Über Herausbildung und Ende des sowjetischen Arbeiter- und Bauernstaats

Vorbemerkung

Der nachfolgende Text stammt aus dem 1993 veröffentlichten Buch von Karuscheit und Schröder: „Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus. Aufsätze über die Klassenkräfte an den Wendepunkten der russisch-sowjetischen Geschichte“. Einige Punkte sieht der Autor heute anders, doch insgesamt ist er der Überzeugung, dass der damals beschrittene Weg richtig war und ist, um das Scheitern des Sozialismus in der Sowjetunion aufzuklären.

Gelsenkirchen, Januar 2021, H.K.

I. Das Land der Oktoberrevolution

Das russische Reich am Vorabend der Oktoberrevolution war bereits vom Bazillus des Kapitals infiziert, die kapitalistische Industrie bildete aber nur Inseln in einem Meer agrarischer Produzenten. 165,7 Millionen Gesamtbevölkerung hatte Rußland (ohne Finnland) im Jahre 1913. Davon lebten 26,3 Millionen in den Städten; das sind gerade 16%.1 Die erdrückende Masse des Volkes lebte nicht nur auf dem Land, sondern in den mittelalterlichen Zuständen des Landes. Zwar waren die Klassen der modernen kapitalistischen Gesellschaft: Bourgeoisie und industrielles Proletariat, bereits ausgebildet, ber absolut vorherrschend waren die alten Klassen: Bauern und Feudale. Abermillionen Bauern lebten jenseits jeder Kultur als festes Bollwerk des Mittelalters zu Beginn des 20.Jahrhunderts und standen gleichzeitig in tiefem Gegensatz gegen die andere grundbesitzende Klasse der alten Gesellschaft, den russischen Adel, der unter dem Zarismus die Gesellschaftsordnung trug.

Diese feudale Ordnung hatte besondere Formen, die sich beträchtlich vom Westen unterschieden, nämlich die Gutsherrschaft einerseits, die Dorfgemeinde (mir oder obscina) andererseits. Welche Form die alte Gesellschaft aber jeweils hat, ist bestimmend für die mehr oder weniger lange und mehr oder weniger turbulente Übergangsperiode, die zwischen der alten und der entwickelten modernen Gesellschaft liegt.

Angesichts der bestehenden Unterschiede stellt sich die Frage, ob es überhaupt angebracht ist, im Osten wie im Westen Europas gleichermaßen von „Feudalismus“ zu sprechen. Diese Frage soll hier nicht erörtert werden; die russischen Verhältnisse werden – insoweit der traditionellen Begrifflichkeit entsprechend – nur als besondere Form des Feudalismus bezeichnet, ohne näher darauf einzugehen, ob die Gesellschaftsformation im Osten nicht einem anderen Begriff entspricht.

1. Besonderheiten der russischen Feudalordnung

Im KAPITAL schreibt Karl Marx, daß die „gemäßigte Zone“, sprich Westeuropa, „das Mutterland des Kapitals“ geworden ist, weil hier die Unterschiede der Bodenfruchtbarkeit und seiner natürlichen Produkte, also der Wechsel der Naturumstände, zur Entwicklung der Bedürfnisse und produktiven Fähigkeiten des Menschen anspornten.2 Insbesondere der Gegensatz zwischen atlantischem (ozeanischem) Klima und Kontinentalklima machte sich in der Unterschiedlichkeit der Produktionsverhältnisse zwischen dem Westen und dem Osten Europas bemerkbar.

Unter den klimatischen Bedingungen des Westens mit seinem ozeanischen Klima, meist kurzen und milden Wintern und gleichmäßiger Verteilung der Niederschläge wurde das agrarische Mehrprodukt der Bauern an ihre Feudalherren im allgemeinen in Form von Abgaben geleistet, zunächst als Naturalabgaben und sodann, mit Umwandlung der feudalen Grundrente in Geldrente, auch in Geld. Die feudale Arbeitsrente spielte dagegen keine entscheidende Rolle. Persönliche Dienste, dh. Hand- und Spanndienste auf den Feldern des „Herrn“, waren zweitrangig, weil dieser in der Regel keine eigenen Felder besaß. Als Ausdruck von relativem agrarischen Reichtum war diese Form des Feudalismus als Grundherrschaft im westlichen Europa dominierend.

Im Osten dagegen, u.a. in Rußland, trug die Feudalherrschaft anderen Charakter. Dort ermöglicht das Kontinentalklima mit seinen kurzen Sommern und langen Wintern nur etwa ein halbes Jahr lang landwirtschaftliche Arbeiten im Freien; die Bestellungs- und Erntezeiten drängen sich auf einen kurzen Zeitraum zusammen. Durch eine ungünstige jährliche Niederschlagsverteilung bringen die Grünfutterflächen wenig Erträge, mit der Folge, daß die Viehhaltung, der Einsatz natürlichen Düngers und die Möglichkeit entfalteten Fruchtwechsels eingeschränkt sind. „Wenn der Bauer unter solchen Umständen in der Wirtschaftsweise sich selbst überlassen blieb, so tat er aus mehreren Gründen nur das zur Erhaltung des Daseins Notwendige. Die Arbeitszeit der Familie ließ sich wegen der Ungunst des Klimas nur unvollkommen über das Jahr verteilen; wegen der hohen Belastungsspitzen reichten ihre Kräfte und wegen der geringen Futterfläche das Zugvieh nicht aus, um größere Flächen zu bewirtschaften. Das extreme Klima führt überdies zu großen Ertragsschwankungen und zwingt zum Halten von größeren Vorräten. Unter solchen Bedingungen war das historische osteuropäische Haufendorf mit kleinen und ziemlich gleichmäßig verteilten Landanteilen ein Abbild der zugrunde liegenden >natürlichen< Produktionsverhältnisse.“3

Die Armut der Bauern hatte zur Folge, daß statt der Zahlung von Abgaben die Arbeitsrente die Regelform der feudalen Grundrente bildete: ein nennenswertes agrarisches Mehrprodukt, unumgänglich für die Entwicklung des Staates, war nur auf dem Boden der Gutswirtschaft zu erzielen. Das bedeutete, daß der Grundherr die agrarische Produktion – unter den gegebenen Verhältnissen meistens von Getreide – selber organisieren mußte. Neben dem von den Dörfern in eigener Verantwortung bewirtschafteten Boden, mit dem die Bauern ihre Subsistenz sicherten, gehörten dem Grundherrn eigene Felder größeren Umfangs, auf denen die Bauern des seiner Herrschaft unterworfenen Dorfes Fronarbeit leisten mußten. Es wurde „von Staats wegen die Errichtung von landwirtschaftlichen Großbetrieben, d.h. Gutswirtschaften, gefördert, die mit dem Privileg ausgestattet waren, die Bauern ihres Bereiches in Leibeigenschaft härtester Form zu halten. In dieser Agrarverfassung waren sie gezwungen, auch ohne Gegenleistung Hand- und Gespanndienste für die Gutsherrschaft zu leisten. Die gutswirtschaftliche Organisation diente also dazu, dem Staatswesen sichere landwirtschaftliche Überschüsse zu liefern, und setzte die adeligen Gutsherren in Stand, sich als Hof-, Dienst- und Militäradel beim Hofe und in den Verwaltungszentren aufzuhalten.“4

Der entscheidende Zeitraum für die Herausbildung dieser Gutswirtschaft, in dem die gesellschaftlichen Grundlagen für die Zarenherrschaft bis 1917 gelegt wurden, war die sogenannte Wüstungsperiode von ca. 1560 bis ca. 1620. Sie war durch fortlaufende Kriege, Mißernten und Epidemien gekennzeichnet, ähnlich wie in Deutschland der 30jährige Krieg, aber mit dem entgegengesetzten Ergebnis einer Stärkung der Zentralmacht. Bis ins 16. Jahrhundert hinein waren die russischen Bauern zwar zu Diensten und Abgaben verpflichtet, aber insoweit frei gewesen, als sie nicht schollengebunden waren. Sie konnten jederzeit wegziehen und sich unter die Herrschaft eines anderen Feudalherrn begeben. Als für die durch Kriege und Seuchen dezimierte Bevölkerung allenthalben die Dienste, Abgaben und Steuern stiegen, häuften sich die Zahlen entlaufener Bauern. Zum Teil wanderten diese „Läuflinge“ in die Randgebiete Rußlands ab, wo der Boden noch ohne Grundherrn und der Staat fern war. Aus ihnen und den dort bereits Wohnenden, teils Tataren, gingen die Kosaken hervor. Zum Teil flohen sie auch zu anderen, reicheren Grundherren, die ihnen fruchtbareres Land oder geringere Dienste und Abgaben anbieten konnten. Das waren in erster Linie die großen Grundherren, die Bojaren – der hohe Adel.

Gegen die existentielle Bedrohung der kleinen Grundherren wandten sich nicht nur diese selber, sondern auch die zarische Zentralmacht. Sie hatte bereits jahrzehntelange Kämpfe mit dem hohen Adel hinter sich und benötigte die kleinen Grundherren als Gegengewicht zur Hocharistokratie und als Dienstadel für Heer und Verwaltung. Gestützt auf den niederen Adel, gingen die Zaren darum dazu über, die Bewegungsfreiheit der Bauern sukzessive einzuschränken und schließlich ganz zu beseitigen. 1649 legte ein Ukas des Zaren endgültig die Schollenpflicht der Bauern fest. Mit dem gemeinsamen Sieg der Zentralmacht und des Dienstadels war die Leibeigenschaft endgültig besiegelt, die Grundlage für die Gutswirtschaft gelegt und die Entwicklung des russischen Zentralstaats gesichert. Mehr als 100 Jahre später, in den Jahren 1762 und 1785, wurde der Dienstzwang des Adels am Hofe, im Heer und in der Verwaltung aufgehoben. Damit wurden die Adeligen in den Augen der Bauern überflüssige Parasiten.

Die Gutswirtschaft war nicht nur in Rußland, sondern auch im ostelbischen Preußen Grundlage der Gesellschaft. Dagegen blieb die zweite Besonderheit des östlichen Feudalismus – die Dorfgemeinde – in ihrer Dauerhaftigkeit Rußland vorbehalten. In Preußen wurden die Bauern durch die Agrarreformen des 19.Jahrhunderts Privateigentümer des von ihnen bebauten Landes. In Rußland dagegen blieb die mittelalterliche Dorfgemeinde – die obscina oder mir – Eigentümerin des dörflichen Grund und Bodens, den sie nach 1930 als Kolchos weiterbesaß und bearbeitete.

Obscina bedeutet im Russischen sowohl Gemeinde als auch Bodengemeinschaft, und das bezeichnet, worum es ging. Nur Haus und Hof (Hofland), dazu Vieh und Geräte, waren Individualeigentum der einzelnen Bauernwirtschaft. Wälder und Weiden, Äcker und Wiesen dagegen gehörten der Dorfgemeinde als ganzer. Wald und Weide standen als Allmende allen zur gemeinsamen Nutzung offen, die Äcker wurden dagegen in regelmäßigem Abstand an die einzelnen Bauernhöfe je nach Größe der Familie, nach Arbeitskräften und Essern, umverteilt. Um eine möglichst gerechte Aufteilung zu gewährleisten, wurde der Boden zunächst nach Qualität und Lage bewertet, dann die einzelnen Bodenarten in Streifen unterteilt und sodann, meist per Los, auf die Höfe verteilt. Auf diese Weise mußten die einzelnen Höfe z.T. Dutzende voneinander getrennter Bodenstreifen bearbeiten. Am Vorabend der Oktoberrevolution betrug die Zahl dieser Landstreifen im Süden Rußlands weniger als 10 pro Hof und steigerte sich auf über 100 im Norden.

Wenn nicht noch altertümlichere Produktionsformen vorherrschten, wurde die Dreifelderwirtschaft mit Flurzwang praktiziert: im immer gleichen Rhythmus von Frühjahrsaussaat, Winteraussaat und Brache mußten alle Ackerstreifen zur gleichen Zeit gesät und abgeerntet werden. Meist wurde Getreide angebaut.

Alle wichtigen Fragen des Dorfes wurden von der Dorfversammlung (schod) entschieden, auf der jeder Hof in Gestalt des Hofbauern eine Stimme hatte. In seltenen Fällen, wenn der Mann gestorben war, führte auch die Bäuerin den Hof weiter, bis der Sohn alt genug war. Die wichtigsten Entscheidungen betrafen die Umteilung des Landes, die Termine für Aussaat und Ernte und die Umlegung der Steuern auf die Höfe, weil das Dorf gleichzeitig Steuergemeinde war; die obscina haftete kollektiv für die Steuern. Außerdem hatten die Dörfer die niedere Gerichtsbarkeit inne.

Die scheinbar „demokratische“ Idylle dieses bäuerlichen Urkommunismus fußte auf stagnierender Produktivität, weil kein Bauer Interesse an Bodenverbesserung und produktiverer Fruchtfolge hatte, auf vollständiger Kulturlosigkeit, weil kaum ein Dorfbewohner lesen und schreiben konnte, auf mittelalterlichem Aberglauben, weil alle wissenschaftliche Erklärung der natürlichen Lebenszusammenhänge unbekannt war, und auf absoluter Willkür, weil Dorfschreiber und Dorfälteste – häufig in Personalunion und auch noch Dorfrichter dazu – schrankenlos herrschen konnten.

Der verlorene Krimkrieg 1853-1855 gegen die mit England, Frankreich und Sardinien verbündete Türkei offenbarte die Rückständigkeit Rußlands gegenüber den Ländern, in denen sich mit dem Kapital die Produktivkräfte entwickelten. 1861 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben, um eine Voraussetzung der Modernisierung zu schaffen. Wie in Preußen blieb dabei die Macht der Gutsbesitzerklasse erhalten, aber im Unterschied zu Preußen wurde für die aus der Leibeigenschaft entlassenen Bauern kein Privateigentum an Land begründet, sondern im Gegenteil die obscina gestärkt. Bei der Aufteilung der Äcker, Wälder und Weiden zwischen Grundherren und Bauern erhielt sie den Boden, der den Bauern zugesprochen wurde, und wurde „Haftungsgemeinschaft“ für die Ablösungszahlungen, die jedes Dorf für das überlassene Land an den Grundherrn zahlen mußte. „Sowohl aus fiskalischen als auch aus politischen Gründen machte die zaristische Regierung die Dorfgemeinde zu einer Grundlage der ländlichen Verwaltung. Sie wollte durch das Prinzip der wechselseitigen Bürgschaft bzw. der solidarischen Haftung, das mit der Gemeindeverfassung verknüpft war, die Bauern zur Ableistung ihrer Zahlungsverpflichtungen zwingen und zugleich die patriarchalischen Verhältnisse im Dorf aufrechterhalten, um dadurch soziale Differenzierung, Proletarisierung und Verelendung und die hieraus resultierende Gefahr einer revolutionären Entwicklung zu verhindern.“5

Wer aus der Gemeinde ausscheiden wollte, mußte von nun an nicht nur Haus und Hof verkaufen und sein Land an das Dorf zurückgeben; er mußte außerdem die Hälfte der anteilsmäßig auf seinem Hof lastenden Ablösungsschuld bezahlen. Das war nicht der einzige Grund, weshalb auch diejenigen Bauern, die in die städtischen Fabriken gingen, weiterhin Mitglieder der Dorfgemeinde blieben. Sie konnten so jederzeit zurückkehren, wenn sie in der Stadt arbeitslos oder krank wurden. Überdies konnte die Dorfgemeinde seit 1893 durch Verweigerung des Passes den Wegzug eines Dorfbewohners in die Stadt verhindern. Noch bis zu den Agrarreformen Stolypins waren die meisten russischen Fabrikarbeitern auch Gemeindebauern.

Im Jahr 1893 wurde auch die Mindestfrist zur Bodenumteilung auf 12 Jahre festgelegt,6 ohne daß das Verbot große Auswirkungen hatte. Spätestens wenn im Dorf durch Heirat ein neuer Hausstand gegründet wurde, mußte das Land schließlich neu umverteilt werden. 23 Millionen überschüssige Landbevölkerung hatte Rußland nach offiziellen Angaben um die Jahrhundertwende, vermutlich sogar mehr.7

Auch die meisten Kapitalisten waren aus naheliegenden Gründen für die Erhaltung der obscina. „Paradoxerweise scheint aber das russische Unternehmertum an der Erhaltung der traditionellen Landgemeinde interessiert gewesen zu sein, da sie als eine Art sozialer Schutzinstitution erlaubte, die Arbeitslöhne niedrig zu halten, kranke, arbeitsunfähige und in Zeiten der Depression überzählige Arbeiter, die ihrer Standesangehörigkeit nach immer noch Bauern und Mitglieder einer Landgemeinde waren, in diese abzuschieben.“8

Die Gutsbesitzer reagierten unterschiedlich auf die Bauernbefreiung von 1861. Einige gingen mit massenhafter Anwendung von Lohnarbeit und Einsatz von Maschinerie zu kapitalistischer Produktionsweise über, vor allem im Baltikum und Teilen der Ukraine. Für die große Masse änderte sich jedoch wenig. „In der Regel waren die Gutsbesitzer kaum an einer Rationalisierung ihrer Betriebe interessiert; sie versuchten stattdessen, an der althergebrachten Wirtschaftsweise festzuhalten. Da es ihnen häufig an Inventar und Geldmitteln fehlte, zugleich aber in Gestalt der landarmen Bauern ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung standen, lag es nahe, die Gutsländereien von diesen Bauern mit deren eigenem Inventar bearbeiten zu lassen und ihnen dafür Land zu verpachten. Die Pachtbeziehungen, die sich auf diese Weise herausbildeten, unterschieden sich in sozialökonomischer Hinsicht nur wenig von dem Agrarsystem, das vor der Reform bestanden hatte. (…) Vorkapitalistische Pachtbeziehungen und Abarbeit waren in erster Linie in den zentralen Schwarzerdegouvernements, an der Mittleren Wolga sowie in einem großen Teil des russischen Nicht-Schwarzerdegebietes verbreitet.“9 Das war Kernrußland, das am dichtesten bevölkerte Gebiet, das später von Seiten der Bauernschaft ausschlaggebend war für Revolution und Bürgerkriegsverlauf. Auch als die Weiterzahlung der Ablösesummen 1905 aufgehoben wurde, blieben die Pachtverhältnisse erhalten und wurden ein maßgeblicher Streitpunkt beim Bauernkrieg des Jahres 1917.

2. Das Überleben der Dorfgemeinde

Der 1904 begonnene Krieg gegen Japan demonstrierte erneut die Rückständigkeit Rußlands, und die Revolution, die nach der Niederlage ausbrach, zeigte die soziale Instabilität des Landes. Während das Proletariat, Träger der entscheidenden Bedrohung für die alte Gesellschaft, in den Städten zum erstenmal seinen Machtanspruch auf die Straße trug, begann die alte Ordnung auch auf dem Land ihren Rückhalt zu verlieren. Bis weit ins Jahr 1906 waren die Dörfer in Aufruhr. Die Zentren der lokalen Aufstände lagen in Zentralrußland, dort, wo die obscina vorherrschte. Durch die obscina-Verfassung durch gemeinsame Interessen verbunden und an kollektives Handeln gewöhnt, zog das Dorf geschlossen gegen den Gutsbesitzer.

Daß die obscina ökonomisch der Entwicklung der agrarischen Produktivität im Wege stand, wußte man schon lange. Jetzt setzte sich auch politisch der Versuch zu ihrer Abschaffung durch. Fortan „galt es, die Obscina, die so lange allgemeine Zustimmung und den Schutz der Regierung hatte, aufzulösen. Ihre Hemmwirkung für die Intensivierung der agrarischen Produktion war längst allseits anerkannt. Von der Staatsnotwendigkeit – sie war eine Art Basiseinheit der russischen Gesellschaftsordnung – zum Staatsfeind wurde sie jedoch erst in der Revolution 1905/6. Während der Bauernerhebungen erwies sie sich nämlich als Solidarisierungsgemeinschaft der ländlichen Bevölkerung gegen die Gutsherren und ihr Land.“10 An die Stelle der Dorfgemeinde sollten jetzt Einzelbauern mit Privateigentum an Land treten, als neue soziale Stütze des Zarismus und Bollwerk gegen künftige revolutionäre Umtriebe.

Nachdem es 1902 erste bäuerliche Unruhen gegeben hatte, war die Solidarhaftung der Dorfgemeinde bereits 1903 aufgehoben worden. Noch vor Ende 1905 wurde die Zahlung der Ablösungsbeträge beendet, um die aufrührerischen Bauernmassen zu besänftigen. Unter dem neuen Ministerpräsidenten Stolypin wurde sodann eine Reformgesetzgebung verabschiedet, deren Ziel die Auflösung der Dorfgemeinde war, staatlich gefördert durch Kredite, administrativen Zwang und sonstige Mittel.

Die Bauernschaft hatte indes andere Interessen. „Das Gros der Bauern reagierte auf die neuen Reformgesetze mit Enttäuschung und Erbitterung. Sie hatten zusätzliches Land gewollt und erwartet, Land von den Gutsbesitzern und dem Staat, der Krone und der Kirche. Nun gab man ihnen – aus ihrer Sicht – das bloße Eigentumsrecht an dem, was sie schon besaßen, verbunden mit einer unsicheren Zukunft. Die obscina ließ alle leben, auch die ärmeren Bauern, so war der Grundtenor vieler Äußerungen (…) Nur im Westen, wo die Gemeindeuhren seit langem anders gingen, scheint die Stolypinsche Agrarpolitik auf breitere Zustimmung gestoßen zu sein. In Zentralrußland dagegen hatte ein Bauer, der den Wunsch äußerte, aus der obscina auszuscheiden, den Rest des Dorfes gegen sich. (…) Das Dorf antwortete massiv mit Beschimpfungen und Drohungen, mit dem Ausschluß aus der Dorfversammlung, mit dem Verbot, die Gemeindewege und -wiesen zu benutzen und Wasser aus dem Dorfbrunnen zu schöpfen. Spätestens wenn man dem >Stolypinbauern< den Roten Hahn aufs Strohdach setzte, rief die Auseinandersetzung zwischen den Wenigen und der bäuerlichen Masse die zarischen Behörden auf den Plan“.11 Unter diesen Umständen war das Ausscheiden Einzelner aus der Dorfgemeinde die Ausnahme. Wenn, dann machten meist die Bauern eines ganzes Dorf mit der obscina Schluß und verteilten das Land als Privateigentum unter sich. Aber auch bei den neuen Einzelbauern blieb in der Regel ein erheblicher Teil des Landes in Gemeindebesitz, nämlich die Weide und der Wald.

Die Zahl der Aussteiger aus der Dorfgemeinde erreichte 1909 mit 580.000 Hofbauern den Höhepunkt; danach gab es einen raschen Rückgang. 1914 beantragten noch 98.000 Bauern die Privatisierung.12 Demzufolge schieden weniger Bauern aus, als die Landbevölkerung zunahm; 1913 betrug die agrarische Übervölkerung bereits 30 Millionen.13 Außerdem waren die Daten über die angeblich niedergehende Dorfgemeinde geschönt. „Die Veröffentlichung von Zahlen über den >Zerfall der obscina< war Teil der Kampagne. Die Verläßlichkeit der Angaben ist umstritten“.14 Die russischen Marxisten allerdings glaubten den Zahlen. Sie unterstellten einen Entwicklungsstand des Kapitalismus auf dem Land, der in der Realität nicht vorhanden war; Lenins Buch „Über die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“ legt davon Zeugnis ab.

Nur im Süden und Westen des Zarenreichs, im Baltikum und der Ukraine, machte die Auflösung der Dorfgemeinde substantielle Fortschritte; vor allem in diesen Regionen wurde auch Adelsland von Privatbauern gekauft, so daß der Adelsanteil am bebaubaren Boden insgesamt zurückging, 1916 allerdings noch mehr als ein Viertel betrug.15 In Zentralrußland dagegen herrschte weiterhin die Gemeindeverfassung vor. Während der Boden hier unter immer mehr Gemeindeangehörige verteilt werden mußte, klammerten sich die Bauern um so stärker an die Dorfgemeinde, die ihren Lebensunterhalt sicherte, und richteten ihre landhungrigen Blicke auf den benachbarten Gutsbesitz der Adeligen.

Die mit den Stolypinschen Reformen gleichfalls eingeleitete Übersiedlungskampagne in die dünn besiedelten Teile des russischen Reiches hatte mehr Erfolg. In der Zeit von 1906-1916 gingen 3,1 Mio Bauern nach Sibirien, in den Fernen Osten, in das Steppengebiet und nach Turkestan, von denen 550.000 wieder zurückkehrten.16 Da jungfräuliches Land jedoch begrenzt war, war auch dies keine Lösung für die zunehmende Übervölkerung Rußlands.

Der Stolypinsche Weg zur Umgestaltung Rußlands und zur Festigung der Zarenherrschaft führte also in die Sackgasse. Statt die vorhandenen Gegensätze zu befrieden, wurde die Dorfgemeinde, die Masse der russischen Bauern, endgültig zur Gegnerin der bestehenden Ordnung, und statt die Herrschaft des Zaren sozial zu stabilisieren, wurden die Voraussetzungen für die Oktoberrevolution geschaffen. Um die Revolution siegen zu lassen, reichten indes erneute Bauernrevolten, ja selbst ein ganzer Bauernkrieg, nicht aus. Aufgrund ihrer Produktionsweise zersplittert, würde jeder neue Aufstand der Bauern letzten Endes von der zentralisierten Staatsmacht niedergeschlagen werden. Dies war und blieb das unausweichliche Schicksal aller Bauernaufstände in den Jahren und Jahrhunderten davor, nicht nur in Rußland, sondern in ganz Europa.

Neben die Bauern als Gegner der bestehenden Gesellschaftsordnung trat jedoch das Proletariat. Zwar wäre auch die russische Bourgeoisie prinzipiell als Bündnispartner der Bauern infrage gekommen. Mit den liberalen Gutsbesitzern verbunden, die im Gegensatz zum Gros ihrer Klassengenossen für eine kapitalistisch-bürgerliche Entwicklung auf dem Land eintraten, war die russische Bourgeoisie jedoch nicht in der Lage, die Forderung der Gemeindebauern nach Land zu erfüllen, denn sie machten keinen Unterschied zwischen feudal oder kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzern.

Die russische Arbeiterklasse stand noch mit einem Bein im Dorf, denn erst seit der Stolypinschen Reform gab es die Möglichkeit, das eigene Anteilland zu verkaufen, und davon hatten längst nicht alle Gebrauch gemacht. Diese zwischen obscina und Fabrik stehenden Arbeiter waren also keinesfalls „frei von allen Bindungen“ an die alte Gesellschaft, wie Marx das als notwendig für die Bildung des modernen Proletariats ansieht. Andererseits hatte das Proletariat dadurch Verbindung mit der vor sich gehenden Gärung auf dem Dorf, ebenso wie dieses mit den revolutionären Ideen aus der Stadt in Kontakt kam. Gleichzeitig war die russische Arbeiterklasse zahlenmäßig schwach – sie umfaßte am Vorabend des Weltkriegs ca. 3 – 4 Millionen – andererseits aber war sie hochkonzentriert und damit politisch schlagkräftig; über die Hälfte der Arbeiter war in Betrieben von mehr als 500 Personen beschäftigt.17

3. Die Obscina als Gewinnerin der Revolution

Im Februar 1917 stürzte der Zar durch einen Generalstreik der Petersburger Arbeiter, als sich die bäuerlichen Regimenter, statt auf die Arbeiter zu schießen, mit ihnen verbrüderten oder neutral blieben.18 Damit war aber nur der politische Überbau geändert; die maßgeblichen sozialen Triebkräfte der Revolution wirkten weiter, weil sie nicht befriedigt wurden. Frieden und Brot waren die Forderungen des Proletariats in den Städten, und Frieden und Land waren die Forderungen der Bauernmassen auf dem Land. Die Landreform richtete sich gegen die Gutsbesitzer, und der Krieg mußte in den Augen der bäuerlichen Armee (wegen der Kriegsproduktion waren Arbeiter im allgemeinen vom Kriegsdienst freigestellt) beendet werden, damit die Bauernsoldaten bei der Landreform wieder in ihren Dörfern waren.

Die bürgerlich-kleinbürgerlichen Regierungen, die in verschiedenen Konstellationen nach dem Februar agierten, verwirklichten weder das eine noch das andere. In der Landfrage vertröstete man auf die verfassunggebende Versammlung, die die Landreform auf geordnet parlamentarisch-bürgerlichem Wege in die Hand nehmen sollte, und in der Kriegsfrage hielt die Regierung an den zarischen Abmachungen mit den westlichen Alliierten fest, keinen Separatfrieden mit Deutschland zu schließen. Erst nach einem gewonnenen Krieg glaubte man sich stark genug, die Landfrage anzugehen, denn die Landreform noch im Krieg anzugehen bedeutete, daß die Bauernsoldaten nicht mehr in den Schützengräben zu halten waren. Dabei war die Landreform faktisch bereits zugange – auf dem revolutionären Weg der „schwarzen Umteilung“. Die Bauern schlugen Holz in den Wäldern des Gutsbesitzers, trieben ihr Vieh auf seine Weiden, verweigerten die Pachtzahlungen oder zündeten auch schon einmal einen Gutshof an.

Als mit dem Sommer des Jahres 1917 die Ernte vorbei war, flammte der vorübergehend zurückgeflutete Aufruhr richtig auf. „Im Herbst, als im Zusammenhang mit der Winteraussaat Pacht- und Bodenfragen geregelt werden mußten, erreichte der bäuerliche Aufruhr seinen Höhepunkt: Er entwickelte sich nun zu einem regelrechten Bauernkrieg, an dem ganze Dörfer und sogar Bezirke teilnahmen. Etwa neun Zehntel des europäischen Rußland waren jetzt von der Bewegung erfaßt. So war die radikale Umwälzung der alten Agrarverhältnisse bereits in vollem Gange, als in Petrograd die Provisorische Regierung gestürzt wurde.“19 Gleichzeitig lösten sich die Regimenter der Armee scharenweise auf und strömten die Bauern im Waffenrock in ihre Dörfer zurück, um bei der schwarzen Umteilung nicht leer auszugehen.

Die Bolschewiki waren die einzige städtische Partei, die für die sofortige Beendigung des Kriegs eintrat und nicht auf die Konstituierende Versammlung vertröstete, sondern die spontane revolutionäre Landnahme der Bauern guthieß, wenn auch nach heftigen inneren Auseinandersetzungen. Nach dem Februar ging nicht nur die Mehrheit der Arbeiterklasse zu den Bolschewiki über, sondern schwenkten auch die Bauernmassen allmählich von der Regierung ab, als die Landreform nicht angegangen wurde. Das ermöglichte die Machtergreifung durch die Partei Lenins im Oktober. Die noch gewählte Nationalversammlung konnte von den Bolschewiki widerstandslos aufgelöst werden, als sie sich weigerte, das Dekret über die Nationalisierung des Bodens zu akzeptieren. Nur die städtischen Intellektuellen und die Bourgeoisie trauerten ihr nach. Die Masse des Volkes reagierte gleichgültig, waren die Hauptaufgaben, zu deren Erfüllung ihre Einberufung gefordert worden war – Frieden und Landverteilung – doch gelöst.

