurde.

Die damit verbundene Einstellung setzte sich mit Blick auf das Arbeiterverhalten im Dritten Reich fort, nachdem es nicht einmal am Ende des Kriegs zu Widerstandsaktionen gekommen war. Diese Passivität konnte man nur mit Terror und einer geschickten Propaganda erklären, die das Klassenbewusstsein des Proletariats „verschüttet“ hätten. Doch war das eine materialistische Begründung? Musste man sich nicht fragen, was für eine (Arbeiter-) Politik der Nationalsozialismus betrieben hatte, dass er die Arbeiterschaft bis zum Schluss an sich binden konnte? So legte die eigene Erklärung unausgesprochen die Schlussfolgerung nahe, dass die Partei die Rolle eines Vormundes übernehmen musste, um ein in die Irre geführtes Proletariat umzuerziehen.8

Soziale Umwälzungen und die SED-Gründung

Unter der Leitlinie des demokratischen Aufrufs wurde im Bündnis mit den bürgerlichen Parteien eine Landreform durchgeführt, die den junkerlichen Großgrundbesitz an Landarbeiter, Kleinbauern und Flüchtlinge verteilte („Junkerland in Bauernhand“); außerdem wurden die großen Industriebetriebe und Banken verstaatlicht. Damit wurde die soziale Basis der Kräfte, die den Nationalsozialismus an die Macht gebracht hatten, großenteils zerschlagen und eine stabile Basis für die antifaschistisch-demokratische Ordnung gelegt. Die Frage war nur, wie lange die KPD an dieser Politik festhalten würde.

Angestoßen durch die gemeinsame Verfolgung im Dritten Reich, schlossen sich KPD und SPD in der SBZ 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zusammen; die KPD hatte zu dieser Zeit knapp 620.000 Mitglieder, die SPD knapp 680.000. In den Westzonen unterband die SPD-Führung unter Kurt Schumacher die Vereinigungsbestrebungen. Ermöglicht wurde die Vereinigung durch den demokratischen Aufruf der KPD, doch die entscheidende Voraussetzung war, dass man bis zum Ersten Weltkrieg in einer Partei organisiert gewesen war und mit dem Erfurter Programm von 1891 einen gemeinsamen theoretisch-ideologischen Bezugspunkt hatte.

Dieses Programm basierte nicht auf einer Untersuchung der Klassen- und Herrschaftsverhältnisse im Deutschen Reich und negierte die andauernde Vormachtstellung des junkerlich-preußischen Militäradels im Bündnis mit der Schwerindustrie sowie die daraus folgende Notwendigkeit einer bürgerlich-demokratischen Revolution (unter proletarischer Führung), bevor der Sozialismus anstand. Stattdessen propagierte es die gesellschaftliche Umwandlung als Folge ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Vom Boden dieses Programms aus war die SPD in der Vorkriegszeit allmählich in den preußisch-deutschen Militärstaat hineingewachsen und war es für die Parteimehrheit kein großes Problem gewesen, 1914 ein Kriegsbündnis mit dem Militäradel einzugehen, das auch in der Novemberrevolution Bestand hatte und als dessen Ergebnis die Grundstrukturen der alten Ordnung in der Republik von Weimar erhalten blieben.

Dagegen begriff sich der linke Minderheitsflügel als wahrer Erbe der Bebel-SPD 3und des Erfurter Programms und verfolgte gemäß der ökonomisch-historischen Vorhersage dieses Programms eine sozialistische Revolutionsstrategie, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Wenn jetzt nach 30 Jahren Trennung eine Wiedervereinigung der zerstrittenen Arbeiterparteien stattfand, bot das die Gelegenheit, im Zusammenhang mit der gemeinsamen Vergangenheit die Untauglichkeit des Erfurter Programms für den anstehenden demokratisch-bürgerlichen Umsturz zu reflektieren. Doch die KPD-Mitglieder waren darauf festgelegt, dass die „historische Schuld für das Versagen der deutschen Arbeiterklasse“ 1918/19 im Verrat der Sozialdemokraten (am Erfurter Program) lag, wie es die vom ZK für die Schulung herausgegebenen Geschichtslektionen verkündeten.9 Dieses moralische „Verrats“-Urteil über die SPD und das Versagen der Arbeiterklasse hatte auch in der SED Bestand.

Um die sowjetische Außen- und Revolutionspolitik

Ihre Politik konnte die KPD/SED nur im Rahmen der sowjetischen Deutschlandstrategie betreiben, allerdings zeigte sich bald, dass die aus Moskau kommenden Direktiven in unterschiedliche Richtungen wiesen.

Die differierenden Zielangaben spiegelten die widersprüchliche Lage des Sowjetstaats wider. Einerseits hatte er mittlerweile die industrielle Basis für den Sozialismus geschaffen und war in der Lage gewesen, diese im Krieg weiter auszubauen. Er gehörte zu den Siegermächten des Weltkriegs und war durch die Niederlage Deutschlands sowie den Niedergang Großbritanniens und Frankreichs zur stärksten europäischen Macht geworden sowie neben den USA zur Weltmacht aufgestiegen. Andererseits hatte der nationalsozialistische Vernichtungskrieg fast 30 Millionen Tote gekostet und die Regionen im Westen des Landes verwüstet hinterlassen, so dass ein umfassender Wiederaufbau anstand. Dagegen hatten die USA als die andere große Siegermacht keine Kriegsschäden erlitten, verfügten über eine stärkere Industrie und schickten sich an, das nachzuholen, was ihnen nach dem ersten Weltkrieg missglückt war, nämlich an ihrer atlantischen Gegenküste Fuß zu fassen. Wie weit das amerikanische Engagement in Europa allerdings reichen und in welchem Umfang es mit militärischen Verpflichtungen einher gehen würde, war zunächst unklar und in den USA selber umstritten.10

Revolutionspolitisch stellte sich bald heraus, dass vorerst in keinem kapitalistisch entwickelten europäischen Land eine soziale Revolution auf die Tagesordnung trat, obwohl die kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens zu einflussreichen Massenparteien wurden. Zugleich erstreckte sich der sowjetische Machtbereich zwar bis nach Mitteleuropa hinein, doch die dazu gehörigen Länder waren wesentlich agrarisch geprägt, lediglich die Tschechoslowakei bildete eine Ausnahme. Unter diesen Verhältnissen entwickelten sich in der KPdSU unterschiedliche Auffassungen über die zu verfolgende Außen- und Revolutionspolitik, die auf zwei konträre Konzeptionen hinausliefen, die hier als Defensiv- und Offensivstrategie gefasst werden.

Eine Defensivkonzeption Stalins

Stalin vertrat eine vorsichtig-defensive Konzeption. Er hatte bereits den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland nicht als sozialistischen, sondern (gegen andere Auffassungen in der bolschewistischen Partei) als nationalen, als Großen Vaterländischen Krieg führen lassen.

Nach Kriegsende verfolgte er eine Ausgleichspolitik gegenüber den USA. Im September 1946 antwortete er schriftlich auf eine entsprechende Frage des Moskauer Korrespondenten der „Sunday Times“, dass er vollkommen „an die Möglichkeit einer freundschaftlichen und dauerhaften Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien trotz des Vorhandenseins ideologischer Unterschiede und an einen ‚freundschaftlichen Wettbewerb‘ zwischen den beiden Systemen“ glaube.11 In ökonomischen wie politischen Fragen konzessionsbereit, erklärte er im Dezember 1946 mit Blick auf China die ausdrückliche Bereitschaft seiner Regierung, „mit den Vereinigten Staaten in den fernöstlichen Fragen eine gemeinsame Politik durchzuführen“.12 So favorisierte er eine Zusammenarbeit der KPCh mit der Kuomintang Tschiang Kai-Scheks und unterstützte Mao Zedong im Bürgerkrieg nur zögerlich. Und auch im griechischen Bürgerkrieg leistete die SU den kommunistischen Kräften keine militärische Hilfe.

Die US-Administration ihrerseits begann schon bald nach Roosevelts Tod, sich von der Konzeption der „one-world“ unter Einschluss der Sowjetunion zu lösen und auf Distanz zu ihrem sowjetischen Weltkriegsverbündeten zu gehen. Im März 1947 verkündete der amerikanische Präsident Truman aus Anlass des gerade stattfindenden Bürgerkriegs in Griechenland die Entschlossenheit der USA, kein weiteres Vordringen des Kommunismus zu akzeptieren. Allerdings war mit der „Truman-Doktrin“ keine neue Aufrüstung und keine „roll-back“-Politik verknüpft. Stalin verfocht deshalb weiterhin, so in einer Unterredung mit dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Stassen im April 1947, dass die USA und die UdSSR trotz verschiedener Wirtschaftssysteme „selbstverständlich … miteinander zusammenarbeiten könnten“, und fügte hinzu, den USA stünden „solche Märkte wie Europa, China und Japan offen“, um ihre Wirtschaft zu entwickeln.13

Auch als die USA auf Konfrontationskurs gegen die UdSSR gingen, hielt er den Kräften, die aufgrund der prinzipiellen Aggressivität des Kapitalismus-Imperialismus an einen neuen Krieg glaubten (der nach ihrem Dafürhalten mit einem Sieg des Sozialismus enden würde), bis zu seinem Tod entgegen, dass ein neuer Weltkrieg gegen die Sowjetunion nicht zwangsläufig stattfinden müsste.14

Das Kominform und die Zwei-Lager-Theorie

Gegenüber dieser zurückhaltenden Kräfteeinschätzung und Revolutionsstrategie formierte sich in der KPdSU eine „linke“ Strömung mit weitgehend anderen Vorstellungen über die Außen- und Revolutionspolitik. Nach dem Triumph über den deutschen Imperialismus und Faschismus einte diesen Flügel die Überzeugung, dass der Siegeszug des Sozialismus nicht mehr aufzuhalten sei. War der Faschismus nicht die letzte Karte des niedergehenden Kapitalismus gewesen, der aus seinem Krisenstrudel nicht mehr herauskommen würde, bis es zum endgültigen Kladderadatsch kam? Bestärkt wurde diese Überzeugung dadurch, dass der ökonomische Wiederaufbau in der UdSSR mit Hilfe der Planwirtschaft zügig voranging und die Produktion bald wieder das Vorkriegsniveau erreichte, während die kapitalistischen Länder Westeuropas noch darniederlagen und auch in den USA als Folge der Abrüstung nach dem Krieg zeitweise Massenarbeitslosigkeit existierte.

Wortführer dieser Richtung war der Vorsitzende der mächtigen Leningrader Parteiorganisation A.A. Shdanow, der als Politbüromitglied zugleich ZK-Sekretär sowie Kulturminister war. Auf seine Initiative wurde im September 1947 in Polen das „Kommunistische Informationsbüros“ gegründet, das die Kommunistischen Parteien Osteuropas sowie Italiens und Frankreichs vereinigte. Die SED erhielt einen Beobachterstatus.

Zur Charakterisierung der Weltlage legte die Versammlung die von Shdanow vertretene „Zwei-Lager-Theorie“ zugrunde, zu der es in der Gründungsdeklaration hieß, dass sich nach dem Krieg zwei Lager herausgebildet hätten: auf der einen Seite „das imperialistische und antidemokratische Lager, dessen Hauptziel die Errichtung der Weltherrschaft des amerikanischen Imperialismus und die Zerschlagung der Demokratie ist“. Diesem Lager gegenüber stand „das antiimperialistische und demokratische Lager, dessen Hauptziel die Zerstörung des Imperialismus, die Stärkung der Demokratie und die Liquidierung der Überreste des Faschismus ist.“15

Überzeugt vom unaufhaltsamen Niedergang des Kapitalismus-Imperialismus sowie der prinzipiellen Überlegenheit des Sozialismus bestand gemäß Gründungserklärung kein Zweifel an der Perspektive des Ringens: „Der Kampf der beiden gegensätzlichen Lager, des imperialistischen und des antiimperialistischen, vollzieht sich unter den Verhältnissen der weiteren Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus, des Schwächerwerdens der Kräfte des Kapitalismus und der Festigung der Kräfte des Sozialismus und der Demokratie.“16 Aus dieser optimistischen Perspektive ergab sich die Forderung nach einer Offensivstrategie: „Die Hauptgefahr besteht jetzt in der Unterschätzung der eigenen Kräfte und in der Überschätzung der gegnerischen Kräfte. (…) Konzessionen an den neuen Kurs der USA und des imperialistischen Lagers (können) seine Inspiratoren nur noch frecher und aggressiver machen.“17 Das richtete sich kaum verhüllt gegen Stalin, der die Kräfteverhältnisse wesentlich zurückhaltender einschätzte und eine Politik der Konzessionen und des Entgegenkommens gegenüber den USA betrieb.

Ihren entscheidenden Rückhalt fanden die unterschiedlichen Konzeptionen jeweils entweder in der Partei oder im Staat(sapparat). Stalin war zwar sowohl Generalsekretär der KPdSU als auch (seit 1941) Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, d.h. Regierungschef, er betrieb seine Politik aber wesentlich über den Staat, während seine Stellung in der Partei unsicher war, wie Shdanows Auftreten zeigte.

Um die deutsche Frage

In der deutschen Frage stießen die beiden Linien zusammen. Im Zentrum Europas zwischen West und Ost gelegen, war das geschlagene Deutschland das Schlüsselland, dessen künftige Einordnung in die internationalen Beziehungen die Grundlinien der Weltpolitik in der nächsten Zeit maßgeblich bestimmen würde. Außerdem war es das Geburtsland des wissenschaftlichen Sozialismus und besaß bis 1933 die stärkste revolutionäre Arbeiterbewegung außerhalb der UdSSR. Zwar hatte die KPD eine schwere Niederlage erlitten, aber warum sollte sie nicht bald wieder an ihre alte Stärke als kommunistische Massenpartei anknüpfen können? Vor diesem Hintergrund bildeten sich auf sowjetischer Seite gleich nach Kriegsende unterschiedliche Optionen der Deutschlandpolitik heraus.18

Die weitestreichende Option war die Bildung eines einheitlichen sozialistischen Deutschlands unter der Herrschaft der KPD/SED. Eine abgeschwächte Version davon war der Aufbau des Sozialismus wenigstens in der sowjetischen Ostzone. Die dritte Option schließlich war die Bildung eines militärisch beschränkten und neutralen, bürgerlich-demokratischen Deutschland zwischen den Weltmächten. Da die erste Option sich rasch als unrealistisch heraus stellte, drängten ihre Anhänger um so mehr auf einen zügigen Weg zum Sozialismus im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, damit dieser mit seiner überlegenen Gesellschaftsform bald zum Modell für die westlichen Besatzungszonen werden konnte.

Die unterschiedlichen Optionen schlugen sich u.a. in der Frage der Reparationen nieder. Während Stalin die Erfüllung der im Potsdamer Abkommen vereinbarten Reparationsverpflichtungen verlangte, um die kriegszerstörte Sowjetunion aufzubauen, lehnte Shdanow „die Demontagepolitik ab und favorisierte stattdessen eine rasche Umgestaltung der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands nach sowjetischem Vorbild.“19

Die einander widersprechenden Positionen wurden jahrelang nebeneinander her verfolgt, so dass die sowjetische Deutschlandpolitik bis 1953 ambivalente Züge trug. In der Sowjetischen Militäradministration (SMAD; ab 1949 Sowjetische Kontrollkommission = SKK), der obersten Besatzungsbehörde, wurde dieser Gegensatz von zwei Männern verkörpert: Tulpanow und Semjonow. Der eine verfocht die Ziele des linken Parteiflügels, der andere die der sowjetischen Regierung unter Stalin.

