Zu den „Novemberfragen“ von Heiner Karuscheit (HK) in AZD 88, 89, 90

Karl-Heinz Goll

Trotz der Bismarckschen Sozialistengesetze (1878 bis 1890) erfuhr die deutsche Sozialdemokratie in dieser Zeit einen Riesenaufschwung, was Friedrich Engels nach dem Sturz Bismarcks zur (Fehl-)Prognose verleitete (MEW22/250-251), dass die preußische Armee „…gegen 1900 … in ihrer Majorität sozialistisch“ sei und die sozialdemokratische Partei „heute“ (1891) „auf dem Punkt (steht), wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.“ Hätte Engels 25 Jahre länger gelebt, hätte er feststellen müssen, dass die Geschichte dieser euphorischen Vision radikal Hohn gesprochen hat. Wenn schon Engels 1891 so weit irrte, wohin war die Partei 20 Jahre später fortgeschritten?

Tatsächlich war die deutsche Sozialdemokratie im Sinn von Lasalles Staatssozialismus seit Bismarcks Zeiten quasi in den preußisch-kapitalistischen Obrigkeitsstaat „hineingewachsen“ (HK). Eine breite Basis von SPD-Kadern fand ihre Existenzgrundlage in staatlichen und halbstaatlichen Strukturen, Kommunalverwaltungen, Gewerkschaften, Versicherungen bis hin zur Armee und bildete den Kern zur Entwicklung der SPD zur sozialpatriotisch / imperialistischen Arbeiterpartei – trotz aller pazifistischen Lippenbekenntnisse vor 1914. So zielte das unter dem Vorkriegsvorsitzenden August Bebel entwickelte Konzept „nicht auf die Beseitigung des Militär- und Obrigkeitsstaates, sondern auf seine Übernahme unter sozialdemokratischer Führung“. (HK – AZD 88) Je deutlicher und aggressiver der deutsche Imperialismus seinen Charakter zeigte, umso beflissener wurde die maßgebliche Mehrheitsführung der SPD mit ihrer weitgehend staatstreuen Funktionärsbasis zu dessen Erfüllungsgehilfen bis hin zum Burgfrieden der „Vaterlandsverteidigung“ im 1. Weltkrieg. (Abgesehen von Unterschieden und Konflikten hinsichtlich der Kriegsziele zwischen SPD, bürgerlichen und junkerlichen Parteien vor Kriegsausbruch und danach.)

Die deutsche Novemberrevolution und der Spartakusaufstand 1919 bis hin zum Hamburger Aufstand 1923 scheiterten an einer „unreifen“ Klassenstruktur sowie der theoretischen und organisatorischen Schwäche der Revolutionäre im Verhältnis zur sozialdemokratisch geführten Konterrevolution im Bündnis mit Junkertum und Montanbourgeoisie. In Russland dagegen war der zaristische Staat 1917 zusammengebrochen, weitgehend aktionsunfähig und es gab die hinreichend zielklaren und erfahrenen Bolschewiki, die trotz der relativ geringen Zahl des Industrieproletariats, gestützt auf die Bauernmassen, die Revolution zum Erfolg führten.

Deutschland halbfeudal oder kapitalistisch?

Heiner Karuscheit macht m.E. einen grundsätzlichen Fehler, wenn er die preußische Staats- und Gesellschaftsordnung nach 1890 als „vorbürgerlich“, „nicht von der Bourgeoisie beherrscht“ definiert (u.a. AZD 88). Er macht keinen Unterschied zwischen Form und Inhalt, zwischen Staat und Gesellschaftsordnung, die er mit einem Bindestrich vermengt. Überspitzt könnte man so die Staats- und Gesellschaftsordnung Großbritanniens als vorbürgerliche Monarchie betrachten.

Immerhin hatten schon die Stein-Hardenbergschen Reformen in den Jahren 1807–1815 Ansätze für den Wandel Preußens vom absolutistischen Stände- und Agrarstaat zum (von Wikipedia blauäugig definiert:) „aufgeklärten National- und Industriestaat“ geschaffen. (Siehe dazu auch Fr. Engels, der das wesentlich kritischer gesehen hat: MEW2/S. 564 ff)

Marx hat in den „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiter­partei“ noch 1875 den preußischen Staat folgendermaßen charakterisiert: Ein Staat, „der nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokra­tisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist …“ (MEW 19/S.29)

Wenn HK schon feststellte: „seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 war die Arbeiterpartei auf dem Boden einer „Integrationstaktik“ … Schritt für Schritt in den Staat hineingewachsen – sie war zu einer staatstragenden Partei geworden“ (AZD 89, S. 55) – so müsste ihm eigentlich auch aufgefallen sein, dass die Bourgeoisie seit 1875 (immerhin in 4 Jahrzehnten) mit diversen Parteien (Konservative, Nationalliberale, Freisinnige, Zentrum …) genügend Zeit hatte, bis zum 1. Weltkrieg mindestens genauso staatstragend „hineinzuwachsen“. (Etwas schräg bzw. submarin könnte man das Bürgertum des späten Kaiserreiches mit einem Einsiedlerkrebs vergleichen, der mangels (demokratischer) Kruste mit seinem weichen Hinterleib in einem (preußischen Militär- und Obrigkeits-) Schneckenpanzer steckt, ohne dass man ihn deswegen mit der Schnecke verwechseln sollte.)