Die hauptsächlichen Gewinner der Oktoberrevolution waren die Bauern, die Muschiks. „In unserem Bauernland waren es die Bauern schlechthin, die von der Diktatur des Proletariats als erste, am meisten und auf einen Schlag Vorteile gehabt haben“, stellte Lenin fest. „Unter der Diktatur des Proletariats geschah es zum erstenmal, daß der Bauer für sich arbeitete und daß er sich besser ernährte als der Städter.“20 Für die Bauern bedeutete die Revolution das Ende der Pachtzahlungen, Schuldverpflichtungen und Abhängigkeiten vom Gutsherrn.21 Der Landgewinn für den einzelnen Bauern war nicht groß. Weil die Landbevölkerung von 119 auf 122 Mio und die Zahl der Höfe von 21 Mio im Jahre 1916 auf 24 Mio im Jahr 1925 stieg, blieb für die vorhandenen Höfe nicht viel zusätzliches Land übrig. Gleichzeitig wurde fast die Hälfte der armen Bauern durch das zusätzliche Land, Vieh und Geräte des Gutsbesitzers zu Mittelbauern, die nun mit 60% die Mehrheit im Dorf stellten.22 Die versteckte dörfliche Arbeitslosigkeit ging vorübergehend zurück.

Im Dekret über den Boden, dessen Zentralteil als „Wählerauftrag zur Bodenfrage“ aufgrund von 242 Wähleraufträgen örtlicher Sowjets von Bauerndelegierten zusammengestellt worden war, sind die Produktionsverhältnisse auf dem Land festgelegt, die von der Masse der russischen Bauern verlangt und durchgesetzt wurden: Am 26.Oktober (8.November) 1917 stellte Lenin dieses Dekret vor dem Zweiten Allrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten vor: „Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben; der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch verpfändet, noch auf irgendeine andere Weise veräußert werden. Der gesamte Boden … wird entschädigungslos enteignet, zum Gemeineigentum des ganzen Volkes erklärt und allen, die ihn bearbeiten, zur Nutzung übergeben.“23

Weiter wurde im Wählerauftrag und dementsprechend im Dekret festgelegt: „6. Das Recht der Bodennutzung erhalten alle Bürger des Russischen Staates (ohne Unterschied des Geschlechts), die den Boden selbst, mit Unterstützung ihrer Familie oder genossenschaftlich bearbeiten wollen, und zwar nur für so lange, wie sie imstande sind, ihn zu bearbeiten. Lohnarbeit wird nicht zugelassen. (…) 7. Die Bodennutzung muß ausgleichend sein, d.h., der Boden wird je nach den örtlichen Verhältnissen auf Grund der Arbeitsnorm oder Verbrauchsnorm unter die Werktätigen aufgeteilt.“24

Diese „Nationalisierung“ des Bodens war das Programm der historisch überkommenen, bäuerlich-egalitären, urkommunistischen Dorfgemeinde. Das der Dorfgemeinde fremde Privateigentum an Grund und Boden wurde aufgehoben. Ganz Rußland wurde so zur Dorfgemeinde; alle Staatsbürger wurden zu obscina-Mitgliedern erklärt. „Die Liquidierung des Großgrundbesitzes vollzog sich als >Umverteilung< (peredel) innerhalb der Gemeinde, und an ihrem Ende stand die Konsolidierung, die Wiedergeburt der obscina.“25 Auch das Verbot der Lohnarbeit erfolgte als bäuerlich-egalitäre Forderung, nicht als proletarische Errungenschaft. Der bäuerliche Gleichheitsdrang der obscina ging so weit, daß bei der Bodenumteilung nicht die Anzahl der Arbeitskräfte auf einem Hof, sondern die Anzahl der Familienmitglieder zum Maßstab werden sollte, wie Lenin feststellte. „Bei der Verteilung des Bodens herrscht jetzt bekanntlich maximale Gleichheit: in den weitaus meisten Fällen teilen die Bauern den Grund und Boden >nach Essern< auf.“26

Der Sieg der russischen Gemeindebauern hatte zur Folge, daß nicht nur die adeligen Gutsbesitzer enteignet wurden, sondern auch andere agrarische Privateigentümer, nämlich die Stolypinschen Bauern, die in den Jahren zuvor aus der Dorfgemeinde ausgetreten waren. Zumindest war das dort der Fall, wo es ein Nebeneinander verschiedener Produktionsformen gab, also erst einzelne Bauern Privateigentum an Land begründet hatten. „Eben erst gegen den Willen der obscina aus dem Dorfverband ausgeschieden, wurden sie nun in Strafaktionen zurückgeholt. Häufig ging es ihnen dabei nicht besser als den Gutsbesitzern: Sie verloren das in den Augen der Bauern widerrechtlich entwendete obscina-Land, aber auch Vieh und Inventar, und die Besitzungen wurden zerstört.“27

Am 1.1.1927, am Vorabend der Kollektivierung, betrug der Anteil der Obscina am nicht staatlich bewirtschafteten Boden über 95%; die verbliebenen Privatbauern besaßen lediglich ganze 3,5% des Bodens.28 Allerdings sind solche Angaben mit Vorsicht zu genießen. Viele Dörfer, die die obscina bereits vor der Oktoberrevolution geschlossen aufgelöst hatten, dürften formal wieder dahin zurückgekehrt sein, um das Land des benachbarten Gutsbesitzers zu bekommen. Wer aber sollte sie zwingen, tatsächlich eine regelmäßige Landumteilung vorzunehmen, woran nicht einmal die bolschewistische Staatsmacht Interesse hatte, die im Gegenteil versuchte, die Landumteilung ihrer Unproduktivität wegen zurückzudrängen? Oder warum sollten die sibirischen Bauern, die dort von Anfang an als freie Farmer auf privatem Grundbesitz gesiedelt hatten, die obscina neu einführen? Insgesamt sind die geographischen Unterschiede und Auswirkungen des Oktobers auf die verschiedenen Landesteile noch wenig geklärt.

Bei alledem war die neue Staatsmacht auf dem Land von Beginn an ungeheuer schwach. Die Regierung hatte vorgehabt, die wenigen hochproduktiven Güter als staatliche Großbetriebe (Sowchosen) zu erhalten, zumindest solche mit technischen Kulturen und Verarbeitungsanlagen. Sie sollten als Mustergüter dienen und eine Mindestversorgung der Städte sicherstellen. Gegen die Bauernmassen war dies aber nicht durchzusetzen; bis auf einen Restbestand von weniger als 5% des zur Verteilung gelangten Bodens wurde alles Land von den Dorfgemeinden übernommen.29 „Um seine Macht zu sichern, nahm das Sowjetregime die Aufteilung allen Großgrundbesitzes und die Festigung der obscina in Kauf. (…) Der Gegensatz zwischen Stadt und Land blieb erhalten. Hier lag die tiefste Ursache für die Probleme, die Stalin 1929/30 mit dem Gewaltstreich der Kollektivierung zu lösen suchte.“30

4. Über den Charakter der Oktoberrevolution

Die Oktoberrevolution war eine antifeudale Revolution, insoweit sie die unvollendeten Aufgaben der Februarrevolution zu Ende brachte und die sozialen Grundlagen der Herrschaft der Gutsbesitzerklasse beseitigte. Aber obwohl das Proletariat die Staatsmacht ergriff, wurde das soziale Wesen dieser Revolution nicht durch die Arbeiterklasse geprägt. Zwar wurden die Banken und großen Betriebe verstaatlicht, aber eine sozialistische Produktionsweise war nicht möglich; stattdessen herrschte in den 20er Jahren der Staatskapitalismus vor. Lenin betrachtete den Oktober darum nie als sozialistisch, weil es für ihn keine Frage war, daß sich der Charakter der Oktoberrevolution nicht aus der proletarischen Führung, sondern aus dem Bündnis mit der Bauernschaft als der entscheidenden sozialen Trägerin des Umsturzes ergab. Aus diesem Grund begriff er die Oktoberrevolution bis zu seinem Tod als „bürgerlich-demokratische Revolution“, weil es, wie er 1918 in seinem Artikel „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky schrieb, „zusammen mit der >gesamten< Bauernschaft gegen die Monarchie, gegen die Gutsbesitzer, gegen das Mittelalter“ ging.31

Ebenso bemerkte er Ende 1921 in seinem Artikel zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution: „Bürgerlich-demokratischer Inhalt der Revolution, das heißt – Säuberung der sozialen Verhältnisse (der Zustände, der Einrichtungen) des Landes vom Mittelalterlichen, von der Leibeigenschaft, vom Feudalismus.“32 Eben das war nur bedingt richtig. Die Oktoberrevolution beseitigte nicht das Mittelalter auf dem Land, sondern war von Seiten der Bauern ein Sieg des bäuerlichen Mittelalters über das feudalherrliche Mittelalter. Ebensowenig war es die gesamte Bauernschaft, die 1917 gegen den Gutsbesitz marschierte. Gegner der bäuerlichen Revolution waren auch die Stolypinschen Bauern, die aus der obscina ausgeschieden waren und deren Privateigentum nun von der Dorfgemeinde wieder zerschlagen wurde. Auch in dieser Hinsicht war die Oktoberrevolution nicht „bürgerlich“. Lenin hatte völlig recht, wenn er das Wesen der Oktoberrevolution durch die Bauern bestimmt sah. Aber er hatte Unrecht, sie deswegen als bürgerlich zu bezeichnen, denn es waren die vorbürgerlichen Gemeindebauern, die die Revolution auf dem Land bestimmten.

Im Begriff der Warenproduktion wird der Fehler, den Lenin begeht, offenkundig. In seiner Auseinandersetzung mit Kautsky über die Oktoberrevolution schreibt er: „Im Bündnis des Proletariats mit der Bauernschaft überhaupt tritt eben der bürgerliche Charakter der Revolution zutage, denn die Bauern überhaupt sind Warenproduzenten, die auf dem Boden der Warenproduktion stehen.“33 Damit wird „Warenproduktion“ unausgesprochen mit dem Kapitalismus identifiziert und daraus der bürgerliche Charakter der Oktoberrevolution abgeleitet. Das ist falsch. Gewinnerin der Oktoberrevolution war die vorbürgerliche obscina. Soweit die Masse der Gemeindebauern überhaupt Waren produzierte, geschah dies auf dem Boden nichtkapitalistischer, einfacher Warenproduktion.

Gleichzeitig war die Bauernrevolution bürgerlich beschränkt. Zwar wurden die kapitalistischen Keime außerhalb der obscina durch die gewaltsame Rückholung der Stolypinbauern in die Dorfgemeinde vernichtet. Das Gemeineigentum der Dorfgemeinde beschränkte sich jedoch auf Grund und Boden, es umfaßte nicht die Produktionsmittel (Pferde, Pflüge, Saatgetreide etc). Die Produktionsmittel standen in Privateigentum und konzentrierten sich bei den Kulaken, den reichen Bauern, deren Familien häufig schon seit Generationen das Dorf beherrschten und meist den Dorfältesten stellten. Ihr „Reichtum“ bestand oft nur darin, daß sie ein Pferd (mehr) oder einen größeren Getreidevorrat besaßen. Sie konnten Produktionsinstrumente (Pferd, eiserner Pflug), Getreide und Geld zu Wucherzinsen innerhalb der Dorfgemeinde verleihen und bildeten die Schlüsselfigur des Dorfes, weil ein Großteil der Gemeindebauern ökonomisch auf sie angewiesen war. Teils pachteten sie auch anderes Bauernland dazu und wandten Lohnarbeit an, entweder gegen Zahlung in Geld oder als Abarbeit der ärmeren Bauern für das ihnen geliehene Pferd. Während der Stolypinschen Reformen hatten sie gar nicht daran gedacht, aus der obscina auszuscheiden und Privateigentum an Boden zu erhalten, gründete sich ihre Stellung doch gerade auf die Existenz der Dorfgemeinde, nicht auf ihr Verschwinden.

Diese Kulaken waren in der Oktoberrevolution unbehelligt geblieben. „Im Gegenteil ereignete es sich nicht selten, daß der >Dorfkulak< oder wohlhabende Bauer sich selber aktiv an der Beraubung des gutsherrlichen Besitzes beteiligte, da er einerseits begriff, daß es ihm übel ergehen könnte, wenn er sich von seinen aufgebrachten Dorfgenossen distanzierte, und er andererseits mit seiner größeren Viehherde und seinem Maschinenpark bei der Landaufteilung nur noch profitieren könne.“34 Um diese Keime der kapitalistischen Entwicklung zu zerschlagen, die die urkommunistische Dorfgemeinde von innen heraus zersetzten, hätten auch die Produktionsmittel vergemeinschaftet werden müssen. Das lag jenseits des Horizontes der obscina. Sie setzte gegen die Kulaken einzig das Verbot von Lohnarbeit und Pacht im Bodendekret durch, und dieses Verbot blieb auf dem Papier. Aufgrund der starken Stellung der Dorfkulaken konnte es nie durchgesetzt werden, und Mitte der 20er Jahre wurde sogar die offizielle Ausweitung von Pacht und Lohnarbeit zugelassen.

Insoweit war die Oktoberrevolution bürgerlich beschränkt; das zeigte die Neue Ökonomische Politik (NEP), die einzige Politik, die objektiv möglich war, nachdem der Ausnahmezustand des Kriegskommunismus vorbei war, und die der Entwicklung des Kapitalismus die Türen öffnete. Aber diese bürgerliche Seite bildete nicht die besondere Qualität der Oktoberrevolution, nicht ihren positiven Inhalt, sondern eine negative Schranke. Die Dorfkulaken hatte es schon vor der Oktoberrevolution gegeben und gab es sie danach auch; ihre Weiterexistenz machte nicht das Wesen des Oktobers aus. Mit der Revolution wurde der eine Weg der kapitalistischen Entwicklung (Zerschlagung der Dorfgemeinde von außen durch die Begründung von Privateigentum an Land) abgebrochen, der andere (Zersetzung von innen heraus durch die Entwicklung des Kulakentums) aber wurde fortgesetzt. Das waren die zwei Seiten der obscina der 20er Jahre: einerseits bildete das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Basis für die Entwicklung eines bäuerlichen Kapitalismus, andererseits erleichterte das Gemeineigentum an Grund und Boden den Übergang zu assoziierten Produktionsformen, dem späteren Kolchos.

In der revolutionären Praxis hatte Lenin einen Bruch mit dem bisherigen Marxismus vollzogen, in der theoretischen Einschätzung des Oktobers als „bürgerlich-demokratische Revolution“ überbewertete er aber den Reifegrad der Verhältnisse und blieb den Parallelen zum Westen verhaftet. Das zeigt auch der Vergleich mit Preußen-Deutschland. Hier stand im November 1918 tatsächlich eine bürgerlich-demokratische Revolution unter Führung des Proletariats im Bündnis mit der Bauernschaft gegen die herrschende Junkerklasse und die mit ihr verbündete schwerindustrielle Bourgeoisie an. Diese Revolution in Deutschland mußte u.a. bürgerlich sein, weil die notwendige Gewinnung der landhungrigen Bauernschaft erforderte, Adelsland an sie zu verteilen. Aber das waren im Unterschied zu Rußland bäuerliche Privateigentümer an Land. Stand in Deutschland aufgrund der entwickelteren Verhältnisse eine bürgerliche Revolution an, so mußte die Revolution in Rußland unter den erheblich zurückgebliebeneren Verhältnissen des Zarenreichs auch einen dahinter zurückbleibenden Charakter annehmen.

Zusammengefaßt war die Oktoberrevolution eine bürgerlich beschränkte Bauernrevolution im Bündnis und unter Führung des Proletariats. Sie war ihrem Wesen nach bäuerlich, weil sie mit der Nationalisierung des Bodens und der Verteilung der Gutsländereien an die obscinas das Hauptziel der Gemeindebauern verwirklichte. Sie war gleichzeitig bürgerlich beschränkt, weil zwar das Privateigentum an Grund und Boden beseitigt wurde, aber nicht der innerhalb der obscina keimende Kapitalismus, der sich auf das fortbestehende Privateigentum an den agrarischen Produktionsmitteln gründete. Zum dritten war der Sieg der Bauern nur unter Führung durch das Proletariat möglich. Der Lohn für die Arbeiterklasse war die Eroberung der Staatsmacht und die Inbesitznahme der wichtigsten industriellen Produktionsmittel sowie der Banken durch den proletarischen Staat. An diesem Punkt wies die Oktoberrevolution über den Kapitalismus hinaus; als bäuerliche Revolution ging sie hinter ihn zurück.

Beide Seiten blieben während der 20er Jahre zunächst im Bann der NEP, dh. der bürgerlichen Schranken des Oktober. Als jedoch am Ausgang des Jahrzehnts die NEP mit den Kulaken in den Flammen der Kollektivierung unterging und die obscina sich in den Kolchos verwandelte, standen vorkapitalistische Bauernschaft und Proletariat sich direkt gegenüber und mußte sich noch erweisen, ob neben den bürgerlichen auch die bäuerlichen Schranken der Oktoberrevolution überwunden werden konnten.

5. Zu den nationalen Kämpfen im Baltikum

Die bauernkommunistische soziale Grundlage der russischen Oktoberrevolution läßt auch das Wesen der nationalen Unruhen begreifen, die es während des anschließenden Bürgerkriegs in entwickelteren nichtrussischen Regionen des Zarenreiches gab, u.a. im Baltikum. Das katholische Litauen nahm dabei eine eigene Stellung ein. Dort war die Dorfgemeinde noch vorhanden, wenngleich nicht mehr so verbreitet und stabil wie in Rußland, und spielte die nationale Vergangenheit und Beziehung zu Polen eine eigene Rolle, wie bis heute zu bemerken ist.

Im späteren Estland und Lettland hatten im 19.Jahrhundert ähnlich wie in Preußen Agrarreformen stattgefunden, die bei der Auflösung der feudalen Besitzverhältnisse auf der einen Seite Gutsbesitzer beließen, auf der anderen Seite Privatbauern schufen; die Dorfgemeinde verschwand. Im Unterschied zu Kernrußland sah das Jahr 1917 hier private Grundeigentümer, seien es Gutsbesitzer oder Bauern, die beide durch die Oktoberrevolution und deren Programm der Nationalisierung des Bodens bedroht wurden.

Wie in Rußland war die Agrarfrage bei den Umwälzungen am Ausgang des ersten Weltkriegs entscheidend, nur stellte sie sich anders und damit zugleich als nationale Frage. Aufgrund der erst in den Anfängen steckenden industriellen Entwicklung war das Proletariat des Baltikums, auf sich allein gestellt, wie in Rußland zu schwach, die Macht zu halten. Nur vorübergehend hatten die Revolutionäre Erfolge. Schwachpunkt war u.a. ihr Agrarprogramm, demzufolge der große Gutsbesitz nicht an Landarbeiter und arme Bauern verteilt, sondern in sozialistische Großwirtschaften umgewandelt werden sollte.35 Das war das klassische marxistische Programm. Auf diese Weise gelang es nicht, die zahlenmäßig starken Landarbeiter der Adelsgüter dauerhaft auf die eigene Seite zu ziehen; sie standen zwar einerseits im Gegensatz zu ihren Gutsherren, andererseits aber war ihnen mehr daran gelegen, eigenen Grund und Boden zu bekommen und selber Bauern zu werden, als eine Revolution gegen das Privateigentum durchzuführen. Das machte sie zu schwankenden Verbündeten.

Nach dem Oktober stand das städtische und ländliche Privateigentum des Baltikums geschlossen gegen den Bolschewismus. Aber kaum hatten Bauern und Gutsbesitzer die bolschewistische Gefahr mit Hilfe deutscher Freikorps und der Entente gemeinsam zurückgeschlagen und waren Estland, Lettland und Litauen von der Sowjetunion anerkannt, wurde die Agrarfrage, die eigentliche Triebkraft der staatlichen Unabhängigkeit, auch im Innern gelöst. Am radikalsten geschah dies in Lettland und Estland, wo die preußisch-deutsche Abkunft der meisten Gutsbesitzer der sozialen Umwälzung eine zusätzliche nationale Triebkraft verlieh. Der Gutsbesitz wurde entschädigungslos (Lettland) oder mit einer nur symbolischen Entschädigung (Estland) enteignet. Der Waldbesitz ging in Staatseigentum über, und der bebaubare Boden wurde an Landarbeiter und Bauern verteilt.36

Die entscheidende Differenz zwischen der baltischen und der russischen Umwälzung lag also im Agrarbereich: Estland und Lettland waren agrarisch entwickelter als Rußland; hier war im Gegensatz zu Rußland die Dorfgemeinde verschwunden und mit der Durchsetzung des Privateigentums auch die Produktivität gestiegen. Durch die revolutionäre Umwälzung in den beiden nördlichen baltischen Staaten wurde wie in Rußland die soziale Basis der herrschenden Adelsklasse zerschlagen, aber auf dem Boden einer Stärkung des Privateigentums. Beidemale ging es gegen den Gutsbesitz, aber das einemal (Rußland) auf bäuerlich-mittelalterlicher, das anderemal (Baltikum) auf bäuerlich-bürgerlicher Grundlage. Beidemal konnte sich das Proletariat nur in Verknüpfung mit einer agrarischen Revolution an der Macht halten. In Rußland machte sich das Proletariat zum Vollstrecker der bäuerlichen Forderungen und gelangte so an die Macht; im Baltikum dagegen wandte sich das Proletariat gegen die Forderungen der agrarischen Produzentenmassen und wurde geschlagen. Das Oktoberbündnis mit den Bauern war für das Proletariat in Rußland deshalb möglich, weil die urkommunistische Dorfgemeinde gegen das Privateigentum an Grund und Boden stand. In Lettland und Estland dagegen hätte das Proletariat für die Anerkennung und sogar Ausdehnung des ländlichen Privateigentums eintreten müssen, um an der Macht zu bleiben; dem verweigerte es sich. Die scheinbar größere Fortschrittlichkeit der Oktoberrevolution mit ihrer Nationalisierung von Grund und Boden dokumentiert tatsächlich die größere Zurückgebliebenheit des Landes.

II. Der Arbeiterstaat der 20er Jahre

Politisch war das Ergebnis der Oktoberrevoluktion eine proletarische Staatsmacht in einem Bauernland. Der Versuch, mit den linken Sozialrevolutionären als Vertretern der obscina-Bauernschaft eine gemeinsame Regierung zu bilden, scheiterte nach kurzer Zeit aufgrund der Stellung zum Separatfrieden von Brest-Litowsk mit Deutschland, dessen Abschluß zum Ausscheiden der Sozialrevolutionäre aus der Regierung führte. An der Staatsmacht desinteressiert und durch das Mehrklassenwahlrecht der Verfassung von 1922 von ihr ferngehalten, überließ die Bauernschaft den Staat der Arbeiterklasse, die ihre Macht aber nur soweit ausüben konnte, wie das flache Land es gestattete.

1. Der Kriegskommunismus

Die ersten Jahre der Sowjetmacht bis Anfang 1921 waren die Jahre des Kriegskommunismus. Die neue Macht mußte sich in einem mehr als dreijährigen Bürgerkrieg sowohl gegen die weiße Konterrevolution als auch gegen deren ausländische Helfershelfer zur Wehr setzen. Seinem sozialen Wesen nach war der Bürgerkrieg die Fortsetzung der Oktoberrevolution, ein Krieg zwischen den Gutsherren und den Bauern, von Seiten der Revolution organisiert durch die Bolschewiki. Die russische Bourgeoisie spielte nur am Rande eine Rolle.

Der Krieg verlangte von der Arbeiterklasse und ihrer Partei die größten Opfer und förderte zugleich die Illusion, direkt zu einer kommunistischen Gesellschaftsordnung übergehen zu können. Lenin bezeichnete den Kriegskommunismus nach dessen Abbruch als eine zeitweilige Maßnahme, „durch Krieg und Ruin erzwungen“.37 In der konkreten Situation allerdings war er wie die anderen führenden Revolutionäre der Auffassung gewesen, man könnte und würde ohne Zwischenetappe auf den Kommunismus zumarschieren. Das Geld spielte eine immer geringere Rolle und wurde durch Naturalwirtschaft ersetzt; die Lebensmittel wurden bei den Bauern eingetrieben und in den Städten unentgeltlich ausgeteilt; für Wohnung, Wasser, Post, Telefon etc. wurde die Bezahlung aufgehoben – vorausgesetzt, diese Güter waren überhaupt vorhanden.38

Damit schien die Theorie von der permanenten Revolution, vom direkten Übergang der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution, Realität zu werden. Von Trotzki nach der Revolution von 1905 entwickelt, war sie von Lenin ursprünglich heftig bekämpft worden; er hatte stattdessen die Position einer revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiterklasse und armen Bauernschaft als nächstem Ziel und eigener Etappe vertreten. Jetzt realisierte Lenin selber Trotzkis Theorie, und folgerichtig standen sich die beiden in dieser Zeit sehr nahe. Die alten Differenzen, insbesonders Trotzkis jahrelanger Kampf gegen die Leninsche Partei und sein bis 1917 unternommener Versuch, eine Mittelgruppe zwischen Bolschewiki und Menschewiki zu bilden, waren vergessen. Trotzkis Theorie und Tätigkeit als militärischer Oberbefehlshaber sowie die Leninsche Partei schienen gemeinsam die Erreichung des kommunistischen Endziels zu garantieren.

Diese Politik scheiterte an den bäuerlichen Realitäten, wobei die Getreidefrage ausschlaggebend war. Um die Städte und die wachsende Rote Armee mit Brot zu versorgen, mußte Getreide bei den Bauern aufgebracht werden, ohne daß diese entsprechende Gegenleistungen von der Stadt erhielten, weil die industrielle Produktion zum Erliegen gekommen war. Politisch teilte sich die Bauernschaft ihren Interessen entsprechend in drei Gruppen. Die Masse der weißen Truppen wurde von den Kosaken gestellt. Als traditionell freie Wehrbauern des Zarismus brauchten sie keine Angst vor der Rückkehr der Gutsbesitzer zu haben. Von der bolschewistischen Regierung dagegen hatten sie zwar weniger den Verlust ihres Landes zu befürchten, weil das Bodendekret von 1917 ausdrücklich Ausnahmen von der allgemeinen Nationalisierung des Bodens vorsah. Wohl aber drohte ihnen der Verlust ihrer sonstigen – u.a. steuerlichen – Privilegien. „Die Hauptgründe für die Konterrevolution der Kosaken waren die Furcht, ihre früheren Privilegien zu verlieren, die ihnen durch die gleichmacherische Agrarpolitik des Sowjetregimes drohende Landeinbuße und die zahllosen Akte von Raub und Gewalttätigkeit, die von undisziplierten roten Banden verübt wurden.“39

Dort, wo die obscina gar nicht oder nur schwach ausgeprägt war und die nicht-kosakische Einzelbauernschaft vorherrschte wie in Sibirien oder der Ukraine, blieben die Bauern im Bürgerkrieg neutral. Sie hatten von beiden Seiten nur Requirierungen und Steuern zu befürchten, ohne etwas zu gewinnen. Unter der anarchistischen Fahne gegen jeden Staat eingestellt, kämpften sie in diesen Regionen sowohl gegen die weißen Armeen der Gutsbesitzer als auch gegen die Rote Armee der Arbeiter und Bauern.

Die bäuerliche Masse Zentralrußlands dagegen blieb dem Bündnis mit der Arbeiterklasse treu. Von ihrer Seite aus gab es nur die Alternative, entweder mit den Bolschewiki zusammenzugehen oder erneut den Gutsbesitzern unterworfen zu werden, deren Land sie sich soeben angeeignet hatten. Ein dritter, bürgerlicher Weg war nicht gangbar, wie schon die Monate zwischen Februar und Oktober 1917 gezeigt hatten. „Im Laufe des Bürgerkriegs wurde immer deutlicher, daß die Gegenrevolution für die Monarchie und die soziale Ordnung der Vorkriegszeit stand. Die Stützen des Februarregimes, die eine >dritte Kraft< hatten bilden wollen, waren längst zwischen den Fronten zerrieben worden.“40 Die praktische Erfahrung trieb die Bauernmassen immer wieder auf die Seite der Bolschewiki, denn regelmäßig, wenn weiße Truppen neues Gebiet erobert hatten, „folgten ihnen auf dem Fuße die alten Beamten, die alten Grundherren, die alten Polizisten. Gelegentlich wurde den Bauern mit der Kosakenpeitsche der Respekt für das Eigentum der Grundherren eingebleut.“41 Die Rote Armee, am Ende des Bürgerkriegs 5,5 Millionen Mann stark, bestand im wesentlichen aus den Bauern der Dorfgemeinde.

Klassenmäßig waren für das Arbeiter-Bauernbündnis die Mittelbauern entscheidend, die zahlenmäßig die Masse der Bauernschaft bildeten. Im Sommer 1918 wurden jedoch „Komitees der Dorfarmut“ als dörfliche Stütze der bolschewistischen Staatsmacht ins Leben gerufen, die bei den bessergestellten Bauern – gemeint waren die Kulaken – Getreide ausfindig machen und beschlagnahmen sollten, um die Städte und vor allem die wachsende Armee zu versorgen. Zu dieser Zeit schrieb Lenin über den etappenmäßigen Verlauf der Revolution: „Zuerst zusammen mit der >gesamten< Bauernschaft gegen die Monarchie, gegen die Gutsbesitzer, gegen das Mittelalter (und insoweit bleibt die Revolution eine bürgerliche, bürgerlich-demokratische Revolution). Dann zusammen mit der armen Bauernschaft, zusammen mit dem Halbproletariat, zusammen mit allen Ausgebeuteten gegen den Kapitalismus, einschließlich der Dorfreichen, der Kulaken, der Spekulanten, und insofern wird die Revolution zu einer sozialistischen Revolution.“42

Das war die Zeit des Kriegskommunismus, in der er meinte, von der bürgerlichen unmittelbar zur sozialistischen Revolution und in den Kommunismus weitergehen zu können. Im Dorf war dafür das Bündnis mit der Dorfarmut anstelle der Mittelbauern maßgeblich. Der Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution hielt jedoch nicht lange an. Die „Dorfarmut“ war nicht nur der unproduktivste und zurückgebliebenste Teil des Dorfes, sondern machte häufig wenig Unterschiede zwischen Kulaken und Mittelbauern. Allen Besitzenden, darunter eben auch Mittelbauern, wurde das Getreide, zum Teil auch Vieh und Inventar, weggenommen und unter die Dorfarmen verteilt. Schon auf dem VIII.Parteitag im März 1919 forderte Lenin darum, man müsse sich mit den Mittelbauern aussöhnen und die Gewaltakte bei der Getreideeintreibung einschränken. Daraufhin wurden die Komitees der Dorfarmut wieder aufgelöst. In der Folge festigte sich das Bündnis mit den Mittelbauern wieder. Als zehn Jahre später die Kollektivierung durchgeführt wurde, suchten die „linken“ Teile der Partei indessen erneut das Bündnis mit der Dorfarmut ohne oder sogar gegen die Mittelbauern – und scheiterten erneut.

Die Bauern brachten so lange äußerste Geduld auf, wie die Rückkehr ihrer alten Herren drohte. Im Laufe des Jahres 1920 wurde aber immer klarer, daß die Weißen endgültig geschlagen waren, auch wenn Reste noch weiterkämpften. Als nach einer schlechten Ernte 1920 die Zwangseintreibungen trotzdem fortgesetzt wurden, begann eine breite bäuerliche Aufstandsbewegung. Schließlich operierten insgesamt 165 größere Gruppen von bewaffneten Bauern auf dem Boden des Sowjetstaates, um sich gegen die weiteren Zwangseintreibungen zur Wehr zu setzen. Teils kämpften regelrechte Bauernarmeen mit mehreren 10.000 Angehörigen, so in Sibirien (Antonov), der Ukraine (Machno) oder dem Gouvernement Tambov.43 Diesmal beschränkten sich die Aufstände nicht auf die Gebiete der Einzelbauern, sondern griffen auch auf die Dorfgemeinden Zentralrußlands über. Die Bauernschaft insgesamt begann, sich auf dem Boden gemeinsamer Forderungen gegen die Bolschewiki zu wenden. Die Interessen der Gemeindebauern waren in diesem Punkt identisch mit denen der Privatbauern, ebenso wie die der reichen und der Mittelbauern innerhalb der Dorfgemeinde. Die ökonomischen Parolen der Aufständischen richteten sich gegen den Kriegskommunismus: „Keine Ablieferung!“, „Nieder mit den Beschaffungsabteilungen!“ und „Es lebe der freie Handel!“44 Die politische Hauptparole „Sowjets ohne Bolschewiken“ richtete sich folgerichtig gegen die Träger der bisherigen Politik. Damit geriet die Sowjetmacht in direkte Gefahr, denn die bewaffnete Macht, auf die sie sich stützte – die Rote Armee, bestand „ihrer sozialen Herkunft nach zumeist (aus) Mittelbauern“45 – den Mittelbauern der obscina, und hatte eine Fülle von ehemals zaristischen Offizieren im Kommando.