Tulpanow als Vertreter der Parteilinken

Tulpanow war Propagandachef der SMAD und Leiter des Parteiaktivs, d.h. der Organisation der KPdSU-Mitglieder im Verwaltungsapparat der SMAD. Den Positionen Shdanows nahestehend,20 kennzeichnete ihn „durchgängig die Entschlossenheit, einer radikalen Entwicklungsperspektive in der Sowjetzone zu folgen.“21 Bereits Anfang Mai 1947 unterstellte er das Faktum der Spaltung Deutschlands, kündigte auf dieser Grundlage die Entwicklung der SBZ nach gesellschaftspolitischen Gesetzmäßigkeiten an, die sich von Westdeutschland unterschieden, und forderte als Konsequenz „eine drastische Hebung des Niveaus der organisatorischen und ideologischen Arbeit der Partei – einen Wechsel im Stil der Parteiführung“.22

Vom Sommer 1947 an, schreibt Loth, gewannen „in der SMAD wie in der SED diejenigen Funktionsträger an Einfluss, die mit der Vorstellung von der Vollendung einer bürgerlichen Revolution schon immer besonders wenig anzufangen wussten. … Kampf für die Demokratie war für sie gleichbedeutend mit Kampf für den Sozialismus.“23 Zwei Monate nach dem 2. Parteitag vom September 1947, der formal das bisherige Programm bekräftigt hatte, forderte Ulbricht dazu auf, aus der SED eine „Partei neuen Typs“ zu machen, was bedeutete, den sozialdemokratischen Einfluss zurück zu drängen, die Einheitspartei nach dem Vorbild der Thälmannschen KPD zu bolschewisieren und auf ein Sowjetdeutschland zuzusteuern. Gestützt auf die SMAD war so bis Mitte 1948 „jedenfalls in der Vision Tulpanows, Ulbrichts und ihrer Parteigänger – aus der Partei der Einheit Deutschlands unversehens die Avantgarde der proletarischen Revolution geworden, aus der führenden Rolle, die sie bei der Herbeiführung der Einheit spielen sollte, wurde nunmehr der Anspruch auf Hegemonie, aus der Vollendung der bürgerlichen Revolution der Durchbruch zur sozialistischen Revolution abgeleitet“.24

Zu dieser Politik gehörte, dass Tulpanow die antifaschistisch-demokratische Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Blockparteien hintertrieb und auf eine Alleinherrschaft der SED hinarbeitete. Ende 1947 setzte er den Vorsitzenden der Ost-CDU ab, Jakob Kaiser, der als Anhänger der deutschen Einheit gegen Adenauer für ein blockfreies Deutschland mit Brückenfunktion zwischen West und Ost eintrat, und zwang ihn, in den Westen zu gehen. Dasselbe machte er mit seinem Stellvertreter Ernst Lemmer.25

Unter dem Vorwurf, eine sektiererische Politik zu betreiben, wurde er aus Moskau mehrfach attackiert. U.a. warf ihm eine im März 1948 eingesetzte Untersuchungskommission des ZK der KPdSU vor, dass er die historischen Perspektiven der deutschen Entwicklung nicht verstehen, sektiererische Auffassungen in der SED unterstützen und die langfristigen Interessen der Sowjetunion in Deutschland gefährden würde.26 Doch trotz wiederholter Kritik konnte er sich auf seinem Posten halten, weil er mächtige Fürsprecher in Partei und Militär hatte. Erst 1949, nach dem Tod Shdanows, wurde er abberufen.

Semjonow und Stalin

Tulpanows Gegenspieler in der SMAD war Semjonow, der als politischer Berater der SMAD/SKK oberster Repräsentant der Sowjetregierung war und ab Ende Mai 1953 sowjetischer „Hoher Kommissar“ (Botschafter) in der DDR. Er erwähnt in seinen Memoiren, dass Tulpanow schon sehr früh auf Aktivtagungen der SED für den Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum Sozialismus und zur Diktatur des Proletariats eintrat, und schreibt die positive Aufnahme dieser Worte zurückhaltend einigen „Hitzköpfen“ in der SED zu.27 Es waren jedoch nicht nur ein paar Hitzköpfe, vielmehr war es eine starke Strömung, die es nicht erwarten konnte, zum Sozialismus überzugehen.

Abgesehen von Semjonow war es vor allem Stalin selber, der bei seinen regelmäßigen Treffen mit den SED-Spitzen die konsequente Umsetzung der antifaschistisch-demokratischen Orientierung anmahnte und gegen die Sozialismusbestrebungen Stellung nahm. Schon beim ersten Besuch der neuen SED-Parteiführung im Januar/Februar 1947 sprach er das Problem an, dass die mit der SED-Gründung vollzogene Auflösung der SPD in der sowjetischen Besatzungszone sich negativ auf die politischen Handlungsmöglichkeiten in ganz Deutschland auswirkte, denn sie gab der antikommunistischen SPD-Parteiführung unter Kurt Schumacher im Westen Deutschlands die Handhabe, alle östlichen Einheits-Initiativen zu blockieren. Um dem zu begegnen, plädierte er für eine Wiederzulassung der SPD in der SBZ; dadurch „sollte einerseits der Widerstand Kurt Schumachers gegen gesamtdeutsche Repräsentationen jeder Art unterlaufen werden; zum anderen sollten die westlichen Besatzungsmächte dazu gebracht werden, im Gegenzug die SED als zusätzliche Partei in ihren Zonen zuzulassen. Wenn es schon nicht möglich war, die Vereinigung der Arbeiterparteien in den Westzonen durchzusetzen, sollte auf diese Weise doch wenigstens eine Spaltung der Schumacher-Partei erreicht und das ärgste Hindernis auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verständigung beseitigt werden. (…) Mit der Wiederzulassung der SPD hoffte Stalin wohl auch die Zustimmung der Parteien aller vier Zonen zur Durchführung eines ‚Volksentscheides über die Bildung des Einheitsstaates mit demokratischer Selbstverwaltung der Länder und Gemeinden‘ zu gewinnen, wie ihn die SED seit dem 1.März 1947 propagierte“.28

Angesichts des verschreckten Zögerns seiner Gesprächspartner fragte er: „Ob SED Angst hat vor SPD – man muss sie politisch schlagen“.29 Die Bemerkung legte die von Anfang an vorhandene Tendenz in der SED-Führung offen, ihre Ziele nicht durch Politik, sondern durch Administrierung zu erreichen. In diesem Fall kamen Ulbricht und Pieck indes mit einem blauen Auge davon, denn Kurt Schumacher lehnte es als SPD-Vorsitzender ab, einen Antrag auf die erneute Zulassung der SPD in der SBZ zu stellen.

Ein Rückschlag für die Sozialismuspolitik

Bei einem weiteren Besuch der SED-Führung in Moskau im Juli 1947 betonte Stalin die Langfristigkeit der nationalen Aufgabenstellung: „In der Frage der Einheit Deutschlands müssen wir schrittweise weiterkommen, allen Widerständen zum Trotz. Nur dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass der Kampf, der um diese Einheit zu führen ist, schnell gewonnen sein wird. Er kann 5, 6 oder gar 7 Jahre dauern.“30 Entsprechend dieser nationalen Aufgabenstellung gab er der SED-Führung im März 1948 den Rat, die Trennlinie zwischen ehemaligen Nazis und Nichtnazis aufzuheben, die Entnazifizierungskommissionen aufzulösen, den ehemaligen NSDAP- Mitgliedern die aktiven und passiven Bürgerrecht zurückzugeben und ihnen sogar die Gründung einer eigenen Partei zu gestatten.31

Die Zulassung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) kam dieser Aufforderung formal entgegen; tatsächlich verstärkten sich jedoch die Tendenzen, baldmöglichst zum Sozialismus überzugehen. So verkündete Wilhelm Pieck auf der 10. Parteivorstands-Tagung am 12./13.Mai 1948 „eine strategische Änderung unseres Kampfes, die sich aus den Veränderungen in der politischen und staatlichen Situation in Deutschland ergibt“. Den Westen Deutschlands schätzte er als „Militärdiktatur“ in vollständiger Abhängigkeit von den Westmächten ein und verkündete als Perspektive für den sowjetisch besetzten Ostteil, dass dieser sich „als selbständiges staatliches Gebilde“ mit einer „Planwirtschaft nach sozialistischen Grundsätzen“ entwickeln werde.32

Diese Bestrebungen erlitten vorübergehend einen Rückschlag, als der führende Kopf des linken KPdSU-Flügels nur wenig mehr als ein Jahr nach Gründung des Kominform starb. „Man hat den plötzlichen Tod A.A. Zdanovs am 31. August 1948 damit in Zusammenhang gebracht, dass der Herzschlag, der den erst 52jährigen Mann hinwegraffte, eine Folge von heftigen Auseinandersetzungen im Politbüro wegen der Berliner und der jugoslawischen Frage gewesen sei. Zdanov habe eine militärische Aktion wenn nicht gegen Berlin, das heißt gegen die Westmächte, so doch gegen Tito befürwortet, was von der Mehrheit des Politbüros einschließlich Stalins abgelehnt wurde.“33

Nach seinem Tod fand in Leningrad eine großangelegte Parteisäuberung statt, die sog. „Leningrader Affäre“. Sie erfasste mehrere Tausend Funktionäre, die nach Stalins Tod wieder ihre alten Funktionen erhielten. Außerdem wurde Molotow, ein Vertreter der Zwei-Lager-Politik, im März 1949 als Außenminister abgelöst. Das Kominform selber wurde zwar erst 1956 aufgelöst, führte seit Shdanows Tod und der Leningrader Affäre aber nur noch ein Schattendasein. Bald nach den Säuberungen in Leningrad wurde auch Tulpanow aus der SMAD abberufen, und so verloren die ungeduldig auf den Sozialismus wartenden Kräfte in der SED einen maßgeblichen Förderer.

Die DDR-Gründung 1949

Auf der anderen Seite spielte ihnen die von den Westmächten und Konrad Adenauer verfolgte Spaltungspolitik in die Hände. Als Antikommunist und entschiedener Gegner der UdSSR begründete Adenauer mit den Weltkriegsniederlagen gegen beide Male dieselbe Koalition der großen Nachbarmächte, dass eine deutsche Schaukelpolitik zwischen West und Ost ins Verderben führen würde; Deutschland müsse unwiderruflich an den Westen gebunden werden. Soweit es dazu erforderlich war, auf den sowjetisch besetzten, überwiegend preußisch-evangelischen Teil Deutschlands zu verzichten, nahm er dies billigend in Kauf. „Adenauer wollte anstelle einer aktiven Wiedervereinigungspolitik eine aktive Westintegrationspolitik treiben. Dies war für ihn ein hartes Entweder-Oder. (…) Man wird um die Feststellung nicht herumkommen, dass Adenauer von den in der Präambel des Grundgesetzes festgeschriebenen Staatszielen nur eines wirklich verfolgte“, nämlich die Bindung an den Westen.34

Angesichts der Bestrebungen, aus den westlichen Besatzungszonen einen eigenen Staat zu machen, erklärte Stalin noch im August 1948 in einer Besprechung mit den Botschaftern der drei Westmächte, dass sich die Sowjetunion von den Westmächten nicht dazu bringen lassen wollte, „in der Ostzone eine neue Regierung zu bilden“.35 Doch nach Gründung der BRD am 23. Mai 1949 war die nachfolgende Staatsgründung der DDR am 7. Oktober 1949 unvermeidlich. Aus diesem Anlass schickte Stalin ein Glückwunschtelegramm an Pieck und Grotewohl: „Die Erfahrung des letzten Krieges hat gezeigt, dass das deutsche und das sowjetische Volk in diesem Kriege die größten Opfer gebracht haben, dass diese beiden Völker die größten Potenzen in Europa zur Vollbringung großer Aktionen von Weltbedeutung besitzen. Wenn diese beiden Völker die Entschlossenheit an den Tag legen werden, für den Frieden mit der gleichen Anspannung ihrer Kräfte zu kämpfen, mit der sie den Krieg führten, so kann man den Frieden in Europa für gesichert halten. Wenn Sie so den Grundstein für ein einheitliches, demokratisches und friedliebendes Deutschland legen, vollbringen Sie gleichzeitig ein großes Werk für ganz Europa, indem Sie ihm einen festen Frieden gewährleisten.“36

Das Telegramm enthielt nicht einmal andeutungsweise den Hinweis auf eine sozialistische Perspektive für die DDR. Es forderte die DDR-Führung auf, mit Hilfe eines einheitlichen, demokratischen Deutschlands die sich anbahnende Blockbildung zu verhindern, dadurch den Frieden zu sichern und so eine „Aktion von Weltbedeutung“ zu vollbringen.

2. Die Schlüsselkrise der 50er Jahre

Nach dem Sieg der chinesischen Volksbefreiungsarmee unter Mao Zedong 1949 bewirkte der anschließende Korea-Krieg eine Zäsur im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den USA und hatte u.a. zur Folge, dass wenige Jahre nach Kriegsende eine Wiederbewaffnung (West-) Deutschlands näher rückte.

Zeitweilig gab es in den USA Überlegungen, unter Einsatz von Atomwaffen und mit Hilfe der Truppen Tschiang Kai-Scheks in die VRChina einzumarschieren und die kommunistische Herrschaft zu stürzen.37 Im Rahmen dieser Bestrebungen wurde erwogen, (West) Deutschland in einem Umfang aufzurüsten, der auch eine militärische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ermöglichen würde.38 Doch am Ende schreckte der US-Präsident Truman vor dem Risiko eines Dritten Weltkriegs zurück und löste General MacArthur, der als Oberbefehlshaber der US-Truppen in Asien am entschiedensten auf eine Ausweitung des Kriegs drängte, von seinem Posten ab.

Anschließend gingen die Planungen zur Wiederbewaffnung (West-) Deutschlands zwar weiter, sahen aber nur noch eine reduzierte Truppenstärke vor. Die 1952 im Rahmen der EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft) vereinbarte Wiederbewaffnung war lediglich geeignet, die BRD an den Westen zu binden, nicht aber die Sowjetunion ernsthaft zu gefährden, wie Stalin einschätzte.39

Vor einer neuen Etappe

Auf dem Höhepunkt des Koreakriegs hatte Stalin am 17. Februar 1951 in einem Prawda-Interview gewarnt, dass die sowjetischerseits erforderlichen Rüstungsanstrengungen den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Fortsetzung des Industrialisierungsprogramms gefährdeten; er sah sogar einen Staatsbankrott drohen.40 Nach der Beruhigung der Fronten in Korea bewertete er die US-Militärpolitik im Gespräch mit der SED-Führung im April 1952: gemäß den Notizen Piecks nur noch wie folgt „Schaffung Europa-Armee – nicht gegen SU, sondern um Macht in Europa“.41 Aber auch wenn aktuell kein Krieg mehr drohte, stand der Sowjetstaat einer sich formierenden Militärkoalition industriell entwickelter Staaten unter Führung der USA gegenüber, die ihn unter permanenten Druck setzte. Wenn er nicht Gefahr laufen wollte, anstelle eines „heißen“ durch einen „kalten“ Krieg in die Knie gezwungen zu werden, musste er Mittel und Wege finden, um diesem Druck zu begegnen.

Zur selben Zeit ging die Rekonstruktionsperiode nach dem Weltkrieg zu Ende und musste über den weiteren Weg des sozialistischen Aufbaus entschieden werden. Diese Aufgabenstellung stand im Wechselverhältnis mit der internationalen Strategie, denn wenn es gelang, den äußeren Druck zu verringern, wurden gesellschaftliche Mittel für die wirtschaftliche Entwicklung frei. Gelang es umgekehrt den USA, die Einkreisung der Sowjetunion zu vollenden, um einen „Kalten Krieg“ gegen sie zu führen, mussten mehr Mittel in den unproduktiven Rüstungssektor umgeleitet werden. Diese Alternative entschied sich im besetzten Deutschland, wo die Sowjetunion und die USA unmittelbar aufeinander trafen. Die deutsche Frage war nicht nur der Schlüssel für die Gestaltung der internationalen Nachkriegsverhältnisse, ihre Beantwortung bestimmte auch darüber, wie viel Spielraum es für die wirtschaftliche Entwicklung des Sowjetstaats geben würde.

In Partei und Bevölkerung traf die Debatte über den weiteren Weg des sozialistischen Aufbaus auf eine optimistische Grundstimmung, die bereits Shdanow mit seiner Offensivstrategie aufgegriffen hatte. Getragen vom Enthusiasmus der Arbeiter hatte der Sowjetstaat die Industrialisierung in den 30er Jahren in einem Tempo und einem Ausmaß realisiert, das kein bürgerlicher Ökonom für möglich gehalten hatte. Ohne dem wäre er im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg untergegangen, so aber hatte die sowjetische Kriegsproduktion 1944 die deutsche übertroffen, und auch die Überwindung der Kriegszerstörungen war allen westlichen Schätzungen zum Trotz in ähnlich hohem Tempo erfolgt.