Die Gesellschaftsordnung – jedenfalls die politische Ökonomie – des späten Kaiserreiches war – bei allem junkerlichen „Beisatz“ – wesentlich kapitalistisch und entwickelte sich imperialistisch. Den unlösbaren Zusammenhang der Grundrente mit dem Gesamtwert des jährlichen Produkts im Kapitalismus hat Marx insbesondere im 3. Bd. des Kapitals untersucht. Unter „Die Revenuen und ihre Quellen“ heißt es: „… Verwandlung alles Grundeigentums in die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechende Form des Grundeigentums“ (MEW 25/892). Auch wenn diese Verwandlung nicht perfekt und die ostelbischen Rittergüter noch geprägt waren von vorkapitalistischen Überresten halber Leibeigenschaftsverhältnisse, waren sie doch eingebunden bzw. überformt vom Markt des stürmisch entwickelten Kapitalismus.

1907 betrug der Anteil der „Erwerbstätigen im sekundären Sektor“ (Industrie, Handwerk, Bergbau) 40% und 25% im tertiären – gegenüber 35% im primären Sektor.

Bürgerliche Staaten sind die Form (ob demokratisch, militärdespotisch oder faschistisch – bei allen Unterschieden), die Existenzweise, die Conditio-sine-qua-non der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die außerhalb staatlicher Formen überhaupt nicht existieren können. Sie sind grundsätzlich dazu da, die Zurichtung und Ausbeutung der Ware Arbeitskraft qua Mehrwertproduktion, die Reproduktion und Akkumulation des Kapitals zu organisieren und zu garantieren.

HK stimme ich zu, wenn er feststellt, dass die Rolle der SPD im November­umsturz von 1918 weder ein „Verrat“ war, noch einer „Machtscheu“ geschuldet, auch nicht einer Angst vor Bolschewismus, Chaos und Bürgerkrieg. „Die Revolution war aus Sicht der SPD-Führung … ein Übel, denn sie drohte die Staatsmaschinerie zu zerstören, vor deren Übernahme man gerade stand“. (HK, AZD 89, S.57) Daher endete die Novemberrevolution in einer „SPD-geführten Konterrevolution“.

Weiter muss man zustimmen, dass „die Revolutionsräte weder von Spartakus unterwandert waren noch mehrheitlich sozialistische Ziele verfochten, sondern wesentlich die Beseitigung des preußisch-deutschen Militär- und Obrigkeitsstaates zum Ziel hatten, also Träger nicht eines revolutionär-sozialistischen, sondern eines revolutionär-demokratischen Umsturzes waren.“ (AZD 89, S. 48). Man könnte im Hinblick auf 1848 sagen: eines nachholenden revolutionär-demokratischen Umsturzes.

Die demokratischen Aufgaben, die 1918 „nachholend“ anstanden und von der Konterrevolution verhindert wurden, waren u.a.: Zerschlagung des Großgrund­besitzes, besonders der junkerlichen Adelsgüter, Sozialisierung der Großindustrie und der Banken, Zerschlagung des preußischen Militarismus, Trennung von Staat und Kirchen, Demokratisierung von Verwaltung, Justiz und Polizei … Die erreichten Reformen wie Abdankung des Kaisers, Frauenwahlrecht, Koalitionsrecht, Betriebsräte, konnten nichts Entscheidendes an der Sicherung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unter einer weitgehend obrigkeitsstaatlichen Ordnung in „republikanischer Verkleidung“ ändern.

Die Revolutionäre, die für das Ziel einer sozialistischen Republik nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution kämpften, blieben in der Rätebewegung eine Minderheit. Sie unterschätzten die noch unerledigten Aufgaben der bürgerlichen Revolution und die Aktionsfähigkeit der reaktionären Kräfte. Die KPD mit ihrem folgenden linken Sektierertum und ihrem Voluntarismus, die den unmittelbaren Kampf um Sozialismus und Diktatur des Proletariats auf der Tagesordnung hatte, konnte Massen rückständiger Arbeiter, Bauern und Millionen anderer kleiner Warenproduzenten nicht gewinnen und wurde vom Nazi-Faschismus überrollt.