Kronstadt, der Marinehafen vor Petersburg und ein Hauptstützpunkt der Bolschewiki in der Oktoberrevolution, wurde zum Endpunkt der Politik des Kriegskommunismus. Unter dem Zaren zum Großteil aus proletarischen Wehrpflichtigen bestehend, weil die Marine technische Kenntnisse verlangte, waren inzwischen Bauernsöhne nachgerückt; die proletarischen Matrosen standen an den Fronten des Bürgerkriegs. „Es war noch nicht lange her, daß eine Anzahl junger Bauern aus der Ukraine als Matrosen aufgenommen wurden. Mit ihnen wurde die allgemeine bäuerliche Unzufriedenheit mit den Requisitionen, dem Arbeitsdienst und anderen Erscheinungen der kommunistischen Agrarpolitik eingeschleppt.“46 Der Aufruhr begann mit Forderungen nach besserer Lebensmittelversorgung und in diesem Zusammenhang nach Wiederzulassung des freien Handels zwischen Stadt und Land. Er mündete schließlich in die politische Forderung nach „Sowjets ohne Bolschewiki“, die von allen Gegnern der Revolution bereitwillig aufgegriffen wurde.

Da die bäuerliche Armee selber kurz vor der Revolte stand, mußten zur Niederschlagung des Aufstands ausgewählte Regimenter herangeführt sowie außerdem die Delegierten des gerade stattfindenden X.Parteitags eingesetzt werden. Dieser Parteitag vom März 1921 beschloß den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik, dh. die Erfüllung der bäuerlichen Forderungen. Damit konnten die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten – und mußten die Politik durchführen, die die Bauernschaft ihnen vorschrieb.

Der Rückzug auf die NEP fiel der Partei äußerst schwer. Mit dem Kriegskommunismus verbanden sich trotz aller Entbehrungen die Hoffnungen und Utopien eines sofortigen Übergangs zum Kommunismus. Speziell unter der linken Intelligenz und in der Jugend häuften sich Depressionen und Selbstmorde; der Jugendverband verlor mehr als die Hälfte seiner Mitglieder. Angesichts der unübersehbaren bäuerlichen Gefahr konnten auch die „Linken“ in der KP nicht viel gegen den Übergang zur NEP einwenden; als aber mehr als ein Jahrzehnt später nach der ersten Kollektivierungswelle erneut ein Rückzug angetreten werden mußte, war ihr Widerstand um so erbitterter.

2. Die Gewerkschaftskontroverse

Noch kurz vor dem Ende des Kriegskommunismus brachte die Aufgabe, die industrielle Produktion zu organisieren, heftige Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Partei hervor, in deren Mittelpunkt die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften rückte. Wie war die Produktion zu leiten: sollte dies ein „Gesamtrussischer Kongreß der Produzenten“ tun (so die ultralinke „Arbeiteropposition), sollten die Gewerkschaften in den Staatsapparat überführt und die Arbeit militarisiert werden (so Trotzki), oder oblag die Leitung des Wirtschaftsaufbaus der Partei, und sollten die Gewerkschaften weiterhin selbständig die ökonomischen Interessen der Arbeiter vertreten (so Lenin)?

Unabhängig von der Frage, ob Staatskapitalismus oder Kriegskommunismus, stand für Lenin stand von Anfang an außer Zweifel, daß ohne die bürgerlichen Fachleute und ohne strikte Arbeitsdisziplin unter der Autorität der Betriebsleiter die Produktion nicht aufrechtzuerhalten war, selbst wenn dies „eine Abweichung von den Prinzipien der Pariser Kommune, …. einen Schritt zurück“ bedeutete. „Die Revolution fordert, eben im Interesse des Sozialismus, die unbedingte Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses.“47

Die linken Kommunisten der „Arbeiteropposition“ unter Führung von Schljapnikow und Kollontai verfochten demgegenüber unter der Parole des Kampfes gegen die Bürokratie: „Wir sind nicht für den >Aufbau des Sozialismus unter der Leitung von Trustorganisatoren<. Wir sind für den Aufbau des proletarischen Sozialismus durch die Klassenschöpferkraft der Arbeiter selbst, nicht durch die Befehle von >Industriekapitänen<. (…) Der Sozialismus und die sozialistische Organisation der Arbeit werden durch das Proletariat selber geschaffen, oder sie werden überhaupt nicht geschaffen.“48 Sie vertraten das Konzept eines ökonomischen Rätesystems, das jenseits von Gewerkschaften und Partei aus der Produktion herauswachsen sollte, mit einem „Gesamtrussischen Kongreß der Produzenten“ als wichtigstem Organ zur Leitung der Produktion und des Staats. In der Parteiführung stand Bucharin diesen Ideen mit der Forderung nach einer „Produzentendemokratie“ nahe. Er war damals ein linker Vertreter des Kriegskommunismus, den er in seinem Buch „Ökonomik der Übergangsperiode“ propagierte.

Auf dem Gegenpol trat Trotzki, der die ganze Debatte mit seinen Attacken auf die Gewerkschaften überhaupt losgetreten hatte, für die Militarisierung der Arbeit ein. Sie sollte von zwei Seiten aus erfolgen, indem auch die Armee in die Produktion überführt werden sollte: „Die Arbeit wird militarisiert, und die Armee wird industrialisiert“.49 Kernpunkt neben der Überführung der Armee in die Produktion war die Errichtung eines Zwangsregimes in den Fabriken: „Die Grundlagen der Militarisierung sind jene Formen staatlichen Zwangs, ohne welche die Ablösung der kapitalistischen Wirtschaft durch die sozialistische stets nur ein leeres Wort bleiben wird.“50 Die Gewerkschaften sollten nach Trotzkis Vorstellungen aufhören, die ökonomischen Interessen der Arbeiter zu vertreten, ihre Selbständigkeit einbüßen und als Teil des staatlichen Zwangsapparats die Produktion organisieren. „Der junge sozialistische Staat braucht Gewerkschaften nicht zum Kampf für bessere Arbeitsbedingungen …, sondern um die Arbeiterklasse für die Ziele der Produktion zu organisieren, zu erziehen, zu disziplinieren … (Sie sollen) ihre Autorität Hand in Hand mit dem Staat ausüben, um die Arbeiter in dem Rahmen eines einzigen Wirtschaftsplans zu führen.“51 Abgesehen von der Armee war damit die Verschmelzung von Partei, Gewerkschaft und Staat vorgegeben, ein Programm, das in den 30er Jahren verwirklicht wurde – unter anderen Verhältnissen.

Gegen Ende der Gewerkschaftskontroverse einigten sich Trotzki und Bucharin auf ein gemeinsames und angesichts ihrer kontroversen Ausgangspunkte nur prinzipienlos zu nennendes Programm gegen Lenin. Ohne die Forderung nach Militarisierung der Arbeit fallenzulassen, betonte er jetzt die Bucharinsche „Produktionsdemokratie“: alle mit der Produktion zusammenhängenden Fragen sollten auf betrieblichen Massenversammlungen erörtert werden und die Funktionäre der Wirtschaftsdiktatur gewählt werden können. Die Kritik an der Unvereinbarkeit beider Positionen (Arbeitszwang und Produktionsdemokratie) wies er als „Ausdruck kautskyanisch-menschewistisch-sozialrevolutionärer Vorurteile“ zurück.52

Lenin hielt die Debatte über die Gewerkschaften für einen unzulässigen Luxus. Er erklärte, daß die Ingangsetzung der Produktion im gegebenen Augenblick wichtiger sei als der von Trotzki begonnene prinzipielle Streit. Als jedoch trotz seiner Warnungen die Debatte fortgesetzt wurde und eine Stellungnahme unumgänglich wurde, nahm er eine mittlere Position ein. Auf der einen Seite wandte er sich gegen Trotzki und verteidigte die Selbständigkeit der Gewerkschaften. Solange der Kommunismus nicht verwirklicht sei, müßten die Gewerkschaften die Massen der Arbeiterklasse im Unterschied zur kommunistischen Avantgarde organisieren und ihre unmittelbaren Interessen gegen den Staat verteidigen, der nach Lenins Auffassung ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen war. Er brachte eine ZK-Entschließung zur Verabschiedung, die vor den Gefahren warnte, die der Militarisierung und Zentralisierung innewohnten.

Gleichzeitig nahm er gegen die „Arbeiteropposition“ Stellung und verteidigte die Notwendigkeit der Leitung des Staates und Ausübung der Diktatur durch die kommunistische Partei. Solange es Klassen gebe, sei die Forderung von der Selbstregierung der Produzenten eine syndikalistische Phrase. Der bewußteste Teil der Arbeiterklasse müsse sich gesondert organisieren, um handlungsfähig zu sein. „Um zu regieren, braucht man eine Armee von gestählten Revolutionären, von Kommunisten.“53 Die „Produzentendemokratie“ Bucharins betrachtete er als verschrobenes, intelligenzlerisches Schlagwort54 und warf ihm, als er sich auf seiner Position versteifte, „völligen Bruch mit dem Kommunismus und Übergang auf die Position des Syndikalismus“ vor.55

In den immer heftiger werdenden Auseinandersetzungen drohte die Partei sich zu zerfleischen und stand vor einer Spaltung, als die „Arbeiteropposition“ sich fraktionell organisierte. Angesichts des noch nicht beendeten Bürgerkriegs und der wachsenden Bauernunruhen bestand die Gefahr des Verlustes der proletarischen Staatsmacht. Aber erst der Kronstädter Aufstand demonstrierte unübersehbar, wie recht Lenin mit seiner Meinung vom überflüssigen Luxus der Gewerkschaftskontroverse hatte. Der X.Parteitag vom März 1921, auf dem auch die NEP beschlossen wurde, verabschiedete die von Lenin unterstützte Gewerkschaftsplattform und verhängte ein Fraktionsverbot. „Die Partei zusammenschweißen, keine Opposition in der Partei zulassen – das ist die Schlußfolgerung aus der gegenwärtigen Lage“, die Lenin zog.56 Nach wie vor war die freie Diskussion ungehindert, aber organisierte Gruppen in der Partei wurden verboten. Gegenüber dem Meer von Bauern, die den Zielen der Arbeiterklasse gleichgültig oder fremd, wenn nicht feindlich gegenüberstanden, war die Staatsmacht nur durch die absolute Geschlossenheit der proletarischen Avantgarde zu behaupten. Und so wie alle Fragestellungen des Kriegskommunismus in den 30er Jahren erneut auftauchten, war dies auch mit der Frage der Geschlossenheit der Partei der Fall, die diesmal mit Blut und Gewalt durchgesetzt wurde.

Aufgrund der Erfahrung mit der „Arbeiteropposition“ brachte Lenin auf dem X.Parteitag auch eine Resolution „Über die syndikalistische und anarchistische Abweichung in unserer Partei“ zur Verabschiedung. Darin wurden die linksradikalen, anarchistischen und syndikalistischen Abweichungen „durch die Einwirkung des kleinbürgerlichen Elements auf das Proletariat und die KPR“ erklärt, „eines Elements, das in unserem Lande außerordentlich stark ist und unvermeidlich Schwankungen in Richtung zum Anarchismus erzeugt“.57 Die ungeheure Masse der obscina-Bauernschaft und die bäuerliche Abkunft des Proletariats riefen in der Tat linksradikale Strömungen in unterschiedlicher Gestalt, aber jedesmal erheblicher Stärke hervor, wie die 30er Jahre zeigten.

3. Lenins Plan der „Neuen Ökonomischen Politik“

Die Bedingungen für den Aufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg waren schlecht: Durch die von Polen eroberten westlichen Teile Weißrußlands und der Ukraine hatte das Land 31,1% seiner industriellen Kapazitäten verloren.58 Kredite aus dem bürgerlichen Ausland erhielt der Sowjetstaat nicht, Konzessionen an ausländische Gesellschaften zur Ausbeutung von Bodenschätzen konnten kaum vergeben werden. Im Zarenreich war die Industrialisierung hauptsächlich durch Getreideexport finanziert worden; durch die Zerschlagung des Gutsbesitzes, der bis dahin das meiste Überschußgetreide produziert hatte, ging das für den Export verfügbare Marktgetreide aber auf ca. ein Drittel zurück. Durch die größere Zersplitterung des Bodens war die Produktivität von vornherein geringer, und weil sie von Abgaben und Pachtzahlungen befreit waren, bestand kein Zwang für die Bauern, Getreide zu verkaufen, sondern konnten sie es selber aufessen, zumal die Stadt nichts zum Tausch zu bieten hatte. Schließlich blieb auch die Revolution im Westen, auf die alle Revolutionäre gehofft hatten, aus.

NEP bedeutete, zu kapitalistischen Methoden überzugehen. „Die direkte kommunistische Verteilung haben wir nicht einführen können“, schrieb Lenin im Bericht des ZK zum XI.Parteitag im März 1922. „Dazu mangelte es an Fabriken und an deren Ausrüstungen. Wir müssen also durch den Handel liefern, aber nicht schlechter liefern, als es der Kapitalist getan hat, sonst kann das Volk eine solche Regierung nicht ertragen.“59 Der Dreh- und Angelpunkt der neuen ökonomischen Politik war das Land. An die Stelle der bisherigen Zwangsabgabe von Agrarprodukten trat die Besteuerung der Bauern und die Wiederzulassung des freien Handels zwischen Stadt und Land, um das Land zu beruhigen und einen Anreiz zur Ausweitung der Agrarproduktion zu geben.

Die industrielle Produktion mußte auf die Befriedigung der bäuerlichen Bedürfnisse umgestellt werden, um die Massen der Mittelbauernschaft zufriedenzustellen. „Wir müssen unsere staatliche Wirtschaft in Anpassung an die Wirtschaft des Mittelbauern aufbauen, die wir in drei Jahren nicht umgestalten konnten und auch in zehn Jahren nicht umgestalten werden.“60 Damit erkannte Lenin an, daß die Industrialisierung nur in Abhängigkeit vom Wachstum der bäuerlichen Produktion vorangetrieben werden konnte. Die Leichtindustrie spielte die entscheidende Rolle. Die Schwerindustrie konnte nur in dem Maße wachsen, wie es die Leichtindustrie verlangte, und diese wiederum hing von der agrarischen Entwicklung ab. Der zusätzliche Industrialisierungsspielraum zum schnelleren Aufbau einer Schwerindustrie, den die von den Bauern zu zahlenden Steuern gewährten, war nicht groß.

Auf dem Boden der Ausrichtung auf die Bauernschaft sollte der Sozialismus ökonomisch auf dem Weg des Staatskapitalismus erreicht werden. Den Staatskapitalismus hatte Lenin schon bei der Oktoberrevolution als notwendig angesehen, bevor der kriegskommunistische Schwung der Arbeiterklasse auch ihn mitgerissen hatte.

Elemente fünf verschiedener Wirtschaftsweisen sah er 1921 wie 1918 vorliegen:
„1. Die patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Grade Naturalwirtschaft ist;
2. Die kleine Warenproduktion (hierher gehört die Mehrzahl der Bauern, die Getreide verkaufen);
3. der privatwirtschaftliche Kapitalismus;
4. der Staatskapitalismus;
5. der Sozialismus.“61
Diese Produktionsweisen bildeten eine Stufenleiter. In einem kleinbäuerlich-kleinbürgerlichen Land wie der Sowjetunion, so Lenin, bildeten die kleinen warenproduzierenden Bauern zusammen mit den patriarchalisch wirtschaftenden, selbstgenügsamen Bauern die gewaltige Mehrheit. Unter diesen Umständen bedeutete der Staatskapitalismus eine Produktionsweise, die „ökonomisch unvergleichlich höher (steht) als die gegenwärtige Wirtschaftsweise“. Wenn man den Staatskapitalismus erfolgreich praktizierte, würde das die „vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus“ bedeuten.62

Was hieß das für die Bauern? Die Bauern mußten Getreide oder andere Agrarerzeugnisse verkaufen, um Industrieprodukte zu kaufen und Steuern zu zahlen. Der Großhandel blieb staatlich, damit der Staat die Kontrolle über die Masse des Getreides behielt, das für die Versorgung der Städte und den Export benötigt wurde. Da der Einzelhandel aber frei war, mußten die staatlichen Getreide-Ankäufer auf dem Dorf mit den NEP-Händlern konkurrieren, die häufig höhere Preise zahlten.

Das entscheidende Mittel zur Umgestaltung des Landes sollte die Entwicklung des Genossenschaftswesens sein, wie Lenin noch einmal in einem der letzten Artikel vor seinem Tod schrieb. „Unter der Herrschaft der NÖP ist ein genügend breiter und tiefer genossenschaftlicher Zusammenschluß der russischen Bevölkerung im Grunde genommen alles, was wir brauchen“.63 Durch die Entwicklung von Genossenschaften sollte die individuelle Wirtschaftsweise der Bauern überwunden und der Weg zum Sozialismus geebnet werden. Das waren Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften sowie vor allem Produktionsgenossenschaften, in denen die Bauern Anbau und Ernte der Agrarprodukte kollektiv organisieren sollten. Solche Genossenschaften sollte der Staat mit allen Mitteln fördern, vor allem mit Hilfe billiger Darlehen, deren Konditionen günstiger sein sollten als bei den staatlichen Mitteln für die Industrie. Bei „einem vollständigen genossenschaftlichen Zusammenschluß stünden wir bereits mit beiden Füßen auf sozialistischem Boden“,64 meinte Lenin. Voraussetzung dafür war, daß die Produktionsmittel der Genossenschaft dem Arbeiterstaat gehörten. Nach Lenins Meinung unterschieden sich die genossenschaftlichen Betriebe unter sowjetischen Bedingungen nämlich dann „nicht von sozialistischen Betrieben, wenn sie auf dem Grund und Boden errichtet und mit Produktionsmitteln ausgerüstet sind, die dem Staat, d.h. der Arbeiterklasse, gehören.“65 Unter diesen Produktionsmitteln war das wichtigste der Traktor, denn die dauerhafte Gewinnung der Mittelbauern war nach Lenin nur möglich, „wenn wir morgen 100.000 erstklassige Traktoren liefern, dafür Benzin, dafür Maschinisten bereitstellen könnten“.66

Mit seiner Position zu den bäuerlichen Genossenschaften und zum Staatseigentum an deren Produktionsmitteln stützte er sich auf Engels, der 30 Jahre vorher geschrieben hatte: „daß wir beim Übergang in die kommunistische Wirtschaft den genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daran haben Marx und ich nie gezweifelt. Nun muß die Sache so eingerichtet werden, daß die Gesellschaft, also zunächst der Staat, das Eigentum an den Produktionsmitteln behält und so die Sonderinteressen der Genossenschaft, gegenüber der Gesellschaft im Ganzen, sich nicht festsetzen können.“67

Der Staatskapitalismus in der Stadt umfaßte dieser einen weit größeren staatlichen Sektor, als Lenin zunächst im Auge gehabt hatte. Noch wenige Wochen vor der Oktoberrevolution hatte er geschrieben: „Die Konfiskation des Eigentums der Kapitalisten wird nicht einmal der >Kernpunkt< der Sache sein, sondern gerade allumfassende … Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten und ihre möglichen Anhänger. Mit der Konfiskation allein ist es nicht getan, denn sie enthält kein Element der Organisation, der Rechnungsführung über die richtige Verteilung. Die Konfiskation können wir leicht durch die Erhebung einer gerechten Steuer ersetzen“.68 Die Masse der kleineren Betriebe sollte also nach Lenins Auffasung nicht konfisziert, sondern lediglich so besteuert werden, daß ihr Kapital unter Kontrolle blieb. Nur die Banken und Großbetriebe sollten verstaatlicht werden. Darüberhinaus wollte Lenin mit der nationalen und internationalen Bourgeoisie wirtschaftlich kooperieren.

Die spontane Bewegung in den Fabriken hatte diese Position überrollt. Die Arbeiter benutzten ihre neue Machtstellung nach der Revolution dazu, die Fabrikbesitzer und ihre leitenden Angestellten aus den Betrieben herauszudrängen.69 Die geschaffenen Realitäten nachvollziehend, wurde bis Ende November 1920 die Nationalisierung aller Betriebe mit mehr als 5 (Maschinenbetriebe) bzw. 10 Beschäftigten (Betriebe ohne maschinelle Ausrüstung) dekretiert, ohne daß damit geklärt war, wie diese Betriebe als Staatsbetriebe funktionieren sollten. Schon Mitte 1918 meinte Lenin, gegen die „linken Kommunisten“ gerichtet: „Heute sehen nur Blinde nicht, daß wir mehr nationalisiert, konfisziert, zerschlagen und zerbrochen haben, als wir zu erfassen vermochten.“70 1921 war die Diskrepanz noch größer. Aber die vorgenommenen Enteignungen rückgängig zu machen, hätte bedeutet, gegen den entschiedenen Willen der Arbeiterklasse und – wahrscheinlich – der Parteimehrheit zu handeln. So wurde mit der NEP nur die Neugründung privater Unternehmen bis hin zu mittleren Industriebetrieben wieder zugelassen.

Für die vorhandene Industrie bedeutete Staatskapitalismus „unter den Verhältnissen des zugelassenen und sich entwickelnden freien Handels, daß die Staatsbetriebe weitgehend auf kommerzielle, kapitalistische Grundlagen übergeführt werden“,71 wie Lenin in den ersten Tages des Jahres 1922 in dem Thesenentwurf über die Rolle der Gewerkschaften unter der NEP schrieb. Das Wort „kapitalistisch“ fehlte in dem endgültigen Beschluß des ZK vom 12.Januar 1922;72 obwohl es das Entscheidende zum Ausdruck brachte: der Staatskapitalismus war dem Wesen nach kapitalistisch, der Form nach staatlich. Was hieß das konkret? Im Kriegskommunismus war den Betrieben die Ausrüstung sowie Rohstoffe von der staatlichen Verwaltung zugeteilt worden; ihre Produkte mußten sie dem Staat abliefern. Jetzt wurden die Staatsbetriebe selbständig und etablierte sich ein freier Markt. Sie kauften ihre Rohmaterialien selber ein und konnten ihre Produkte frei verkaufen. Preise und Löhne wurden von ihnen selber bestimmt bzw. mit den Gewerkschaften ausgehandelt. Auch wenn sie in den ersten Jahren der NEP noch auf staatliche Zuschüsse angewiesen waren, sollten sie auf Dauer Gewinn abwerfen. Mit einem Wort: sie wurden dem Grundgesetz des Kapitals, der Verwertung des Werts, unterworfen.

Für die bolschewistische Parteiführung bestand unter den gegebenen Umständen kein Zweifel, daß die Sowjetunion noch weit vom Sozialismus entfernt war. Im April 1921 wiederholte er eine Einschätzung von 1918 – vor seinem Ausflug in den Kriegskommunismus: „Kein einziger Kommunist hat wohl bestritten, daß die Bezeichnung >Sozialistische Sowjetrepublik< die Entschlossenheit der Sowjetmacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen, keineswegs aber, daß die jetzigen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden.“73 Durch den Staatskapitalismus war nach seiner Ansicht der Endsieg des Sozialismus ökonomisch zwar nicht sicher, aber wahrscheinlich. Der sozialisierte Sektor der Wirtschaft sollte mit dem privaten Sektor frei konkurrieren. Weil die Großindustrie, so seine Überlegung, den kleineren Betrieben überlegen war und der Staat außerdem Großhandel, Bank- und Kreditwesen in der Hand hatte, war ihre Überlegenheit gesichert. Vor allem verfügte das Proletariat über den Staat und hatte damit nicht nur die politische Macht in der Hand, sondern war auch in der Lage, industrielle Großprojekte zu finanzieren und materiell auf die Buern einzuwirken. Bis zum Sieg des Sozialismus sah Lenin im günstigsten Fall indes noch ein bis zwei Jahrzehnte vergehen, abhängig davon, welche Fortschritte das bäuerliche Genossenschaftswesen machte.74

Damit stellte sich ein Grundproblem: die Industrialisierung mußte im Rahmen einer „gleichgewichtigen“ Gesamtproduktion, dh. in Abhängigkeit von der Entwicklung der Agrarproduktion erfolgen. Die Agrarverhältnisse förderten mit der NEP aber ökonomisch die Entwicklung des Agrarkapitalismus und sozial die Entwicklung der ihn tragenden Klasse, der Kulaken, also der entschiedenen Gegner des Sozialismus. Nur wenn die Produktivgenossenschaften unter Kontrolle des Staats die Kulaken verdrängten, war dies zu verhindern. Das wiederum setzte voraus, daß die Industrie genügend Landmaschinen für die Genossenschaften produzierte, und damit schloß sich der (Teufels-)Kreis.

4. Die Entwicklung des Staatskapitalismus

Der Abschied vom Kriegskommunismus hatte auch das vorläufige Ende der geplanten Wirtschaft zur Folge. Noch am 22.Februar 1921 hatte die Regierung die Bildung einer Staatlichen Planungskommission, des Gosplan, beschlossen. Mit dem Übergang zur NEP führte diese Behörde ein Schattendasein und beschränkte sich im wesentlichen auf statistische Erhebungen und Berechnungen. Eine „geplante“ Wirtschaftsentwicklung war wegen der Abhängigkeit von den Bauern nicht möglich, wie alle kommenden Getreidekrisen bewiesen: „das katastrophale Defizit in der für 1925 angenommenen Getreidemenge und seine Auswirkung auf die importabhängigen Industrien zeigten die Grenzen von Planprognosen in einer nur teilweise verstaatlichten und vom Agrarsektor noch überwiegend abhängigen Wirtschaft.“75 Die NEP ging so weit, daß das ZK Ende 1922 auf Betreiben Stalins und Bucharins die Aufhebung des staatlichen Außenhandelsmonopols vorschlug. Auf die Intervention Trotzkis und Lenins wurde der Beschluß jedoch wieder zurückgenommen.

Im Sommer/Herbst 1923 brach eine sogenannte „Scherenkrise“ aus. Die Bauern waren unzufrieden über die Preise, die ihnen der Staat für ihre Produkte zahlte, weil die Marktpreise der Industrieerzeugnisse im Durchschnitt zweimal, teilweise bis zu zehnmal über dem Vorkriegsniveau lagen. Zum einen waren die industriellen Herstellungskosten wegen der enormen Bürgerkriegszerstörungen höher als vor dem Krieg; außerdem schlossen die selbständig gewordenen Staatsbetriebe sich branchenmäßig zu Syndikaten zusammen, um Monopolpreise zu erzielen. Darum hielten die Bauern ihr Getreide zurück und kauften keine Industrieerzeugnisse. Als Folge hatte die Industrie Absatzschwierigkeiten. „Gerade landwirtschaftliche Maschinen und Geräte blieben zunehmend ohne Käufer, obwohl eine ungeheure Nachfrage nach ihnen bestand und sie eigentlich ein entscheidendes Bindeglied in der smycka zwischen Arbeitern und Bauern bilden sollten.“76 Außerdem blieb nicht nur Getreide aus, sondern auch die agrarischen Rohstoffe für die weiterverarbeitende Industrie, so daß die darauf angewiesenen Fabriken nicht weiterarbeiten konnten. Der Rückgang wurde dadurch verschärft, daß der Staat im Sommer 1923 durch Streichung von Subventionen die Betriebsleitungen zu zwingen versuchte, ihre Syndikatspreise zu senken und die Produktion in den leistungsfähigsten Fabriken zu konzentrieren.

Als Arbeiter reihenweise entlassen und die Löhne gesenkt oder unregelmäßig ausgezahlt wurden, erfaßte im August/September 1923 eine Welle wilder Streiks die Städte. In der Nachfolge der „Arbeiteropposition“ entstanden als neue Oppositionsgruppen die „Arbeiterwahrheit“ und die „Arbeitergruppe“.77 Gleichzeitig wehrten sich die kommunistischen Betriebsleiter und Fachleute der staatseigenen Industriebetriebe gegen alle Versuche des Obersten Volkswirtschaftsrats, ihnen Vorschriften über die Preisgestaltung zu machen. Die Kontroversen des Jahres 1920, nunmehr ergänzt durch die „Opposition der Manager“, erlebten eine Neuauflage: eine spontane Bewegung in der Arbeiterklasse, repräsentiert durch die eben genannten Gruppen, trat für Arbeiterrechte und Produzentendemokratie ein; die kommunistischen Manager kämpften für größtmögliche betriebliche Selbständigkeit; Trotzki und seine Anhänger forderten die beschleunigte Industrialisierung auf dem Boden sofortiger, umfassender Planung.

Die Mehrheit in der Parteiführung sah keinen anderen Weg, als die NEP fortzusetzen und den Bauern entgegenzukommen, wenn man nicht erneute Aufstände riskieren wollte. „Je ernster die Scherenkrise wurde, desto bedingungsloser trat die rechte Mehrheit als Verfechterin der NEP auf. (…) Die ökonomische Argumentation der Rechten … ging von der vorsichtigen Voraussetzung aus, daß die Großindustrie die Mittel für ihr Wachstum aus der Nachfrage nach ihren Produkten schöpfen müsse. Das hieß: Zuerst sollte sich die Bauernschaft erholen und zu Wohlstand kommen und dann durch ihre Kaufkraft das Wachstum der Industrie finanzieren. Als erste würden die Leicht- und Konsumgüterindustrie davon profitieren, und diese ihrerseits würden die Produktionsgüterindustrie zur Expansion anregen. Diametral entgegengesetzt war der Standpunkt der Linken: sie bestanden darauf, die Industrie direkt aufzubauen, mit umfassender staatlicher Planung und Finanzierung aus dem Staatshaushalt. Der rechten Führung ging es in erster Linie darum, nichts zu tun, was die Bauern abspenstig machen könnte.“78 Die „Rechten“ waren zu jener Zeit Bucharin, Stalin und Sinowjew, die als sogenannte „Troika“ die Partei- und Staatsführung übernahmen, als Lenin dazu nicht mehr in der Lage war. Die „Linken“ wurden repräsentiert durch Trotzki.

Im September 1923 beschloß das ZK mehrheitlich, die staatlichen Ankaufpreise für Getreide anzuheben. Außerdem erhielten die Betriebe neue Kredite, um Lohnzahlungen vorzunehmen und entlassene Arbeiter wiedereinzustellen; die Kredite waren an Auflagen zur Senkung der Herstellungskosten und Verkaufspreise gebunden.79 Durch diese Maßnahmen reduzierten sich die staatlichen Mittel zum Ankauf von Maschinerie im Ausland und zum Aufbau neuer Industriebetriebe; die geplante Industrialisierung mußte zurückgeschraubt werden.

Im April 1923 hatte der XII.Parteitag der KPdSU eine von Trotzki verfaßte Resolution über eine planvolle, rasche Industrialisierung verabschiedet. Jetzt wurde eine andere Politik gemacht. Auch bei einer weiteren wichtigen Wirtschaftsfrage, der Währungsstabilisierung, setzte sich die „rechte“ Mehrheit gegen die Linken durch. Der inflationierte Rubel wurde durch den Übergang zu Golddeckung stabilisiert, anstatt gleichzeitig die zentrale Planung einzuführen, wie die Linken forderten. Unter diesen Umständen ging Trotzki im Oktober 1923 zum Angriff über. Er forderte, einen „Neuen Kurs“ einzuschlagen und begann, die Linksopposition zu formieren.