Nachdem die Sowjetgesellschaft unter Beweis gestellt hatte, zu welchen Leistungen sie durch die Befreiung der gesellschaftlichen Produktivkräfte von ihren kapitalistischen Schranken imstande war, verbreitete sich in der Partei die Überzeugung, dass bald der Übergang zum Kommunismus möglich sei, wo man dann nach dem Motto verfahren konnte: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Die sich damit eröffnenden Konsummöglichkeiten kamen auch den Erwartungen der Bevölkerung entgegen, die nach den gewaltigen Anstrengungen und Entbehrungen der letzten Jahrzehnte endlich die Früchte der langen Mühen genießen wollte. In den Wirtschaftswissenschaften entsprach dem die Theorie, dass die entscheidende Voraussetzung eine rationelle Organisation der Produktivkräfte sei, um in der nächsten Zukunft den Sprung in den Kommunismus zu bewältigen.42

Die „ökonomischen Probleme des Sozialismus“

In der Ende 1951 veröffentlichten Schrift über “Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ sowie dazugehörenden Ergänzungen aus Briefwechseln nahm Stalin zu den aufgeworfenen wirtschafts- und außenpolitischen Fragen Stellung. Aus seinen Ausführungen ergibt sich insgesamt ein zusammenhängendes Konzept für die Weiterentwicklung des Sowjetstaats, das durchgängig gegen „linke“ Tendenzen gerichtet war.

Wirtschaftspolitisch mündeten seine Ausführungen in der Zurückweisung der verbreiteten Kommunismusvorstellungen. Über die Produktion materieller Güter hinaus sei noch eine ganze Reihe von Etappen der ökonomischen und kulturellen Umerziehung der Gesellschaft erforderlich, bis der Unterschied zwischen Stadt und Land sowie zwischen körperlicher und geistiger Arbeit aufgehoben sei und sich die Einstellung zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Eigentum sowie die Hebung des kulturellen Niveaus grundlegend fortentwickelt habe. Erst wenn die Arbeit aus einer Bürde zum ersten Lebensbedürfnis geworden sei, könne die Gesellschaft an den Übergang zum Kommunismus denken.43 Entsprechend dieser Position plädierte er für die Beibehaltung des seit 1936 in der Verfassung festgeschriebenen Leistungsprinzips, mahnte die Berücksichtigung des Wertgesetzes zur Berechnung der für die Produkte aufgewendeten Arbeit an und warnte vor dem Primat der Leichtindustrie zur Herstellung von Konsumgütern anstelle des von ihm geforderten Ausbaus der Produktionsmittelindustrie.

Im außenpolitischen Teil der Schrift wandte er sich in in dem Abschnitt über „Die Frage der Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern“ gegen die Zwei-Lager-Politik, indem er die Behauptung „mancher Genossen“, dass ein Krieg zwischen den Lagern von Imperialismus und Sozialismus unvermeidlich sei, ins Reich der Fabeln verwies. In Wirklichkeit, so Stalin, seien die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten größer als ihre Gemeinsamkeiten. Er erklärte die gegenwärtige Unterordnung Englands, Frankreichs, Japans und Deutschlands unter die USA für nicht normal und rechnete dauerhaft mit deren Wiederauferstehen. Zwar sei, solange der Imperialismus existiere, die Möglichkeit eines Krieges mit dem Sozialismus nicht auszuschließen; wahrscheinlicher seien jedoch Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Mächten selber.44

Das Wiedervereinigungsangebot vom März 1952

Aus dieser Einschätzung folgte, dass man versuchen musste, die Differenzen zwischen den bürgerlichen Staaten auszunutzen, um zwischen ihnen zu lavieren und sie gegeneinander auszuspielen, anstatt sich auf eine Blockkonfrontation einzulassen, welche die eigenen Kräfte überforderte. Die sog. „Stalin-Note“, die Stalin in seiner Funktion als sowjetischer Ministerpräsident den westlichen Alliierten im März 1952 überreichen ließ, entsprach diesem Konzept, indem sie die Wiedervereinigung Deutschlands inkl. eigener nationaler Streitkräfte bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung gegen die Verpflichtung zur Neutralität anbot, unter Verzicht auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie. Kam auf Basis dieses Angebots ein Friedensvertrag zustande, verzichtete die Sowjetunion zwar auf die Herrschaft über die DDR, aber die USA verloren die tragende Säule ihres geplanten Militärbündnisses in Europa, die Sowjetunion wurde entlastet und die Gefahr des Totgerüstet-Werdens wurde gebannt.

Wenige Wochen nach Veröffentlichung der Note, im April 1952, war die SED-Führung zu Gesprächen in Moskau. Zu Beginn der Sitzung gab Stalin zunächst die oben zitierte Einschätzung ab, dass das geplante westliche Militärbündnis sich nicht gegen die Sowjetunion richten würde, sondern die amerikanische Vorherrschaft über (West-)Europa zum Ziel hätte. Anschließend ging es u.a. um die Umwandlung von Bereitschaftseinheiten der Volkspolizei in eine reguläre Armee als Reaktion auf die drohende Aufrüstung des westlichen Deutschland. Dies wird verschiedentlich als Abkehr Stalins von der deutschen Vereinigungspolitik interpretiert, doch auf dem Boden seiner Deutschlandstrategie stellte sich die Erörterung vielmehr „als mögliche Vorbereitung eines DDR-Beitrags für die von der Sowjetunion vorgeschlagenen nationalen Streitkräfte eines einheitlichen militärisch neutralen deutschen Staates“ dar.45 Die östlichen Truppen würden im Zuge der Wiedervereinigung als Teil der künftigen Armee des vereinten Deutschlands ein Garant für dessen Neutralität werden.

Deshalb war in dem Gespräch auch keine Rede von einer dauerhaften Eigenexistenz der DDR, geschweige denn von einem künftigen Aufbau des Sozialismus. Im Gegenteil forderte Stalin die deutsche Delegation am Ende des Treffens ausdrücklich auf: „Einheit, Friedensvertrag – weiter agitieren“.46

Sozialismus statt Einheit

Für den linken KPdSU-Flügel war die Wiedervereinigungsnote eine Kampfansage, da ihre Realisierung die Aufgabe der DDR als Teil des sozialistischen Lagers bedeuten würde. Für die SED bedeutete es, dass sie die Macht verlieren und keine Chance mehr haben würde, den Sozialismus in der DDR aufzubauen und dessen Überlegenheit über den Kapitalismus der Westrepublik zu beweisen. Um das zu verhindern, war der sofortige Übergang zum Sozialismus das Mittel der Wahl, denn damit wurde einer Wiedervereinigung auf bürgerlicher Basis ein Riegel vorgeschoben. Am 8.Juli 1952 gab das Politbüro der KPdSU der SED-Führung grünes Licht für die Einführung des Sozialismus,47 und am nächsten Tag ließ diese in Ostberlin auf der bereits vorher anberaumten II. Parteikonferenz unter Abänderung der Tagesordnung den Übergang zum Sozialismus beschließen.

In der Grundsatzrede, mit der Ulbricht die Notwendigkeit der Sozialismus begründete, berief er sich zunächst auf die Zwei-Lager-Theorie, indem er die Spaltung der Welt „in das Lager des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus und das Lager des Imperialismus“ konstatierte und gleichzeitig eine „Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Weltsystems“ unterstellte. Seine Ausführungen wiederholten fast wörtlich Shdanows Grundsatzrede bei der Kominform-Gründung fünf Jahre zuvor.

Als Folge der sich vertiefenden allgemeinen Krise des Kapitalismus, so Ulbricht weiter‚ sei das Lager des Imperialismus „von unversöhnlichen inneren Widersprüchen zerrissen“, ja es gebe „eine noch nie dagewesene Verschärfung dieser Widersprüche“. Aus der Feststellung der zwischenimperialistischen Widersprüche hatte Stalin gefolgert, dass Auseinandersetzungen zwischen diesen Staaten wahrscheinlicher seien als ein Krieg zwischen „Imperialismus“ und „Sozialismus“. Ulbricht zog die gegenteilige Schlussfolgerung daraus, nämlich dass die Imperialisten, statt aneinander zu geraten, versuchen würden, „einen Ausweg aus diesen Widersprüchen durch die Vorbereitung eines neuen Kriegs zu finden, den sie vor allem gegen die sozialistische Sowjetunion, gegen die Deutsche Demokratische Republik und die Länder der Volksdemokratie zu führen beabsichtigen.“ Warum eine noch nie dagewesene Verschärfung der Widersprüche zwischen ihnen die imperialistischen Länder dazu veranlassen sollte, sich gegen einen Dritten zu einigen, erläuterte der Referent nicht. Stattdessen diente ihm der behauptete Sachverhalt als Ausgangspunkt, um auf sein eigentliches Ziel zuzusteuern.

Zunächst gestand er eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten in der DDR ein und fuhr sodann fort: „Es besteht kein Zweifel, dass nicht alle Schwierigkeiten auf der bisherigen Stufe unserer demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung gelöst werden konnten. Die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung sowie das Bewusstsein der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen sind jedoch jetzt so weit entwickelt, dass der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe geworden ist. Auf dem Wege der sozialistischen Entwicklung werden wir alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden“.48

Eine Begründung, warum die sozialistische Entwicklung „alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden“ würde, und inwiefern das Bewusstsein der Arbeiterklasse dafür reif war, gab er nicht. Eine Debatte über die neue Politik hatte es weder in der Partei noch erst recht in der Öffentlichkeit gegeben, musste das Ganze doch in aller Eile über die Bühne gehen, um ein Eingreifen Stalins zu verhindern. Selbst die ZK-Mitglieder erfuhren erst am Vorabend der Konferenz davon. Und die Delegierten wurden von dem Sozialismusvorschlag zwar überrumpelt, stimmten aber voller Begeisterung einstimmig zu.49

Stellung des Proletariats

Zur Realisierung des Sozialismus‘ beschloss die Parteikonferenz, die Schwerindustrie zu Lasten anderer Industriezweige auszubauen, die selbständigen Bauern in Produktionsgenossenschaften zu organisieren, dasselbe mit Handwerkern zu tun sowie das kleine und mittlere Kapital durch verschärften Klassenkampf zurück zu drängen. Im Hinblick darauf wurde das Strafrecht zwecks Ahndung antisozialistischer Taten und Äußerungen verschärft und eine Offensive gegen die Kirchen gestartet.

Indem der Sozialismusbeschluss die mit dem Aufruf von 1945 eingeschlagene demokratisch-bürgerliche Politik beendete, griff er wieder auf die Politik von 1918/19 zurück. Seinerzeit waren Spartakus/ KPD mit ihrer Strategie einer proletarisch-sozialistischen Alleinrevolution nicht nur gegen die Staatsmacht, sondern auch ohne und gegen Bauern und Kleinbürgertum, d.h. gegen die Mehrheit des Volkes, gescheitert; sie hatten nicht einmal in der Arbeiterklasse eine Mehrheit gefunden. Nunmehr bedeutete das von der SED verkündete Sozialismusprogramm, dass das Proletariat erneut den anderen Klassen und Schichten alleine gegenüber treten sollte – nur dass die SED diesmal die Staatsmacht innehatte. Das hieß u.a., dass der bisherige antifaschistisch-demokratische Staat, von bürgerlichen Elementen gesäubert, ab jetzt die proletarische Diktatur über die anderen Klassenkräfte ausüben musste. „In der gegenwärtigen Entwicklungsetappe“, erklärte Ulbricht, führt „der Staat der Deutschen Demokratischen Republik … erfolgreich die Funktionen der Diktatur des Proletariats aus.“50

Abgesehen von den zu Gegnern erklärten anderen Klassen und Schichten – wie dachte das Proletariat selber über den Sprung zum Sozialismus? Auf welcher Basis stand dieser Sozialismus, der nach Auffassung von Marx und Engels ein freiwilliger Zusammenschluss assoziierter Produzenten zwecks gemeinsamer Organisierung der gesellschaftlichen Produktion ist? Ulbricht hatte behauptet, dass das Bewusstsein der Arbeiterklasse dafür weit genug entwickelt sei. Doch wie wollte er das wissen, nachdem es vorher keine öffentliche Debatte gegeben hatte?

Eine solche Debatte hätte als ein grundlegendes Problem des Sozialismusbeschlusses offen gelegt, dass er sich gegen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten richtete. Seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert war die Arbeiterbewegung für die nationale Einheit eingetreten. Auch die bis dahin von der SED verfolgte Politik hatte die Wiedervereinigung Deutschlands zum Ziel gehabt, weshalb sie den westdeutschen Bundeskanzler Adenauer zu Recht als Spalter attackierte, weil dieser die Westbindung der BRD unter Inkaufnahme der Spaltung betrieb. Wenn die SED jetzt zum Sozialismus überging, trat sie an Adenauers Seite und betrieb selber die Spaltung. Daher hatte sie kein Interesse an einer vorherigen öffentlichen Diskussion, die diesen Zusammenhang unvermeidlich offenlegen würde, sondern zog es vor, die Arbeiterschaft vor vollendete Tatsachen zu stellen. Gleichzeitig trat sie propagandistisch weiter für die deutsche Einheit ein – nur dass diese Propagandaformel fortan ohne Substanz war.

Auf diese Weise manifestierte sich bereits vom ersten Tag an ein Grundcharakteristikum des von der SED etablierten Sozialismus: die Bevormundung des Proletariats, gepaart mit der ideologischen Verschleierung der eigenen Politik. Der Marxismus, in dessen Namen diese Politik betrieben wurde, mutierte zu einer Legitimationsideologie.

3. Der Wendepunkt: der 17. Juni 1953

In der Sowjetunion markierte der Politbürobeschluss der KPdSU zum Sozialismusaufbau in der DDR den Auftakt zu einem offenen Machtkampf, der über Stalins Tod hinaus reichte und erst durch den 17. Juni 1953 ein vorläufiges Ende fand. Schließlich zielte der Beschluss nicht nur auf eine Entmachtung Stalins, sondern richtete sich gegen die Außen- und Deutschlandpolitik der Regierung insgesamt.

Der Attackierte reagierte darauf durch die Einberufung eines Parteitags. Nachdem der letzte Parteitag der KPdSU 1939 stattgefunden hatte, was die geschwundene Bedeutung der Partei dokumentierte, wurde jetzt für den Oktober 1952 ein neuer Parteitag einberufen, auf dem Stalin seinen Gegenschlag führte. Auf seinen Vorschlag hin beschloss der Parteitag, das Politbüro durch ein „Präsidium“ zu ersetzen, das mit 25 Mitgliedern kaum funktionsfähig war. Außerdem wurde der Posten des Generalsekretärs abgeschafft; an seine Stelle trat ein „erster Sekretär“ mit deutlich weniger Befugnissen, ein Posten, für den Stalin nicht kandidierte und den Malenkow übernahm. Die Maßnahmen zielten unübersehbar darauf ab, den politischen Einfluss der Partei zu reduzieren.

Über diese organisatorischen Schritte hinaus plädierte Stalin in seinem Schlusswort an die anwesenden internationalen Parteivertreter für die von ihm für richtig befundene politische Strategie: „Früher galt die Bourgeoisie als das Haupt der Nation, sie trat für die Rechte und die Unabhängigkeit der Nation ein und stellte sie ‚über alles‘. Jetzt verkauft die Bourgeoisie die Rechte und die Unabhängigkeit der Nation für Dollars. Das Banner der nationalen Unabhängigkeit und der nationalen Souveränität ist über Bord geworfen. Ohne Zweifel werden Sie, die Vertreter der kommunistischen und demokratischen Parteien, dieses Banner erheben und vorantragen müssen, wenn Sie Patrioten Ihres Landes sein, wenn Sie die führende Kraft der Nation werden wollen. Es gibt sonst niemand, der es erheben könnte.“51

Damit spielte er die nationale Karte gegen die Zwei-Lager-Politik und gegen die „Linken“ aus, die den Sturmlauf zum Sozialismus organisieren wollten. Die Kommunisten sollten sich gegen die Bourgeoisie an die Spitze der Nation stellen, um die nationale Unabhängigkeit zu verteidigen und die USA aus Europa abzudrängen. Diese Aufforderung zielte vor allem auf Deutschland, wo die SED soeben den nationalen Kampf für ein vereintes demokratisches Deutschland zugunsten des sozialistischen Aufbaus in der DDR preisgegeben hatte.

Am 5. März 1953 gestorben, erlebte Stalin die weitere Entwicklung nicht mehr mit; die Auseinandersetzung wurde jetzt zwischen seinen Nachfolgern weitergeführt. Sie ließen zunächst in einer Art Waffenstillstand den politisch schwachen Georgi Malenkow neben dem Posten des Ersten Parteisekretärs auch den des Ministerpräsidenten übernehmen. Gleichzeitig trugen sie hinter den Kulissen einen erbitterten Kampf um die zu verfolgende Politik und damit um die Macht aus, mit Berija und Chruschtschow als Hauptkontrahenten an der Spitze zweier Lager, die ihren entscheidenden Rückhalt entweder im Staatsapparat oder in der Partei besaßen.

