Zur DDR-Kritik in den AzD 92

Manfred Englisch

Zunächst kommt es mir darauf an, einen solidarischen Klassenstandpunkt in der kritischen Rückschau auf die Geschichte von Sozialisten und Kommunisten in Deutschland einzunehmen. Es ist unsere Geschichte, aus der wir für die Gegenwart und Zukunft unserer Bewegung Lehren ziehen wollen, einer Bewegung, die sich reorganisiert für den nächsten Ansturm auf die Bollwerke von Kapitalismus und Imperialismus. Der messianische Westliche Marxismus dagegen fühlt sich wohler in der Distanz unbefleckter Reinheit eines theoretisch echten Sozialismus jenseits des realen.

Bertolt Brecht verhielt sich anders: Noch am 17. Juni 1953 schrieb Brecht einen Brief an Ulbricht, in dem er die Handlung der Regierung billigte, aber auch eine Erwartung ausdrückte:

Werter Genosse Ulbricht,

die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der sozialistischen Einheitspartei ihren Respekt zollen.

Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen.

Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.

Ihr Bertolt Brecht

(Die Parteizeitung der SED, Neues Deutschland, druckt am 21. Juni 1953 den Brief nur unvollständig ab. Es wird lediglich der letzte Satz veröffentlicht, und lässt somit die kritischen Stellungnahmen im ersten Teil des Briefes weg. https://www.grin.com/document/13442)

Diese Perspektive, diese Absicht, zum gemeinsamen Lernen vorwärts zu schreiten, kommt mir in manchen Äußerungen zu kurz, was nach meinem Eindruck auch an den ideologischen und politischen Spaltungen in der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung liegen mag.

Wenn man sich mit der Geschichte der deutschen Spaltung und hier insbesondere der Politik der Ost-KPD und SED von 1945 bis 1989 beschäftigt, kommt man aktuell nicht an dem „Lesebuch“ von Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED, Verlag am Park, Berlin 2020, vorbei. Dieser Band versteht sich gerade nicht als Abrechnungsliteratur, obgleich der Autor als Insider und ehemaliger Geschichts­professor der DDR gehörig auszuteilen versteht. Mittlerweile gibt es zahlreiche Rezensionen von Niemanns Buch, das mit 747 Seiten nicht wirklich „klein“ ausgefallen ist.

– Von Leo Schwarz: https://www.jungewelt.de/artikel/384423.geschichte-der-sed-der-falsche-mann.html

– Von Horst Maiwald: https://www.unsere-zeit.de/mit-insiderwissen-134641/

– Von Günter Benser: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141875.krisen-kritik-kollaps.html

– von Erhard Crome: https://das-blaettchen.de/2020/08/unzeitgemaesse-betrachtungen-2-53795.html

– von Raimund Ernst: Erst die Größe der historischen Chance lässt ermessen, wie hoch der Verlust ist! in Marxistische Blätter 6/2020, Wege des Sozialismus (leider ohne Fundstelle im Internet)
https://www.jungewelt.de/artikel/390580.marxistische-blätter-spezifische-dialektik.html

– von Heiner Karuscheit: in Aufsätze zur Diskussion, Nr. 92, Dez. 2020

Wie und womit wird die Frage nach den Gründen für das Scheitern der DDR beantwortet?

Ohne überzeugende Aufarbeitung des großen Scheiterns eines ersten Versuchs, den Sozialismus auf deutschem Boden aufzubauen, sind deutsche Kommunisten dazu verurteilt, alte Fehler und Schwächen ihrer Programmatik und Politik erneut zu wiederholen. Nibelungentreue zu alten Heroen und deren Erzählungen ist nicht angebracht.

Ich möchte hier einfach und salopp aufgreifen, was Heiner Karuscheit an Antworten in AzD 92/2020 anbietet:
Das Ergebnis der Volkskammerwahl vom März 1990 stellte die nationale Einheit Deutschlands mit DeMark-West & Konsumangeboten grenzenloser Freiheit über die Bewahrung der sozialen Errungenschaften der DDR. Die Arbeiterklasse der DDR setzte ihre ganze Hoffnung auf ein besseres Leben in den Anschluss an die kapitalistische BRD. Die SED hatte ihre Basis im werktätigen Volk verloren, und das schon seit 1952/53. Die Ereignisse von 1953 und 1989 nur als Werk der Konterrevolution zu begreifen und nicht als Folge der falschen Politik von Partei- und Staatsführung bei der Behandlung von Widersprüchen im Inneren, geht schon dialektisch fehl, weil äußere Widersprüche nur vermittels innerer Widersprüche wirksam werden.