Die ZK-Entschließung vom 24.Dezember 1923 verteidigte die Grundlinie der NEP gegen die Attacken: „Die bäuerliche Wirtschaft ist die Basis für den Wiederaufbau der Industrie und mithin auch für das Wachstum der Arbeiterklasse, da der bäuerliche Markt der grundlegende Massenmarkt für die erzeugende Industrie ist…. Nicht nur die allgemeinen Interessen der Sowjetmacht, sondern auch das Interesse an der schnellstmöglichen Entwicklung unserer Industrie erfordern eine starke Unterstützung der bäuerlichen Wirtschaft.“80 Das bestätigte die Kernpunkte der NEP: politisch durch Befriedung der Bauern Sicherung der proletarischen Staatsmacht („die allgemeinen Interessen der Sowjetmacht“), und ökonomisch Ausrichtung der Industrie auf das Land. Die Linken waren jetzt jedoch nicht länger bereit, die NEP mitzutragen. „Auf der 13.Parteikonferenz im Januar 1924 forderte die Opposition, das Schwergewicht auf die Industrie zu legen und die NEP zu stoppen; sie fand aber keine Beachtung. Rykow, der 1923 wieder Vorsitzender des Obersten Volkswirtschaftsrats geworden war (und bald darauf Lenins Nachfolger als Regierungschef werden sollte), sprach ausführlich über die Unmöglichkeit systematischer Wirtschaftsplanung in einer überwiegend bäuerlichen Wirtschaft.“81

5. Der Höhepunkt der NEP: Bucharins Programm

Zwar wurde die Krise von 1923 bewältigt. Was jedoch blieb, war die sogenannte „Schere“ zwischen den Preisen für agrarische und industrielle Produkte und damit eine Quelle bäuerlicher Unzufriedenheit. „Mit aller Deutlichkeit offenbarte die >Scheren-Krise<, daß der Warenhunger der Bauern und die gestörten Austauschbeziehungen zwischen Stadt und Land – beides Folgen der bisherigen Politik, aber auch Erbteile des Zarismus – entscheidende strukturelle Schwächen der sowjetischen Ökonomik ausmachten.“82 Im Sommer 1924 brach in Georgien ein Bauernaufstand aus. Der Grund waren die Agrarsteuern sowie die teuren Industriewaren, deren Preise im Vergleich zum Ausland von Georgien aus festgestellt werden konnten. „Das, was in Georgien passiert ist, kann sich in ganz Rußland wiederholen“, warnte Stalin.83 Da eine Mißernte in diesem Jahr die bäuerliche Unruhe anwachsen ließ, war diese Befürchtung mehr als begründet. Um dem entgegenzutreten, suchte man den Ausweg in einem weiteren Ausbau der NEP. Die Landwirtschaftssteuern wurden gesenkt und weitere Erleichterungen für die Bauern beschlossen. Entgegen dem Agrardekret von 1917 wurden Pachtverhältnisse sowie Lohnarbeit wieder offiziell zugelassen;84 unter der Hand hatte beides die ganze Zeit weiterbestanden. In Erweiterung der noch von Lenin formulierten Losung der „smycka“, des Arbeiter-Bauern-Bündnisses, wurde nun die Parole ausgegeben: „Das Gesicht dem Dorf zuwenden“.

Die Beschlüsse hatten nach Auffassung Bucharins die von ihm rechtfertigte Folge, daß man nur noch im Schneckentempo zum Sozialismus marschieren würde.## (Broschüre: Der Weg zum Sozialismus) Es war mehr oder weniger seine Agrarpolitik, die jetzt realisiert wurde. „Die Parteibeschlüsse vom Herbst 1924 und dem Frühjahr 1925 machten Bucharins Agrarprogramm zur offiziellen Leitlinie der Politik.“85 Nach seinen linksradikalen syndikalistischen Ausflügen während des Kriegskommunismus war er zum entschiedensten Verfechter der NEP geworden. Seine Anhänger besetzten die Schlüsselpositionen an der Spitze der Macht: Rykow als Regierungschef, Tomski als Gewerkschaftsvorsitzender; Bucharin selber war der anerkannte NEP-Theoretiker im Politbüro. Allerdings mußte er seine im Zusammenhang mit den Aprilbeschlüssen ausgegebene Losung an die Bauern: „Bereichert Euch!“ wieder zurücknehmen.86

Die Linken liefen gegen die Beschlüsse Sturm. Neben Trotzki wandte sich nun auch Kamenew gegen die NEP, außerdem der mit Kamenew stets eng verbündete Sinowjew, der noch kurz zuvor eine andere Politik vertreten hatte, was Stalin ihm prompt vorhielt.87

Das örtliche Zentrum der Angriffe auf die NEP-Linie der Parteimehrheit wurde Leningrad, wo Sinowjew an der Spitze der städtischen Parteiorganisation stand. In dem russischen Industriezentrum war die Tradition des Kriegskommunismus und das Bündnis mit den armen Bauern, das Lenin selbst noch zur Durchführung der sozialistischen Revolution befürwortet hatte, lebendig geblieben. In Vorbereitung des XIV. Parteitags im Dezember 1925 „richtete die Leningrader Opposition unter der Führung von Sinowjew, Kamenjew, Sokolnikow und der Witwe Lenins, Krupskaja, einen direkten Angriff auf die Bauernpolitik der Führung. Sie warfen ihr vor, die armen Bauern zu übersehen und den kapitalistischen Elementen des Dorfes Zugeständnisse zu machen.“88

Stalin wies die Kritik mit der Begründung zurück, daß es sich nicht um eine Erweiterung der NEP, sondern um Zugeständnisse im Rahmen der NEP handele. Auch habe man keine Zugeständnisse an die Kulaken beschlossen, sondern an die Bauernschaft als solche, um das Bündnis mit den Mittelbauern zu festigen; daß die Kulaken die Beschlüsse ausnutzen würden, ändere daran nichts.89 Zum Teil war die Erwiderung wortklauberisch, zum Teil hatte Stalin insoweit recht, als die Bauernpolitik auf die Mittelbauern berechnet war, damit ihre Zustimmung zur Arbeitermacht um jeden Preis erhalten blieb. Nur war es in der Tat so, daß jede Förderung der Produktion auf dem Boden des fortbestehenden Privateigentums an Produktionsmitteln objektiv vor allem den Kulaken zugute kam; speziell die Zulassung von Pacht und Lohnarbeit war ein entscheidender Schritt zur Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise auf dem Land. Von Bucharin wurde dies mit seiner Aufforderung „Bereichert Euch“ nur als positives Programm formuliert.

Der Kulak entwickelte sich unausweichlich zum entscheidenden Klassengegner der Arbeitermacht. Die Anti-obscina-Politik, die Stolypin vergeblich von außen versucht hatte, wurde jetzt von den Bolschewiki mit mehr Erfolg praktiziert, indem die Konsequenzen ihrer Politik die Dorfgemeinde von innen heraus zersetzten. So untergruben alle Bemühungen der Arbeitermacht, das Bündnis mit den Mittelbauern zu festigen, auf dem Boden der NEP langfristig zugleich die Grundlage dieses Bündnisses, die obscina. Nur die Aufhebung der NEP konnte dem entgegenwirken.

Die Leningrader Linken fanden 1924/25 keine Mehrheit in der Partei, so wenig wie vor ihnen Trotzki, weil die Masse der Parteimitglieder kein neues Kronstadt riskierten wollte. Sinowjew verlor nicht nur die Führung der Komintern, sondern wurde auch als Vorsitzender der Leningrader Parteiorganisation abgelöst. Seine Stelle nahm Kirow ein, dessen Ermordung Ende 1934 eine neue Stufe in den Auseinandersetzungen um die Bauernpolitik der Partei nach der Kollektivierung 1929/30 einleitete.

Sinowjew und Kamenew schlossen sich bald darauf mit Trotzki, den sie bis dahin bekämpft hatten, zur Vereinigten Linksopposition zusammen. Die Plattform der „Vereinigten Opposition“ zum XV.Parteitag im Dezember 1927 kritisierte die gesamte Richtung der ZK-Mehrheit, griff insbesondere die Fortsetzung der NEP an und verlangte eine schnellere Industrialisierung, zu deren Finanzierung die wohlhabenden Bauern mit einer „Zwangsanleihe“ von wenigstens 150 Millionen Pud (2,5 Mio Tonnen) Getreide belegt werden sollten. Das war mehr als die Gesamtausfuhr an Getreide im Rechnungsjahr 1925/26. Smirnow, einer der Oppositionsführer, forderte offen, den größeren Teil des jährlichen Fünfmilliardenbudgets für die Industrialisierung statt für die Bauern einzusetzen, „weil es für uns besser ist, ein Zerwürfnis mit den Mittelbauern hinzunehmen, als dem umvermeidlichen Untergang entgegenzugehen.“90

Stalin wies die Politik der Opposition zurück, weil sie faktisch, wenn auch meist unausgesprochen, gegen den „Block der Arbeiterklasse mit den Mittelbauern“ gerichtet sei. Sie verwirklichen hieße „den Bürgerkrieg im Dorf eröffnen, die Versorgung unserer Industrie mit Rohstoffen der bäuerlichen Wirtschaft (Baumwolle, Zuckerrüben, Flachs, Leder, Wolle usw.) erschweren, die Versorgung der Arbeiterklasse mit landwirtschaftlichen Produkten desorganisieren, die eigentlichen Grundlagen unserer Leichtindustrie untergraben, unsere ganze Aufbauarbeit vereiteln, unseren ganzen Plan der Industrialisierung des Landes vereiteln.“91 Damit würde schließlich die Herrschaft der Arbeiterklasse bedroht. Diese Konsequenz war unabweisbar. Die gesellschaftliche Grundlage der Sowjetunion war und blieb das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Mittelbauern. Das bestätigte sich erneut in den 30er Jahren. In der parteiweiten Abstimmung zum XV.Parteitag stimmten 724.000 Parteimitglieder für die ZK-Politik und nur 4.000 für die Oppositionsplattform.92

III. Die Krise der NEP

Die Krise von 1923 war nur ein Vorläufer. Je länger die NEP dauerte, desto mehr bildeten sich die ihr immanenten Gegensätze aus, bis es 1929 zum Bruch kam. In der Stadt begannen die Gewerkschaften, bei wachsender Arbeitslosigkeit zu einer ständischen Interessenpolitik überzugehen. Auf dem Land bauten die Kulaken ihre zentrale Stellung innerhalb der Dorfgemeinde aus, während der Zusammenschluß zu Produktionsgenossenschaften kaum Fortschritte machte. Trotzki, der die NEP von Anfang an nicht als eigene Etappe, sondern als bloßen Durchgangspunkt verstanden hatte, bildete in dieser Zeit den Gegenpol zur Politik der Parteimehrheit.

1. Trotzki: vom Wirtschaftsdiktator zum Gegner der Sowjetmacht

Die Ursprünge der Auseinandersetzung um die Wirtschaftspolitik reichten Jahre zurück. Etwa Ende 1919 begann Trotzki, sich mehr mit Wirtschaftsfragen als mit Militärfragen zu beschäftigen.93 Die entscheidenden Schlachten des Bürgerkriegs waren geschlagen, die Sowjetmacht hatte sich militärisch als unbesiegbar gezeigt, und die Kämpfe des Jahres 1920 wurden nicht mehr um die bloße Existenz geführt. Worauf es künftig ankam, war der Wiederaufbau des Landes.

Auf dem Boden seiner Theorie der permanenten Revolution war Trotzki für den direkten Aufbau des Sozialismus. Das bedeutete, die Industrialisierung so schnell wie möglich und um jeden Preis durchzuführen. Für diese Industrialisierung gab es nur zwei Wege: Auspressung entweder der Arbeiter oder der Bauern. Als Oberster Befehlshaber einer Armee, die im wesentlichen aus Mittelbauern bestand und sich ihre Lebensmittel durch Requisitionen im Dorf holen mußte, begriff Trotzki eher als andere durch die Praxis, daß die neue Macht mit den Bauern ins reine kommen mußte, um zu überstehen. Bereits im Februar 1920 machte er in einem Brief an das ZK den Vorschlag, statt weiterer Zwangseintreibungen die Bauern zu besteuern.94 Damit nahm er einen Kernpunkt der späteren NEP vorweg. Allerdings verfolgte er seinen Vorschlag nicht weiter, sondern zitierte ihn nur regelmäßig in späteren Jahren gegenüber den Vorwürfen, er sei ein Gegner der Bauern.

Wenn aber nicht auf Kosten der Bauern, dann mußte die Industrie auf Kosten der Arbeiter aufgebaut werden. Das war Trotzkis erste Lösung, und das von ihm dazu vorgeschlagene Mittel war die Militarisierung der Arbeit. Trotzkis Vorbild war das Zentralkomitee für Transportwesen, abgekürzt Zektran. Aufgrund des Zusammenbruchs des Transportsystems war Trotzki Anfang 1920 mit dessen Reorganisierung beauftragt worden und hatte hier seine Idee der Militarisierung der Arbeit in die Tat umgesetzt. Staatliche Verwaltung, Gewerkschaft und Partei wurden zu einem einzigen riesigen Apparat zusammengefügt, der auf der Grundlage militärischer Disziplin arbeitete. Von oben bis unten bürokratisch durchorganisiert, war das im September 1920 gebildete Zektran enormen Spannungen ausgesetzt, zumal Trotzki, zu kollektiver Arbeit persönlich unfähig, von seinen Mitarbeitern keinen Widerspruch duldete. Die Gewerkschaften waren strikte Gegner des Zektran; sie verlangten immer wieder, es aufzulösen und zu normalen Organisationsformen zu gelangen, was dann im Ergebnis der Gewerkschaftskontroverse auch geschah.

Zwar erlitt er in der Gewerkschaftsfrage gegen Lenin eine Niederlage. Aber nachdem der Übergang zur NEP beschlossen war und damit die Bauern endgültig als Hauptquelle für eine beschleunigte Industrialisierung ausfielen, fühlte er sich in seiner Auffassung bestätigt, die Arbeiter müßten zum schnelleren Aufbau der Industrie vorwärtsgepeitscht werden. So trat er im Oktober 1922 vor dem 5.Kongreß der Kommunistischen Jugend der Sowjetunion für eine „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ durch die Aufopferung der Proletarier ein. Die Arbeiterklasse könne „nur unter den größten Opfern, indem sie die letzten Anstrengungen macht und Blut und Nerven zusetzt, zum Sozialismus gelangen“.95 Daß er seine Vorstellungen gerade vor dem Komsomol wiederholte, hatte seinen Grund. Hier war der Abschied vom Kriegskommunismus am schwersten gefallen und die Begeisterung für das Vorwärtsstürmen zum Kommunismus und damit die Industrialisierung um jeden Preis nach wie vor groß. Als ihm vorgeworfen wurde, er würde für eine neue Ausbeutung der Arbeiterklasse eintreten, erwiderte er, daß Blut und Nerven der Arbeiter schließlich für den eigenen sozialistischen Staat hergegeben würden, es sich also nur um Selbstausbeutung handele.96

Die Ergänzung zur Militarisierung der Arbeit war die Forderung nach vollständiger Organisation und Lenkung der Wirtschaft durch einen „Plan„. Während Lenin und mit ihm die Masse der Bolschewiki begriffen hatte, daß der Rückzug vom Kriegskommunismus bedeutete, vorläufig auf eine Planwirtschaft zu verzichten, forderte Trotzki weiterhin einen „einzigen Plan“, der allumfassend sämtliche Produktionskapazitäten, Rohmaterialien und Arbeitskräfte organisieren, die Produktionsziele vorgeben und die Proportionen zwischen den einzelnen Produktionszweigen festlegen sollte. Lenin, der seinen eigenen – bescheidenen – Wirtschaftsplan unter dem Motto „Sowjets plus Elektrifizierung = Sozialismus“ ausgearbeitet hatte, brachte „wenig Begeisterung für den >einzigen Plan< und die >Erweiterung der Befugnisse des Gosplan< auf. Er bezeichnete seinen Elektrifizierungsplan als >die einzige ernsthafte Behandlung der Frage< und tat den >allumfassenden Plan< als >müßiges Gerede< ab.“97

Dennoch wurde Trotzki nicht müde, den umgehenden Übergang zur umfassenden Wirtschaftsplanung zu verlangen. „Im Frühjahr 1922 begann Trotzki wieder auf die Errichtung einer einheitlichen obersten Wirtschaftsbehörde zu drängen, deren Chef er vermutlich selbst werden wollte.“98 Stattdessen schlug Lenin im April dem Politbüro vor, daß Trotzki sein Stellvertreter im Rat der Volkskommissare werden solle. Trotzki lehnte diese Aufforderung, obwohl von Lenin im Verlauf der kommenden Monate mehrfach wiederholt, kategorisch ab, denn er wäre nur einer von mehreren Stellvertretern geworden. Lediglich im Dezember 1922 meinte Lenin in seinem „Brief an den Parteitag“, man solle die Kompetenzen der Staatlichen Plankommission erweitern und dem Genossen Trotzki insoweit entgegenkommen.99

Bereits Trotzkis Programm der Militarisierung der Arbeit und Industrialisierung der Armee lief darauf hinaus, daß er als militärischer Oberbefehlshaber die Leitung des industriellen Aufbaus übernommen hätte und „Industriediktator“ geworden wäre. Dieselbe Konsequenz hatten seine Vorschläge zur Schaffung einer mit allen Vollmachten ausgestatteten Planungsbehörde, die er nach der Niederlage des Konzepts der Militarisierung der Arbeit vorbrachte. Wurden sie akzeptiert, hätte er selbstverständlich Anspruch auf die Leitung dieses Apparats gehabt. Im Bürgerkrieg neben Lenin als Organisator des Sieges gefeiert, anschließend mit der Aufgabe des industriellen Aufbaus betraut, wäre damit auch die Nachfolge Lenins geklärt gewesen.

Auf dem XII.Parteitag vom 17.-25.April 1923 gelang es Trotzki, eine Resolution zur Verabschiedung zu bringen, die sich für eine planvolle, konzentrierte ökonomische Offensive zur Industrialisierung aussprach und damit unter der Hand gegen den ökonomischen Selbstlauf und die NEP. Eine praktische Umsetzung der Resolution erfolgte jedoch nicht, sondern im Gegenteil kamen die späteren Parteibeschlüsse den Bauern noch weiter entgegen. Als das ZK auf dem Septemberplenum 1923 über die Scherenkrise diskutierte, schwieg Trotzki sich aus. Es war klar, daß es im ZK keine Mehrheiten für seine Auffassungen gab. Stattdessen schlug er vor, ihn nach Deutschland zu schicken, um die dortigen Aufstandsvorbereitungen in die eigene Hand zu nehmen.100 Damit verband sich die Hoffnung, mit der Autorität eines neuerlich siegreichen Aufstands seine Politik doch noch durchsetzen zu können. Aber das ZK sprach sich gegen seine deutschen Ambitionen aus. Gleichzeitig wurde Trotzkis Alleinherrschaft im Obersten Kriegsrat eingeschränkt, indem das ZK dessen Erweiterung durch führende Parteigenossen beschloß.

Diese Niederlage an mehreren Fronten gleichzeitig wurde für Trotzki der Anlaß, seine Anhänger zur Opposition zu formieren. Im Brief vom 8.Oktober 1923 an ZK und ZKK (Zentrale Kontrollkommission) eröffnete er den Kampf um den „Neuen Kurs“. Über Seiten hinweg beklagte er als erstes und hauptsächlich „die äußerste Verschlechterung der innerparteilichen Situation“, ohne daß man erfuhr, warum er den beklagenswerten Zustand der Partei jetzt erst entdeckte. Dieses Vorgehen blieb auch in Zukunft charakteristisch für die Oppositionellen in der Partei. Immer wenn die eigene Politik keine Mehrheit (mehr) fand, traten sie mit langen Jeremiaden über den Mangel an Parteidemokratie, verursacht durch die Parteiführung, an die Öffentlichkeit. Dahinter dann die eigentlichen inhaltlichen Differenzen zu entdecken, fällt im Nachhinein häufig schwer. Bei keinem war dieses Vorgehen so ausgeprägt wie bei Trotzki, der damit in einer Person zum Hauptankläger und Kronzeugen gegen die „Bürokratie“ aufrückte.

Seine Kritik war nicht nur inhaltsarm, sondern auch falsch, denn 1923 konnte bis auf das Fraktionsverbot von einer Einschränkung der Demokratie keine Rede sein. Sie war für die Masse der Parteimitglieder um so unglaubwürdiger, als Trotzki selber im Zektran ein bürokratisches Regime sondergleichen ohne die geringsten Mitsprachemöglichkeiten eingerichtet und rechtfertigt hatte – solange er an der Spitze stand. Stalin konnte darum mit allgemeiner Zustimmung darauf hinweisen, daß ausgerechnet Trotzki als „Patriarch der Bürokraten“ der Ungeeignetste war, um sich über demokratische Mängel zu beklagen.101

Jenseits der abstrakten Demokratie-Klage war der eigentliche Kern von Trotzkis Angriff der Vorwurf, daß eine falsche Wirtschaftspolitik zur schwierigen Situation des Herbstes 1923 geführt habe. „Eine Leitung der Wirtschaft existiert nicht, das Chaos kommt von oben.“102 Das Politbüro antwortete daraufhin: „Wir halten es für notwendig, der Partei offen zu sagen, daß aller Unzufriedenheit Trotzkis, aller seiner Gereiztheit, allen seinen schon einige Jahre andauernden Auftritten gegen das Zentralkomitee, seiner Entschlossenheit, die Partei zu erschüttern, der Umstand zugrunde liegt, daß Trotzki den Wunsch hat, daß das ZK ihm und Kalegaev die Führung unseres Wirtschaftslebens übertragen soll.“ Nach Aufzählung der verschiedenen Posten, die er innehatte, und nach dem Hinweis auf Lenins wiederholte Aufforderung, sein Stellvertreter zu werden, fuhr das Politbüro fort: „kategorisch lehnte er den Posten eines Stellvertreters Lenins ab. Das hält er anscheinend für unter seiner Würde. Er verhält sich nach der Motto: >alles oder nichts<. Trotzki hat sich praktisch vor der Partei in eine solche Situation gebracht, daß entweder die Partei dem Gen.Trotzki die Diktatur auf dem Gebiete von Wirtschaft und Militär überlassen muß oder er es praktisch ablehnt, auf dem Gebiete der Wirtschaft zu arbeiten, wobei er sich nur das Recht zur systematischen Desorganisierung des ZK in seiner schwierigen täglichen Arbeit vorbehält.“103

Eine Woche nach Trotzkis Brief, am 15.Oktober 1923, folgte eine Erklärung von 46 Parteifunktionären. Sie war von Trotzki nicht unterschrieben, hatte aber ohne Zweifel seine Billigung, da prominente Gefolgsleute von ihm die Mitunterzeichner waren. Eingangs wurden die Schwierigkeiten der Wirtschaftslage von der Währungs- über die Getreidekrise bis zu den Stockungen der Lohnzahlung aufgezählt, sodann der Markt und das freie Spiel der Kräfte dafür verantwortlich gemacht und anschließend gefordert: „Wenn nicht unverzüglich umfassende, durchdachte, planmäßige und energische Maßnahmen getroffen werden, wenn die gegenwärtige Führungslosigkeit weiter andauert, dann stehen wir vor der Möglichkeit einer ungewöhnlich heftigen wirtschaftlichen Erschütterung“.104

Die Opposition hatte nur bei wenigen sozialen Kräften Rückhalt. „Bei den Arbeitern fand die Opposition keine Unterstützung. Die Trotzkisten … waren in ihrer Orientierung viel mehr intellektuell als proletarisch (…) Als es im Dezember 1923 zur Kraftprobe kam, stellten sich die Zellen der Fabrikarbeiter und die Provinzen ganz allgemein fast geschlossen auf die Seite der Organisation“.105 Daniels, der dies schreibt und voller Sympathien für jede Art von „Linksopposition“ ist, erklärt die Isolierung der Opposition wie Trotzki durch die Propaganda und den Druck des Parteiapparats. Die Intellektuellen – so seine unausgesprochene Schlußfolgerung – waren als kritische Geister dagegen immun und folgten Trotzki, im Gegensatz zu den einfältigen Arbeitern, die alles glaubten, was von oben kam. Daß die Arbeiterklasse, die für seinen Gewaltkurs Blut, Schweiß und Nerven opfern sollte, Gründe genug hatte, Trotzki die Gefolgschaft zu verweigern, entzieht sich seinem Verständnis. Genauso unbeliebt war Trotzki bei den kommunistischen Managern, denn ihre Betriebe hätten die Selbständigkeit verloren, wenn seine Politik verwirklicht worden wäre.

Um so mehr Rückhalt fand er bei den Staatsbürokraten und Studenten. Preobrashenski, neben Trotzki der prominenteste Führer der Linksopposition, mußte selber feststellen, daß ihre Anhänger am zahlreichsten „in den Regierungsbehörden und Bildungseinrichtungen“ vertreten waren.106 Moskau war ihre lokale Hochburg. Die Moskauer Parteiorganisation bestand zu 25% aus Studenten;107 außerdem waren dort die kommunistischen Regierungsangestellten massiert. Da Trotzkis Vorschläge eine gewaltige Stärkung des Regierungs- und Planungsapparats – und damit ihrer eigenen Stellung – zur Folge gehabt hätten, wurden sie von ihnen begrüßt. Ebenso charakteristisch ist die Verankerung unter der jungen Intelligenz, stets anfällig für „linke“ Abenteuerpolitik. Daß Trotzki in seinen Artikeln über den „neuen Kurs“ der Jugend und den Studenten Avancen machte und sie zur Hoffnung der Zukunft erklärte, wurde ihm im Politbüro besonders übel angekreidet.

Die soziale Basis aus jungen Intelligenzlern und kommunistischen Regierungsangestellten blieb bestimmend für die Anhänger Trotzkis in der Sowjetunion. „Nach 1923 kam die Linke Opposition nie über den Stand einer Sekte von wohlmeinenden, aber hoffnungslos in der Minderheit befindlichen Intellektuellen hinaus, ausgenommen die apparatschiki, die Sinowjew mitbrachte, als er 1925 mit Stalin und Bucharin brach.“108

Die Reaktion der Partei auf die Kritik der Opposition waren nicht allein Beschlüsse gegen die Bürokratisierung, sondern war vor allem das „Lenin-Aufgebot“ vom Frühjahr 1924. 200.000 neue Mitglieder, weit überwiegend Arbeiter, wurden in die Partei aufgenommen und erhöhten den proletarischen Anteil um über 40%.109 Trotzkis Stellungnahme dazu war, daß es sich um eine politisch ungebildete, jederzeit manipulierbare Masse handele.

Bei allen Vorwürfen, daß der „Apparat“ die unbedarften Parteimitglieder irreführte und von den richtigen Einsichten abhielt, blieb es den klügeren Oppositionellen nicht verborgen, daß die Arbeiter jenseits von ihnen standen. Eine Konsequenz daraus war, daß eine Reihe von ihnen zwar weiterhin die sofortige forcierte Industrialisierung, die „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ forderte, jetzt aber nicht mehr auf Kosten der Arbeiterklasse, sondern auf Kosten der Bauern. Preobrashenski als führender Ökonom der Opposition entwickelte diese Theorie ausführlich: Wie der Kapitalismus eine Phase der ursprünglichen Akkumulation durchlaufen habe, bis er sich auf eigenen Grundlagen bewegen konnte, so müsse auch der Sozialismus dies tun. Aufgrund der Verfassung der Arbeit in der Sowjetunion wären einer Ausbeutung der Arbeiter, auf die sich die ursprüngliche Akkumulation stützen könne, enge Grenzen gesetzt (hier sprach die Erfahrung); darum sollte die rückständige Bauernschaft dem Akkumulationsbedürfnis der Industrie unterworfen werden.

So rückhaltlos vertrat dies vorerst nur Preobrashenski. Trotzki dagegen äußerte sich zu dieser Zeit nicht eindeutig. Allerdings forderte er nach 1923 nicht mehr den Aufbau des Sozialismus durch die Aufopferung der Arbeiterklasse, sondern trat nur allgemein für mehr Plan und eine schnellere Industrialisierung ein. Erst allmählich dann, so in der gemeinsamen Plattform der Vereinigten Linksopposition zum XV.Parteitag 1927, forderte er, die Bauern bzw. Kulaken für die Industrialisierung bluten zu lassen. Daraus resultiert die Schwierigkeit, Trotzki durchgängig Gegnerschaft gegen die Bauern vorzuwerfen.

Sinowjew und Kamenew waren die entschiedensten Gegner Trotzkis gewesen, solange dieser auf Kosten der Arbeiter die Industrialisierung vornehmen wollte. Die Leningrader hatten sogar den Ausschluß Trotzkis aus dem Politbüro verlangt, was von Stalin und dem ZK zurückgewiesen wurde.110 Als Trotzki nicht mehr für die Industrialisierung auf dem Rücken der Arbeiter eintrat und stattdessen Preobrashenskis Konzept einer ursprünglichen Akkumulation auf Kosten der Bauern zum faktischen Wirtschaftsprogramm der trotzkistischen Opposition wurde, fiel dieser Trennungsgrund weg. Nach den „Kulakenbeschlüssen“ des ZK vom April 1925 gingen Sinowjew und Kamenew kurzzeitig in der „Vereinten Opposition“ mit Trotzki zusammen.

Im Sommer des Jahres 1927 brach Großbritannien unter einem Vorwand die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion ab; plötzlich rückte ein Krieg nahe. In dieser Situation veröffentlichte Trotzki eine „Clemenceau-Erklärung“ (in Anklang an Clemenceau, der 1917 die damalige französische Regierung wegen ihrer mangelhaften Kriegführung gestürzt hatte). Darin warf er Bucharin, Rykow, Stalin und Woroschilow vor, keine ausreichenden Vorbereitungen auf den Krieg zu treffen und kündigte an, daß er die Regierung stürzen werde, wenn die Lage kritisch werden sollte. Selbst sein ihm sehr wohlgesonnener Biograph Isaac Deutscher nennt diese Erklärung „übel“, mit einem „hochverräterischen Beigeschmack“.111

Am 7.November 1927, aus Anlaß der großen Demonstrationen zum 10.Jahrestag der Oktoberrevolution, ging die vereinte Opposition unter öffentlichem Bruch der Parteidisziplin mit eigenen Parolen auf die Straße. Trotzki war der unverrückbaren Überzeugung, daß die Massen „an sich“ trotzkistisch-revolutionär seien und ihre revolutionäre Begeisterung nur durch Propaganda und Polizei der „Bürokratie“ unterdrückt werde. Der Auftritt am 7.November sollte das über die Arbeiterklasse geworfene Netz zerreißen, die „an sich“ in der Klasse brodelnden Energien der permanenten Revolution freisetzen und Trotzki, die Vereinte Opposition hinter sich, an der Spitze der aufstehenden Massen in einem kurzen Bürgerkrieg an die Macht bringen.