Im Staatsapparat war Berija als stellvertretender Ministerpräsident offiziell nur der zweite Mann hinter Malenkow, tatsächlich war er jedoch der starke Mann in der Regierung. Er führte das mit dem Staatssicherheitsdienst zusammen gelegte Innenministerium und befehligte in dieser Funktion auch die Kampfeinheiten des Innenministeriums. Ihm gegenüber stand Chruschtschow, Sekretär des ZK der KPdSU. Er verfügte nicht nur über eine zentrale Stellung in der Partei, sondern baute auch Beziehungen zur Armeeführung auf, der die bewaffneten Verbände des Innenministeriums ein Dorn im Auge waren und die im Konflikt mit Berija stand.52 Im Zentrum des Machtkampfs stand der Umgang mit der DDR, der am Ende auch über den Ausgang entschied.53

Die sowjetische Regierung gegen die Sozialismuspolitik

Das Vorgehen der SED gegen Bauern und Handwerker aufgrund des Sozialismusbeschlusses hatte zur Folge, dass die Angehörigen der zu Gegnern erklärten Klassen und Schichten den Staat der soeben ausgerufenen Diktatur des Proletariats in Scharen verließen und es Versorgungsschwierigkeiten gab. Außerdem kam es durch den forcierten Aufbau der Schwerindustrie, den die II. Parteikonferenz zwecks der sozialistischen Wirtschaftsumgestaltung beschlossen hatte, zu Störungen der industriellen Produktion. Doch anstatt den Rückzug anzutreten, ergriff die SED-Führung erneut die Flucht nach vorn und ließ die Arbeitsnormen Ende Mai 1953 um 10% erhöhen, um die wirtschaftlichen Ausfälle zu kompensieren. Von der Lohnseite aus betrachtet hieß dies, dass die Löhne um 10% gekürzt werden sollten.

Durch die sich zuspitzende Lage in der DDR alarmiert, forderte die sowjetische Regierung gleichzeitig die SED-Führung zu Gesprächen auf, so dass eine Delegation des ZK der SED vom 2. bis 4. Juni 1953 nach Moskau kam. Es war der erste Besuch nach dem Sozialismusbeschluss und Stalins Tod.

Zu Beginn der Unterredungen wurde der SED-Delegation eine von Malenkow und Berija erarbeitete Stellungnahme der Regierung übergeben, die mit den Worten begann, dass „infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie … in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden“ ist.54 Als Hauptursache der Krise konstatierte die Stellungnahme, dass „gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen.“55

Die Bemerkung über den Sozialismuskurs der SED als Ursache der Krise und die Billigung durch das Politbüro der KPdSU stellte gleich zu Beginn die Fronten klar. Nach dieser Einleitung folgte eine umfassende Kritik an den vor einem Jahr beschlossenen Maßnahmen, mit der Konsequenz: „Zur Gesundung der politischen Lage in der DDR und zur Stärkung unserer Positionen sowohl in Deutschland selbst, als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene und zur Sicherstellung und Ausbreitung der Basis einer Massenbewegung für die Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden, unabhängigen Deutschlands ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung folgender Maßnahmen zu empfehlen …“ Anschließend folgte ein ganzer Katalog von Maßnahmen, der wesentlich die Rücknahme der ein Jahr zuvor beschlossenen Schritte beinhaltete. U.a. wurde die Rückabwicklung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, eine breite Heranziehung des Privatkapitals, die Revision des Fünfjahrplans sowie die Stärkung der Gesetzlichkeit und Wahrung der Bürgerrechte verlangt und nicht zuletzt als „eine der wichtigsten Aufgaben“ die Ausrottung der Elemente von nackter Administrierung gefordert.

Interne Auseinandersetzungen

Abschließend wurde noch einmal dazu aufgefordert, die „Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus … als unrichtig zu betrachten“ und als Hauptaufgabe den „Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage“ zu führen. Gleichzeitig appellierte der Brief erneut an die weltpolitische Verantwortung der ostdeutschen Kommunisten, indem er auf den Zusammenhang zwischen der deutschen Frage und einer friedlichen Regelung der internationalen Grundprobleme hinwies.

Im Vorfeld des Treffens hatte es in der sowjetischen Führung heftige Auseinandersetzungen gegeben, in deren Verlauf Berija seinen Kontrahenten entgegenhielt, dass die DDR „ja noch nicht einmal ein richtiger Staat“ sei und „überhaupt nur durch die sowjetischen Truppen am Leben erhalten“ werde.56 Demselben Tenor folgten die Erläuterungen, die Malenkow als Vorsitzender des Ministerrats der SED-Delegation gab. Er konstatierte, „dass ohne die Präsenz der sowjetischen Truppen das existierende Regime in der DDR keinen Bestand hat“, und bemerkte, dass der Sozialismuskurs der SED „die Vereinigung Deutschlands behindert“ sowie „auf die Festigung der Spaltung Deutschlands ausgerichtet“ sei. Deutschland könne nicht „über längere Zeit im gespaltenen Zustand, als zwei unabhängige Staaten, existieren“. Deshalb forderte er die SED-Vertreter eindringlich auf, statt für den Sozialismus für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu kämpfen und stellte in aller Klarheit fest, dass eine solche Vereinigung „nur auf der Basis, dass Deutschland eine bürgerlich-demokratische Republik sein wird“, möglich sei. 57

Mit ihrem Auftreten setzten Malenkow und Berija die von Stalin vorgegebene Deutschlandpolitik der Regierung fort. Der Unterschied lag darin, dass Stalin zurückhaltender agiert und vieles in der Schwebe gelassen hatte, während Malenkow und Berija die Haltlosigkeit des SED-Regimes und die einzig realistische Perspektive einer Wiedervereinigung auf bürgerlich-demokratischer Grundlage in aller Offenheit benannten.

Ein aufgezwungener „neuer Kurs

Parallel zur Zurechtweisung der SED-Führung wies die Regierung den Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland, den späteren Verteidigungsminister Gretschko, an, „die bestehenden Mängel in der Ausübung des Besatzungsregimes zu beseitigen“, die Interessen der Zivilbevölkerung möglichst wenig zu beeinträchtigen und alle durch sowjetische Truppen besetzten Bildungsanstalten, Krankenhäuser und Kulturstätten zu räumen. 58 Darüber hinaus wurde die unter militärischem Oberbefehl stehende Sowjetische Kontrollkommission SKK, die Nachfolgerin der SMAD, aufgelöst; Semjonow sollte künftig als „Hoher Kommissar“ im Auftrag der Regierung die Interessen der Sowjetunion wahrnehmen. Er brachte in seinen Gesprächen mit der SED-Führung nach deren Rückkehr aus Moskau auch den Gedanken einer neuen DDR-Regierung mit bürgerlichem Vorzeichen, d.h. mit dem Vertreter einer bürgerlichen Partei an der Spitze, ins Spiel.

Angesichts der vehementen Kritik musste die SED-Führung den Rückzug antreten. Unmittelbar nach der Rückkehr aus Moskau, am 6. Juni, beschloss das Politbüro einen „neuen Kurs„, den das „Neue Deutschland“ am 11. Juni veröffentlichte. Er bestand im Wesentlichen darin, die meisten der im vergangenen Jahr zwecks Übergang zum Sozialismus beschlossenen Maßnahmen aufzuheben und den in den Westen Geflüchteten Wiedergutmachung anzubieten, wie das in der Stellungnahme gefordert worden war.

Die Einführung des Sozialismus als solche wurde durch den „neuen Kurs“ nicht zurückgenommen. Die SED-Spitze wusste, dass die Machtverhältnisse in Moskau nicht stabil waren, deswegen revidierte sie zwar die unhaltbaren wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen, wartete ansonsten aber den Ausgang der Moskauer Machtkämpfe ab. Auch die Erhöhung der Arbeitsnormen wurde nicht zurückgenommen. Dieser Punkt war von der sowjetischen Regierung nicht ausdrücklich erwähnt worden; er wurde von Semjonow in einer Sitzung mit dem Politbüro aufgeworfen, ohne dass dieses darauf einging.59

Gleichzeitig wurde im Politbüro massive Kritik an Ulbricht wegen dessen administrativer Methoden und seinem selbstherrlichen Führungsstil geübt. Seine Hauptgegner waren Wilhelm Zaisser, Minister für Staatssicherheit, sowie Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des „Neuen Deutschland“. Obwohl sich eine Mehrheit der Kritik anschloss, verzichtete das Politbüro aufgrund der Unübersichtlichkeit der Lage in Moskau vorläufig auf seine Absetzung als Generalsekretär.

Der 17. Juni

Der Sozialismusbeschluss der II. Parteikonferenz hatte in der Arbeiterschaft von Anfang an Diskussionen und Kritik hervorgerufen. Seit Beginn des Jahres 1953 stieg die Unruhe in den Betrieben. Produktionsstörungen und wachsende Versorgungsschwierigkeiten dokumentierten in den Augen der Arbeiter das Versagen der SED und die Untauglichkeit der verkündeten Sozialismuspolitik. „Das Spannungsverhältnis zwischen Arbeiterschaft und Staatsmacht nahm kontinuierlich zu.“60 Dann erfuhren die Arbeiter Ende Mai 1953, dass ihre Arbeitsnormen erhöht wurden, um die wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen – wiederum ohne dass sie von „ihrer“ Partei dazu gefragt worden waren.

Wenige Tage später propagierte die SED einen „neuen Kurs“, der die meisten der vor einem Jahr beschlossenen Maßnahmen wieder zurück nahm, jedoch nicht die Erhöhung der Arbeitsnormen. Die Verkündung dieses „neuen Kurses“ war in den Augen der Arbeiter eine Bankrotterklärung, die durch das Schweigen zu den Arbeitsnormen noch verschärft wurde. Dazu kam, dass die ersten Arbeiter, während sie noch im „Neuen Deutschland“ lasen, dass Bauern, Handwerker, Intellektuelle und Geistliche Wiedergutmachung für die Fehler der Partei erhalten sollten, ihre Lohnabrechnungen auf Basis der neuen Normen erhielten – und feststellen mussten, dass ihre Löhne gekürzt worden waren. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Am 15. Juni legten die Bauarbeiter der Stalin-Allee die Arbeit nieder und machten sich am Tag danach auf den Weg zu Ministerpräsident Grotewohl, um ihm eine Resolution zu überreichen, worin die Rücknahme der Normerhöhungen gefordert und darauf verwiesen wurde, dass der neue Kurs nur den Kapitalisten, nicht aber den Arbeitern etwas gebracht habe.

Am Abend des 16.Juni nahm die SED die Normerhöhungen zurück, aber damit ließ sich die Lawine nicht mehr aufhalten. Nach den Bauarbeitern traten immer größere Teile des Proletariats in den Ausstand, bis in fast 600 Betrieben gestreikt wurde, vor allem in den Großbetrieben der industriellen Ballungsgebiete. Insgesamt betrug die Zahl der Streikenden mehr als eine halbe Million, und in mehr als 500 Orten gingen bis zu einer Million Menschen auf die Straßen, außer Arbeitern auch andere Teile des Volkes.61 An einigen Orten wurden Ämter, Parteibüros oder Einrichtungen der Staatssicherheit gestürmt.

Die Forderung nach Rücknahme der Normerhöhungen spielte bei den Protesten keine große Rolle mehr. Zentral waren die politischen Parolen: Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Wiedervereinigung. Damit gab die Arbeiterschaft die Antwort auf den ihr übergestülpten Sozialismusbeschluss ein Jahr zuvor. Die Herrschaft der SED war am Ende.

Entscheidung im Moskauer Machtkampf

Als die Unruhen begannen, versuchte die SPD, sie mit Hilfe ihres Ostbüros anzuheizen. Dagegen blieben die Bonner Bundesregierung und die westlichen Besatzungsmächte passiv. Sie taten nichts, um die Spannungen zu verschärfen, sogar die Wiederholung einer Brandrede des Westberliner DGB-Chefs im Radio wurde von den amerikanischen Rundfunkchefs des RIAS untersagt.62 So lange die sowjetische Viermächte-Mitverantwortung für Deutschland als Ganzes bestand, hatten weder Adenauer noch die USA ein Interesse an einer Wiedervereinigung, die sich möglicherweise aus den Ereignissen entwickeln konnte. Sie wollten auch keinen Krieg, sondern zogen es vor, den Prozess der Westbindung der BRD fortzusetzen und durch die Integration in ein Militärbündnis unwiderruflich zu machen.

Auf der anderen Seite bedrohte der Aufstand nicht nur die SED-Herrschaft und die Position der sowjetischen Linken, sondern auch die Stellung der sowjetischen Armee, die den Verlust ihres militärgeographisch wichtigsten Vorpostens in Mitteleuropa befürchten musste. Das heißt, auf dem Boden der Zwei-Lager-Politik deckten sich die Interessen des Militärs mit denen des linken Parteiflügels der KPdSU und der SED. Ob die Armeeführung sich nun der linken Parteimehrheit anschloss oder ob umgekehrt „angesichts des militärischen Rückhalts die meisten Führungsmitglieder zum Übertritt auf die Seite Chruschtschows ermutigt“ wurden63 – am 17. Juni rollten sowjetische Panzer auf die Straßen und zerschlugen die Demonstrationen. Damit war der innersowjetische Machtkampf zugunsten der Parteilinken entschieden und die SED-Herrschaft gerettet. Vorher der Haupthebel zur Aufsprengung der US-Herrschaft über Westeuropa, garantierte die DDR von nun an als Eckstein der Blockbildung die Spaltung Deutschlands und Europas.

Bis dahin war Adenauers Spaltungspolitik in seiner eigenen Partei umstritten gewesen, seine Stellung Anfang der 50er Jahre längst nicht gefestigt, denn sowohl in seiner eigenen Partei als auch in seinem Koalitionspartner FDP gab es starke gesamtdeutsche Kräfte, welche die nationale Einheit als blockfreier Staat einer Unterordnung unter die USA vorzogen. Nachdem ihn die sowjetische Note zur bürgerlich-demokratischen Lösung der deutschen Frage in erhebliche Bedrängnis gebracht hatte, konnte er bereits nach dem Sozialismusbeschluss der SED darauf hinweisen, dass das sowjetische Angebot nicht ernst gemeint sein konnte. Erst recht bedeutete der 17. Juni einen Triumph für ihn, denn nun schwenkte das bürgerliche Lager endgültig auf seine Politik der Westbindung Deutschlands unter Inkaufnahme der Spaltung ein, während die Kommunisten nicht nur unter den ostdeutschen, sondern auch unter den westdeutschen Arbeitern jeden Rückhalt verloren.

Im September 1953 fanden die zweiten Wahlen zum Bundestag statt. Vor dem 17. Juni hatte die CDU/CSU als sichere Verliererin gegolten und war ein hoher Wahlsieg für die SPD vorhergesagt worden. Jetzt wurde die Union mit 45,2% (1949: 31,0%) unangefochtene Wahlsiegerin; die SPD erhielt 28,8 % der Stimmen (1949: 29,2%), und die KPD verschwand mit 2,2% aus dem Bundestag (1949: 5,7%). Ab jetzt bildete die Westbindung den außenpolitischen Grundkonsens der bürgerlichen Klasse in Deutschland und wurde das Bündnis mit den USA zur Staatsräson der Bundesrepublik.

4. Der Weg in den Untergang

Als maßgeblicher Gegner Chruschtschows und Verlierer des Machtkampfs wurde Berija am 26. Juni verhaftet und bald darauf hingerichtet. Gleichzeitig distanzierte sich Malenkow von ihm und seinen eigenen bisherigen Auffassungen zur DDR. Am 7. Juli 1953 behandelte das ZK der KPdSU den Fall Berija in einer Plenumssitzung. Der Hauptvorwurf war, dass er gegen den Aufbau des Sozialismus in der DDR und für ein neutrales, bürgerliches Gesamtdeutschland eingetreten war. Chruschtschow charakterisierte ihn als „Provokateur und Agent des Imperialismus“ und warf ihm vor, die führende Rolle der Partei abzulehnen.64 Malenkow, wenige Wochen zuvor noch mit Berija einer Meinung, verurteilte ihn jetzt wegen dessen „Kurs auf ein bürgerliches Deutschland“ als „bürgerlichen Renegaten“.65

Der am Ende des ZK-Plenums einstimmig verabschiedete Beschluss beschuldigte Berija, „den Weg des Aufbaus des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen und Kurs zu nehmen auf die Umwandlung der DDR in einen bürgerlichen Staat, was einer direkten Kapitulation vor den imperialistischen Kräften gleichgekommen wäre.“66 Chruschtschow verkündete dazu als unveräußerliches Prinzip, dass es ein neutrales, demokratisch-bürgerliches Deutschland nicht geben könne.67 Molotow, von Stalin als Außenminister abgesetzt und inzwischen wieder im Amt, untermauerte diesen Grundsatz, indem er ausführte: „Für uns Marxisten war und bleibt es klar, dass es … unter den Bedingungen der imperialistischen Epoche eine Illusion wäre, von der Perspektive ausgehen zu wollen, ein bürgerliches Deutschland würde sich gegenüber der UdSSR friedliebend oder neutral verhalten können.“68 Das Dogma von der imperialistischen Epoche und der unveräußerlichen Aggressivität eines bürgerlichen Deutschland musste fortan dazu herhalten, um die sowjetische Deutschlandpolitik zu begründen.