Damit ist auch die deterministische Geschichtsauffassung, zu der sich der Historiker Niemann in dem Vorwort seines Buches bekennt, widerlegt. Es gibt eben kein Endziel der Geschichte. Engels an Lafargue: „Wenn man aber ein Ideal hat, kann man kein Mann der Wissenschaft sein, denn man hat eine vorgefasste Meinung.“

Dennoch folge ich nicht Karuscheits wiederholtem Aufwerfen der nationalen Frage als unabdingbaren Bestandteil einer Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution. Im Gegenteil: Die Arbeiterschaft der DDR wollte 1989/90 die Grenzen der „sozialistischen Nation“ niederreißen und endlich Mobilität in Form von Reisefreiheit erringen. Dafür reizten Begrüßungsgelder, Westautos und Pauschalreisen. Die schwülstigen Jubelreden zur wiedergewonnenen nationalen Einheit wurden von Westpolitikern gehalten. Kohls Versprechen „blühender Landschaften“ fiel dagegen auf einen fruchtbaren Boden.

Festzuhalten bleibt, dass ein Reisepass der in der Schengen-Union vereinigten europäischen Staaten (inkl. Norwegen, Schweiz, Island) die Binnengrenzen und viele weitere Grenzen in der Welt öffnet. Selbst das deutsche Monopol- und Finanzkapital stützt seine Hegemonie nicht mehr primär auf eine nationale Basis, sondern auf den europäischen Raum und darüber hinaus. So wie es im Kommunistischen Manifest vorausgesagt wurde, dass „die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse“ verschwinden.

DDR-Kritiker aus der Tradition der westdeutschen MLM-Bewegung (Marxismus-Leninismus-Maoismus) hängen dagegen bis heute an der Deutschen Frage und der Machterringung im Rahmen des Nationalstaates – in der Zeit ihrer ideologischen Adoleszenz war die westdeutsche Jugend geprägt durch Mauerbau, Popkultur, Trikont und die Niederschlagung des Prager Frühlings. Daher kann auch Karuscheit der immerhin 10 Jahre dauernden Stabilisierung der DDR nach 1961 unter Ulbricht, die Niemann als „rotes Wirtschaftswundere“ kennzeichnet, nichts abgewinnen. Trotz seines apologetischen Hangs würdigt Raimund Ernst in seiner Rezension von Niemanns Buch realistisch die Folgen der Grenzsicherungsmaßnahmen seitens der DDR unter Ulbricht: „Zutreffend ist das Fazit Niemanns: >>Erst nach dem 13. August konnte die (bis dahin nur theoretisch verkündete) Politik der friedlichen Koexistenz in Europa praktische Gestalt annehmen<<“.

Aus meiner Sicht verdient Ulbrichts Wirtschaftskonzeption des NÖS(PL) eine ausgewogene Analyse, auch im Licht der Reformpolitiken in China, Vietnam und Kuba. Weitgehend unerwähnt bleibt in den Rezensionen der wirtschaftliche Druck, den die KPdSU unter ihrem neuen Generalsekretär Breschnew auf die DDR ausübte, der zu einem ungleichen Wirtschaftsvertrag führte. Am Tag der Unterzeichnung wurde Erich Apel, der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission, in seinem Büro erschossen aufgefunden.

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/11-plenum-der-ddr-vor-50-jahren-das-ende-des-reformprozesses/12681922-all.html

Die später folgende Stagnation im realen Sozialismus unter Breschnew und Honecker erfuhr auf dem 11. ZK-Plenum ihre kulturpolitische Erstarrung in einer kleingeistig-dogmatischen Kampagne des SED-ZKs gegen kritische Künstler und  experimentierfreudige Kulturschaffende, daher auch der Name „Kahlschlag-Plenum“. Danach war absehbar, dass sich die Intelligenz zu großen Teilen von der SED abwendet, schließlich 10 Jahre später in offener Gegnerschaft nach der Ausbürgerung Biermanns innerlich emigriert und endlich die geistige Führung im Demokratischen Aufbruch von 1989 übernimmt, der zum Ende der DDR führt.

https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/228714/gruenes-licht-aus-moskau-die-sed-fuehrung-am-vorabend-des-kahlschlag-plenums

https://www.mdr.de/zeitreise/stoebern/damals/avobjekt1446.html

https://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=3&titel_nr=849