Die Arbeitermassen zeigten sich jedoch gleichgültig gegenüber den Auftritten Trotzkis, Sinowjews und ihrer Anhänger bei den großen Demonstrationen. „Der 7.November brachte der Opposition eine vernichtende Niederlage.“112 Auf spätere Angriffe eines Flügels seiner Anhänger, er sei mit seinen Angriffen auf die Partei zu weit gegangen, verteidigte sich Trotzki – hier mit Deutschers Worten zusammengefaßt: „Die Opposition habe sich kaum je entschieden und mutig genug an die Mitgliedermasse gewandt. Als sie das schließlich am 7.November (1927) zu tun plante, habe sie versucht, Stalin zum Bürgerkrieg zu provozieren; und dann habe sie sich zurückziehen müssen.“113

Im Rückblick schrieb Trotzki 1936 in der „Verratenen Revolution, daß ein Teil der Arbeiterklasse, nämlich die „fortgeschrittenen Arbeiter … der Opposition zweifelsohne sympathisch gegenüber(standen)“, mußte aber gleichzeitig feststellen, daß die „Bürokratie“ mit der Wendung gegen Trotzkis permanente Revolution und für eine Ruhepause im Kampf „ohne Zweifel bei den müden Arbeitern und besonders bei den Bauernmassen Anklang“ fand.114 Damit gestand er selber zu, daß sein Programm nur bei einer Minderheit in der Arbeiterklasse Anklang fand, während die Masse der Arbeiterklasse ihm fernstand. Elf Seiten danach schrieb er: „Die müden und enttäuschten Massen verhielten sich gleichgültig zu dem, was an der Spitze geschah.“115 Das einemal ist er gezwungen zuzugeben, daß die Linie der Parteimehrheit die Zustimmung der Arbeitermassen fand, die – noch – zu keiner neuen Revolution bereit waren. Auf der anderen Seite behauptet er, daß das Geschehen an der Spitze der Partei den Massen gleichgültig war. Er ist völlig unfähig zu begreifen, warum seine Politik sich nicht durchsetzt, und sucht die Gründe dafür in der persönlichen Unfähigkeit, Borniertheit oder Bösartigkeit der übrigen bolschewistischen Parteiführer.

Auf der anderen Seite unterstellt seine eigene Politik, daß die Parteiführung völlige Freiheit des Handelns hat, also nicht an die gegebenen Klassenverhältnisse, Mehrheiten und Stimmungen gebunden ist. Die Massen in ihrer gegebenen Verfassung und Entwicklung spielen bei ihm keine Rolle, sie sind passive, manipulierbare Parolenempfänger, die nach dem Belieben der Politik, je nach der Genialität oder Borniertheit der Führung, gemodelt werden können. Das ist der Hintergrund, vor dem Trotzki die Geschichte der Oktoberrevolution versteht und seine Politik der 20er Jahre betreibt. Dieser Ansatz ist gänzlich subjektivistisch und unterstellt eine Verselbständigung der Parteiführung, die in der Realität nie existierte und die allenfalls Trotzkis Wunschdenken war.

Bis 1929 gab es nach den Erfahrungen von Kronstadt weder in der Arbeiterklasse noch in der Partei Mehrheiten für eine Politik, die den Bruch mit der Bauernschaft riskierte. „Zum Unglück für die Opposition und für Trotzki reagierten die müden und desillusionierten Massen, und nicht nur der >kleine Bürokrat und Schmarotzer< auf die Konsolidierungsdoktrin viel bereitwilliger als auf die heroische Anrufung der permanenten Revolution.“116 Das ist das Kernproblem der Politik Trotzkis. Die Empfindungen der Massen entsprachen der objektiven Situation. In der Etappe, die nach dem Kriegskommunismus einsetzte, waren die Verhältnisse nicht reif für eine Fortsetzung des Angriffs. Der industrielle Wiederaufbau war nicht genügend vorangeschritten und dementsprechend war die Arbeiterklasse nicht ausreichend konsolidiert; schon rein zahlenmäßig war sie bis Mitte der 20er Jahre schwächer als zur Oktoberrevolution. Jeder erneute Sprung wäre ein heilloses Unterfangen gewesen, ein Angriff auf die Bauern hätte mit einer sicheren Niederlage geendet. Erst 1929, nach acht Jahren Erholung, war es so weit – und da war auch die Arbeiterklasse bereit.

Besonders unglaubwürdig war die Position der Trotzkisten und ist sie bis heute, weil einerseits die bürgerkriegsbedingte Schwäche der Arbeiterklasse in den 20er Jahren verantwortlich gemacht wird für die Entstehung der „Bürokratie“, andererseits eben diese schwache Arbeiterklasse den Krieg gegen die Bauern eröffnen sollte, um die „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ durchzuführen.

Wenn man die Politik Trotzkis dennoch für richtig befinden will, muß man die Haltung der Arbeiterklasse wie Deutscher als „reaktionäre Massenstimmung“ begreifen. „In seinen protokollierten Reden verbreitete sich Trotzki im allgemeinen über den Gegensatz zwischen der herrschenden Gruppe und der Masse der Mitglieder. Privat gab er zu, daß die Ideen und Parolen der herrschenden Gruppe einem Gefühlsbedürfnis der breiten Mitgliederschaft entgegenkamen, das diesen Gegensatz überlagerte, und daß die Opposition nicht der öffentlichen Stimmung entsprach. Was ließ sich also tun? Es ist nicht die Aufgabe des marxistischen Revolutionärs, bedachte sich Trotzki, sich der reaktionären Stimmung der Massen zu beugen. In Zeiten, in denen sich ihr Klassenbewußtsein trübt, muß er bereit sein, abseits von ihnen zu stehen.“117 Was das „Abseits-Stehen“ Trotzkis betrifft, muß man feststellen, daß dieser gerade nicht im stillen Kämmerlein theoretisierte, sondern bis Ende 1926 Mitglied des Politbüros war, seine politischen Vorstellungen als konkretes Aktionsprogramm entwickelte und die Partei zum sofortigen Handeln trieb. Als er damit keinen Erfolg hatte, weil die Parteimehrheit ihm nicht folgte, setzte er seine „heroische Anrufung der permanenten Revolution“ anläßlich des 10.Jahrestags der Oktoberrevolution auf den Massendemonstrationen fort, um nach einem Bürgerkrieg an die Macht zu gelangen.

Wegen ihres Auftretens wurden Trotzki und Sinowjew am 14.November 1927 aus der Partei ausgeschlossen. Für Sinowjew war die völlige Isolierung von den demonstrierenden Arbeitermassen am 7.November der Anlaß, sich von Trotzki wieder loszusagen, Selbstkritik zu üben und die Partei um Wiederaufnahme zu bitten. Trotzki dagegen baute in der Opposition seine Theorie von der bürokratischen Entartung der Partei und vom „Thermidor“ in Analogie zur französischen Revolution aus: Der politische Kern dieser Kritik war die Einschätzung, die NEP würde zur immer weiteren Stärkung der kapitalistischen Elemente führen; Staat und Partei steuerten auf eine offene, prokapitalistische Konterrevolution – den „Thermidor“ – zu; die „Thermidorianer“ waren die Vertreter der NEP mit den Kulakenfreunden Bucharin und Rykow an der Spitze. Flankiert sah er diese Entwicklung von der zunehmenden Bürokratisierung, die die Partei gegenüber dem herannahenden Thermidor entwaffnete. Als Oberhaupt der Bürokraten attackierte er den Generalsekretär der Partei, Josef Stalin. Diesen „geistlosen Grobian“, dem er sich intellektuell haushoch überlegen fühlte, nahm er politisch allerdings nicht besonders ernst, weil er ihn nur als bürokratischen Handlanger Bucharins einschätzte.

Im Januar 1928 wurde Trotzki ins turkestanische Alma Ata nahe der chinesischen Grenze deportiert. Zu dieser Zeit bereitete sich der Übergang zur Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagne vor, wurde der Gegensatz zwischen Stalin und Bucharin allmählich offenkundig und begann sich bald darauf die Niederlage Bucharins abzuzeichnen. Jetzt konstruierte Trotzki die These, die Revolution könnte den Thermidor, dh. den formellen Übergang zur kapitalistischen Konterrevolution unter Bucharin, überspringen und gleich in ihre „bonapartistische“ Phase übergehen. Entweder würde ein Armeeführer wie Woroschilow oder Budjonny, sozial gestützt auf die Kulaken, die Macht ergreifen und eine offene Diktatur des Besitzes etablieren, oder Stalin selbst könnte mit Hilfe des Parteiapparats der sowjetische Bonaparte werden. In diesem Fall würde es etwas länger dauern, aber am Ende würde ebenfalls der Kulak und NEP-Mann triumphieren.118

2. Die Gewerkschaften auf dem Weg zur Standespolitik

Etwa 1926 war die industrielle Rekonstruktionsperiode beendet; die Industrieproduktion lag ungefähr wieder auf Vorkriegshöhe. Um mehr zu produzieren, wurde die Betriebsdauer der meisten Großanlagen verlängert, so daß sie im Mehrschichtsystem rund um die Uhr liefen, manchmal 7 Tage pro Woche. Als Ausgleich für die Mehrbelastung und um mehr Arbeiter einzustellen, wurde gleichzeitig der 7-Stunden-Tag eingeführt. Da die große Masse der Maschinen und Anlagen noch aus der Zeit vor 1917 stammte, beschleunigte sich der Verschleiß immer mehr. Es war unumgänglich, über den Weg zur industriellen Erneuerung des Landes zu entscheiden. „Die Notwendigkeit einer beschleunigten Industrialisierung trat in den Jahren 1927 und 1928 immer deutlicher hervor. Inzwischen war der alte Produktionsapparat an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gestoßen, so daß das weitere Wachstum der Industrieproduktion nur noch durch eine grundlegende technische Rekonstruktion und Erweiterung der Kapazitäten gesichert werden konnte. Auch die städtische Arbeitslosigkeit und die agrarische Überbevölkerung, die immer größere Ausmaße annahmen, waren nur durch eine rasche Industrialisierung zu beseitigen.“119

Hinzu kam 1927 der Konflikt mit Großbritannien. Den drohenden Krieg konnte die proletarische Macht nur mit einer ausreichenden schwerindustriellen Basis bestehen. Auf wichtigen Gebieten hatte sich indessen der Abstand der Schwerindustrie gegenüber den entwickelten kapitalistischen Staaten seit der Oktoberrevolution vergrößert,120 so daß es um so notwendiger wurde, die Mittel und Wege einer aufholenden Industrialisierung zu klären.

Der XV. Parteitag vom 2.-19.Dezember 1927 zog das Fazit der bisherigen Planarbeit im Rahmen der NEP und verabschiedete Direktiven für die Erstellung eines Fünfjahrplans – des ersten -, bis zu dessen Verabschiedung aber noch anderthalb Jahre vergehen sollten. Im Zentrum stand der Aufbau einer eigenen Produktionsmittelindustrie, deren Schwerpunkte in der Rüstung, der Sicherung der industriellen Unabhängigkeit vom Ausland und der Produktion von Maschinerie für die Landwirtschaft liegen sollten. Der Aufbau sollte im Rahmen eines „dynamischen wirtschaftlichen Gleichgewichts“ zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Produktionsmittel- und Konsumtionsmittelindustrie stattfinden. Das bedeutete, die NEP beizubehalten, und ließ damit die grundlegende Frage ungelöst, wie dies in Abhängigkeit von den Bauern möglich sein sollte.

Währenddessen entwickelten sich die Widersprüche der NEP. Die verdeckte Arbeitslosigkeit auf dem Land, die im Gefolge der Oktoberrevolution auf Kosten der Produktivität zurückgegangen war, stieg durch den Geburtenzuwachs allmählich wieder an. Sie wurde 1928 auf 8-9 Mio überflüssige Arbeitskräfte geschätzt, teilweise auch auf das Doppelte. Zur gleichen Zeit betrug die Zahl der Arbeitslosen in den Städten 2 Mio – bei 3 – 4 Mio industriell Beschäftigten.121 Das waren teils in die Städte geströmte ungelernte Bauern, teils aber auch gelernte Arbeitskräfte, offenbar hauptsächlich Arbeiterjugend. Der Beschäftigungszuwachs im Zuge des industriellen Aufbaus reichte jedenfalls nicht aus, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. 1925/26 stieg zwar die Zahl der abhängig Beschäftigten gegenüber dem Vorjahr, offenbar im Zusammenhang mit dem Übergang zum Mehrschichtbetrieb und der Verkürzung des Arbeitstags auf 7 Stunden, um 25,4%. 1926/27 und 1927/28 betrug die Zunahme aber jeweils nur 5,2%.122 Damit wuchs die Zahl der Arbeitslosen schneller als die Zahl der Arbeiter. Selbst bei der optimistischsten Variante des Fünfjahrplans wurde nur mit einem Rückgang, nicht aber mit der Beseitigung der Arbeitslosigkeit gerechnet.

Raupach macht angesichts dieser Zahlen eine einfache Rechnung auf: wenn man für jeden neuen Arbeitsplatz den niedrigen Betrag von 5.000 Rubel als Investitionskosten ansetzt, hätte der sowjetische Staat 50 Mrd Rubel aufbringen müssen, um die mindestens 10 Mio Unproduktiven produktiv zu beschäftigen. Selbst auf mehrere Jahre verteilt und ohne Berücksichtigung des fortlaufenden Bevölkerungszuwachses hätte ein solcher Betrag „um ein Vielfaches die 1927/28 tatsächlich in der Industrie angelegten ca. 1,5 Mrd.Rubel“ überschritten, woraus er die Schlußfolgerung zieht, daß die sozialen Fakten „gleichsam autonom eine übernormale industrielle Wachstumsrate erheischten.“123

Um der wachsenden Arbeitslosigkeit in den Städten zu begegnen, wurde der Zuzug vom Land verboten. Erstmalig Arbeitssuchenden wurde der Arbeitsnachweis verweigert, so daß sie keine Anstellung finden konnten. Als arbeitslos wurden nur diejenigen registriert, die vorher in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden hatten. So wurden auch die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung niedrig gehalten. Die Vermittlung eines Arbeitsplatzes wurde an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gebunden; gleichzeitig verschlossen sich die Gewerkschaften gegenüber Arbeitslosen. „Das Recht auf Arbeit verwandelte sich so in ein sorgfältig gehütetes Zunftprivileg der Gewerkschaftsmitglieder.“124 Daß sich derartige Abschließungstendenzen in den Gewerkschaften durchsetzten, die als Massenorganisationen das Proletariat in seiner Gesamtheit umfaßten und dessen unmittelbare Interessen widerspiegeln und vertreten mußten, war unausweichlich. Mit der Zeit mußten diese Tendenzen aber auch den Zusammenschluß der bewußtesten Elemente der Klasse, die Partei, ergreifen.

Das war die Konsequenz der NEP nach mehreren Jahren: Die proletarische Macht mußte zulassen, daß die Erweiterung ihrer eigenen Klassenbasis eingeschränkt wurde; ein Arbeitsplatz in der staatlichen Industrie wurde mehr und mehr zum Privileg für eine Minderheit und die Gewerkschaften entwickelten sich zu zünftlerisch abgeschlossenen Organisationen. Das Verhältnis von Stadt und Land, Industrie und Agrarwirtschaft, Proletariat und Bauernschaft wurde damit auf die Spitze getrieben. Verweigerten die Bauern der Stadt das Getreide, so verweigerte die Stadt den Bauern den Arbeitsplatz.

Fast der einzige Hoffnungsschimmer in der sich immer mehr verschärfenden Lage waren die industriellen Wachstumsraten. Ursprünglich waren alle Wirtschaftsfachleute und Parteiführer vom Axiom der abklingenden Wachstumskurve ausgegangen: je weiter man auf das Ende der Rekonstruktionsperiode zukommen und dieses überschreiten würde, desto geringer, dachte man, würde das industrielle Wachstum werden. Tatsächlich stellte sich jedoch in den Jahren 1925/26 und 27/28 heraus, daß die Wachstumsraten jeweils höher als im Vorjahr lagen – ein Ergebnis, das niemand erwartet hatte und das alle Fachleute in einen „Zustand angenehmer Verwunderung“ versetzte.125 Daraufhin wurden die Planentwürfe für den Fünfjahrplan nach oben korrigiert. Der Entwurf der Endfassung von Anfang 1929 enthielt eine Minimalvariante der Industrieproduktion mit einer Zunahme auf 135% am Ende des Plans, dh. nach fünf Jahren; die Optimalvariante ging von 180% aus.

Abgesehen davon, daß selbst die Optimalvariante keine Beseitigung der Arbeitslosigkeit vorsah, setzten beide Varianten voraus, daß genügend Getreide zum Ankauf von Maschinerie aus dem Ausland aufgebracht wurde. Die Abhängigkeit von den Bauern, auf dem Boden der NEP letztlich von den Kulaken, blieb also bestehen. „Die Schlußfolgerungen lagen auf der Hand. Eine Politik der gemäßigten Geschwindigkeiten, die die Position der oberen Schichten in den Dörfern stärkte und das geschickte Balancieren zwischen ihnen und den aufrührerischen Radikalen in den Städten zur Notwendigkeit machte, konnte nur zeitweilig verfolgt werden, denn auf lange Sicht hätte sie sowohl im Falle des Scheiterns wie auch im Falle ihres Erfolges dem Regime geschadet. Die Alternative zu Rückzügen und Manövern dieser Art, die allmählich das diktatorische System unterhöhlt hätten, war offensichtlich ein massiver Gegenangriff, der ein für alle Mal die Möglichkeit des bäuerlichen Vetos über die grundlegenden Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik beseitigt hätte. Eine sehr schnelle Industrialisierung mit starker Betonung auf dem Kapitalgütersektor, die Stalin nun befürwortete, war die adäquate Form eines solchen Gegenangriffs.“126

3. Das Scheitern des Leninschen Genossenschaftsplans

Welche Verhältnisse auf dem Land nach der Oktoberrevolution herrschten, verdeutlicht ein Blick auf die „Kultur“ des Dorfes, dh. auf die bäuerlichen Lebensgewohnheiten. In seinem Buch über „Die Bauern von Tver“ beschreibt Helmut Altrichter das Alltagsleben der Muschiks in den 20er Jahren im Gouvernement Tver, das im Herzen des europäischen Rußland zwischen Moskau und Petersburg lag. Er stützt sich dabei auf die zugänglichen Originalquellen, von Erhebungen des lokalen Statistischen Büros bis zur Auswertung von Dorfzeitungen.

Der Analphabetismus war die Regel; es war keine Ausnahme, daß nur ein Mensch im Dorf lesen und schreiben konnte. Kenntnisse von den rationalen Zusammenhängen der natürlichen Lebensabläufe hatte das Dorf so gut wie nicht; dafür um so mehr Aberglauben. Eine Mischung aus christlicher und heidnischer Frömmigkeit beherrschte den dörflichen Jahresablauf. Aussaat und Ernte wurden mit magischen Handlungen gegen Hexerei vorbereitet; Geisterbeschwörung und Teufelsaustreibung waren bei jeder Gelegenheit selbstverständlich. Die Krankenbehandlung wurde von „weisen“ Frauen oder Männern vorgenommen, die ebenso medizinisch taugliche Heilkräuter verwendeten wie sie Lungenentzündung mit Hühnermist oder Bindehautentzündung mit menschlichen Exkrementen behandelten.

Vergewaltigung, Totschlag und Brandstiftung waren ebenso an der Tagesordnung wie regelrechte Kriege zwischen den Dörfern um die Grenzziehung zwischen den Dorfländereien. Alkoholismus war weitverbreitet. Wodka wurde in den Dörfern, obwohl verboten, selbst destilliert; zu hohen kirchlichen Festen wurde außerdem Bier gebraut. Am Ende der mehrtägigen Besäufnisse wurden dann Schlägereien ausgetragen, persönliche Rechnungen beglichen und als festlicher Höhepunkt öfters auch ein Dorfkorrespondent der bolschewistischen Landzeitung oder ein Sowjetvorsitzender verprügelt. Die von Bolschewiki herausgegebenen Dorfzeitungen kritisierten regelmäßig die Freß-, Sauf- und Prügelorgien auf den Dörfern.

Angesichts dieser Verhältnisse, in denen die Masse der russischen Bevölkerung lebte, mutete es gespenstisch an, wenn sich in den Städten die linken Intellektuellen und Künstler des „Proletkult“ über den Kampf gegen die bürgerliche Kultur zerstritten. In einem Prawda-Artikel vom 4.Januar 1923 wies Lenin darauf hin, daß im Jahr 1920 lediglich 32% der Bevölkerung Rußlands lesen und schreiben konnten, davon die weitaus meisten in den Städten. Er wetterte gegen diejenigen, die „in Träumereien von der >proletarischen Kultur< geschwelgt haben und bis jetzt schwelgen. (…) Während wir über proletarische Kultur und über ihr Verhältnis zur bürgerlichen Kultur geschwatzt haben, bieten uns die Tatsachen Zahlen dar, die zeigen, daß es bei uns sogar um die bürgerliche Kultur sehr schwach bestellt ist.“127 Seine Schlußfolgerung war, daß es unter diesen Umständen illusorisch sei, den Kommunismus aufs Land zu verpflanzen, sondern daß es schon ein gewaltiger Fortschritt sei, wenn man dem Dorf bloß bürgerliche Kultur und Bildung bringen würde.

Wie fernab dieser Dorfwirklichkeit auch viele Bolschewiki waren, die im Dorf arbeiteten, zeigt die „Religionskritik“ in der Tverer Dorfzeitung. Darin wurden die Bauern aufgeklärt, daß das christliche Weihnachtsfest heidnische Sonnenwendfeiern fortführte, daß die in Rußland weitverbreitete Marienverehrung auf vorchristliche Legenden von der Gottesgebärerin zurückging und daß der Heilige Geist mit der Gruppenehe in primitiven Gesellschaften, bei der die Mutter den Vater des Kindes nicht kennt, zu tun hatte. Das war die Religionskritik des vormarxschen Materialismus, wie sie auch Kautsky fortgeführt hatte. Auf die Muschiks – soweit sie überhaupt lesen konnten – mußte diese Aufklärung wirken wie ein Vortrag über die Relativitätstheorie in einem Kindergarten.

Die neue Verwaltung in Gestalt der Dorfsowjets, die jetzt regelmäßig gewählt wurden, blieb den Muschiks fremd. Ein Dorfrat war für viele Ortschaften zuständig und oft nur durch einen mehrstündigen Fußmarsch erreichbar. 1925/26 kam ein Sowjet auf 5,7 und 1929 gar auf 7,5 Siedlungen.128 Dazu kam, daß die Dorfratsvorsitzenden in der Mehrzahl der Fälle untauglich waren – angesichts der Verhältnisse in den Dörfern kein Wunder. So mußten etwa in der Amtsperiode 1927/28 im Gouvernement Tver 84 Dorfratsvorsitzende, das waren 71%, wegen völliger Untätigkeit oder Amtsmißbrauch abgesetzt werden.129 Genau diese Sowjetvorsitzenden waren jedoch häufig von den örtlichen Bolschewiki wegen ihrer Herkunft aus der Dorfarmut vorgeschlagen und durchgesetzt worden.

Jenseits der Dorfsowjets war für alle wirklich wichtigen Fragen des bäuerlichen Lebens weiterhin die obscina zuständig. „Nach wie vor entschieden sie (die Gemeindeversammlungen) und nicht die Räte über die zentralen Fragen des dörflichen Geschehens: über Bodenzuteilung und Fruchtfolge, über Flurbereinigung und die Zuweisung von Hofland im Falle familiärer Besitzteilungen.“130

Stadt und Land blieben zwei völlig verschiedene Welten. Zwar sorgten die Bolschewiki dafür, daß die Gutsbesitzer nicht wieder zurückkehrten, aber darauf beschränkte sich ihr Verdienst. „Die Bauern unterschieden scharf zwischen >wir<, womit sie ihr Dorf meinten, und der >kommunistischen Obrigkeit<, dem Staat. Beider Interessen, so sagten sie, vertrügen sich nicht, sie liefen einander zuwider. Der Staat nahm vom Bauern Steuern, doch was gab er außer Versprechungen? Das Dorf war eine Einheit für sich und regelte seine Angelegenheiten in der Dorfversammlung, so war es schon immer gewesen. Wozu also der Sowjet, und welchen Sinn konnte es haben, sich um andere, außerdörfliche Probleme zu kümmern? Weshalb die alte Form der Bodennutzung aufgeben, wo so vieles daran hing? Die Regierung behauptete, in Sowjet- und Kollektivwirtschaften würden höhere Erträge produziert, doch wo man hinsah, fanden sich Gegenbeispiele, Mißwirtschaft und Ruin. Für die bolschewistische Politik und Propaganda standen Parteizelle und Dorfrat im Zentrum, im dörflichen Alltag waren sie Randerscheinungen, ebenso wie die Dorfzeitung, der aus der Stadt kommende Agitator oder die vereinzelt existierenden Kollektivwirtschaften. Das Leben im Dorf lief ohne sie ab, und mancherorts hätte man es gar nicht gemerkt, wenn sie über Nacht verschwunden wären.“131

Entscheidend war die Entwicklung der bäuerlichen Produktionsverhältnisse. Nach offiziellen Untersuchungen verfügten die einzelnen Bauernwirtschaften in den 20er Jahren im Durchschnitt über 16 Bodenstücke, nach wie vor in regional unterschiedlicher Anzahl: weniger als zehn im Süden, teils über 100 im Norden, die regelmäßig weit auseinanderlagen.132 Dreifelderwirtschaft und Flurzwang waren weiterhin gang und gäbe.

Als 1922 in Weiterentwicklung des Bodendekrets von 1917 ein neuer Agrarkodex ausgearbeitet wurde, gelang es „nicht einmal, die wiederkehrende Umteilung der Gemeinden auf die Periode von drei Fruchtwechseln (9 Jahre) festzulegen. Unter dem Druck der Sorge um die Selbstversorgung einer wachsenden Zahl von Essern auf dem Dorfe kam es zu sehr viel häufigeren, auch jährlichen Umverteilungen. So lebte die von der Stolypinschen Reform zurückgedrängte obscina vehement wieder auf und mit ihr alle Nachteile, die sich aus der Unbeständigkeit des Besitzes für die Behandlung des Bodens und Beachtung des Fruchtwechsels ergaben. Die obscina behauptete sich bis zur betrieblichen Kollektivierung des Dorfes als die eigentliche und der offiziellen Dorfsowjetorganisation an Wirksamkeit überlegene Selbstverwaltungseinheit.“133 Während der Zarenstaat 1893 zumindest auf dem Papier eine Umteilungsperiode von wenigstens 12 Jahren festgelegt hatte, war der Sowjetstaat nicht in der Lage, 9 Jahre durchzusetzen.

Die Entwicklung der Genossenschaftsbewegung war typisch: Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften hatten sich bis Ende der 20er Jahre weit verbreitet; in ihnen dominierten zumeist die Kulaken, die sie aus eigenem Interesse befürworteten. Die entscheidenden Produktionsgenossenschaften dagegen waren eine rare Ausnahme geblieben; die Kulaken hatten an ihnen kein Interesse und konnten sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Machtstellung im Dorf verhindern. Ganze 3,9% der Bauernwirtschaften waren im Juli 1929 in elementaren Genossenschaften zur gemeinsamen Bodenbearbeitung zusammengeschlossen.134 Die Verhältnisse im Gouvernement Tver dürften wiederum ein Beispiel für das restliche Rußland sein.

Im Oktober 1925 waren hier knapp 25% der Bauernhöfe Mitglieder in ca. 400 Komsumgenossenschaften, die jeweils einen, höchstens zwei Dorfläden betrieben. Mitte 1928 war die Zahl der Konsumgenossenschaften die gleiche, aber mehr als die Hälfte der Bauernhöfe war jetzt dort Mitglied und die Zahl der Dorfläden war auf über 900 gestiegen. Trotzdem gab es nicht einmal in jeder zehnten Landgemeinde bzw. in jeder fünfzehnten Ansiedlung einen Laden. Daneben existierten noch „Agrargenossenschaften“, die sich auf die Bodenmelioration, die Viehzucht, den Produktenabsatz oder die Kreditvergabe spezialisierten. Auch diese Genossenschaften breiteten sich in Tver aus; ihre Zahl stieg zwischen 1924 und 1928 von 770 auf 1.239.135

Alle diese Genossenschaften vereinte eines: sie bauten auf der Existenz von individuell produzierenden Bauern auf, genauer: sie setzten individuelle Produktionsweise nicht nur voraus, sondern trugen zu ihrer Stabilisierung bei. Dagegen sah es beim Zusammenschluß zu Produktionsgenossenschaften düster aus.136

Im Frühjahr 1921 war mit 664 Kollektivwirtschaften (= Kolchosen) in Tver der Höhepunkt erreicht. Zum Teil besaßen diese Kolchosen nur den Boden gemeinsam (Produktionsgemeinschaften), zum Teil (in den Agrarkommunen) war alles einschließlich der Ackergeräte und des Viehs, der Wirtschafts- und Wohngebäude vergemeinschaftet. Die Wirtschaftsstruktur der meisten Kolchosen lag zwischen diesen beiden Polen und wurde in Anknüpfung an andere, vorrevolutionäre Formen produktiver Zusammenarbeit als „Artel“ bezeichnet. „Vor allem Tagelöhner, Knechte und Zwergbauern, deren winziger Besitz nicht zum Unterhalt der Familie reichte, ließen sich zum Eintritt in die Kollektivwirtschaften bewegen; doch auch Arbeiter gehörten zu ihren Mitgliedern, die vor dem Hunger aus den Städten geflohen waren. Was sie an Inventar, Geräten und Vieh in das gemeinsame Unternehmen mit einbrachten, war in der Regel nicht viel, und entsprechend niedrig war auch das Produktionsniveau.“137 Die Arbeitermitglieder dieser Kolchosen und insbesondere der Agrarkommunen, die nach 1921 wieder in die Städte zurückkehrten, dürften eine soziale Brücke zu den „linken“ Anschauungen in der Partei gebildet haben, die die ganzen 20er Jahre hindurch und verstärkt nach 1929 auf die Umgestaltung des Landes durch Agrarkommunen und das Bündnis mit der Dorfarmut drängten.

Mit dem Übergang zur NEP und speziell mit dem Ausbau der NEP 1925 schraubte der Sowjetstaat die privilegierte Förderung der Kollektivwirtschaften zurück. Zum 1.Oktober 1925 gab es im Gouvernement Tver noch 95, am 1.April 1928 gar nur 52 Kolchosen, die über 0,15% des Nutzlandes verfügten und 0,1% der ländlichen Bevölkerung umfaßten.

Die nähere Aufschlüsselung der Zusammensetzung ergibt ein noch düstereres Bild: 18% der Kollektivwirtschaften (von 1928) waren kirchliche Gründungen durch Sekten oder ehemalige Klosterangehörige, 16% bestanden aus ländlich-städtischen Lohnarbeitern, und nur die restlichen zwei Drittel waren wirklich „bäuerlich“. Bei den bäuerlichen Kollektivwirtschaften wiederum fällt auf, daß nur ein Bruchteil auf obscina-Land arbeitete. Zum ganzen Teil waren Bauern nur deswegen im Kolchos, um zusätzlich zu dem eigenen obscina-Land weiteres Staatsland zu bekommen. 92% der Kolchosen in Tver waren auf Staatsland gegründet, und nur 5% des Bodens war obscina-Land, die restlichen 95% bestanden aus Land, das 1917/18 verstaatlicht worden war.