Am 14. Mai 1955, neun Tage nach dem Nato-Beitritt der Bundesrepublik, gründete sich der Warschauer Pakt, und damit hatte die Zwei-Lager Theorie, 1947 zum ersten Mal von Shdanow formuliert, endgültige Gestalt in Form von zwei entgegenstehenden Militärbündnissen angenommen.

Kommunismuspolitik

Nach ihrem Sieg sorgten Chruschtschow und seine Anhänger als Herren nicht nur der Politik, sondern auch der Archive und der Geschichtsschreibung dafür, dass die grundlegenden Differenzen in der Deutschlandpolitik im Dunkeln blieben. Deshalb konnte es zu der bis heute kontrovers geführten Debatte kommen, ob die „Stalin-Note“ ernst gemeint oder ein bloßes Propagandamanöver war. Erleichtert wurde das Vertuschungsgeschäft (und wird es bis heute) dadurch, dass die Niederschriften der Sitzungen der obersten Organe von Staat und Partei geschönt, wenn nicht gefälscht wurden.69

Über die Außenpolitik hinaus stellte der Ausgang des Machtkampfs 1953 die Weichen für die weitere Entwicklung von Staat und Gesellschaft in der Sowjetunion.70 1956 rechnete Chruschtschow auf dem XX. Parteitag mit Stalin ab, indem er ihn alleinverantwortlich für die blutigen Säuberungen der Vergangenheit erklärte, die inhaltlich-politischen Differenzen jedoch verschwieg. Weder sagte er etwas zu den deutschlandpolitischen Kontroversen noch zu der Kommunismuspolitik, gegen die Stalin in den „Ökonomischen Problemen“ Stellung genommen hatte.

Diese Politik wurde von der siegreichen Linken jetzt in die Tat umgesetzt, indem die neue sowjetische Führung zum sog. „Gulaschkommunismus“ überging, auf dessen Boden die gesellschaftlichen Investitionen aus dem Produktionsmittelsektor in die Konsumgüterherstellung verlagert wurden, verbunden mit einer Abkehr vom Leistungsprinzip. Programmatisch fixiert wurde diese Politik durch den XXII. KPdSU-Parteitag 1961, der ein „Programm des Kommunismus“ beschloss, das die Überflügelung der USA in der Pro-Kopf-Produktion innerhalb von zehn Jahren und die kommunistische Güterverteilung nach den persönlichen Bedürfnissen in weiteren zehn Jahren ankündigte.

Ab einen bestimmten Punkt waren die damit einhergehenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Veränderungen nicht mehr rückgängig zu machen. Sie führten zu einer langsamen Abwendung des Proletariats vom Sowjetstaat und mündeten wirtschaftlich in eine Abwärtsspirale, bis von dem siegesgewiss verkündeten „Wettbewerb der Systeme“ nur noch ein Rüstungswettlauf übrig blieb und die Sowjetunion ihrem Ende entgegen ging.71

Der 17. Juni als „faschistischer Putsch“

Für die SED bedeutete der 17. Juni ein vollständiges Desaster. „Die entscheidende politische Niederlage bestand darin, dass hier nicht die ‚bürgerlichen Elemente‘ und andere Klassenfeinde in restaurativer Absicht auf die Straße gegangen waren, sondern Belegschaften, vor allem Arbeiter aus industriellen Zentren der DDR wie Leuna, Bitterfeld und Halle, die in den zwanziger Jahren sozialdemokratische und kommunistische Hochburgen des Klassenkampfes gewesen waren.“72 Die Arbeiterklasse hatte sich unübersehbar gegen den Sozialismuskurs und die SED-Herrschaft gestellt.

Aufgrund der vorliegenden Meldungen und Berichte von Stasi-Mitarbeitern und Parteiorganisationen wusste die Parteiführung dies auch, und vorübergehend gab es Ansätze zu einer ernsthaften Selbstkritik. Doch nach Verstreichen einer mehrwöchigen Schamfrist verkündete eine Resolution des SED-ZKs am 26. Juli 1953, dass der 17. Juni der „Versuch eines faschistischen Putsches“ gewesen sei, den monopolkapitalistische und junkerliche Kreise Westdeutschlands als Helfer des amerikanischen Imperialismus mit Unterstützung einer faschistischen Untergrundbewegung zusammen mit Agenten des Ostbüros der SPD unternommen hätten.73 Zwar habe die Partei Fehler gemacht, im Grundsatz aber stets richtig gehandelt. Vor allem war es „richtig, dass unsere Partei Deutschland auf den Weg des Sozialismus führte und in der Deutschen Demokratischen Republik mit der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus begann. Diese Generallinie war und bleibt richtig.“

Auf die Arbeiter musste die Etikettierung als faschistischer Putschversuch wie Hohn wirken. Ein Jahr zuvor hatte die SED über ihren Kopf hinweg den Sozialismus verkündet und sich dazu auf ihr fortgeschrittenes Bewusstsein berufen. Jetzt wollte dieselbe SED ihnen weismachen, dass sie einen faschistischen Putschversuch unterstützt hätten.

Umgekehrt sah das Ganze aus Sicht einer Parteiführung aus, die für sich in Anspruch nahm, die objektiven Klasseninteressen des Proletariats zu vertreten. Von diesem Standpunkt aus hatten die Arbeitergegen ihre eigenen Interessen gehandelt, fehlgeleitet durch westliche Propaganda. Das durfte sich nicht wiederholen, als Vorhut des Proletariats musste die SED dafür sorgen, dass die Arbeiterklasse ihre historische Mission künftig störungsfrei erfüllte.

Der Umbau der Herrschaft

Dank sowjetischer Soforthilfe und weil es vorerst bei dem „neuen Kurs“ blieb, gelang es, die wirtschaftliche Lage zu entspannen. Der Sozialismusbeschluss wurde aufrecht erhalten, nur erfolgte seine Umsetzung jetzt langsamer. Zugleich sorgte die Parteiführung dafür, dass der 17. Juni sich nicht wiederholte.

Zunächst wurden Herrnstadt und Zaisser als die Hauptkritiker Ulbrichts aus dem Politbüro und dem ZK entfernt, hauptsächlich aufgrund der Kontakte, die Zaisser als Innenminister zu Berija gehabt hatte. Außerdem wurde die Partei insgesamt diszipliniert, nachdem die große Mehrheit der Parteimitglieder bei den Aufstandsaktionen passiv geblieben war und einige sogar mitgemacht hatten; nur eine Minderheit hatte sich an der Niederschlagung beteiligt.74 Zahlreiche Parteimitglieder wurden ausgeschlossen, Parteileitungen unterhalb des ZK ausgewechselt und die direkte Kontrolle der untergeordneten Parteigliederungen durch den ZK-Apparat intensiviert.75 Nachdem die Partei wieder auf Linie gebracht war, stellte die SED-Führung aus den betrieblichen Parteimitgliedern bewaffnete Betriebskampfgruppen auf, die zukünftig den Kampf gegen Saboteure und andere Feinde des Sozialismus führen sollten.

Der wichtigste Schritt war der Ausbau des staatlichen Macht- und Kontrollapparats. „Der Aufstand vom 17.Juni 1953 wurde zum Trauma der Herrschenden, das sie bis zu ihrem Machtverlust im Herbst 1989 nicht mehr los wurden. Die gesamte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten errichtete Sicherheitsarchitektur der SED, die in immer feineren Formen die Gesellschaft umspannte, basierte auf diesem Schockerlebnis.“76 Das Ministerium für Staatssicherheit wurde ausgebaut, bis es zuletzt 40.000 bis 50.000 Hauptamtliche sowie zwischen 110.000 und 190.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IMs) umfasste (die Zahlen schwanken je nach Zählweise). Verglichen mit den anderen Staaten des sozialistischen Lagers, die UdSSR eingerechnet, hatte dort ein Geheimdienst-Mitarbeiter fünf bis zehn Mal mehr Personen zu überwachen als ein Stasi-Beamter in der DDR.77

Im Zentrum der geheimdienstlichen Aufmerksamkeit standen die Betriebe. „Im Laufe der sechziger Jahre wurde … die ‚politisch-operative Sicherung der Volkswirtschaft‘ zur Schwerpunktaufgabe erklärt. Im Arbeitsbereich und im betrieblichen Raum entstand eines der bestausgebauten Informations- und Kontrollnetze der Staatssicherheit“, in dem alle oppositionellen Regungen sofort nach oben gemeldet wurden, um Gegenmaßnahmen zu treffen.78 Ergänzt wurde die Überwachung durch die Praxis der „persönlichen Eingabe“, womit der einzelne Werktätige Wünsche oder Kritik vorbringen konnte – etwa Prämienangleichungen, Lohnerhöhungen, Kindergartenplätze oder Rentenzuschüsse, die zuvor schon Anlass für Streiks gewesen waren. „So wurde die individuelle Form der Interessendurchsetzung, die in den privaten Räumen und in der Familie verfasste Eingabe, für einige Zeit ein probates Mittel, die im Laufe der Zeit nicht geringer gewordenen betrieblichen Probleme zu lösen.“ Der typische Arbeitskampf nahm „den Charakter einer individuellen Bittstellung“ an.79

Das umfassende Kontrollsystem konnte den Arbeitern nicht verborgen bleiben. Hinzu kam nach der Erfahrung des 17. Juni die Überzeugung, dass man angesichts der Besatzungsmacht im Land sowieso nichts machen könne. Durch Repression und Entgegenkommen ruhig gestellt, reagierte die Arbeiterschaft durch den Rückzug ins Privatleben, durch Entpolitisierung und Individualisierung. „Während die Herrschenden aller Fraktionen in der DDR bis 1989 permanent in der Angst lebten, es könne zu einem Massenstreik kommen, hatte sich die Arbeiterschaft der DDR längst von dieser Form des betrieblichen Widerstands verabschiedet und andere Möglichkeiten der Konfliktartikulation gesucht. Die politische Atomisierung der DDR-Arbeiterschaft war eine … Konsequenz dieser Entwicklung.“80

Vom Mauerbau zum „Neuen Ökonomischen System“

Nachdem die Macht gesichert war, ging die SED wieder an den Aufbau des Sozialismus, diesmal nur vorsichtiger als vorher. Nach wie vor überzeugt von der prinzipiellen Überlegenheit über den Kapitalismus, ließ Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED 1958 beschließen, dass in drei Jahren das Konsumniveau der Westrepublik erreicht und übertroffen würde. Als im selben Jahr 1961 die Berliner Mauer gebaut werden musste, um die weitere Massenabwanderung von Arbeitskräften zu unterbinden, bedeutete dies eine öffentliche Kapitulationserklärung, doch nach dem Vorbild der Umtaufe des 17. Juni wurde die Mauer stattdessen zum „antifaschistischen Schutzwall“ erklärt.

Ab1963 wurde in der Wirtschaft auf Initiative Ulbrichts ein „Neues Ökonomisches System“ (NÖS) eingeführt. Die Betriebe erhielten mehr Selbständigkeit, wurden zur wirtschaftlichen Rechnungsführung unter Beachtung des Wertgesetzes angehalten und sollten das Leistungsprinzip durchsetzen. Darüber hinaus ging es vor allem um den Einsatz der Wissenschaft als Produktivkraft im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Revolution, um neue Leitindustrien bzw -technologien wie etwa die Elektronik aufzubauen, mit der Kybernetik als Steuerungsinstrument. Damit, so glaubte Ulbricht, war der Schlüssel für eine sprunghafte Entwicklung der Produktivkräfte gefunden und würde der Sozialismus nunmehr endgültig seine Überlegenheit über das westdeutsche kapitalistische System beweisen. Deshalb ließ er in der Verfassung von 1968 die künftige Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf der Basis des Sozialismus aufnehmen.

In Teilbereichen wurden auch nennenswerte Erfolge erzielt, aber gleichzeitig nahmen Produktionsstörungen aufgrund von Disproportionen zwischen den Wirtschaftszweigen zu und gab es wachsende Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung. Gerd Schürer, seit 1965 Vorsitzender der staatlichen Plankommission, schreibt darüber, dass wir der „immer wieder von Walter Ulbricht vertretene(n) Forderung nach Plänen mit einer jährlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität von 10 bis 12 Prozent … auf Grund der realen Ressourcen nicht entsprechen konnten … Die Tragik dieser Periode von 1966 bis 1970 besteht darin, dass sich die Parteiführung zwar endlich den echten Problemen des Wachstums der Arbeitsproduktivität durch wissenschaftliche, ingenieurtechnische und arbeitsorganisatorische Leistungen zugewandt hat, sich aber durch Übertreibungen, Halbwissen und sogar Schaumschlägerei neue hausgemachte Probleme schuf … Wort und Tat gingen immer weiter auseinander und die Stimmung der Menschen verschlechterte sich rapide.“81 1970 waren die Reserven der DDR-Wirtschaft aufgebraucht, das MfS meldete immer mehr Unmutsäußerungen in der Arbeiterschaft, und eine Mehrheit im Politbüro befürchtete eine Wiederholung des 17. Juni 1953.

Die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“

Hinzu kam, dass Ulbricht begonnen hatte, die wirtschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik zu vertiefen, um die Mittel und Technologien für die wissenschaftlich-technische Revolution in der Industrie zu erhalten. Sowohl in Moskau als auch in der SED-Führung wuchs daraufhin die Befürchtung, dass am Ende dieser Politik nicht der Schwanz mit dem Hund, sondern der Hund mit dem Schwanz wedeln und statt eines sozialistischen Siegs die Abhängigkeit von der BRD stehen würde. Im April 1971 wurde Ulbricht gezwungen zurückzutreten; an seiner Stelle übernahm Erich Honecker die Führung von Partei und Staat.

Die neue Führung sorgte zunächst dafür, dass die Produktion wieder ins Gleichgewicht gebracht wurde. Darüber hinaus ging sie unter dem Schlagwort der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ an die Erweiterung der Konsumtionsmöglichkeiten und den Ausbau sozialer Leistungen. „Seit dem Machtantritt Honeckers wurden die verfügbaren Ressourcen nicht mehr vorrangig in die Modernisierung der wissenschaftlichen und industriellen Basis, sondern in die Sozialpolitik investiert“.82

Um die dafür erforderlichen gesellschaftlichen Mittel zu erarbeiten, forderte Honecker bei seinem Amtsantritt, die Arbeitsproduktivität zwischen 1971 und 1975 um 35 bis 37 Prozent sowie von 1976 bis 1980 um 30 bis 32 Prozent zu steigern. Doch wie bei dem in der Vorbemerkung genannten Versuch anlässlich des Parteitags 1976 scheiterten auch alle anderen Anläufe in dieser Richtung; die regelmäßigen Appelle und Agitationskampagnen zur Leistungssteigerung auf allen Gebieten verpufften wirkungslos. Hinzu kamen hohe Ausgaben für die innere Sicherheit sowie für die Armee, die wegen der Anforderungen des Warschauer Pakts nicht gesenkt werden konnten.

Die Folgen waren unausweichlich: zuerst war die erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Produktionskörpers nicht mehr möglich und dann die einfache Reproduktion, so dass die Infrastruktur zerfiel und mit der Überalterung der Maschinerie die Produktionsstörungen zunahmen. Der Ausweg war eine wachsende Verschuldung im westlichen Ausland (1989: 49 Mrd Valutamark), welche die Krise der DDR-Wirtschaft jedoch nur verlängern und nicht beheben konnte.

Das langjährige Politbüromitglied Krolikowski, von 1973 bis 1976 ZK-Sekretär für Wirtschaft, plädierte 1982 angesichts des erkennbaren Niedergangs dafür: „Natürlich muss in der DDR das Lebensniveau eingeschränkt werden. Die Mehrheit von Partei, Arbeiterklasse und Volk ist auch dazu bereit, wenn dies ehrlich erklärt und mit einer überzeugenden Konzeption begründet wird.“83 Die Mehrheit des Politbüros war nicht so realitätsfremd, diesem Vorschlag Folge zu leisten; die zitierten Sätze dokumentierten lediglich die Illusionen ihres Urhebers über das Verhältnis der Werktätigen zur SED sowie dessen Hilflosigkeit angesichts der Erkenntnis, sehenden Auges in den Untergang zu marschieren.

Westdeutsche Anhänger des DDR-Sozialismus pflegten Kritik an der DDR mit dem Spruch zu kontern, dass bei allen Lohnrunden in der BRD die DDR mit am Tisch der Tarifparteien sitzen würde – als ob die Lebensverhältnisse östlich der Elbe jemals ein Druckmittel für höhere Löhne im Westen gewesen wären. In Wirklichkeit saß umgekehrt bei allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen der SED neben dem Lebensstandard der westdeutschen Arbeiter das Gespenst des 17. Juni mit am Tisch der Politbüromitglieder.

Leistungsprinzip und Produktivität

Die regelmäßig unternommenen und ebenso regelmäßig gescheiterten Versuche, die Produktivität im notwendigen Ausmaß zu steigern, offenbarten die grundlegende Schwäche der DDR-Ökonomie. Das Kapital kann die Leistungsbereitschaft der unter seinem Kommando stehenden Arbeitskräfte durch die Konkurrenz untereinander und die stete Drohung mit der Arbeitslosigkeit erzwingen. Dieser Weg ist einer Produktionsweise und Gesellschaftsordnung, die das Erbe der bürgerlichen Ordnung antreten will, versperrt.

Auch auf der ersten Stufe des Kommunismus gilt das Leistungsprinzip, insoweit jeder Produzent seiner individuellen Arbeitsleistung gemäß entlohnt wird. Das Maß der von ihm geleisteten Arbeit ist aufgrund seiner Qualifikation sowie der Intensität und Dauer seiner Tätigkeit größer oder kleiner als der Durchschnitt, und seinem Arbeitsquantum entsprechend hat er (nach Abzug der Arbeit für die Gemeinschaftsfonds) den Anspruch auf ein gleich großes Quantum an Konsumtionsmitteln, das dementsprechend ebenfalls größer oder kleiner ist. Es herrscht also das Leistungsprinzip: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.

Zu vermitteln und organisieren ist dies durch den Staat, der auf dieser Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung noch unverzichtbar ist; erst wenn die Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis aller Gesellschaftsmitglieder geworden ist, kann mit dem Leistungsprinzip auch der bisherige Staat verschwinden. Aber im Unterschied zur bürgerlichen Produktionsweise kann dieser Staat nicht die Zwangsmittel des Kapitals einsetzen, um mit der Drohung der Arbeitslosigkeit den Einsatz der individuellen Produktivkräfte der Gesellschaftsmitglieder zu erzwingen. Grundbedingung seines Funktionierens ist das freiwillige Zusammenwirken der assoziierten Produzenten, und die Schaffung dieser Grundbedingung ist in der Regel das Ergebnis einer Revolution, in deren Verlauf das Proletariat die Staatsmacht erobert, die großen Produktionsmittel in Besitz nimmt und sich subjektiv in die Lage versetzt, die gesellschaftliche Produktion zu organisieren.

Der „reale Sozialismus“ und das reale Proletariat

Grundsätzlich war dies auch der SED klar, weshalb Ulbricht sich 1952 auf das fortgeschrittene Bewusstsein der Arbeiterklasse berief – nur war dieses Bewusstsein herbeifabuliert, um mit dem Übergang zum Sozialismus eine Wiedervereinigung auf bürgerlicher Grundlage zu verhindern.

Welchen Grund sollte die produzierende Klasse in der DDR haben, ihre eigene Produktivkraft, sprich ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten, Geschicklichkeit und Einfallsreichtum, für den Staat einzusetzen? 1952 hatte die SED den Sozialismus eingeführt, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. 1953 war ihr Aufstand gegen die SED-Herrschaft von sowjetischen Panzern niedergewalzt worden. 1961 war sie vom Westen abgesperrt worden, bald darauf war Ulbricht mit dem voluntaristischen Kraftakt seines „Neuen Ökonomischen Systems“ gescheitert, und anschließend versuchte Honecker nur noch, die Massen durch soziale Wohltaten zu sedieren, während gleichzeitig der Sicherheitsapparat vervollkommnet wurde.

Das Ergebnis dieser Entmündigung in Permanenz lässt sich an der Arbeitsmoral ablesen. Ein bürgerlicher DDR-Forscher kommentierte dazu: „Die in den Betrieben vorhandene Kritik der Belegschaften an den Unzulänglichkeiten des Betriebsablaufs und der Unfähigkeit der Leitungen zu einschneidenden Veränderungen legitimierte eine großzügige Selbstbestimmung der Beschäftigten über Fragen der produktiven Nutzung von Arbeitszeit.“84 Und in der DDR selber wurde als Grund für den langjährigen „Burgfrieden“ zwischen SED und Arbeiterschaft ironisiert, dass in den Betrieben nur zwei Stunden gearbeitet, aber acht bezahlt wurden.85

Durch alle ökonomischen Diskussionen in der DDR über die Wirtschaftsplanung zieht sich die Frage nach einer produktivitätsorientierten Organisation von Produktion und Entlohnung hindurch. Doch sämtliche Anstrengungen und Appelle zur Leistungssteigerung liefen ins Leere, weil die Arbeiterschaft passiven Widerstand leistete. Die SED konnte sie durch eine Mauer am Verlassen der DDR hindern, stieß aber selber an eine unüberwindliche Mauer, sobald es um ihre Produktivität und Leistungsbereitschaft ging. Sie konnte die arbeitende Klasse entmündigen, aber nicht den Einsatz ihrer Produktivkraft erzwingen. Der „reale Sozialismus“ scheiterte am realen Proletariat.

Das Ende

Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts trat die Sowjetunion in das letzte Stadium ihres Niedergangs ein. Selber ökonomisch am Boden, war sie nicht in der Lage, der DDR wie nach dem 17.Juni 1953 noch einmal wirtschaftlich unter die Arme zu greifen. Da sich gleichzeitig ihr innerer Zusammenhalt auflöste, war ihre Führung auch nicht mehr bereit oder in der Lage, die Herrschaft der SED militärisch zu sichern.

Allerdings sah das Ende anders aus, als es die SED die ganze Zeit über gefürchtet hatte. Jahrzehntelang überwacht, geschurigelt und atomisiert, hatte die Arbeiterschaft keine Erfahrung des Klassenkampfs mehr, deshalb begann der Revolutionsprozess von 1989 nicht wie 1953 in den Betrieben. Er begann mit einer von Intellektuellen, Künstlern und Pastoren getragenen, mehrheitlich demokratisch-sozialistischen Bürgerbewegung, die ab Ende September 1989 in „Montagsdemonstrationen“ auf die Straßen ging.86 Von Woche zu Woche strömten mehr und mehr Menschen auf die Demonstrationen, um unter der zentralen Parole „Wir sind das Volk“ gegen die SED-Herrschaft und für eine bessere DDR einzutreten.

Als die Massenbewegung anschwoll und die sowjetische Führung unter Gorbatschow ihre Distanz zur bisherigen Staatsführung signalisierte, formierte sich auch in der SED ein Reformflügel, der unter Ablösung Honeckers für eine Demokratisierung der DDR eintrat. So trafen sich an den bald eingerichteten „Runden Tischen“ Vertreter der Bürgerbewegung und SED-Reformer, die bei allen sonstigen Differenzen gemeinsam für die fortdauernde Eigenständigkeit einer demokratisierten DDR eintraten.

Doch die ungleichen DDR-Bewahrer machten die Rechnung ohne den Wirt, sprich ohne die Arbeiterschaft. An den Montagsdemonstrationen beteiligten sich allmählich immer mehr Arbeiter; sie stellten im Lauf des November 1989 die Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer und bestimmten ab dann nicht nur das Gesicht der Massenbewegung, sondern gaben ihr auch eine andere Richtung, denn sie waren nicht bereit, den Staat noch länger zu erdulden, der ihnen 1952 den Sozialismus vorgesetzt, ein Jahr später ihren Aufstand niedergeschlagen und sie anschließend einer permanenten Bespitzelung und Überwachung unterworfen hatte. Gegenüber den oft genug gehörten Versprechungen auf eine bessere Zukunft in einer neuen DDR zogen sie die Hoffnung auf ein besseres Leben durch den Anschluss an die kapitalistische Westrepublik vor. Das heißt, sie stellten die soziale Frage in nationaler Form und ersetzten „Wir sind das Volk“ durch eine andere Parole, die fortan die Demonstrationen bestimmte: „Wir sind ein Volk“. Und da diesmal keine sowjetischen Truppen zu Hilfe eilten, war das Schicksal der DDR entschieden.

Besiegelt wurde es in den Wahlen vom März 1990, als die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für die Parteien stimmte, die für die sofortige Einheit eintraten, an der Spitze die „Allianz für Deutschland“. Anders als es die SED jahrzehntelang befürchtet hatte, war es kein neuerlicher Aufstand, sondern waren es die Stimmzettel der Arbeitermassen, die das Ende der DDR herbeiführten. So kehrte die von der KPD/SED negierte bürgerliche Revolution 1989/90 zurück, indem der DDR-Sozialismus unterging und die im 19.Jahrhundert erledigte nationale Frage durch die Wiederherstellung des Nationalstaats erneut gelöst wurde, diesmal als Geschenk der Arbeiterschaft an die Bourgeoisie.

Schluss: Planwirtschaft und Proletariat

Von bürgerlicher Seite, aber auch in Teilen des Marxismus wird die Planwirtschaft als entscheidender ökonomischer Grund für den Untergang genannt.

Das Problem der DDR war indessen, dass auch der beste Plan die fehlende Mitwirkung der Produzenten in den Betrieben nicht ersetzen konnte. Zu welchen Leistungen die Planwirtschaft in der Lage ist, wenn sie sich auf die arbeitende Klasse stützen kann, dokumentiert die Industrialisierung der Sowjetunion. Getragen vom Engagement der Massen, fand der Aufbau der industriellen Grundlagen des Arbeiter- und Bauernstaats in einem Umfang und einer Geschwindigkeit statt, die kein bürgerlicher Ökonom für möglich gehalten hätte. Im Weltkrieg setzte sich dieses Wachstum trotz aller kriegsbedingten Ausfälle fort, so dass die UdSSR Deutschland im vorletzten Kriegsjahr industriell überflügeln konnte. Im selben Tempo wurde anschließend die Rekonstruktionsperiode bewältigt.

Umgekehrt ging der Sowjetstaat nicht aufgrund der Planwirtschaft nieder, sondern weil er durch seine Politik seit den 50er Jahren die Gefolgschaft des Proletariats verspielte. In dem Maße, wie das geschah, verfiel zuerst die Wirtschaft und zerbrach am Schluss der Staat, weil er die soziale Basis verloren hatte, auf welcher er entstanden war. Die Arbeiterklasse, die zuvor die Revolution erkämpft, die Industrialisierung verwirklicht und den Weltkrieg durchgestanden hatte, weil sie von der Sache des Sozialismus überzeugt war, stand dem Staat zuletzt gleichgültig gegenüber und rührte keine Hand, um seinen Untergang aufzuhalten.

Das heißt, für die Fortentwicklung oder Stagnation der Ökonomie ist nicht die Planwirtschaft als solche verantwortlich zu machen, entscheidend ist vielmehr, ob sie getragen wird von einer Klasse, die sich ihrer selbst bewusst und gewillt ist, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen, um die Menschen aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit zu führen. Nur auf diesem Boden kann die gesellschaftliche Planung der Produktion ihre Überlegenheit über die bürgerliche Produktionsweise unter Beweis stellen. Wenn nicht, dann nicht.

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Heiner Karuscheit

Rezension und Kritik von Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED
Ein Lesebuch, Verlag am Park, Berlin 2020, 30 €

Als jüngstes Buch über die DDR ist kürzlich die „Kleine Geschichte der SED“ von Heinz Niemann erschienen, einem langjährigen SED-Mitglied in höheren Funktionen, mit 800 Seiten alles andere als „klein“.

Geschrieben von einem „Überzeugungstäter mit gutem Gewissen“, wie Niemann über sich selber sagt, folgt das Werk demselben roten Faden wie die Politik der SED, was der Autor unter Berufung auf die „Parteilichkeit eines marxistischen Historikers“ (15) auch begründet. Er bekennt sich im Vorwort seines Buchs zu „einem historisch-materialistischen Verständnis von Geschichte, welches diese grundsätzlich für determiniert ansieht“ (11), und damit ist in einem Satz sowohl die Triebkraft der von der SED verfolgten Politik als auch die Methode seiner Geschichtsschreibung genannt.

Eine deterministische Geschichtsauffassung

Beides steht im Gegensatz zu den Auffassungen von Marx und Engels. Die Auffassung vom historischen Materialismus, die Niemann vertritt, wurde von den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus zeit ihres Lebens bekämpft. So wandte sich Engels 1893 in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Figaro gegen die Behauptung, dass Marx und er Anhänger einer deterministischen Geschichtsauffassung seien: „Aber wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren.“ (MEW 22, S.542) Ähnlich führte er 1884 in einem Brief an Marx‘ Schwiegersohn Lafargue aus: „Marx würde gegen ‹das politische und gesellschaftliche Ideal› protestieren, das Sie ihm unterstellen (…) Wenn man aber ein Ideal hat, kann man kein Mann der Wissenschaft sein, denn man hat eine vorgefasste Meinung.“ (MEW 36:198)

Niemanns Überzeugung von einer kausalen Vorherbestimmtheit der historischen Entwicklung, die den Sozialismus als gesetzmäßiges Produkt der Ökonomie des Kapitals begreift und die der Autor aus der Politik der KPD/SED in die Historiographie überträgt, hat ihren (bzw. einen) Ursprung bereits im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1891. Darin findet sich keine Analyse der Gesellschaft des Kaiserreichs und der gegebenen Herrschaftsordnung, um daraus die konkrete Zielstellung der sozialen Revolution abzuleiten. Stattdessen wird das Programm durch seinen allgemeinen Teil dominiert, in dem Kautsky die Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise referierte, aus denen nach einem allgemeinen „Kladderadatsch“ die neue Gesellschaft hervorgehen würde.

Diese Überzeugung stand auch Pate bei der Geburt der KPD inmitten der Novemberrevolution 1918/19, denn Rosa Luxemburg und die KPD leiteten die Aktualität des Sozialismus am Ende des Ersten Weltkriegs aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus ab, anstatt aus der gesellschaftlichen Realität Deutschlands die Notwendigkeit einer demokratischen Revolution zu schlussfolgern. Diesem Verständnis zufolge war die Novemberrevolution wegen des Verrats der SPD-Führung fehlgeschlagen; doch nachdem das Monopolkapital den Faschismus als letzte Rettung vor seinem Untergang an die Macht gebracht hatte, stand nunmehr nach Auffassung der KPD endgültig der Sozialismus auf der Tagesordnung. Zwar verlangten die Sowjets von der KPD/SED-Führung, in ihrer Besatzungszone eine antifaschistisch-demokratische Ordnung mit einer parlamentarischen Republik zu errichten (was eine Mehrheit der aus der Illegalität kommenden Parteimitglieder ablehnte). Aber sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, ging die SED an die Einführung des Sozialismus.

Für eine Erziehungsdiktatur

Aufgrund seiner Überzeugung von einem historisch determinierten Sozialismus einerseits, der realen Verhältnisse in dem besiegten Nachkriegsdeutschland andererseits ist es für Niemann ausgemacht, dass der überfällige Sozialismus von der SED mit Hilfe einer Erziehungsdiktatur durchgesetzt werden musste. Um dies zu rechtfertigen, beruft er sich darauf, dass auch die westlichen Besatzungsmächte es nach dem Zweiten Weltkrieg „für unerlässlich (fanden), Formen einer Erziehungsdiktatur“ für „die große Mehrheit der nazistisch verseuchten“ Menschen zu praktizieren, „die im Osten durch eine wirtschaftliche Entwicklungsdiktatur flankiert werden musste.“ (11)

Er negiert dabei, dass sich die „Erziehungsdiktatur“ der westlichen Alliierten ebenso wie die der sowjetischen Besatzungsmacht auf die Herstellung demokratischer Verhältnisse richtete und nach wenigen Jahren beendet war. Dagegen bedeutete der von der SED 1952 eingeführte Sozialismus eine permanente Erziehungsdiktatur. Dies mit der vorübergehenden Demokratisierungspolitik der Alliierten in eins zu setzen, offenbart eine kühne Logik.