Die Produktion in den Kollektivwirtschaften war trotz staatlicher Unterstützung nur in einigen Fällen vorbildlich, mindestens ebenso häufig aber durch Mißwirtschaft, Schlamperei und Streitereien gekennzeichnet. „Die Berichte der Tverer Dorfzeitung bestätigen und verdeutlichen das diffuse, widersprüchliche Bild, das die Kollektivwirtschaften boten. Sie zeigen nicht nur, daß die Tverer Kollektive, von der ihnen zugedachten Rolle als Musterwirtschaften weit entfernt, den umliegenden Bauern eher den gegenteiligen Eindruck vermittelten. Sie illustrieren auch, daß die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv viele Gründe haben konnte und ein Beitritt keineswegs immer als Entscheidung für die >sozialistische Produktionsweise< zu deuten war.“138

Die obscina ihrerseits differenzierte sich in den 20er Jahren. „Die während der egalitären Bauernrevolution und im Drang nach Selbstversorgung entstandene Agrarstruktur unterlag unter dem Einfluß der Marktkräfte während der NEP einer nach Vermögen und Leistungsfähigkeit fortschreitenden Differenzierung. Einkommensunterschiede, die sich für die einzelnen Wirtschaften durch Lage, Ungleichheit in der anfänglichen Aussstattung mit Land und Inventar und nicht zuletzt in der persönlichen Tüchtigkeit ergaben, begannen sich trotz gezielter Gegenmaßnahmen zu vertiefen.“139 Die Kulaken produzierten nach Zerschlagung der großen Gutsbetriebe mit etwa 20% relativ das meiste Marktgetreide.140

Anteil an der Anteil am – Anteil des
Getreideprod.- Handelsge- Handelsgetr.
in % treide in % an Gesamt-
ernte in %

——————————————————————

Vor 1914

Gutsbesitzer 12 21,6 47
Großbauern 38 50 34
Mittel- und
Kleinbauern 50 28,4 14,7

100 100 26
——————————————————————

1926-1927

Sowchosen und
Kolchosen 1,7 6 47,2
Großbauern 13 20 20
Mittel- und
Kleinbauern 85,3 74 11,2


100 100 13,3

(offizielle Statistik nach: Raupach, S.50)

Aber nicht hauptsächlich wegen ihres ausschlaggebenden Anteils an der Getreideproduktion waren die Kulaken führend im Dorf. Die anderen Bauern richteten sich vor allem deswegen nach ihnen, weil sie den Produktionsablauf des Dorfes beherrschten. Die Dorfarmut verfügte zu 93% entweder über kein Zugvieh oder über keinen Pflug.141 Von den Mittelbauern waren 31% in derselben Lage.142 Insgesamt konnten nur 56% aller Bauern ihr Land mit eigenen Produktionsmitteln bebauen;143 der Rest mußte Zugvieh oder Geräte beim Kulaken leihen oder das eigene Stück Land an ihn verpachten und sich selber bei ihm verdingen. Berücksichtigt man, daß in Regionen wie Sibirien oder der Ukraine, wo vor der Revolution der Einzelbauer dominiert hatte, auch nachher die einzelnen Höfe über genügend Produktionsmittel verfügten, so wird klar, daß insbesondere die armen und Mittelbauern der Dorfgemeinden Zentralrußlands auf fremde Produktionsmittel angewiesen, dh. von den Kulaken abhängig waren.

Die Abhängigkeit von den Kulaken führte zu Abarbeit und Formen der Knechtschaft, die früher auf den Gutsbetrieben üblich gewesen waren. „Auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Verflechtungszusammenhangs reproduzierten sich so auf dem Lande teilweise alte Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse, die man mit der Revolution bereits überwunden glaubte.“144 Der Kapitalismus entwickelte sich in seiner primitivsten Form, und damit brauten sich innerdörfliche Widersprüche zusammen, die bei der Kollektivierung mit aller Grausamkeit ausgetragen wurden, als die Dorfarmut die Rechnung mit dem Kulaken begleichen konnte.

Zahlenmäßig umfaßten die Mittelbauern 1927 ca. 77 Millionen. 5 Millionen wurden zu den Kulaken gezählt, und die Dorfarmut wurde mit ca. 22 Mio (einschließlich Dorfproletariat ca. 28 Mio) gerechnet.145

Mit wirtschaftlichen Maßnahmen war den Kulaken nicht beizukommen. Solange die NEP existierte, mußte der Kapitalismus auf dem Land anwachsen und mit ihm sein sozialer Träger, die Kulakenschaft. Auch die progressive Steuer, der die Bauern unterworfen wurden, konnte nur so gestaltet werden, daß sich die Erzeugung wachsender Mengen an Getreide trotzdem lohnte, denn auf das Getreide war der Sowjetstaat angewiesen. Außerdem waren Mittelbauern und Kulaken nicht durch eine chinesische Mauer voneinander getrennt; es bestand immer die Gefahr, daß durch zu rigoroses Vorgehen auch die Mittelbauern getroffen und erneut zu Feinden der Staatsmacht gemacht wurden. Auch der Versuch, die Kulaken politisch durch Entzug des Wahlrechts zu den Dorfsowjets zu bändigen, war wenig erfolgreich. Zum einen war die Gemeindeversammlung sowieso wichtiger als der Dorfsowjet, und zum anderen konnten die Kulaken aufgrund ihrer dörflichen Vormachtstellung Bauern ihres Vertrauens aufstellen und wählen lassen.

An Traktoren konnte die Sowjetunion 1927/28 die Zahl von 1.300 Stück selber produzieren.146 Insgesamt verfügte das Land Ende der 20er Jahre nur über wenige zehntausend Traktoren, angesichts der ca. 25 Millionen Bauernhöfe ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Auch unabhängig von der heranwachsenden Getreidekrise zeigte die praktische Entwicklung, daß der Leninsche Genossenschaftsplan zur Umgestaltung des Landes im Rahmen der NEP gescheitert war. Nicht nur stellte er sich als untauglich zur Hinwendung des Dorfes zum Sozialismus heraus, sondern die Form, in der sich das Genossenschaftswesen entwickelte, förderte im Gegenteil die sozialismusfeindlichen Elemente, die Kulaken.

4. Das Heranwachsen der Getreidekrise

Nichts offenbarte die Rückständigkeit des Landes deutlicher als seine Abhängigkeit von der agrarischen Urproduktion. Immer im Herbst und Winter, wenn die Ernte vorbei war und die bäuerlichen Produkte vom Staat aufgekauft wurden, zeigte sich, ob die Städte versorgt und die vorgesehenen Maschinen im Ausland gekauft werden konnten. Dementsprechend fanden auch die Auseinandersetzungen in der Partei um diese Jahreszeit regelmäßig ihren Höhepunkt.

Nach den Agrarbeschlüssen von 1924/25 hoffte man auf regelmäßige agrarische Lieferungen. Als aber im August 1925 der erste gesamtwirtschaftliche Jahresplan aufgestellt wurde, konnte trotz guter Ernte nicht so viel Getreide wie vorausberechnet beschafft werden; lediglich 125 Millionen Pud (1 Pud = 16 kg) gelangten in den Export. „Damit aber brach das Investitionsprogramm in vielen Teilen zusammen. 1926 kam es deshalb zu erheblichen Produktionsstörungen und Massenentlassungen.“147 Im Jahr darauf konnte durch höhere Preise und organisatorische Maßnahmen „das Beschaffungsprogramm für 1926/27 ohne größere Schwierigkeiten erfüllt werden. Aber gegenüber 1923/24 hatte sich einiges geändert. Der Optimismus, man sei jetzt mit den Bauern ins reine gekommen und habe geeignete Formen für den Austausch zwischen Stadt und Land gefunden, wich bei einer steigenden Anzahl von Parteimitgliedern und Verantwortlichen der Ungeduld darüber, daß sich die Beziehungen zwischen Stadt und Land nicht wie gewünscht entwickelten und die Bauern sich der Integration entzogen, ja immer empfindlicher auf das unzureichende industrielle Warenangebot reagierten.“148 Langsam entwickelten sich die Widersprüche der NEP und damit zu Bucharin, ihrem maßgeblichen Repräsentanten in der Partei.

Nach 2 guten Erntejahren hoffte man im Rechnungsjahr 1927/28 auf ein hohes Getreideangebot, da die Bauern aus den vorangegangen Jahren über genügend Getreide verfügten. Aber die Bauern hielten ihr Getreide zurück, weil es zu wenig städtische Produkte zu kaufen gab und diese auch noch zu teuer waren. Die staatlichen Getreideaufkäufer erhielten so wenig Getreide, daß der Export eingestellt werden mußte. Das warf nicht nur Schwierigkeiten beim Import von Maschinerie aus dem Ausland auf. Vor allem kam es nun zu Störungen bei der Versorgung des inneren Marktes. Bis Ende des Jahres 1927 wurden noch keine Gegenmaßnahmen getroffen, weil alle glaubten, daß die Schwierigkeiten zufällig und vorübergehend seien. Dann blieben aber bis zur Schneeschmelze im Frühjahr 1928, die alle Transportwege unpassierbar machte, nur noch 2-3 Monate, und das Fehlen des Brots machte sich inzwischen bemerkbar. „Als Folge der wachsenden Versorgungsengpässe gärte es … in den Städten.“149 Preis- und steuerpolitische Maßnahmen wären in der Kürze der Zeit zu spät gekommen, um der drohenden Hungersnot zu begegnen. Darum blieb nichts anderes übrig, als zu „außerordentlichen Maßnahmen“ zu greifen, die eigentlich mit dem Wesen der NEP unvereinbar waren. Anfang Januar 1928 gingen führende Partei- und Staatsfunktionäre aufs Land. Das Getreide, das die Bauern nicht freiwillig verkaufen wollten, wurde nun zu den vom Staat gebotenen Preisen beschlagnahmt. Ein Viertel des konfiszierten Getreides wurde zu niedrigen Staatspreisen oder als langfristiger Naturalkredit den armen Bauern übergeben,150 um sie auf die eigene Seite zu ziehen und in das Dorf einen Keil zu treiben.

Aber auch die „außerordentlichen Maßnahmen“ reichten nicht aus, um die erforderliche Menge an Marktgetreide zu beschaffen. Noch vor der neuen Ernte des Sommers 1928 mußten ca. 2/3 der zuvor exportierten 750.000 t Getreide reimportiert werden, um eine Hungersnot in den Städten zu verhindern.151 Außerdem mußte „mit der Ausgabe eines >Einkaufsbüchleins< eine Rationierung der an die werktätige städtische Bevölkerung gelieferten Lebensmittel“ vorgenommen werden.152

Im Januar 1928 zeigte Kujbysew, der Vorsitzende des Obersten Volkswirtschaftrats, in einer Rede vor dem ZK den Teufelskreis auf, in dem man sich bewegte: der Bauer halte das Getreide zurück, weil er keine Waren, sondern nur Geld dafür bekomme. Den bäuerlichen Warenhunger müsse man durch mehr und billigere Industrieprodukte stillen, um das Getreide zu bekommen. Gleichzeitig könne man aber nur gegen genügend Getreide und Rohstoffe Maschinen vom Ausland importieren, um die Industrieproduktion weiter anzukurbeln. „Wir müssen also zuerst Getreidebereitstellung und Rohstoffproduktion haben, da wir keine anderen Mittel für Importzwecke besitzen.“ Aber: „Die Passivität der Außenhandelsbilanz ist im November im Vergleich zum Oktober um 8,4% gestiegen. Die Rohstoffproduktion sogar um 9,2% zurückgegangen. Die Getreidebereitstellung zeigte einen sehr beträchtlichen Fehlbetrag.“ Die Lage würde immer schwieriger werden: „Wir erstreben den Wiederaufbau, gehen aber von Monat zu Monat zurück. Es ist also kein Wiederaufbau, sondern – mit scharfen Ausdrücken gesagt – ein langsames Sterben. Deshalb müssen wir, wie ein energischer Arzt, um den Patienten nicht sterben zu lassen, in diesem Fall: unser Wirtschaftsleben, einen ganz energischen operativen Eingriff vornehmen. Denn wir wollen nicht sterben, wir wollen leben!“ Wie dieser Eingriff aussehen solle, konnte er indes nicht angeben, sondern hatte als einzigen Trost parat: „Wenn ich auch vorläufig persönlich keinen realen Ausweg sehe, so will ich damit nicht sagen, daß die Lage verloren ist und daß wir die Flinte ins Korn werfen können. Die Lage 1921 war noch gefährlicher und wir haben sie doch überwunden.“153

Die bürgerlichen Schranken der Oktoberrevolution machten sich geltend: das Land stand Ende der 20er Jahre ökonomisch vor der Alternative, entweder die Wirtschaft endgültig den Bedürfnissen der Dorfreichen zu unterwerfen – oder die Industrialisierung durch die Zerschlagung der Schlüsselstellung der Kulaken voranzutreiben, also die bürgerlichen Schranken der Revolution von 1917 zu überwinden. Politisch stellte sich diese Alternative dar als Fortsetzung der Arbeitermacht – oder als Übergang zu einer Herrschaftsform, deren Träger und Nutznießer die Kulaken sein mußten. Begriffen und ausgetragen wurde die Auseinandersetzung als Kampf um den Sieg des Sozialismus oder des Kapitalismus.

IV. Die zweite Revolution

Die Sowjetunion war 1928 zum erstenmal in aller Deutlichkeit mit den durch die NEP hervorgebrachten Widersprüchen konfrontiert. „Auf dem Lande herrschten inzwischen Angst und Panik, die jederzeit in einen offenen Aufstand umschlagen konnten. Auch die Städte und Industriezentren wurden immer mehr von der allgemeinen Unzufriedenheit erfaßt. Das politische System stand im Sommer 1928 vor seiner schwersten inneren Krise seit dem Kronstädter Aufstand im Frühjahr 1921.“154 War die Arbeiterklasse aber 1921 aufgrund der Erschöpfung durch den Bürgerkriegs zu keiner anderen Politik als der NEP in der Lage, so sah dies Ende der 20er Jahre anders aus.

1. Arbeiterklasse und Partei der „Zweiten Revolution“

Am Vorabend der Oktoberrevolution besaß noch fast ein Drittel (31,1%) der Industriearbeiter eigenes Land im Dorf; ein Fünftel (20,9%) betrieb nebenher selber eine eigene Landwirtschaft. 1918 stammten in der am weitesten entwickelten Industrieregion um Petersburg, dem späteren Leningrad, vier Fünftel (79,3%) der Arbeiter vom Dorf; in anderen Industrieregionen ging der Anteil bis zu 97% hoch.155

Nach der Bevölkerungszählung von 1926 machte die Zahl aller Arbeiter (nicht nur der Industriearbeiter, sondern auch der Eisenbahner und Landarbeiter) 5,6 Mio aus.156 Unter Einbeziehung der Angestellten und landlosen Bauern berechneten die sowjetischen Statistiker 13 Mio als zur „Arbeiterklasse“ gehörig, einschließlich der Angehörigen 32,5 Mio bei einer Gesamtbevölkerung von 147,4 Mio.157 Nur auf die Industrie bezogen, erreichten die Arbeiterzahlen 1926/27 mit dem Ende der Rekonstruktionsperiode wieder den Vorkriegsstand; 1929 gab es an die 4 Millionen Industriearbeiter.

Zusammensetzung und Herkunft der Arbeiterklasse Ende der 20er Jahre erschließen sich aus einer Zählung dreier entscheidender Industriezweige (Metall, Kohle und Textil), die das Präsidium des Zentralrats der Gewerkschaften 1929 vornahm. 50% der Arbeiter kannten danach keine kapitalistische Fabrik, waren also erst nach 1918 in die Fabrik gekommen; dementsprechend war etwa die Hälfte der Arbeiter jünger als 30 Jahre. In der Metallindustrie und im Steinkohlenbergbau, dh. in den Schlüsselindustrien, hatten 35-40% der Arbeiter ihren Arbeitsplatz weniger als 2 Jahre inne. Die enorme Fluktuation hing mit der bäuerlichen Herkunft zusammen; so kamen in der Hüttenindustrie der Ukraine und im Steinkohlenbergbau des Donbass die meisten Arbeiter vom Dorf. Dagegen hatte sich insgesamt die Zahl der Arbeiter verringert, deren Väter Bauern waren; entsprechend mehr waren bereits in der zweiten und dritten Generation Arbeiter. 25% der befragten Arbeiter waren aber noch mit der Landwirtschaft verbunden. Da sie nicht in Kolchosen mitarbeiteten,158 müssen sie in aller Regel obscina-Mitglieder gewesen sein.

Ideologisch spiegelte sich die bäuerliche Abkunft der Arbeiterklasse darin wider, daß Anfang 1924 nur etwa 40% der hauptstädtischen Arbeiterfamilien Bücher besaßen, aber 72% mindestens eine Ikone.159

Die Partei hatte 1905: 8.500 Mitglieder; im Januar 1917: 23.600; Januar 1918: 115.000; 1921 über 500.000; 1924: 350.000; 1927: 774.798 und 1928: 913.221.160

Der sozialen Herkunft nach stieg der Anteil der Arbeiter an der Parteimitgliedschaft insbesondere durch das Lenin-Aufgebot 1924 und das Oktoberaufgebot 1927/28 von 44% (1.1.1924) auf 62,4% (1.1.1929). Der Anteil der Bauern fiel von 28,8% auf 20,7%. Da ein Teil der Arbeiter kontinuierlich in die staatliche Verwaltungstätigkeit wechselte, sehen die Zahlen bei ausgeübter beruflicher Tätigkeit etwas anders aus: Der Anteil der Arbeiter „von der Werkbank“ lag dann am 1.1.1924 bei 15,9%, 1927 bei 38,1% (unter Zugrundelegung engerer Kriterien bei 28,6 %) und 1929 bei 41,1%. Die anderen Parteimitglieder waren 1929 ihrer beruflichen Tätigkeit nach Bauern (12,8%), Angestellte (31,8%) und andere (11,1%: Handwerker, Hausfrauen, Studenten).161

Durch die Aufgebote und eine klassenspezifische Aufnahmepolitik hatte sich die Verankerung der Partei in der Arbeiterklasse erheblich gefestigt. 1929 waren 20-25% der Arbeiter in der Partei oder dem Jugendverband Komsomol organisiert, junge Arbeiter zu einem höheren Grad als ältere. Die Zahlen schwanken von Region zu Region und von Produktionszweig zu Produktionszweig. „Insgesamt erlangte die VKP aber in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre einen besseren Halt in der Arbeiterschaft, als sie ihn vor 1924 besessen hatte.“162 Sie war nicht nur politisch, sondern auch sozial die Partei der Arbeiterklasse.

Nimmt man die Dauer der Mitgliedschaft, so betrug der Prozentsatz derjenigen, die schon vor 1916 Parteimitglied waren, im Jahre 1927 ganze 0,8%, während die 1918-1920 Eingetretenen 19,5% und die 1924-1927 Eingetretenen 71,1% ausmachten.163 Das bedeutet, die alten Bolschewiki bildeten eine winzige Minderheit; die 1918-1920 Eingetretenen waren ebenfalls eine Minderheit, aber eine zahlenmäßig gewichtige Minderheit, geprägt durch die Jahre des bewaffneten Kampfes und die Politik des Kriegskommunismus gegen die Bauern. Sie waren in den gefährlichsten Jahren eingetreten, als die Mitgliedschaft in der Partei lebensgefährlich sein konnte, hatten 1921 nur widerwillig den Rückzug zur NEP angetreten und waren der aktivste, ausschlaggebende Kern der Partei.

Insgesamt war die Partei des großen Sprungs von 1929/30 sehr jung; sie war am stärksten bei den 23-29jährigen Arbeitern verankert. Diese Partei stellte die Massen, die am Ausgang der 20er Jahre zu Zehn- und insgesamt Hunderttausenden auf das Land strömten, um Getreide für die hungernden Städte einzutreiben und den Sozialismus gegen die Bauern durchzusetzen. Das waren diejenigen, die angesichts der scheinbar einfachen Kollektivierung „vor Erfolgen von Schwindel befallen“ wurden und gegen deren Strom sich das Parteizentrum mit Stalin an der Spitze stellen mußte, um die zwangsweise Gründung von Agrarkommunen zu beenden und einen landesweiten Bauernkrieg zu verhindern.

2. 1929 und 1930 – die Jahre der Entscheidung

Im Juli 1928, kurz vor der Ernte, trat das ZK-Plenum zusammen. A.Erlich beschreibt die Perspektive, die sich zu diesem Zeitpunkt bei Fortsetzung der NEP bot: „Um das prekäre Gleichgewicht bei solch starken Erschütterungen (Getreidekrise) zu erhalten, würde das Regime Maßnahmen der direkten Kontrolle mit zusätzlichen Anreizen verbinden müssen (…) und sich den guten Willen der oberen Schichten der Bauern zu sichern, indem man ihnen Möglichkeiten politischer Einflußnahme eröffnete (…) Allerdings mußte man in Betracht ziehen, daß dieser neue Ansatz den entschiedenen Widerstand der radikalen Elemente der Arbeiterklasse und der jungen Intelligenz, die sich von der >Normalität< der NÖP frustriert und abgestoßen fühlten, wachrufen würde (…) Die herrschende monolithische Partei würde sich zu einem Kampfplatz scharf gegensätzlicher organisierter Fraktionen entwickeln, die in der einen oder anderen Weise die Interessen der bewußtesten Gruppen der Gesellschaft verträten. Diese Perspektive war angesichts der innerparteilichen Kämpfe der zwanziger Jahre sicherlich nicht unrealistisch. Die schwankende Haltung, die, wie Stalin meinte, die unteren Instanzen der Parteihierarchie und des Regierungsapparates in den kritischen Monaten des Jahres 1928 zeigten, unterstrich den Ernst der Lage.“164

Damit sind die beiden sozialen Antipoden benannt, gegen die oder zwischen denen Politik zu machen war: auf der einen Seite die oberen Schichten der Bauernschaft, sprich die Kulaken, die die Fortführung und den Ausbau der NEP wollten; auf der anderen Seite die „junge Intelligenz“ und linke Strömungen in der Arbeiterklasse, die für den Abbruch der NEP sobald wie möglich und für den sofortigen Aufbau des Kommunismus waren.

Die Bucharinsche NEP-Mehrheit war mittlerweile nicht mehr unangefochten. Ein Teil der Parteiführung war zu der Überzeugung gelangt, daß die bisherige Politik in eine Sackgasse geriet. Stalin war wahrscheinlich bereits im Vorfeld des XV.Parteitags vom Dezember 1927 zu der Auffassung gelangt, daß die NEP nur noch kurze Zeit durchzuhalten war und die Kulaken in einer Kollektivierungsschlacht geschlagen werden mußten.165 Der Hungerwinter 1927/28 hatte dies bestätigt, als das erforderliche Getreide nur durch Requisitionen beschafft werden konnte und Stalin selber im Januar 1928 in Sibirien für die Beschaffung sorgen mußte. In einer Rede vor dem ZK am 9.Juli 1928 „Über die Industrialisierung und das Getreideproblem“ verteidigte er die Anfang des Jahres getroffenen außerordentlichen Maßnahmen zur Getreidebeschaffung und wandte sich strikt dagegen, derartige Maßnahmen für die Zukunft prinzipiell auszuschließen.166 Er forderte, die Kulaken einzuschränken, und vertrat die Auffassung, daß der Klassenkampf sich mit dem Voranschreiten der Sowjetmacht verschärfen würde.

Einen Tag nach ihm, am 10. Juli 1928, hielt Bucharin seine Gegenrede. Er verurteilte die im Januar d.J. getroffenen Maßnahmen grundsätzlich, weil sie dazu tendierten, „ein System des Kriegskommunismus zu werden“, und forderte die „allseitige Entwicklung der individuellen Bauernschaften bei einer gewissen Verlangsamung des Entwicklungstempos der Sowjetwirtschaften“.167

Die verabschiedete Resolutiom vom gleichen Tag erklärte, „daß die Entwicklung sozialistischer Wirtschaftsformen auf der Grundlage der NÖP nicht zu einer Schwächung, sondern zu einer Verstärkung des Widerstandes seitens der kapitalistischen Elemente führt bei gleichzeitiger noch größerer Stärkung der Sowjetmacht und ihrer Massenbasis“.168 So weit fanden sich Anklänge an Stalins Auffassung von der unausweichlichen Verschärfung des Klassenkampfs. Dennoch konnte Bucharin noch einmal die Mehrheit des ZK hinter sich bringen; der Linkskurs in der Landwirtschaft wurde zurückgewiesen und das ZK sprach sich für die endgültige Beendigung aller außerordentlichen Maßnahmen aus. Um genügend Getreide zu beschaffen, wurde stattdessen der Getreidepreis, je nach Bezirk und Sorte, um 10-20% erhöht.169

Der Sieg der NEP-Fortsetzer stand allerdings auf unsicheren Füßen. Wenn Stalin sich mit den Vertretern der „Linksopposition“ verbündete, bestand die Gefahr, daß die Mehrheitsverhältnisse in der Partei sich änderten. Am 11. Juli traf Bucharin sich heimlich mit Kamenew, dem Vertrauten Sinowjews und Verbündeten Trotzkis aus den Tagen der Vereinigten Opposition. Bucharin bezeichnete die von den Trotzkisten im Januar 1929 in einem Flugblatt bekanntgemachten Aufzeichnungen Kamenews zwar später vor dem ZK als Fälschung, konnte jedoch das Gespräch nicht leugnen, das im übrigen seine politischen Positionen wiedergab. „Ich weiß (oder ich nehme an), daß Stalins Leute sich an Sie wenden werden“, wandte er sich an Kamenew. „Sie, als Politiker, werden natürlich die Situation ausnutzen, den >Preis in die Höhe treiben<, doch davor habe ich keine Angst. Die Sache wird die eine oder andere politische Linie entscheiden, und ich möchte, daß Sie wissen, worum der Kampf geführt wird.“170 Was war der Gegenstand dieses Kampfs?

Zur Wirtschaftspolitik sagte Bucharin, Stalin ginge jetzt wie Preobrashenski davon aus, daß der Sozialismus auf Kosten der Bauern aufgebaut werden müsse. Daraus habe Stalin den von ihm als „idiotische Unbewandertheit“ charakterisierten Schluß gezogen, daß der Sozialismus in dem Maße, in dem er fortschreitet, mit wachsendem Widerstand zu rechnen habe, den nur eine feste Führung niederringen könnte. „Die Politik Stalins führt zum Bürgerkrieg. Er wird gezwungen sein, Aufstände im Blut zu ersticken“.171 Ihn (Bucharin) und seine Leute werde dieser neue „Dschingis-Khan“ als Verteidiger der NEP und der Kulaken angreifen und „abschlachten“. Die Differenzen zwischen ihm selber und Stalin bezeichnete Bucharin als „viel, viel ernsthafter als alle Differenzen, die zwischen uns und Ihnen (Kamenew/Sinowjew; d.V.) bestanden haben.“ Sodann kam er auf den praktisch-politischen Kern der Sache zu sprechen: „Ich, Rykow und Tomski schätzen die Situation übereinstimmend folgendermaßen ein: >Es wäre viel besser, wenn wir im Politbüro anstelle von Stalin jetzt Sinowjew und Kamenew hätten.<„172 Das war ein offenes Angebot.

Daß Bucharin sich nicht an Trotzki wandte und ihm keinen Sitz im Politbüro anbot, lag auf der Hand, denn Trotzki war seit Jahren ein entschiedener NEP-Gegner und Bucharins hauptsächlicher Widersacher. Indessen erreichte Bucharin das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte: Trotzki, der das Gesprächsprotokoll erhielt, sorgte für seine Veröffentlichung als Flugblatt in Moskau unter dem Titel „Man führt die Partei mit verbundenen Augen in die Katastrophe“. Er wollte auf diese Weise ein mögliches Zusammengehen Bucharins mit Kamenew und Sinowjew ohne ihn verhindern.

Das Bündnisangebot an Sinowjew und Kamenew war ebenso inhalts- wie prinzipienlos und erinnert an das Zusammengehen Bucharins mit Trotzki gegen Lenin am Ende der Gewerkschaftskontroverse. Schließlich waren Sinowjew und Kamenew als Gegner der Bauernpolitik 1924/25 in die Opposition gegangen, als der Bucharinsche Ausbau der NEP beschlossen wurde. Auf welcher Basis wollte man jetzt zusammenkommen? Offenbar wurden sie von ihm aber als unsichere Kantonisten und daher als mögliche Verbündete in einem Machtkampf um der Macht willen gegen Stalin eingeschätzt.

Auf dem VI.Weltkongreß vom Sommer 1928 (nach der ZK-Sitzung) wurde Bucharin zwar erneut zum Vorsitzenden der Komintern gewählt, aber sein Rückhalt unter den sowjetischen Delegierten war merklich angeschlagen. Die Veröffentlichung seiner Unterredung mit Sinowjew und Kamenew durch Trotzki trug in der Partei, deren Stimmung ohnehin gegen die NEP umschlug, zu seiner Isolierung bei.

Trotz Erhöhung der Getreideankaufpreise schlug der letzte Versuch einer Aufrechterhaltung der NEP fehl. Wie im Vorjahr blieb die Getreidebeschaffung im Herbst 1928 weit hinter dem Plan zurück. Wegen ungünstiger Witterung, aber vor allem wegen der Zurückhaltung der Bauern wurden nur noch zwei Drittel des Marktgetreides von 1926/27 aufgebracht. Der Beschluß, die staatlichen Getreidepreise zu erhöhen, bewirkte das Gegenteil des Gewollten. Warum sollten die Bauern verkaufen? Abgesehen von den nach wie vor fehlenden Industriewaren hatte die praktische Erfahrung soeben gezeigt, daß die Regierung mehr Geld für das Getreide herausrückte, wenn man die Städte hungern ließ. Wartete man noch länger, würden die Preise noch weiter erhöht werden, denn schließlich brauchten die Städter ja Brot. Wer genügend Getreidevorräte bzw. Geld besaß, um ein paar Monate zu überbrücken – und das waren die Kulaken, aber auch viele Mittelbauern -, hielt sein Getreide zurück; nur die Armen und die Dummen verkauften sofort.

Im Jahr zuvor hatte man vom exportierten Getreide einen Teil reimportieren müssen, um dem drohenden Hunger zu begegnen; jetzt war von vornherein kein Getreide zum Export vorhanden. Am 17.Dezember 1928 berichtete die Prawda von Brotmangel in den Städten und drohte die Bestrafung aller dafür Verantwortlichen an.173 Aber nicht allein die Städte waren vom Hunger bedroht, sondern auch die für die Leichtindustrie produzierenden Agrargebiete. „Die auf Anbau von Flachs, Zuckerrüben und Baumwolle spezialisierten Gebiete im Norden und Südosten konnten nicht mehr zureichend mit Brot versorgt werden“.174 Das demonstrierte praktisch, daß die Industrialisierung auf dem Weg über die Entwicklung der Leichtindustrie nicht länger möglich war.

In den Städten mobilisierte das fehlende Brot die Stimmung nicht allein gegen die Bauern, sondern auch gegen diejenigen in der Partei, die sich vor die Bauern stellten und die NEP verteidigten. „Der Lebensmittelmangel wurde immer deutlicher spürbar, die Stimmung innerhalb der städtischen Bevölkerung spitzte sich zu.“175 In der Partei vollzog sich ein Umschwung. „Erschien den meisten der Verantwortlichen – wie wahrscheinlich der Masse der Parteimitglieder – bis Mitte der zwanziger Jahre der Kurs der >Linken< zu risikoreich, weil sie eine Wiederholung der Bauernunruhen von 1920/21 befürchteten, so kamen ihnen jetzt Zweifel an der vorsichtigen Politik des >dynamischen wirtschaftlichen Gleichgewichts<. Die Getreidekrise traf die Partei wie ein Schock.“176 Wahrscheinlich Ende 1928/Anfang 1929 kippten die Mehrheiten im ZK um. Im Oktober 1928 sprach Stalin zum erstenmal von einer „rechten Gefahr“ in der KPdSU und forderte, nach der Auseinandersetzung mit der „linken“, trotzkistischen Linie jetzt „das Schwergewicht auf den Kampf gegen die rechte Abweichung zu verlegen“.177

Im Gegenzug attackierte Bucharin Ende 1928 alle außerordentlichen Maßnahmen zur Getreidebeschaffung als „militärisch-feudale Ausbeutung“ der Bauernschaft. Anläßlich von Lenins 5.Todestag im Januar 1929 schrieb er Prawda-Artikel, hielt eine Rede und verfaßte eine Broschüre „Das politische Vermächtnis“. Unter Berufung auf Lenin focht er mit allen Kräften für die „Kombination“, die schon Marx für besonders günstig gehalten habe, die Verknüpfung des Bauernkriegs mit der proletarischen Revolution. Das Proletariat dürfe (nach der Februar- und der Oktoberrevolution) keine dritte Revolution anstreben, sondern einen gleichgewichtigen wirtschaftlichen Aufbau, eine friedliche kulturelle Entwicklung und den Aufstieg zum Sozialismus über den genossenschaftlichen Weg.178 Um das zu erreichen, forderte er zusammenfassend: „1) Import von Getreide; 2) entschiedener Verzicht auf außerordentliche Maßnahmen; 3) revolutionäre Gesetzlichkeit.“179 Das war das Gegenprogramm zur Stalinschen Linie und noch einmal ein verzweifelter Versuch, die NEP, wie Lenin sie konzipiert hatte, mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten – aber unter ganz anderen Bedingungen. Klassenmäßig war es ein Kulakenprogramm gegen das Proletariat, auch wenn Bucharin persönlich für die Einschränkung der Kulaken eintrat, ohne indes einen Weg dazu ohne Abbruch der NEP angeben zu können.

Die NEP ging nicht, wie Bucharin gemeint hatte, im Schneckentempo auf den Sozialismus, sondern mit Siebenmeilenstiefeln auf eine ökonomische, soziale und politische Katastrophe zu. Der geforderte Getreideimport bedeutete den Verzicht auf die Industrialisierung. Eine erneute Erhöhung der Weizen-Ankaufpreise hätte letztlich von der Arbeiterklasse gezahlt werden müssen. Die Weiterentwicklung des ländlichen Kapitalismus mußte die Klassendifferenzierung auf dem Dorf vorantreiben und den wachsenden Zustrom armer Bauern in die Städte hervorrufen. Dort konnten sie nicht durch eine beschleunigte Industrialisierung aufgefangen werden, sondern würden die Arbeiterklasse dazu bringen, ihre Stellung ständisch gegen die anschwellenden subproletarischen Millionenmassen abzusichern. Diese Entwicklung, wie sie in den Jahrzehnten nach dem 2.Weltkrieg ähnlich in großen Teilen der 3.Welt einsetzte, zeichnete sich Ende der 20er Jahre als Resultat der NEP in Sowjetrußland ab.

Die Alternative dazu war die von Stalin befürwortete Politik. Als trotz höherer Preise das Getreide ausblieb und ein Hungerwinter drohte, brach sich in der Partei die Politik des Angriffs auf die Kulaken Bahn. In einer die ganze Klasse erfassenden Bewegung strömten Anfang 1929 Zehntausende von kommunistischen Arbeitern und Funktionären aufs Land, um Getreide einzutreiben, die Kulaken zu schlagen, die Kollektivierung voranzutreiben und endlich mit dem Aufbau des Sozialismus ernst zu machen. „Welle um Welle überschwemmten Partei- und Sowjetfunktionäre, Brigaden von städtischen Industriearbeitern sowie Miliz und Komsomol die Dörfer, um die Kollektivierung voranzutreiben. Ein Erfolgstaumel erfaßte sie, und die Regierung tat nichts, um sie zu bremsen.“180 Insgesamt waren es ca. 250.000 Aktivisten, die in diesen Jahren aufs Land gingen, um die neue Politik gegenüber den Bauern durchzusetzen.181

„Als sich jedoch die Erhöhung der Getreidepreise als unzureichend erwies und im Winter 1928/29 die Beschaffungsergebnisse ebenso wie im Vorjahr weit hinter dem Plan zurückblieben, griff man – trotz der wenige Monate zuvor gefaßten Beschlüsse – erneut zu Zwangsmitteln. Die Bauern, die Getreide zurückhielten, wurden nun aus den Genossenschaften ausgeschlossen und erhielten keine Industriewaren und Kredite mehr. Die lokalen Behörden organisierten Dorfversammlungen, um dort mit Hilfe städtischer Parteifunktionäre massiven Druck auf die Bauern auszuüben. Kamen diese der Aufforderung, Getreide abzugeben, nicht nach, so wurden sie entweder zu einer hohen Geldstrafe verurteilt oder häufig auch enteignet und ausgesiedelt. So kam es bereits während der Getreidekampagne 1928/29 zu einer teilweisen >Entkulakisierung<. Die wohlhabenderen Bauern versuchten, sich gegen die Staatsgewalt mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen. Die Presse berichtete in diesem Zusammenhang fast täglich von Brandstiftung, Mord und Totschlag. Zahlreiche Dorfkorrespondenten und Funktionäre fielen dem Gegenterror, der äußerster Verzweiflung entsprang, zum Opfer. Die Getreidebeschaffung aber konnte auch durch Anwendung rigoroser Zwangsmittel nicht mehr gesteigert werden. Der ursprüngliche Plan für 1928/29 blieb unerfüllt, so daß es nur durch eine immer strengere Rationierung gelang, in diesem Jahr ohne Getreideeinfuhr auszukommen.“182 Am 12.Februar 1929 wurde die allgemeine Einführung von Brotkarten angekündigt und einen Tag später die Ausweisung aller „nicht werktätigen Mieter mit einem Jahreseinkommen über 3000 Rubel“ aus den Städten verfügt.183 Das war zusammen mit der im Juli 1929 offiziell verfügten Ablieferungspflicht wie zu Zeiten des Kriegskommunismus das Ende der NEP, auch wenn es offiziell nicht so formuliert wurde.

Ende April 1929 wurde anhand von Stalins Bericht „Über die rechte Abweichung in der KPdSU (B)“ zunächst von einem ZK- und ZKK-Plenum und anschließend von der 16.Parteikonferenz die Entmachtung Bucharins und seiner Anhänger Rykow und Tomski beschlossen. Gleichzeitig wurde der erste Fünfjahrplan angenommen, und zwar in seiner Maximalvariante. „In der Tat begrüßten viele Arbeiter und Parteimitglieder die neue Politik. Sie empfanden sie als Befreiung nach der vorsichtigen Gleichgewichtsstrategie, welche die Wirtschaftskrisen nicht hatte verhindern können, und nach dem Hin und Her des Jahres 1928. Die Spannungen, die aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Produktionsweisen herrührten, schienen endlich gelöst werden zu können. (…) Die Älteren fühlten sich an die harten, aber enthusiastischen Jahre des >Kriegskommunismus< erinnert, die Jüngeren wurden mitgerissen von dem Aufbruch nach vorn und sahen eine bessere Zukunft vor sich. Radikale Programme zur Veränderung von Schule und Ausbildung, Utopien zur Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land, künstlerische Experimente, Massenkampagnen, die durchaus nicht nur >von oben< gelenkt wurden, häuften sich bezeichnenderweise gerade in dieser Zeit.“184 Das Jahr 1929 wurde zum Jahr des großen Umschwungs.

Nachdem der Durchbruch zur Industrialisierung und Kollektivierung einmal erfolgt war, fand Bucharins Position binnen kurzer Zeit in Partei und Arbeiterklasse keinerlei Rückhalt mehr. Mit einemmal politisch völlig isoliert, flüchtete Bucharin zeitweise ins Privatleben, in Literatur und Kunst.185

3. Von der Kulakenvernichtung zur Kollektivierung

Die für die Industrialisierung erforderliche gesicherte Versorgung mit Agrarprodukten war nur jenseits des Kapitalismus, dh. durch die Vernichtung der Kulaken möglich. Als Kulaken wurden alle eingestuft, die jährliche Mindesteinnahmen von 300 Rubel pro Esser (mindestens 1.500 Rubel pro Familie) hatten, die Vermietung von Gerät, Maschinen, Gebäuden vornahmen, Handel betrieben, eine Mühle, Ölpresse o.ä. besaßen. Stalin verkündete Ende 1929 die Aufgabe der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse.“186 Um zu verhindern, daß die Kulaken in den zu Kolchosen umgebildeten obscinas ihre Herrschaft fortsetzten, beschloß das ZK gleichzeitig, sie nicht in die Kolchosen zu lassen.

Die Entkulakisierung traf nach vorliegenden Schätzungen ca. 900.000 Höfe mit 8,5 bis 9 Millionen Personen.187 Stalin selber nannte in einem Gespräch mit Churchill die Zahl von 10 Millionen. Sie wurden massenweise in entlegene Landesteile transportiert, wo sie in Arbeitslagern, Bergwerken, auf Baustellen und Staatsgütern arbeiten mußten. Die Zahlenangaben darüber, wieviele durch die Folgen der Vertreibung starben, schwanken. Die Dorfarmut nahm die Gelegenheit wahr, mit den Kulaken abzurechnen, die ihrerseits vor keiner Gewalttat zurückschreckten, um sich zu verteidigen. Die ganze Barbarei des Dorfes machte sich in den Konflikten geltend.

Der Beschluß, das fehlende Getreide mit Gewalt zu beschaffen, bedeutete nicht, daß die Kollektivierung, so wie sie dann stattfand, von vornherein geplant war. In der Resolution der Parteikonferenz vom April 1929, die die Entmachtung Bucharins und den Angriff auf die Kulaken beschloß, hieß es, „daß auch bei maximal möglicher Entwicklung der Sowjet- und Kollektivwirtschaften in den nächsten Jahren die hauptsächliche Produktionssteigerung in der Landwirtschaft nach wie vor auf die individuelle klein- und mittelbäuerliche Wirtschaft entfallen wird und daß die Kleinwirtschaft ihre Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft hat und auch so schnell nicht erschöpfen wird“.188 Die Wirklichkeit überholte die Parteibeschlüsse. Der Angriff auf den Kulaken zerstörte die Schlüsselfigur des eingespielten Produktionszusammenhangs in den obscina-Dörfern. Als die attackierten Kulaken dazu übergingen, ihre Pferde, Vieh etc. abzuschlachten und womöglich Geräte und Getreide zu vernichten, wurden die Produktionsbedingungen auch für die anderen Gemeindebauern nachhaltig gestört. Der Zusammenschluß zu Produktionsgenossenschaften (Kolchosen), bis dahin bei den Bauern wenig beliebt, wurde in der Folge zum einzigen Ausweg. Hatte Lenin den Sieg des Genossenschaftswesens vorausgesagt, wenn der Sowjetstaat genügend Traktoren produzierte, so „schlossen sich (jetzt) Bauern zu Kolchosen zusammen, weil sie zu wenig Produktionsmittel besaßen.“189

Von dem Sog wurden auch die oberen Mittelbauern erfaßt, die einerseits nicht der Entkulakisierung unterlagen, andererseits im Prinzip genügend Produktionsmittel besaßen, so daß sie nicht auf den Kulaken angewiesen waren und die Abschlachtung des Zugviehs sie nicht betraf. Was aber sollte mit den Umteilungsfeldern geschehen, wenn mehr als die Hälfte des Dorfes in den Kolchos eintrat und sowohl die Feldanteile der vertriebenen Kulaken als auch die besten Böden für den Kolchos beanspruchte? Das Problem war umgekehrt wie seinerzeit bei den Stolypinschen Reformen: damals war in der Regel das Dorf entweder komplett oder gar nicht aus den Verpflichtungen der Dorfgemeinde ausgeschieden. Jetzt trat man gemeinsam in den Kolchos ein, um nicht den gleichen Anspruch auf Land zu verlieren.

Im Winter/Frühjahr 1932/33 gab es in verschiedenen Gebieten der Sowjetunion eine Hungersnot, im wesentlichen dort, wo das Privatbauerntum verbreitet war, vor allem in der Ukraine. Relativ fruchtbar und klimatisch begünstigt, lag hier das größte Getreide-Überschußgebiet der Sowjetunion. Die Dorfgemeinde existierte nur noch in Überresten. Darum hatten die Bauern hier vom Kolchos viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Entsprechend erbittert war der Widerstand. Weil so viele Pferde abgeschlachtet wurden, stieß die Bebauung der Felder auf Schwierigkeiten. Nur mit militärischer Gewalt waren die Bauern zur Arbeit zu bewegen und mußten sich teilweise selber vor den Pflug spannen.

Inzwischen hatte das Stalingrader Traktorenwerk mit der Serienproduktion von Traktoren begonnen. Staatliche Maschinen-Traktor-Stationen wurden aufgebaut und die massenhafte Ausbildung von Traktorfahrern begann. Nach mehreren Ein- und Austrittswellen stabilisierte sich die Kolchosbewegung zum gleichen Zeitpunkt, in dem Teile des Landes Hungersnot litten. Ende 1932 waren insgesamt 14,7 Millionen Bauernwirtschaften, das waren 61,5 % aller Höfe, in 211.700 Produktionsgenossenschaften organisiert.190 Sie verfügten über drei Viertel der Anbaufläche. Insbesondere war mit vier Fünftel der Getreidewirtschaften die durchgängige Kollektivierung der Hauptanbaugebiete für Getreide erreicht.191 Damit waren die entscheidenden Bedingungen für die Industrialisierung gegeben: die Versorgung der Städte mit Brot und die ausreichende Ausfuhr von Getreide. Daher wurde 1932/33 der „Sieg des Sozialismus“ festgestellt und Ende 1936 in die neue Verfassung aufgenommen. Am 7.12.1934 wurde das Kartensystem aufgehoben192 und bis 1939 die restliche Kollektivierung vollzogen.

Hätte der Sprung früher stattgefunden, wäre die Sowjetmacht in ernste Gefahr geraten. Die Arbeiterklasse war noch zu schwach; die industrielle Produktion war nicht genügend vorangeschritten, um zur massenhaften Herstellung von Traktoren überzugehen; nicht zuletzt konnten die Sowjetwirtschaften 1929 mehr Getreide als in den Jahren zuvor produzieren und so die Kulakenproduktion besser ausgleichen. Stalin sagte darum noch Ende 1929 im Rückblick: „In den Jahren 1926 und 1927 suchte die sinowjewistisch-trotzkistische Opposition mit aller Kraft, der Partei die Politik der sofortigen Offensive gegen das Kulakentum aufzudrängen. Die Partei ließ sich auf dieses gefährliche Abenteuer nicht ein (…) Konnten wir vor fünf oder vor drei Jahren eine solche Offensive mit Aussicht auf Erfolg unternehmen? Nein, das konnten wir nicht.“193

Trotzki glaubte trotz des bereits ausgebrochenen Linienkampfs bis zuletzt nicht an eine Wende im Politbüro. Stalins Attacke gegen die Anhänger Bucharins, die sogenannten „Rechten“, wurde von ihm als „Scheinkampagne“ bezeichnet, die „den Auftrag feindlicher Klassen“ erfüllen würde. Er war der festen Überzeugung, daß die NEP nicht rückgängig zu machen sei, sondern fortgesetzt werde und der Kapitalismus unausweichlich siegen würde, wenn nicht die von ihm – Trotzki – geführte Opposition die Macht übernehme. Der Kampf gegen das ZK und gegen Stalin wurde für ihn mehr und mehr zum Selbstzweck. Im Januar 1929 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Seine Vorwürfe besaßen noch solange eine bestimmte Logik, wie Stalin und Bucharin wegen ihrer Befürwortung der NEP gleichermaßen als Förderer der Kulaken und des Kapitalismus angegriffen werden konnten. Als sich die NEP 1929 und 1930 aber im Feuer der Industrialisierung und Kollektivierung auflöste, fiel nicht nur die Theorie Trotzkis über den „Thermidor“, sondern auch die Opposition in sich zusammen. Von einem Großteil seiner Anhänger unter Einschluß der führenden Köpfe wurde der Angriff auf die Bauernschaft vehement begrüßt; endlich werde das Programm der Linken verwirklicht. Preobrashenski an der Spitze, kehrten sie zurück zur Partei und wurden wieder mit verantwortlichen Aufgaben betraut. Preobrashenski selber meinte in einer Rede 1934: „Kollektivierung – das ist die Krux der Sache! Hatte ich diese Prognose der Kollektivierung? Nein!“194 Mit den Anhängern Trotzkis kam auch die nichttrotzkistische Linke zurück zur Partei, Sinowjew und Kamenew vorweg, die Anfang der 30er Jahre ebenfalls wieder führende Positionen bekleideten.

Trotzki selber hätte das Scheitern seiner Theorien einsehen und Selbstkritik leisten müssen, um in die Partei zurückzukehren. Dazu war er persönlich völlig unfähig. Bereits die Hinwendung zur bolschewistischen Partei und das Zusammengehen mit Lenin in der Oktoberrevolution war ihm nur möglich gewesen, weil er durch den Ablauf der Revolution bis hin zum Kriegskommunismus seine Theorie der permanenten Revolution bestätigt glaubte und Lenin selber auf ihn zugerückt war. Unter den Bedingungen der 30er Jahre und gegenüber Stalin war Trotzki zu einem ähnlichen Schritt nicht in der Lage. Seine ganzen Theorien über die Entwicklung der Sowjetunion schmolzen auf eine inhaltsleere, wieder und wieder beschworene Bürokratie-Kritik zusammen. Bis 1929 war der „Thermidor“ bei ihm noch die drohende prokapitalistische Konterrevolution der Parteiführung mit Bucharin an der Spitze, gestützt auf die Kulaken, gewesen, hatte also einen klassenmäßigen Inhalt gehabt. Jetzt wurde der „Thermidor“ als klassenloser „Sieg der Bürokratie über die Massen“ umdefiniert,195 und Stalin war der geistlose Oberbürokrat.

Auf dieser Basis betrieb das verbliebene Häuflein seiner Anhänger weiterhin organisierte Oppositionsarbeit in der Sowjetunion und schreckte auch vor Gewaltanwendung nicht zurück. Deutscher schreibt, daß „gerade die tätigsten und energischsten unter den jungen Oppositionellen“ mit einer nur politischen Opposition unzufrieden waren und so Jahrzehnte nach den Zarenattentätern erneut „Revolver und die Handgranate in die Hände einiger ungeduldiger antistalinistischer Komsomolzen“ gerieten.196

V. Der Kampf um den Kolchos

Die Stabilisierung der Kolchosbewegung war nur möglich, indem Produktionsverhältnisse geschaffen wurden, die sowohl von den Bauern akzeptiert wurden als auch garantierten, daß der Staat genügend Getreide für die Städte und den Export erhielt. Im Streit um die konkrete Form des Kolchos ging es um die Alternative „Agrarkommune“ oder „Artel“. Die Konsequenzen daraus berührten die Frage der Stellung der Bauernschaft im Sowjetstaat insgesamt.

1. Zwei Agrarprogramme

Im ersten Ansturm auf die unorganisierte Bauernschaft durch Arbeiterklasse und Partei konnten nicht nur die Kulaken vertrieben werden, sondern schien es möglich zu sein, die Kollektivierung innerhalb Jahresfrist durchzuführen und die Bauern darüber hinaus fabrikähnlich in Agrarkommunen zu organisieren. Eine solche Politik richtete sich aber nicht mehr allein gegen die Kulaken, sondern auch gegen die Mittelbauern, dh. gegen die Masse von fast zwei Dritteln der Bauernschaft.

Ende 1929 griff der bäuerliche Widerstand immer weiter um sich. Bucharin sprach von ca. 150 lokalen Bauernaufständen 1929/30. Eine Korrektur der Bauernpolitik wurde unumgänglich, wenn das Land nicht in einen allgemeinen Bauernkrieg hineingerissen werden sollte. In einem berühmt gewordenen Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“197 vom März 1930 sowie einen Monat später in einer „Antwort an die Genossen Kollektivbauern“198 leitete Stalin diese Kurskorrektur ein. Als entscheidenden politischen Fehler, als „Wurzel“ aller Fehler nannte er die falsche Behandlung des Mittelbauern.199 Drei Fehler zählte er im einzelnen auf: die Verletzung der Freiwilligkeit; die fehlende Berücksichtigung der geographischen und regionalen Unterschiede; schließlich das Überspringen einer noch nicht abgeschlossenen Form der Bewegung: manche Genossen seien gleich zur (vollständig vergesellschafteten) Agrarkommune übergegangen, statt zunächst die „Artels“ zu festigen, in denen die Bauern Hof und Hofland sowie eine begrenzte Anzahl eigenen Viehs behalten durften.

Im Rechenschaftsbericht an den XVII.Parteitag 1934 nahm Stalin erneut zur Alternative „Kommune“ oder „Artel“ Stellung: „Nein, die Kommune ist notwendig, und sie ist natürlich die höchste Form der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, aber nicht die jetzige Kommune, die auf der Basis einer unentwickelten Technik und des Mangels an Produkten entstanden ist und die jetzt selber zum Artel wird, sondern die künftige Kommune, die auf der Basis einer höher entwickelten Technik und einer Fülle von Produkten entstehen wird… (Sie) wird entstehen, wenn auf den Feldern und in den Farmen des Artels Getreide, Vieh, Geflügel, Gemüse und alle anderen Produkte im Überfluß vorhanden sein werden, wenn in den Artels mechanische Wäschereien, moderne Küchen und Speisehallen, Brotfabriken etc. errichtet sein werden, wenn der Kollektivbauer erkannt haben wird, daß es für ihn vorteilhafter ist, Fleisch und Milch von der Farm zu beziehen, als eine eigene Kuh und Kleinvieh zu halten, wenn die Kollektivbäuerin erkannt haben wird, daß es für sie vorteilhafter ist, in der Speisehalle zu Mittag zu essen, Brot von der Brotfabrik zu beziehen und die Wäsche in der gesellschaftlichen Wäscherei waschen zu lassen, als sich selbst damit abzugeben.“200

In den Kommunen, führte er aus, seien im Gegensatz zum Artel nicht nur die Produktionsmittel vergesellschaftet, sondern auch die Hauswirtschaft jedes Kommunemitglieds. Die Kommunemitglieder besäßen im Gegensatz zu den Artelmitgliedern weder eigenes Hofland, noch ein Stück Vieh, Kleinvieh, Geflügel oder Getreide. „Das bedeutet, daß die persönlichen, die Tagesinteressen der Mitglieder in den Kommunen nicht so sehr berücksichtigt und mit den gesellschaftlichen Interessen verknüpft als vielmehr durch die letzteren um einer kleinbürgerlichen Gleichmacherei willen in den Hintergrund gedrängt wurden.“201 Viele Landkommunen gingen so weit, die Bezahlung der Mitglieder wie bei Fabrikarbeitern vorzunehmen, was in diesem Fall hieß, daß alle denselben Lohn erhielten, unabhängig von der geleisteten Arbeit und bestenfalls entsprechend der Anwesenheit auf dem Feld. Teilweise erfolgte die Verteilung der Erträge auch entsprechend der Anzahl der Familienmitglieder.

Die von Stalin attackierte „kleinbürgerliche Gleichmacherei“ war der Versuch, den Interessen der Dorfarmut entgegenzukommen, die nur wenig eigenes Vieh besaß und daher von der vollständigen Vergesellschaftung des Viehs (der andern) nur profitieren konnte. Zum Teil – Hirten z.B. – hatte sie nicht einmal Anspruch auf eine Hofstelle im Dorf, so daß auch die Vergesellschaftung des Hoflands (der anderen) ihr entgegenkam. In der Partei war es das Agrarprogramm der Linken, die – „vor Erfolgen von Schwindel befallen“ – glaubten, jetzt endlich ohne weiteren Aufenthalt in den Kommunismus marschieren zu können. Im ersten Entwurf des Kolchos-Musterstatuts vom Februar 1930 kam der eigene „Hof“ nicht mehr vor. Nach diesem Entwurf gab es weder den Anspruch auf ein Stück Privatland noch auf eigenes Vieh/Kleinvieh.202 „Es gab Projekte, die ländliche Bevölkerung in >Agro-Städten< zusammenzufassen, wobei diese Siedlungen den Mittelpunkt für gigantische Kollektivwirtschaften und riesige, hochtechnisierte agro-industrielle Kombinate bilden sollten. In geradezu phantastischer Verkennung der Realitäten hielten manche diesen Zustand innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre für erreichbar.“203

Mit ihrer Politik knüpften die Linken an den Beginn des Kriegskommunismus an, als die Bolschewiki „Komitees der Dorfarmut“ ins Leben gerufen hatten und und Lenin vorübergehend meinte, daß die Entfesselung der Besitzlosen im Dorf den Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution bedeuten würde. Seinerzeit hatte man die Komitees der Dorfarmut schleunigst wieder auflösen müssen, weil die Dorfarmen nicht beim Kampf gegen die Kulaken Halt machten, sondern alle „Besitzenden“, dh. auch die Mittelbauern, drangsalierten. Dasselbe Resultat hatte die Agrarpolitik der Linken mehr als zehn Jahre später, als sie versuchten, die Bauern in die Agrarkommunen hineinzutreiben. Die Entkulakisierung wurde gefährdet, denn Mittelbauern und Kulaken wurden durch das linksradikale Vorgehen zusammengeschweißt und es drohte ein Aufstand des ganzen Landes gegen die Sowjetmacht. Stalin warnte davor, daß die begangenen Fehler die „Tendenz“ enthalten würden, „uns vom Wege der Festigung der proletarischen Diktatur abzudrängen auf den Weg des Bruches mit diesen Massen“.204

Der Agrarpolitik der Linken gegenüber verfocht Stalin ein Agrarprogramm, das die Interessen der Mittelbauern berücksichtigte und nach einer Reihe von Auseinandersetzungen in Gestalt der sog. „Stalin-Reformen“ in den kommenden Jahren durchgesetzt wurde. Als erstes wurde dem ursprünglichen Entwurf schon im Statut von 1930 das Recht auf ein Stück privaten Hoflands festgeschrieben. Des weiteren durften die Kolchosen seit 1932 nach Erfüllung der Pflichtverkäufe (Ablieferung) an den Staat mit ihren Erzeugnissen frei handeln – zu wesentlich höheren als den staatlichen Ankaufpreisen. Durch die Auflösung der meisten bestehenden Sowchosen, dh. von Staatsgütern, erhielten die Kolchosen mehr als 16 Mio. Hektar Boden aus Staatsbesitz.205 Um seine Position zu stützen, erwähnte Stalin im Rechenschaftsbericht von 1934, daß die vorhandenen Kommunen, um nicht auseinanderzufallen, z.T. bereits von sich aus dazu übergegangen waren, auf die Vergesellschaftung der Hauswirtschaft zu verzichten, persönlichen Besitz von Kleinvieh zu gestatten und die Arbeit nach Tagewerksnormen zu bezahlen. „Und daran ist nichts Schlimmes, denn das erfordern die Interessen der gesunden Entwicklung der Kollektivierung als Massenbewegung.“206 Schon 1930 hatte Stalin vorgeschlagen, selbst die „alten“ Agrarkommunen der 20er Jahre, die bis dahin überstanden hatten, in Artels umzuwandeln.207 Das geschah in der Folgezeit auch, so daß schließlich die Kommunen auf dem Land vollständig verschwanden und nur noch die Artel-Kolchosen sowie daneben ein Teil der Staatsgüter (Sowchosen) übrigblieben.

Den Kern des Stalinschen Agrarprogramms bildete das „Artel“ als maßgebliche Organisationsform der Kolchosen. Seine Grundzüge wurden in Weiterentwicklung des Statuts von 1930 in einem Musterstatut vom Februar 1935 festgelegt.208 Danach wurden die Felder des Dorfes zur gemeinsamen Bebauung zusammengelegt und die wichtigsten Produktionsmittel, dh. die Masse des Viehs, die Pferde und die wenigen Privattraktoren, vergesellschaftet. Der Staat baute Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) auf, deren Tätigkeit den Kolchosen gegen Zahlung in Naturalien zur Verfügung stand. Die Kolchosbauern durften ein Stück Hofland (je nach Gegebenheiten 1/4 bis 1/2 ha, in einigen Gegenden auch 1 ha), das in unterschiedlichen Größen schon in der obscina regelmäßig zu jedem Hof gehört hatte, weiterhin privat bewirtschaften. Sie hatten das Recht, Geflügel und Kaninchen in unbegrenzter Zahl sowie eine begrenzte Anzahl Groß- und Kleinvieh zu halten. In den reinen Ackerbaugebieten (Anbau von Getreide, Baumwolle, Kartoffel, Gemüse etc; dh. im größten Teil Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine) waren das 1 Kuh mit bis zu 2 Jungrindern, 1-2 Mutterschweine mit Nachzucht sowie 10 Ziegen und Schafe. In Ackerbaugebieten mit entwickelter Viehzucht (u.a. Teile Rußlands, Weißrußlands, der Ukraine, Sibiriens sowie der Fernöstlichen Region) wurden 2-3 Kühe mit Jungvieh, 2-3 Mutterschweine mit Nachzucht sowie 20-25 Schafe und Ziegen zugelassen. In Viehzuchtgebieten (u.a. in Kasachstan, Turkmenien, Tadshikistan, Kirgisien, Armenien und Georgien) verdoppelte sich diese Zahl noch einmal und es kamen zwei Pferde, Esel oder Kamele dazu. In den nomadischen Landesteilen schließlich, wo „die Viehzucht die allumfassende Wirtschaftsform ist“, konnte jeder „Kollektivbauernhof“ – sprich jede Nomadenfamilie 8-10 Kühe und Jungvieh, 100-150 Schafe und Ziegen sowie 10 Pferde und 5-8 Kamele halten.

Das Recht auf die eigene Kuh – für viele Bauern und insbesondere Bäuerinnen eine ausschlaggebende Frage – gab es allerdings erst seit 1931/32, als Bestandteil des Rückzugs von den linken Überspitzungen. Dazu bemerkte Stalin auf dem ersten Unionskongreß der Stoßarbeiter Anfang 1933, speziell an die Frauen gewandt: „Gewiß, es hat zwischen der Sowjetmacht und den Kollektivbäuerinnen vor nicht langer Zeit ein kleines Mißverständnis gegeben. Es handelte sich um die Kuh. Jetzt aber ist die Sache mit der Kuh geregelt und das Mißverständnis beseitigt.“209

Je nach der betriebenen Agrarpolitik gab es zunächst mehrere Ein- und Austrittswellen. In dem Maße, wie die Stalinsche Agrarpolitik sich durchsetzte und die Traktoren geliefert wurden, stabilisierten sich die Kolchosen. Das schließlich realisierte Agrarprogramm des Parteizentrums enthüllt, warum die Kollektivierung letzten Endes so schnell und so erfolgreich durchgeführt werden konnte: sie brach nicht nur mit den hergebrachten Verhältnissen und wandte sich nicht nur gegen Interessen der Mittelbauern, sondern kam den Interessen der bäuerlichen Masse gleichzeitig entgegen. Im Kern bedeutete die Kollektivierung die Umwandlung der Dorfgemeinde in den Kolchos unter Beseitigung des Individualbauerntums und Beibehaltung wichtiger Züge der Gemeindeverfassung. Das vorherige obscina-Dorf, meist aus einigen dutzend bis wenigen hundert Menschen bestehend, wurde zum Kolchos.

Da der Boden sowieso nationalisiert war, war mit der Kollektivierung des Landes „nur“ das Ende der regelmäßigen Auf- und Umteilung des Bodens verknüpft. Die Bauern verloren ihre Selbständigkeit als Kleinproduzenten und die bessergestellten Bauern – Mittelbauern – mußten einen Teil des eigenen Viehs an die Genossenschaft abgeben. Die Kollektivierung des Viehs und der anderen Produktionsmittel des Kulaken beseitigte aber zugleich die Abhängigkeit der Masse der Bauern von den Dorfreichen. Außerdem machte die Vertreibung der Kulaken aus dem Dorf und ihre Nicht-Zulassung zu den Kolchosen die regelmäßig vorhandenen Schulden vieler Dorfbewohner bei den reichen Bauern hinfällig. Durch das Verschwinden der Kulaken entfiel auf jeden Kopf der Dorfgemeinde zugleich mehr Land als vorher.