Im Juli 1952 ließ die SED-Führung von der II. Parteikonferenz den Übergang zum Sozialismus beschließen, ohne die Arbeiterschaft in diese grundlegende Entscheidung einzubeziehen. Selbst die ZK-Mitglieder erfuhren erst am Vorabend der Konferenz davon und die Delegierten erst auf der Konferenz selber. Wäre der Sozialismusbeschluss vorher öffentlich zur Debatte gestellt worden, hätte es dafür keine Mehrheit gegeben, u.a. weil damit die deutsche Einheitspolitik unterlaufen wurde. Niemann bestätigt das in aller Offenheit, indem er bemerkt, dass Ulbrichts Behauptung auf der Parteikonferenz, der Sozialismus würde „in Übereinstimmung mit Vorschlägen aus der Arbeiterklasse“ ausgerufen, ein „Euphemismus“ war (82) – sprich eine Erdichtung.

Als maßgeblichen Grund für den Übergang benennt er denn auch die (nichtöffentliche) Argumentation Ulbrichts, „dass es höchste Zeit sei, klare Pflöcke gegen eine als ‚Ausverkauf‘ empfundene Vereinigung einzurammen.“ (73) Das bezieht sich auf die sog. „Stalin-Note“ vom März d.J., die eine Wiedervereinigung Deutschlands bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung unter der Bedingung der Neutralität angeboten hatte, um eine Blockbildung in Europa zu verhindern.

Stalinistische“ Verknöcherungen

Um dem zu begegnen, beendete die SED-Führung mit Unterstützung eines „linken“ Flügels in der KPdSU die Politik der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, im festen Glauben daran, dass sonst die Chance vertan würde, den geschichtlich determinierten Sozialismus mit seiner naturgesetzlichen, auf der Planwirtschaft beruhenden Überlegenheit über den Kapitalismus zu realisieren. Das hieß im selben Atemzug, dass die neue Gesellschaftsordnung vom ersten Tag an weder auf der Überzeugung noch erst recht auf dem Willen der arbeitenden Klasse beruhte, sondern auf der Ideologie der SED-Führung, die sie umsetzen konnte, weil sie durch den militärischen Sieg der Sowjetunion in den Besitz der Macht gekommen war.

Die Konsequenz daraus war eine „Erziehungsdiktatur“, die mit Notwendigkeit in ein System der Administrierung, der Willkür und der Bürokratie mündete, verbunden mit einem immer steriler werdenden Dogmatismus. Der Autor kritisiert die Verknöcherung des Parteilebens und die staatliche Willkür immer wieder als „stalinistisch“ – aber hat er jemals über den Widerspruch nachgedacht, dass er die Einführung des Sozialismus 1952 entgegen dem Konzept Stalins befürwortet, die Konsequenzen aus dieser Entscheidung dann aber als „stalinistisch“ beklagt?

Kein Jahr nach der II. Parteikonferenz, am 17.Juni 1953, rebellierte die Arbeiterschaft gegen den ihr aufoktroyierten Sozialismus und die Herrschaft der SED. Niemann versteigt sich nicht dazu, den Aufstand als „faschistisch“ zu bezeichnen, wie das seinerzeit die SED getan hatte. Er charakterisiert ihn lediglich als „konterrevolutionär“. (128) Ähnlich verfährt er beim Mauerbau 1961, den die SED zu einem antifaschistischen Bollwerk gegen die militaristischen Kräfte in Westdeutschland hochstilisierte, während er selber die Mauer lediglich zu einem „antikapitalistischen Schutzwall“ erklärt. Hier wie an anderen Stellen demonstriert er die kritische Distanz eines Intellektuellen gegenüber den „stalinistischen Verformungen“ der Parteigeschichte. Er gibt sogar zu, dass der Mauerbau sich „gegen erhebliche Teile der eigenen Bevölkerung richtete“ (330), feiert ihn jedoch als „Sieg“ und „staatsmännische Meisterleistung“ Ulbrichts (343), weil die SED damit „den frühsozialistischen Ausbruchversuch“ (336) ungestört fortführen konnte.

Als Reaktion auf den 17.Juni 1953 wurde in den kommenden Jahren und Jahrzehnten der Staatssicherheitsdienst als zentrales Instrument der Herrschaftssicherung ausgebaut. In Niemanns Geschichte existiert er nur am Rande.

Determinismus und Personengeschichtsschreibung

Soziale Kräfte tauchen in dem Buch überhaupt nicht auf. Der Autor schreibt hunderte von Seiten über eine Partei, die ihrem Anspruch nach die Avantgarde des Proletariats war, aber verliert keine Zeile über Zusammensetzung, Tradition und politische Prägung dieses Proletariats. Die Arbeiterschaft fungiert bei ihm als gesichtslose Masse, als bloße Staffage bei der Vollstreckung gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze. Nur an einer Stelle, am 17.Juni 1953, taucht sie aus dem Nebel der Geschichte auf, als sie gegen die SED-Herrschaft rebellierte, anstatt die ihr vom historischen Materialismus à la SED zugewiesene Rolle zu spielen. Deshalb attestiert Niemann ihr bei dieser Gelegenheit auch einen „konterrevolutionären Putschversuch“.

An einem bestimmten Punkt schränkt Niemann seine Auffassung von der Vorherbestimmtheit der Gesellschaftsentwicklung ein, indem er schreibt, dass er Geschichte „zwar grundsätzlich für determiniert ansieht, sie aber zugleich (da von Menschen gemacht) offen für Alternativen begreift“. (11) Er gesteht den an der Macht befindlichen Personen damit einen gewissen Handlungsspielraum zu, so dass er in den Grenzen der Determiniertheit sein „spezielles Anliegen“ verwirklichen kann, „den persönlichen Werten, Motiven, Denkweisen und Haltungen, dem Charakter des Einzelnen“ nachzuspüren. (7)

Auf dieser Bahn konzentriert sich seine Parteigeschichte auf das persönliche Handeln Ulbrichts und Honeckers, wobei drei Viertel des Buchs, fast 600 Seiten, sich entsprechend den Präferenzen des Autors mit Ulbricht befassen und nur 100 Seiten mit Honecker. Dabei weist das Buch enorme Längen mit z.T. seitenlangen Zitaten auf, so dass die Lektüre streckenweise sehr ermüdend ist. Dazu kommt, dass es insgesamt schlampig redigiert ist und jede Menge Schreibfehler aufweist.

Ulbricht und das NÖS

Eine zentrale Rolle in der Darstellung der Ulbricht-Ära spielt das 1963 eingeführte „Neue Ökonomische System“ (NÖS), als dessen entschiedenster Anhänger sich der Autor selber outet. (474) Es sollte eine wissenschaftlich-technische Revolution in der Wirtschaft herbeiführen, damit in Verbindung ökonomische Steuerungsmethoden anstelle administrativer Verwaltung etablieren, und setzte auf eine Zusammenarbeit mit der BRD, um von dort die erforderliche wirtschaftliche und technologische Unterstützung zu erhalten.

Obwohl dem NÖS nur ein kurzes Leben beschieden war (bis 1971), vermittelt Niemanns Darstellung den Eindruck einer viel längeren Erfolgsgeschichte. Dabei beschreibt er, auf welche Widerstände das neue Wirtschaftssystem von Anfang an stieß und urteilt zum Ende des NÖS durch den Sturz Ulbrichts, dass „mit der Entmachtung der Ulbricht-Gruppe … eine reale zukunftsträchtige Strategie abgebrochen“ wurde. (569)

Sein Fazit zu Ulbricht folgt dem grundlegenden Ansatz des Buchs, dass dessen Politik durch den prädestinierten Sozialismus legitimiert wurde: „Mit seinem Kampf um sein Lebenswerk – dem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden – war seine oft skrupellos wirkende Handlungsweise im Nachhinein gerechtfertigt.“ (593)

Honecker: ein skrupelloser Karrierist

Für die Niederlage Ulbrichts macht Niemann zum einen die sowjetische Führung verantwortlich, die eine Annäherung an die BRD missbilligte (S.468, 497), wobei Breschnew die flexible Deutschlandpolitik Ulbrichts schon deswegen nicht verstehen konnte, weil er – möglicherweise aufgrund einer „Gehirnverkalkung“ (! S.519) – „politisch und theoretisch engstirnig“ war. (S.572)

Doch entscheidend für den Sturz waren Ulbrichts Gegner in der SED, und um deren Sieg zu erklären, erzählt der Autor ein veritables Schurkenstück. Seit 1956 (!) bildete sich nämlich „unter der Oberfläche eine konservativ-stalinistische Opposition“ (206), an deren Spitze sich Erich Honecker setzte. Von „kleingeistiger Eitelkeit“ geprägt (571) ging dieser „mit der Wucht eines Karrieristen“ vor, indem er sich Ulbricht zunächst durch „absolute Vasallentreue“ anbiederte, (209), tatsächlich jedoch nur eines im Kopf hatte: „Es ging ihm nur um seinen eigenen Aufstieg zum Partei- und Staatschef.“ (548)

Bei seinen Intrigen gegen Ulbricht kam ihm zu Hilfe, dass eine Reihe von Politbüromitgliedern „intellektuell überfordert“ war, so dass ihnen die Fähigkeit abging, die Feinheiten des NÖS zu verstehen. (358) Außerdem versicherte Honecker sich der Unterstützung Breschnews, so dass er Ulbricht endlich 1971 abservieren konnte.

Inhaltlich lautet der Hauptvorwurf des Autors an Honecker, dass er unter der Parole der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik anstelle der zukunftsträchtigen NÖS-Strategie „eine voluntaristische Wendung hin zu einer extensiven Sozialpolitik“ vollzog. (569) Die ausufernden Sozialleistungen hätten die DDR-Ökonomie überfordert, bis der Zusammenbruch am Ende unausweichlich war.

Das Ende des NÖS

Aber wie kam es dazu, dass nicht nur der von Niemann als intellektuell schwachbrüstig abgetane Teil der SED-Führung auf die Schalmeientöne des Karrieristen Honecker hereinfiel, sondern die Parteiführung insgesamt Ulbricht mehr oder weniger einhellig zum Rücktritt zwang?

Niemann erwähnt selber, dass die bevorzugte Behandlung einzelner Wirtschaftssektoren aufgrund des NÖS wachsende Disproportionen hervorrief (481f), Energieengpässe auftraten (S.560) und die Überalterung vieler Industrieanlagen sich immer stärker bemerkbar machte: „Es häuften sich Ende der sechziger Jahre die Schwierigkeiten“ (560), und die Stimmung in der Arbeiterschaft verschlechterte sich zunehmend. Von der Überlegenheit des NÖS überzeugt, zieht der Autor keine Schlussfolgerungen daraus, so wenig wie Ulbricht selber, der alle Warnsignale ignorierte und mit derselben ideologischen Verbissenheit seinen NÖS-Kurs fortsetzte, mit der er 1952 die Einführung des Sozialismus betrieben hatte. Felsenfest davon überzeugt, mit Hilfe des NÖS endlich den Sieg der sozialistischen Produktivkräfte über den Kapitalismus organisieren zu können, ließ er 1968 sogar die deutsche Wiedervereinigung auf dem Boden des Sozialismus in die neue Verfassung schreiben.

Währenddessen wandten sich immer mehr Wirtschaftsfachleute vom NÖS ab, weil die Wirtschaft in eine wachsende Schieflage geriet. Gleichzeitig verbreitete sich in der SED die Furcht, dass die DDR auf einen neuen 17.Juni zusteuerte. Musste sich unter diesen Umständen nicht zwangsläufig und ganz ohne Intrigen eine neue Mehrheit im Politbüro bilden, die nicht länger bereit war, einem in die Jahre gekommenen Parteivorsitzenden zu folgen, dessen Kurs wahlweise als starrsinnig oder voluntaristisch, aber jedenfalls als gefährlich wahrgenommen wurde? Und kann bzw. will Niemann dies vielleicht nicht wahrhaben, weil er „ein politisches und gesellschaftliches Ideal“ verfolgt, wie Engels bemerken würde, anstatt als Mann der Wissenschaft die Tatsachen zu untersuchen?

Das Damoklesschwert des 17.Juni 1953

Immer wieder beklagt der Autor die unzureichende Produktivität der DDR-Wirtschaft, wofür er „Mängel in der Durchsetzung des Leistungsprinzips“ verantwortlich macht und u.a. auf „das völlige Fehlen von Restriktionsrechten der Vorgesetzten“ hinweist. (569) In diesem Zusammenhang benennt er das grundlegende Dilemma der SED: „Seit den Streiks und Unruhen 1953 hatte sich in der Arbeiterschaft das Gefühl ihrer strukturellen Macht verfestigt. Immer mehr wurde der sozialpolitische Anspruch durch den Vergleich mit dem westdeutschen Lebensstandard verfestigt“. (569)

Man kann das Problem auch anders formulieren: 1952 war der Sozialismus mit der erfundenen Begründung eingeführt worden, dass die Arbeiterschaft dies verlangen würde. 1953 war ihr Aufstand gegen die SED niedergeschlagen worden, und 1961 hatte Ulbricht sie vom Westen absperren lassen. Warum sollte die arbeitende Klasse freiwillig ihre Produktivkräfte, sprich Hirn, Nerven, Muskeln und Opferbereitschaft, für eine Gesellschaftsordnung und für eine Partei einsetzen, die sie als unmündig behandelte und sich in letzter Instanz auf sowjetische Besatzungstruppen stützte?

Politisch machte sich in den Reihen der Arbeiterschaft nach dem 17.Juni Resignation breit. Aber die Erfahrung ihres Aufstands hing bis zum Ende der DDR wie ein Damoklesschwert über der SED und verschaffte den Arbeitern die von Niemann beklagte „strukturelle Macht“, alle wiederkehrenden Anläufe, das Leistungsprinzip in der Produktion durchzusetzen, zum Scheitern zu bringen. Kaum meldete das MfS das leiseste Murren der Unzufriedenheit, ließ die SED das Vorhaben fallen wie eine heiße Kartoffel.

Nach seiner Regierungsübernahme ließ Honecker als erstes die aufgetretenen Disproportionen im industriellen Produktionskörper beseitigen (was Niemann nicht erwähnt). Darüber hinaus ging er daran, „durch sozialpolitische Vorleistungen die Leistungsbereitschaft der Werktätigen … zu erhöhen.“ (580) Für den Autor ist dies „ein Hohn auf jede marxistische Ökonomie.“ (569) Das ist in der Tat so – nur dass die Grundvoraussetzung jeder marxistischen Ökonomie der freiwillige Zusammenschluss der assoziierten Produzenten zwecks Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung ist, was normalerweise eine soziale Revolution voraussetzt. Nichts anderes bedeutet der millionenfach zitierte Satz aus dem Kommunistischen Manifest „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein“.

Bornierte Bedürfnisse einer unreifen Population

Um den Untergang der DDR zu erklären, greift der Autor am Schluss wieder auf den Leitgedanken seines Werks zurück, indem er zunächst zustimmend den Philosophen Peter Sloterdijk zitiert, dass es unter gegebenen Umständen erforderlich sein könne, „extreme Erziehungsdiktaturen für unreife Populationen einzusetzen“. (730) Von da aus kommt er zu dem entscheidenden Punkt, dass am Ende „weniger ‚unreife Populationen‘ als ein wieder belebter bornierter Bedürfnishorizont“ dafür verantwortlich war, dass „unter der Sonne des westlichen Lebensstandards … die Keime der neuen Lebensweise“ verdorrten. (730)

Real zog die Mehrheit der DDR-Bevölkerung 1989/90 nach vierzig Jahren praktischer Erfahrung die Aussicht auf ein besseres Leben in einem kapitalistischen Gesamtdeutschland den erneuten Versprechungen auf einen besseren Sozialismus vor. Für Niemann ist das ein „bornierter Bedürfnishorizont“, weshalb die unreife arbeitende Klasse die soziale Frage stellte und auf die „Sonne des westlichen Lebensstandards“ hereinfiel, anstatt sich in ihrer Unmündigkeit weiter von der dazu berufenen Partei in die „neue Lebensweise“ des geschichtlich vorbestimmten Sozialismus führen zu lassen.

Jenseits der persönlichen Überheblichkeit des Autors und seiner Verachtung gegenüber der arbeitenden Klasse besteht Niemanns Verdienst darin, dass in seinem Werk Geschichte und Politik der SED auf den Begriff gebracht werden. In keinem offiziellen Parteidokument steht, dass die SED das Proletariat für unreif hielt und die eigene Rolle darin sah, als Vormund einer unmündigen Arbeiterschaft tätig zu werden, um die gesetzmäßige Entwicklung der Geschichte zu vollstrecken. Insoweit ist die Lektüre ein Lehrstück, um das Scheitern des Sozialismus in der DDR zu begreifen.

1 Tagebuch Dimitroff; in: Neubert S.167f

2 Karuscheit 2015 und 2018

3 Podewin, S.171f; s.a. Stößel, S.14, 29, 73ff

4 Podewin, S.171f

5 Loth: Einleitung zu Pieck 1994, S.44

6 Dieser Umgang mit der eigenen Geschichte pflanzte sich fort. 1957/58 setzte in der DDR mit Blick auf den 40. Jahrestag eine größere Debatte über den Charakter der Novemberrevolution ein. Doch kaum in Gang gekommen, dekretierte die SED-Führung, dass die Revolution eine unvollendete bürgerliche Revolution gewesen sei, und beendete die Diskussion.

Anlässlich des 100.Jahrestags konnte man die Fortsetzung dieses Herangehens in der im DKP-nahen „Neue Impulse Verlag“ herausgegebenen Aufsatzsammlung mit dem Titel „Novemberrevolution 1918/19. Ereignis-Deutung-Bedeutung“ (hg von Gerrit Brüning und Kurt Baumann) sehen. Nicht ein Beitrag vertiefte die Frage nach dem Charakter der Revolution und ihrer Einordnung in den Zusammenhang von bürgerlicher und sozialistischer Revolution in Deutschland. Ein einziger Autor (Riedl) monierte, dass die SED mit dem Beschluss von 1958 das abrupte Ende der Debatte herbeigeführt hätte, sagte selber aber auch nicht, welche Probleme seines Erachtens vertieft werden mussten.

7 Karuscheit 2020

8 Stößel, S.12

9 Ebd, S.65

10 In seiner Geschichte des Kalten Kriegs (Loth 1990) arbeitet der Autor heraus, in welchem Maße die stufenweise voranschreitende „Teilung der Welt“ anfangs kein einseitiger Prozess war, sondern durch die Interdependenz zwischen den Politiken der beteiligten Mächte bedingt war.

11 SW 15, S.45

12 Interview mit Elliot Roosevelt, 21.Dezember 1946; in: SW 15, S.59

13 SW 15, S.63, 74

14 Äußerungen von 1946, 1947 und 1951; SW 15, S.46, 58, 63, 134

15 in: Shdanow u.a. 1975, S.2

16 Ebd

17 Shdanow 1972, S.3f. Der russische Historiker Adibekov, der für seine Geschichte des Kominform das Privatarchiv Shdanows auswerten konnte, schreibt, dass in dem Entwurf der Gründungsrede, der im KPdSU-Politbüro kursierte, von der Zwei-Lager-Theorie noch keine Rede war (Adibekov, S.88). Die Ausführungen dazu sind nur in der (mit dem Politbüro nicht abgestimmten) Endfassung von Shdanows Rede enthalten, deren zentrale Passagen wörtlich in die Gründungsdeklaration aufgenommen wurden.

Zu den erwähnenswerten Modalitäten der Kominformgründung gehört überdies, dass das Treffen eigentlich nur dem Informationsaustausch und der Schaffung eines internationalen Presseorgans dienen sollte (Adibekov, S.87). Erst auf der Tagung selber erfuhren die Teilnehmer von Shdanow, dass eine feste Organisationsstruktur entstehen sollte – faktisch eine auf Europa beschränkte Fortsetzung bzw. Neugründung der Komintern. Adibekov benennt alle diese Fakten, geht darauf aber nicht ein, sondern erklärt das Kominform zum „Erbgut“ Stalins und Shdanow zu einem seiner nächsten Vertrauten. So macht er Stalin einmal für die eine Politik – und gleich darauf für ihr Gegenteil verantwortlich, weshalb die Zusammenhänge bei ihm völlig undurchschaubar bleiben.

18 Naimark, S.465ff

19 Vorwort von Peter Strunk zu Semjonows Erinnerungen, S.12

20 Loth 1994, S.130

21 Naimark, S.340; eig. Übersetzung

22 Brief vom 8. Mai 1947, in: Volker Sieger, Die Entwicklung der SED zur ‚Partei neuen Typs‘. Zu Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des innerparteilichen Wandels 1948; in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 37/1995, H.4, S.87

23 Loth 1994, S.129

24 Ebd, S.134

25 Naimark, S.340f

26 Ebd, S.341ff

27 Semjonow, S.261f; der Autor illustriert in seinen – diplomatisch geschönten – Memoiren „Von Stalin bis Gorbatschow“ die Differenzen zwischen den Vertretern der unterschiedlichen deutschlandpolitischen Konzeptionen anhand einer Vielzahl von Beispielen.

28 Loth 1994, S. 80, 81

29 Pieck, S. 113

30 Bericht Gniffke; zitiert nach Anmerkung 14 in: Pieck, S.125

31 Semjonow, S.253; vgl. Pieck, S.111

32 zitiert nach: Volker Sieger: Die Entwicklung der SED zur „Partei neuen Typs“. Zu Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des innerparteilichen Wandels 1948; in: BzG 4/95, S.88

33 Rauch, S.474

34 Herbst 1989, S.122

35 zitiert nach: Rolf Badstübner in: BzG 5/91, S.590

36 SW 15, S.103

37 Loth 1989, 266ff

38 Die Gespräche über eine deutsche Wiederbewaffnung wurden von den Vertretern der US-Administration sowohl mit der Regierung Adenauer als auch mit der SPD-Opposition geführt. Dabei machte Kurt Schumacher die sozialdemokratische Zustimmung zur Aufstellung deutscher Truppen davon abhängig, dass Westdeutschland ebenso viele Truppen wie die USA und Großbritannien auf dem Feld haben müsste, nämlich 60-70 Divisionen, damit die entscheidende Schlacht gegen die Sowjets „zwischen Weichsel und Njemen“ geführt werden konnte (Löwke, S.28ff). Weil diese Forderung nicht erfüllt wurde, lehnte die SPD die Wiederbewaffnung grundsätzlich ab. (Karuscheit/Schröder: Im deutschen Interesse. SPD-Sicherheitspolitik gestern und heute; in: Azd 29/30 (1984), S.15ff)

39 Pieck, S.396

40 SW 15, S.130

41 Pieck, S.396

42 so die Darstellung durch Stalin in „Ökonomische Probleme des Sozialismus“; SW 15, S.66ff

43 SW 15, S.268ff, 315ff

44 Ebd, S.284ff

45 Heinz Heitzer: Entscheidungen im Vorfeld der 2.Parteikonferenz der SED (Februar bis Juli 1952); in: BzG 4/1992, S.27

46 Pieck, S. 397

47 Die Mitteilung über den Politbürobeschluss findet sich in einer Stellungnahme der sowjetischen Regierung ca ein Jahr später, die einer Delegation des ZK der SED aus Anlass von deren Besuch in Moskau vom 2. bis 4. Juni 1953 übergeben wurde. Nur weil diese Stellungnahme dem Protokoll der SED-Politbürositzung vom 5.Juni 1953 als Anlage beigefügt wurde (und die SED-Akten seit 1990 zugänglich sind), wissen wir überhaupt davon.

Zum ersten Mal veröffentlicht wurde sie in der Zeitschrift „Beiträge zur Geschichtswissenschaft“ 5/1990, S.648 ff, sowie anschließend, teils in leicht veränderter Fassung (andere Übersetzung), auch in anderen Publikationen, so im Anhang zu Schirdewan, S. 172ff. Der Herausgeber der erstmaligen Veröffentlichung der Stellungnahme, Rolf Stöckigt, bezeichnete sie fälschlicherweise als „Beschluss des Politbüros des ZK der KPdSU“. Zum einen existierte zu diesem Zeitpunkt (1953) kein Politbüro mehr, weil dies auf dem 19.Parteitag 1952 durch ein Präsidium ersetzt würden war. Vor allem stammte die Stellungnahme von überhaupt keinem Gremium der Partei, sondern vom Ministerrat der UdSSR, d.h. von der Regierung, wie durch Hinweise aus sowjetischen Veröffentlichungen feststeht (Elke Scherstjanoj, „Wollen wir den Sozialismus?“ Dokumente aus der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 6.Juni 1953; in: BzG 5/91, S.658, Anm.1). D.h. auch die in dem Dokumentenanhang zu Schirdewan vorgenommene Bezeichnung als „Beschluss des Präsidiums des ZK der KPdSU“ ist falsch. Die genaue Zuordnung ist unerlässlich, weil sich die innersowjetischen Konflikte nur entschlüsseln lassen, wenn sie als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Strömungen begriffen werden, die ihren Rückhalt entweder in der Partei oder im Staatsapparat (Regierung) hatten.

Ob Stalin bei der Entscheidung des Politbüros überstimmt wurde oder nicht anwesend war, ist unklar, weil das Sitzungsprotokoll nicht zugänglich ist. Staritz als Verfasser einer weit verbreiteten Geschichte der DDR schreibt, dass die Urheberschaft des Sozialismusbeschlusses dokumentarisch nicht aufzuklären sei – und behauptet gleichzeitig, dass „realiter: wohl allein“ Stalin dafür verantwortlich war (Staritz, S.110). Den Grund, warum Stalin seine Pläne bis zur II. Parteikonferenz der SED verheimlicht haben sollte, um sodann vier Monate nach seiner Wiedervereinigungsnote in einer Blitzaktion den Übergang zum Sozialismus anzuordnen, behält der Autor für sich.

48 Ulbricht: Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Aus dem Referat auf der II. Parteikonferenz der SED; in: Ulbricht 1958, S.371-499; hier S. 371, 376, 379, 407

49 Schirdewan, S.34. Zu den Delegierten gehörte auch Schirdewan selber, der bald darauf ins ZK und nach dem 17.Juni 1953 ins Politbüro aufrückte, aber seine Ämter Anfang 1958 aufgrund von Konflikten mit Ulbricht unter dem Vorwurf der „Fraktionstätigkeit“ wieder verlor. In seinem nach der Wiedervereinigung geschriebenen, von jeder Selbstkritik freien Rückblick erklärte er es für „unglücklich“, dass der Sozialismus „administrativ – von oben verordnet –“ eingeführt wurde und beklagte, dass Ulbricht damit „seinen ultralinken Plan“ in die Tat umsetzte – ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass er selber für diese Politik gestimmt und sie an verantwortlicher Stelle umgesetzt hatte.

50 Ulbricht: Die Lehre vom Staat, Rede vom 5.Mai 1953; in: Ulbricht 1954, S.325

51 SW 15, S.189f; Semjonow berichtet, dass Stalin seine Ansprache an die ausländischen Delegationen unter größter Geheimhaltung verfasste und sorgsam darauf achtete, dass niemand den Text vorher zu Gesicht bekam. Er weigerte sich auch, den von Malenkow verfassten Rechenschaftsbericht der Partei zu verlesen, weil dieser viele Fälschungen enthalte (Semjonow, S.283).

52 Wettig, S. 53

53 Hierzu bemerkte Molotow auf dem ZK-Plenum der KPdSU im Juli 1953 (nachdem die Parteiführung den Machtkampf gewonnen hatte), dass seit März d.J., also nach Stalins Tod, die „unnormale Lage“ eingetreten sei, dass „alle Fragen der internationalen Politik … entgegen der unverrückbaren bolschewistischen Tradition nicht mehr im Präsidium des ZK, sondern nur noch im Präsidium des Ministerrats erörtert wurden.“ (Knoll/Kölm, S.76)

54 In: Schirdewan, S.172; es handelt sich um die oben behandelte Stellungnahme der Regierung, die den KPdSU- Politbürobeschluss zum Aufbau des Sozialismus in der DDR verurteilte.

55 Das Adjektiv „beschleunigter“ (Aufbau des Sozialismus) wurde auf Drängen Molotows in den Textanfang eingefügt, als Versuch, zwischen den entgegen gesetzten Auffassungen eine Kompromissformel zu finden (Knoll/Kölm, S.79). Im weiteren Verlauf der Stellungnahme ist nur noch vom Aufbau des Sozialismus als solchem die Rede.

Ein ähnliches Spiel mit Worten, um die vorhandenen Differenzen nach außen zu verbergen, gab es in anderen Dokumenten mit dem Begriff der „Grundlagen des Sozialismus“. Das konnte bedeuten, dass man sich noch in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung befand, welche die ökonomischen und demokratischen Grundlagen für einen irgendwann einmal anstehenden Übergang zum Sozialismus legte – oder man befand sich bereits im Sozialismus, der seine eigenen Grundlagen schuf.

56 Zubok, S. 39; Wettig, S.57

57 Die Erläuterungen sind abgedruckt in: Loth 2007, S.301-304; der Text wurde im Nachlass Malenkows in mehreren ungeordneten Teilen entdeckt und nachträglich wieder zusammengefügt (ebd, S.216f)

58 Loth 1994, S.202

59 Staritz, S.114

60 Kowalczuk u. Mitter, S. 43

61 Steininger, S.51

62 Staritz, S.119

63 Wettig, S. 53

64 In Knoll/Kölm, S.66, 55

65 Ebd, S.36

66 Ebd, S.335

67 Ebd, S.66. Wie weit her es mit dieser Prinzipienfestigkeit war, zeigte sich 1964, als Chruschtschow versuchte, angesichts der sich vertiefenden Landwirtschaftskrise in der UdSSR die Bedingungen für einen Verkauf der DDR auszuloten, was zum Auslöser für seinen Sturz wurde (Karuscheit 1997, S. 29).

68 Knoll/Kölm, S.78

69 So bemerkte Chruschtschow, nachdem er selber die Macht verloren hatte, dass die Auseinandersetzungen über die deutsche Frage im KPdSU-Präsidium nach Stalins Tod nicht ins Protokoll genommen wurden, und fügte offen hinzu: „Es war eine Täuschung“ (in: Zubok, S.40, Anm.37).

70 Die Schlüsselkrise dieser Jahre kann hier nur an der politischen Oberfläche und in äußerster Kürze angerissen werden. Sie war mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch verbunden, der das Proletariat mit seinen verschiedenen Abteilungen sowie die Kolchosbauernschaft erfasste und sowohl die kommunistische Partei als auch die Sowjetordnung und das Militär tiefgreifend veränderte. Nach den Umwälzungen der Oktoberrevolution, der Kollektivierung und dem Weltkrieg nahmen Gesellschaft und Staat in dieser Krise die Gestalt an, die in Grundzügen bis zum Ende der UdSSR erhalten blieb und zur Auflösung der gesellschaftlichen Basis des Staats führte. Einen ersten Versuch, diese Phase zu begreifen, hat der Autor in den AzD 67/1999 unternommen: „Die Schlüsselkrise der 50er Jahre in der Sowjetunion“.

71 Nach Thomas Kuczynskis Zusammenbruchserklärung zwang das „Weltkapital“ den Sozialismus „im Rahmen der sogenannten Systemkonkurrenz …. nicht zuletzt auf dem Wege des die ökonomischen Ressourcen verschlingenden Wettrüstens“ wirtschaftlich in die Knie (Zeitschrift „Sozialismus“ 10-2019, S.44). Offenbar ist dem Autor unbekannt, dass die Sowjetunion die Systemkonkurrenz – ein Synonym für die Zwei-Lager-Politik – incl. des Wettrüstens im Rahmen der Offensivstrategie der „Linken“ in den 50er Jahren selber (mit-)initiierte bzw. verfolgte, um das Lager des Imperialismus dank der entfesselten Produktivkräfte des Sozialismus niederzukonkurrieren.

72 Hürtgen, S.386

73 nach: Loth, S.216f

74 Kowalczuk 1995, S.206ff

75 Ebd, S. 219ff)

76 Kowalczuk 2013, S.117

77 Ebd, S.189

78 Hürtgen S.388

79 Ebd, S.399, 398f

80 Ebd, S.384

81 Schürer, S.148ff

82 Malycha / Winters, S.176

83 Malycha, S.294

84 Schroeder, S.682

85 Kocka, S.551

86 Staritz S.363ff; Karuscheit 1997, S.40ff