Der Widerstand gegen die Kollektivierung wurde bis zuletzt nur von den Kulaken der obscina-Dörfer sowie von der Einzelbauernschaft in Sibirien und hauptsächlich in der Ukraine getragen. Der „Kurze Lehrgang“ konnte daher über die revolutionäre Umwälzung dieser Jahre schreiben: „Die Eigenart dieser Revolution bestand darin, daß sie von oben, auf Initiative der Staatsmacht, mit direkter Unterstützung von unten, durch die Millionenmassen der gegen das Kulakenjoch und für ein freies kollektivwirtschaftliches Leben kämpfenden Bauern, vollzogen wurde.“210 Die Dorfarmut, die nach vorübergehenden Erfolgen wieder zurückgedrängt wurde – wie schon 1919 -, stellte vermutlich die Masse derjenigen Dorfbewohner, die in die Städte und in die Fabriken gingen.

2. Einige Daten des Kolchos

Zwar war formaler Eigentümer des Bodens der Staat. Besitzer aber war der Kolchos, der sein obscina-Land nach- wie vorher eifersüchtig gegen jeden, dh. gegen die benachbarten Dorfgemeinden verteidigte. Das Musterstatut legte ausdrücklich fest, daß „Größe und genaue Grenzen“ des Artel-Landes in einer Urkunde festgelegt und der Boden „dem Artel zu unbefristeter Nutzung, das heißt für immer zuerkannt“ würde.211 Darin spiegelt sich wider, daß der Kolchos in der Masse der Fälle ein umgewandeltes obscina-Dorf war.

Die Mitgliederversammlung war das höchste Organ des Kolchos und übernahm die Funktion der Dorfversammlung der obscina. Sie hatte über die entscheidenden Angelegenheiten zu beschließen; dazu gehörte die Bestätigung des Produktionsplans und der Arbeitsnormen sowie der Menge an Naturalerzeugnissen und Geld, die pro Arbeitseinheit ausgezahlt werden sollten. An die Stelle des Dorfältesten trat der Artel-Vorsitzende, den die Mitgliederversammlung zusammen mit dem Vorstand sowie einer Revisionskommission auf 2 Jahre wählte. Der Vorstand mit dem besonders hervorgehobenen Artel-Vorsitzenden an der Spitze führte die laufenden Geschäfte; gemäß dem Musterstatut von 1935 mußte nur die Revisionskommission vom Staat bestätigt werden, nicht der Artel-Vorsitzende oder der Vorstand.

An ihrem Hofland und dem dazugehörenden Vieh und Geräten hatten die Bauern kein individuelles Recht. Das Nutzungs- bzw. Besitzrecht war an den Hof als solchen geknüpft; es stand dem Haushalt zu, der im Regelfall mehrere Familienmitglieder umfaßte. „In dieser Rechtslage spiegelte sich nicht sowjetisches Zivilrecht wider, sondern Teile des altrussischen Bauernrechts der Zarenzeit und des ersten Jahrzehnts nach der Revolution, die von der Kollektivierung nicht verändert wurden.“212 Das heißt, in diesem Punkt wurde die obscina fortgesetzt. Für ihre privaten Tiere hatten die Kolchosmitglieder außerdem das Weiderecht auf dem Kolchosland und den Staatsgütern bzw. das Recht, dort Heu zu machen213 – ebenfalls überkommenes obscina-Recht.

Der Unterschied zwischen obscina und Kolchos lag darin, daß die Masse des Bodens jetzt nicht mehr der Umverteilung unterlag, kollektiv statt indidviduell bearbeitet wurde, die vorhandenen Produktionsmittel (vor allem Gebäude, Pferde und Pflüge; in den Gebieten, wo Viehzucht überwog, auch die Viehherden) in Genossenschaftseigentum überführt wurden und die künftig entscheidenden maschinellen Produktionsmittel (in den Maschinen-Traktor-Stationen) Staatseigentum blieben. Wie Friedrich Engels schon 1886 an August Bebel geschrieben hatte, sollte das Staatseigentum an den Maschinen verhindern, daß sich „die Sonderinteressen der Genossenschaft gegenüber der Gesellschaft im Ganzen“214 festsetzten. Das war ein entscheidender Hebel der Arbeiterklasse zur Kontrolle der Bauern und zur Sicherung des Wegs zum Kommunismus.

Mit ihrer individuellen Produzentenfreiheit verloren die Bauern auch die Verfügungsgewalt über den größten Teil ihres Mehrprodukts. Da viele russische Bauern vorher jedoch mehr oder weniger Subsistenzproduktion betrieben hatten, mit nur geringen oder unregelmäßigen Überschüssen für den Marktverkauf, machte sich das für sie nur bedingt bemerkbar.

Die Erzeugnisse des Kolchos teilten sich wie folgt auf:
– ein Teil wurde als Saatgut für das kommende Jahr und als Reservefonds gegen Mißernte und Futtermangel zurückgelegt;
– eine bestimmte Menge erhielten die Kolchosmitglieder als naturales Einkommen;
– ein weiterer Teil (ein bestimmter Prozentsatz) der Ernte mußte als naturale Gegenleistung für die Maschinenarbeit der MTS abgegeben werden;
– ein umfangmäßig feststehender Teil, der auch in den Plan aufgenommen wurde – dh. eine Jahr für Jahr gleiche Größe -, mußte zu festgelegten Preisen an den Staat verkauft werden (die sog. Pflichtablieferungen);
– ein Teil waren überplanmäßige Lieferungen, dh. über den Plan hinaus produzierte Mengen, die freiwillig und zu höheren Preisen (etwa in der Mitte zwischen Pflichtablieferungspreisen und freien Marktpreisen) an den Staat verkauft wurden;
– ein letzter Teil schließlich konnte auf den Kolchosmärkten, auf denen die Preise sich durch Angebot und Nachfrage bildeten, frei verkauft werden. Der Zwischenhandel („Spekulanten“) war jedoch streng verboten und der Verkauf von Getreide ab 1932 erst nach Beendigung der jährlichen Erfassungskampagne, dh. nach Erfüllung der Pflichtablieferungen, gestattet.

Das Marktaufkommen an Getreide (Abgaben an die MTS, Pflicht- und freiwillige Verkäufe an den Staat, freier Marktverkauf zusammengenommen) stieg nach Stalins Bericht an den XVIII.Parteitag zwischen 1926/27 und 1938 von 12% auf 40% des produzierten Getreides.215 Die 12% Marktanteil der Produktion von 1926/27 betrafen allerdings ausschießlich die individuellen Bauernwirtschaften, während die Zahl von 1938 den Marktanteil von Kolchosen und Sowchosen zusammen benennt.

Für das Jahr 1937 – ein Ernterekordjahr – berichtete Stalin, daß die staatliche „Getreideaufbringung“ 1800 Mio.Pud Getreide betrug, 200 Mio freiwillig an den Staat verkauft wurden, und mehrere 100 Mio Pud im Kolchoshandel, dh auf den privaten Märkten umgesetzt wurden.216 Wieviel „mehrere hundert“ Mio Pud das genau waren, konnte Stalin nicht berichten, vielleicht, weil die tatsächlichen Verkäufe höher lagen als die offiziell angegebenen (da auf die Marktverkäufe Steuern zu zahlen waren, wurden sie möglichst verschwiegen oder niedriger beziffert). Überhaupt blieb die Kontrolle des Getreides schwierig. So wurde nach schlechten Erfahrungen nicht länger die tatsächliche (bzw. dem Staat angegebene) Ernte als Maßstab für die Bezahlung der Maschinenarbeit der MTS genommen, sondern die geschätzte Halmernte; der dementsprechen abzuführende Teil der Ernte stieg mit fortschreitender Mechanisierung bis Ende der 30er Jahre von ursprünglich 20% auf ca 40% des Marktanteils überhaupt, erreichte also den gleichen Umfang wie die Pflichtablieferungen.217

Die Arbeit auf dem Kollektivland wurde nach festgelegten Tagewerksnormen abgerechnet. Es erfolgte also keine Anrechnung nach der Leistung, sondern nach der Norm: jedes arbeitsfähige Kolchosmitglied hatte pro Arbeitstag eine bestimmte Strecke Land zu bearbeiten bzw. eine festgelegte Menge Vieh zu versorgen. Abgesehen von den Naturalien, die jedes Kolchosmitglied für seine Arbeit erhielt, wurden am Ende des (Rechnungs-)Jahres die nach Abzug der Steuern, Anschaffungen und laufenden Aufwendungen (u.a. für Reparaturen, Tierarztkosten, Ausbildung von Kolchosmitgliedern, Kinderkrippen etc) verbliebenen Geldeinkünfte des Kolchos entsprechend der geleisteten Arbeitseinheiten auf die Mitglieder aufgeteilt. Darauf konnten schon vorher Vorschüsse gezahlt werden.

Ähnlich wie die Kolchosproduktion war auch die Privatproduktion geregelt. Von der individuell genutzten Hofparzelle hatten die Bauern ein festgelegtes Pflichtquantum an Produkten (Gemüse, Kartoffeln, Fleisch, Eier) dem Staat zu ebenfalls festgelegten Preisen zu verkaufen. Diese Normen waren zu erfüllen, und wenn die Bauern die abzuliefernden Eier selber auf dem Kolchosmarkt kaufen mußten. Die restlichen Produkte konnte der Kolchosnik, soweit er sie nicht selbst verzehrte, frei verkaufen. Diese Einkünfte wurden besteuert. Die Hoflandproduktion sicherte die Subsistenz der russischen Bauern, da bis zu den 50er Jahren die Arbeit im Kolchos wenig einbrachte: die Getreideversorgung (Brot) wurde durch den Naturalteil des Kolchos“lohns“ abgedeckt, und Fleisch und Gemüse kamen vom eigenen Land. Das Mehrprodukt wiederum stellte sich teils als Zwangsabgabe an den Staat (Pflichtverkäufe), teils als Ware (Verkauf auf dem Kolchosmarkt) dar. Die Hoflandproduktion bildete insoweit ein Spiegelbild der Kolchosproduktion, nur daß das Produkt nicht von einem kollektiven, sondern einem individuellen Produzenten hergestellt wurde, dessen Produktionsmittel in Privateigentum standen. 1940 kamen 72% des Fleischs, 77% der Milch und 94% aller Eier aus der Privatproduktion.218 Der Wertanteil der Privatproduktion an der gesamten Agrarproduktion betrug 1937 nach offiziellen Angaben 27,8%; nach anderen Angaben (Barsow) lag er bei 43%.219 Schon wegen der unterschiedlichen Preise, die der Berechnung jeweils zugrundelegt werden können und in den Veröffentlichungen nicht geklärt sind, müssen hier Differenzen auftauchen: werden alle Produkte zunächst auf einen einheitlichen Preis umgerechnet und auf dieser Basis miteinander verglichen? Wenn ja – ist der staatliche Planpreis, der Preis für den freiwilligen Verkauf an den Staat oder der freie Marktpreis Grundlage der Vergleichsberechnung? Oder sind einfach die Summen der zu unterschiedlichen Preisen getätigten Verkäufe zusammengerechnet und miteinander verglichen worden?

Der staatliche Getreidepreis bei der Plan-Pflichtablieferung betrug 10-20 Rubel je dz. Weizen.220 Er lag um ein Mehrfaches unter den freien Preisen; vorhandene Berechnungen sind unterschiedlich; sie gehen bis zu einem Verhältnis von 1:10. Otto Schiller nimmt an, daß etwa 30-40% der sowjetischen Staatseinnahmen auf die Differenz zwischen den vom Staat an die Kolchosbauern gezahlten Erzeugerpreisen und den von den Konsumenten in den staatlichen Läden gezahlten Lebensmittelpreisen entfielen.221 Damit wurde ein Teil der Industrialisierung finanziert; nach vorliegenden Schätzungen soll der Anteil des landwirtschaftlichen Mehrprodukts an der Industrialisierung aber nur bei 17-20% gelegen haben222 – wie auch immer dies mit den von Schiller geschätzten 30-40% der Staatseinnahmen übereinstimmt.

3. Über die genossenschaftliche Produktionsweise

Die Produktionsweise des Kolchos auf den Begriff zu bringen, ist schwierig, weil vieles noch offen, vielleicht auch nur dem Autor nicht bekannt oder unklar ist. So fehlen Angaben über das genaue Mengenverhältnis zwischen den Pflichtablieferungen, den Abgaben für die MTS, dem freiwilligen Verkauf an den Staat und dem Verkauf auf den Kolchosmärkten. Stalin gibt nur aus dem Rekordjahr 1937 Zahlen, als es nicht nur leicht war, den Plan zu erfüllen, sondern gleichzeitig genügend Getreide für den freiwilligen Verkauf an den Staat sowie für den Marktverkauf zur Verfügung stand.

Wie sah das Verhältnis zwischen den verschiedenen Verkaufspreisen und im Vergleich zu den Weltmarktpreisen aus? Wie wurden die Leistungen der MTS berechnet und wie ist die Bezahlung zu bewerten? Wie entwickelten sich die Einkünfte der Kolchosbauern durch die Arbeit im Kolchos einerseits, den Verkauf der privaten Hoflandproduktion andererseits? Zu welchen Anteilen setzte sich die Hoflandproduktion aus selbst verzehrten Lebensmitteln, den Pflichtablieferungen und frei verkauften Waren zusammen? Wie sahen neben den Mengen- die Preisrelationen aus? Etc, etc.

In dem Bericht von 1939 gab der Generalsekretär, wie schon erwähnt, die Steigerung des Marktanteils der Getreideproduktion von 12% auf 40% bekannt.223 Das bedeutet im Umkehrschluß, daß 60% des produzierten Getreides bei den Produzenten verblieben und in Naturalform die Subsistenz des Kolchos sicherten, insofern sie als Produktionsmittel (Saatgetreide für das nächste Jahr; Futter für die Tiere) und Konsumtionsmittel (Brotgetreide für die Bauern) fungierten. Dennoch handelte es sich dem Wesen nach nicht um Subsistenzproduktion; Zweck des Kolchos war von Entstehung und Funktionsweise her die Erzeugung von Mehrprodukt. Der Überschuß war erheblich und so regelmäßig, daß der Wirtschaftsplan auf ihm aufbauen konnte.

Bei der Frage nach der Produktionsweise des Kolchos soll der Teil des Getreides, den die MTS erhielten, außer Betracht bleiben, weil der Einfachheit halber unterstellt wird, daß er das Äquivalent für die Maschinenarbeit darstellte.

Soweit das Getreide zum Zweck des Verkaufs auf den Kolchosmärkten, auf denen die Preise sich frei bildeten, produziert wurde, handelte es sich um Warenproduktion. Dasselbe gilt – mit Abstrichen – für das überplanmäßig produzierte, freiwillig an den Staat verkaufte Getreide. Auch wenn dessen Preis niedriger lag als der Marktpreis, gab es eine offenkundige Bindung an diesen. Daß er darunter lag, hing auch damit zusammen, daß en-gros-Verkauf immer im Verhältnis weniger erbringt als der Verkauf en-detail. Lag der Preis aber zu niedrig, bestand die Gefahr, daß entweder von vornherein kein Anreiz bestand, mehr zu produzieren, oder daß die Kolchosbauern das Überschußgetreide lieber mühevoll portionsweise auf dem Markt verkauften. Soweit warenproduzierend, war die Kolchosproduktion nichtkapitalistisch; es handelte sich um einfache Warenproduktion, die ausschließlich dem Konsum der Produzenten diente. Triebkraft war nicht die Verwertung des Werts, deren entscheidende Bedingungen fehlten: die Arbeitskraft stellte keine Ware dar, das Land war nicht frei verfügbar und die Produktionsmittel gehörten dem Staat.

Bei den Zwangsverkäufen bzw. Pflichtablieferungen an den Staat stand der gezahlte Preis in keinem Zusammenhang mit dem Marktpreis. Insoweit könnten die Pflichtablieferungen als eine Art Steuer betrachtet werden. Sie wiesen aber die Besonderheit auf, daß sie Naturalform hatten und nicht ein bestimmter Prozentsatz des Mehrprodukts, sondern ein umfangmäßig festgelegter Teil der Ernte, die Masse des Mehrprodukts, abgeliefert werden mußte. Darum gleichen die Pflichtablieferungen mehr der Produktenrente als einer Form der Grundrente, die in den unterschiedlichsten Gesellschaftszuständen vor dem Kapitalismus als Naturalabgabe von dem Produzenten an den Grundeigentümer geleistet werden muß, später auch in Geldform übergeht.224 Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß die Kolchosbauern zur Arbeit verpflichtet waren, können auch Parallelen zur Arbeitsrente als anderer Form der Grundrente gezogen werden; dabei müssen die unmittelbaren Produzenten einen Teil ihrer Zeit unentgeltlich auf dem Gut des Grundherrn arbeiten.225 Die Parallelen zur Gutsherrschaft liegen auch deswegen nahe, weil der Kolchos wie die Gutsproduktion vor 1917 auf dem Zusammenhang von Groß- und Kleinproduktion beruhte, dh. die Existenz von Parzellenbauern voraussetzte. Den Kolchos „kann man recht gut charakterisieren als Gutswirtschaft, die großflächig wirtschaftet und ihren Arbeitskräften Deputatsparzellen zur Eigenversorgung als Teil der Entlohnung überläßt.“226

Der entscheidende Punkt gegenüber allen historischen Parallelen liegt jedoch darin, daß weder einfache Fronarbeit noch kostenlose Abgabe des Produkts stattfand, sondern das Mehrprodukt durch Verkauf entäußert wurde. Deshalb stellte Stalin 1952 fest, daß der Staat „nur über die Erzeugnisse der staatlichen Betriebe verfügen kann, während über die kollektivwirtschaftlichen Erzeugnisse nur die Kollektivwirtschaften als über ihr Eigentum verfügen. Aber die Kollektivwirtschaften wollen ihre Produkte nicht anders als in Form von Waren veräußern, für die sie im Austausch die von ihnen benötigten Waren erhalten wollen. Andere ökonomische Verbindungen mit der Stadt als Warenbeziehungen, als Austausch durch Kauf und Verkauf sind für die Kollektivwirtschaften gegenwärtig nicht annehmbar. Darum sind Warenproduktion und Warenumlauf bei uns gegenwärtig eine ebensolche Notwendigkeit, wie sie es beispielsweise vor dreißig Jahren waren, als Lenin die Notwendigkeit der allseitigen Entfaltung des Warenumlaufs verkündete.“227

Die Bauern zur kostenlosen Abgabe von Getreide und damit – aus ihrer Sicht – zur Rückkehr in feudale Abhängigkeitsverhältnisse zu zwingen, war der Staat nach der Bauernbefreiung von 1861 und vor allem nach der Oktoberrevolution und den Jahren der NEP nicht in der Lage. Er mußte die Pflichtablieferungen ankaufen, der Form nach also wie Waren behandeln. Nichtsdestotrotz fand hier kein Äquivalentenaustausch zwischen Gleichen statt, sondern war Basis des Eigentumswechsels außerökonomische Gewalt: die Kolchosbauern gaben den Großteil ihres Mehrprodukts zu den staatlich festgesetzten Niedrigpreisen nicht freiwillig an die Gesellschaft ab, sondern weil sie dazu gezwungen waren. Darum mußte auch der Staat mindestens solange bestehenbleiben, wie ein außerökonomisches Gewaltverhältnis notwendig war, um die Versorgung mit den notwendigen Getreidemengen zu sichern.

Die russischen Bauern wurden durch die Kollektivierung keine abhängigen Lohnarbeiter, wie von Hunderten westlicher Sowjetforscher behauptet. Sie zahlten sich selber als Eigentümer ihre Einkünfte aus, entsprechend der Verkäufe, die der Kolchos getätigt hatte. Dasselbe ist mit der Hoflandproduktion der Fall. Beidemal steht das Gesamtprodukt im Eigentum des Produzenten, und beidemal wird das Mehrprodukt auf ähnliche Weise entäußert: teils als Zwangsabgabe, teils als Ware. Abgesehen von der qualitativ unterschiedlichen Form des Eigentums an den Produktionsmitteln (im Kolchos Eigentum der gesamten Gesellschaft) besteht der Unterschied darin, daß das Hoflandprodukt im Privateigentum eines Individuums steht, während das Kolchosprodukt im Gesamteigentum der Kolchosmitglieder steht. Die kollektive Form der Produktion im Kolchos und das daraus resultierende Genossenschaftseigentum hat zur Folge, daß der Erlös für das Produkt nicht unmittelbar dem einzelnen Produzenten zugeht, sondern nach den dafür festgelegten Regeln vom Kolchos verteilt wird. Daraus konnte der Schein der Lohnarbeit entstehen.

Die neue Produktionsweise der Kolchosen sicherte die Verfügung über die Masse des überschüssigen Getreides. Was in der NEP gegenüber den Millionen von Einzelproduzenten mißlungen war, konnte jetzt realisiert werden, weil mithilfe der Kolchosform, dh. dem erneuten Übergang zu einer Art Gutswirtschaft, und durch die MTS die Einbringung und Verwendung der Ernte – in großen Zügen jedenfalls – vom Staat kontrolliert und notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. Die Gesellschaft erhielt zu angemessenen Preisen das Getreide, das für die Ernährung der Städte und den Export benötigt wurde – mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Weil der Kolchos genossenschaftlich arbeitete und seine Lieferungen in den staatlichen Produktionsplan einbezogen waren, mochte es scheinen, als ob er sozialistisch produzieren würde. Aber die Kolchosbauern stellten ihr Produkt nicht als Gesellschaftseigentum her wie die städtischen Proletarier, sondern als Kolchoseigentum. Obwohl der Boden formal der Gesellschaft gehörte und die Gesellschaft die Produktionsmittel für den Ackerbau bereitstellte, war sie nicht Eigentümerin der damit hergestellten Erzeugnisse. Weil das Produkt des Kolchos ihm selber gehörte und die Gesellschaft erst durch den Tauschakt – Ware gegen Geld – das Eigentum erhielt, stand der Kolchos jenseits des Sozialismus; er war keine „sozialistische Form der wirtschaftlichen Organisation“.228 Was Stalin dazu auf dem XVII.Parteitag 1934 ausführte, war falsch: „Die Tatsachen besagen, daß unsere Sowjetbauernschaft endgültig das Ufer des Kapitalismus verlassen hat und im Bunde mit der Arbeiterklasse dem Sozialismus zusteuert. Die Tatsachen besagen, daß wir das Fundament der sozialistischen Gesellschaft bereits errichtet haben und daß wir es nur noch durch die Überbauten krönen müssen“.229 Daß der Kapitalismus auf dem Land vernichtet war, die Bauern also seine „Ufer“ verlassen hatten, ist richtig. Aber das bedeutete noch nicht, daß ökonomisch bereits das „Fundament der sozialistischen Gesellschaft“ gelegt war und nur noch der gesellschaftliche Überbau entwickelt werden mußte. Beides war nicht ineins zu setzen.

4. Neue Stärke der Bauernschaft

Als nichtkapitalistische wie als nichtsozialistische Produktionsweise war die Produktionsweise des Kolchos gleichermaßen unproduktiv. Ihre statischen Tendenzen machten sich mehr oder weniger von Anfang an bemerkbar.

Getreideernte (Speicherernte) und staatliche
Getreidebeschaffung 1928-1935 (in Tsd.Doppelzentner)
(nach Lorenz, S.347)

Ernte (alle Beschaffung

Kategorien insgesamt

landw.Betriebe)

1928 733 198 107 892
1929 717 415 160 812
1930 835 449 221 393
1931 694 840 228 389
1932 698 732 187 751
1933 683 975 232 854
1934 676 494 260 719
1935 750 163 295 994

Nach wie vor der Kollektivierung verharrt die Getreideproduktion etwa zwischen 700 und 800 Mio Doppelzentnern. Erst für das Ende der 30er Jahre berichtet Stalin von einer gestiegenen Getreideernte im Vergleich zu vorher.230 Aber auch unter Berücksichtigung dieses Zuwachses muß festgestellt werden, daß weder das Ende der dauernden Bodenumteilung noch die zunehmende Mechanisierung durch Traktoren und andere Agrarmaschinen die theoretisch zu erwartenden Produktivitätsfortschritte mit sich brachte. Beides reichte offenbar gerade aus, um die Produktionsverluste durch den Untergang der bis dahin produktivsten Schicht – der Kulaken – und den Niedergang der Ukraine zu kompensieren. Dabei ist auch noch die Neulandgewinnung vor allem im Süden und Südwesten zu berücksichtigen, die die landwirtschaftliche Nutzfläche von 113 Mio Hektar (1928) auf 134,4 Mio Hektar (1932) steigen ließ231 und dementsprechend mehr Getreide erbrachte.

Die Unterschiede im staatlichen Marktaufkommen sind dagegen gewaltig. Die niedrige Getreideeinbringung durch den Staat 1928 ist mit ihren Folgen der Auslöser für den Stimmungsumschwung in den Städten und den Angriff auf die Kulaken. Mit den Fortschritten der Kollektivierung steigt der staatliche Marktanteil am Getreide kontinuierlich, mit Ausnahme des Jahres 1932, in dem das Marktaufkommen zurückgeht, obwohl die Ernte durchschnittlich ausfällt. Der Rückgang hängt mit der Einführung des Kolchos-Getreidehandels in diesem Jahr, dh. mit der Erlaubnis zusammen, das eigene Getreide auf den lokalen Märkten zu verkaufen. Das führte dazu, daß die Kolchosen ihr Getreide dort soweit möglich zu den höheren Marktpreisen loszuschlagen versuchten, statt es dem Staat zu dessen niedrigen Preisen abzuliefern. Daraufhin durften sie erst dann frei verkaufen, wenn sie zuvor die festgelegten Mengen an den Staat pflichtverkauft hatten.

Das Marktaufkommen an Getreide geht nach dieser Tabelle schließlich auf 300 Mio Doppelzentner zu. Prozentual steigt es von 12% auf 40% des produzierten Getreides. Wo liegen die Ursachen für dieses Phänomen? Wie war es möglich, von etwa gleichbleibenden oder nur geringfügig steigenden Produktionsmengen einen um das Mehrfache steigenden Anteil an Getreide für die Ernährung der Städte und den Export abzuschöpfen? Eine konkrete Erklärung dafür findet sich nirgendwo. Die Hungersnot 1932/33 in bestimmten Gebieten abgerechnet, kann dies nicht auf Kosten der Ernährung der Bauern geschehen sein, da nach allen Berichten die Ernährung auf Dauer und im Ganzen besser und regelmäßiger wurde als vorher. Stattdessen müssen andere Gründe maßgeblich gewesen sein, etwa die folgenden:
– zum einen ging die agrarische Bevölkerung zahlenmäßig zurück, u.z. von 1927 bis 1952 um 10%,232 nach anderen Angaben sogar um 20%; es gab also weniger Getreide-Esser auf dem Land;
– es wurde viel Vieh abgeschlachtet, das z.T. vorher ebenfalls Getreide bekommen hatte;

– durch bessere Lagerung, Transport und Verteilung wurde Getreide eingespart.

Genau genommen war die Kolchosproduktion im Vergleich zur vorangegangenen individuellen Produktionsweise also produktiver im Sinne der Lieferung eines größeren Mehrprodukts. In der Viehwirtschaft zeigte sich dieses Phänomen besonders deutlich. Nach dem Bericht Chruschtschows auf dem 20.Parteitag 1956 sank der Bestand an Kühen zwischen 1927 und 1952 von 33,2 auf 24,3 Mio. Stück, aber die Milchlieferung für den Markt stieg von 4,3 Mio t auf 13,2 Mio t. Ebenso nahm der Viehbestand als Ganzes bis 1953 ab – mit Ausnahme einer leicht gestiegenen Anzahl von Schweinen -, aber die Fleischlieferungen stiegen von 2,4 auf 5 Mio t. Auch wenn das Vieh durch verbesserte Züchtungen mehr Fleisch und Milch lieferte, wird das Phänomen des gewaltig gestiegenen Marktanteils nur relativiert, bleibt als solches aber bestehen. So stellte auch Stalin 1939 in seinem Rechenschaftsbericht an den XVIII.Parteitag nicht eine steigende Agrarproduktion als entscheidenden Zug der Kollektivierung heraus (obwohl er auch davon sprach), sondern sagte: „Der hohe Marktanteil der Produktion der Sowjet- und Kollektivwirtschaften ist … ihre wichtigste Besonderheit, die für die Versorgung des Landes von größter Bedeutung ist.“233

Daraus resultierte eine unausweichliche Konsequenz: die Revolution mußte die agrarischen Produktionsverhältnisse, die sie selber in den 30er Jahren geschaffen hatte, später wieder beseitigen, um die Produktivkräfte zur Entfaltung zu bringen. Ansonsten bestand die Gefahr, daß die Stagnation auch die industrielle Produktion des Proletariats ergreifen würde. Da eine Umwälzung des Kolchos auf dem Weg des Kapitals versperrt war, mußte dies auf dem Weg des Sozialismus geschehen. Das bedeutete die künftige Auflösung der Produktionsgenossenschaften: der Grund und Boden mußte der selbstbestimmten Nutzungsbefugnis der Kolchosen entzogen und die Bauern zu Landarbeitern gemacht werden, deren Produkt von vornherein der Gesellschaft gehörte. Die Umwandlung in Staatsgüter (Sowchosen), der Aufbau von Agrarfabriken und die Gründung von Agrostädten waren dazu geeignete Schritte, die Maschinen-Traktor-Stationen waren Ansatzpunkte gesellschaftlicher Produktion, und die Entwicklung und der Ausbau der Agrarmaschinerie mußte der Hebel sein, um auch die individuelle Hoflandproduktion zurückzudrängen.

Ob allein ökonomische Mittel zur Erreichung dieses Ziels ausreichten, ist dabei noch die Frage. War es aber notwendig, die ökonomischen durch politische Maßnahmen zu ergänzen, so hatte sich mittlerweile auf diesem Weg eine gewaltige Hürde aufgebaut. Sozial betrachtet, beseitigte die Kollektivierung die bürgerlichen Schranken der Oktoberrevolution um den Preis einer Stärkung des Kerns der obscina-Bauernschaft, nämlich der Mittelbauern. Der entscheidende Unterschied zu vorher lag darin, daß jetzt die Klassengegensätze im Dorf verschwunden waren, die das Proletariat bis 1930 für seine Politik nutzen konnte. Nicht nur die Kulaken wurden als Klasse zerschlagen, auch die Dorfarmut verschwand. Aus der Kollektivierung ging eine homogene Bauernschaft hervor, gegen die es doppelt schwierig war, Veränderungen durchzusetzen. Die Bauernschaft als Ganze fand nunmehr, wie Stalin Anfang 1933 feststellte, in den Kollektivwirtschaften „die fertige Form einer Massenorganisation“ vor234 und konnte sowohl mit der Sowjetmacht zusammenarbeiten als auch sich gegen die Sowjetmacht wenden.

Es gab darum ein Verbot für die Kolchosen, sich zusammenschließen; erst unter Gorbatschow wurde die Gründung einer Bauernunion zugelassen. Um die Bauern durch die Partei unter Kontrolle zu halten, wurden außerdem in den Maschinen-Traktor-Stationen „politische Abteilungen auf dem Lande“ geschaffen. Aber auch die besten politischen Abteilungen konnten die Produktionsverhältnisse nicht ändern, und diese Produktionsverhältnisse bewirkten als scheinbar paradoxes Ergebnis der Kollektivierung, daß die Bauernschaft eine stärkere Stellung als zuvor innehatte.

VI. Eine neue Arbeiterklasse

Während auf der einen Seite die Bauernschaft letztlich gestärkt aus der Kollektivierung hervorging, fand auf der anderen Seite eine Verbauerung des Proletariats statt. Beides mußte schließlich auch Veränderungen im politischen und ideologischen Überbau nach sich ziehen.

1. Zwangsorganisation der Arbeit

Während des ersten, vorzeitig erfüllten Fünfjahrplans (1929-1932) stieg die Zahl der in der Schwerindustrie Tätigen von 3,4 auf 6,3 Mio. Die Zahl der abhängig Beschäftigten insgesamt (einschließlich der Landarbeiter in den Sowchosen der neu erschlossenen Getreide-Anbaugebiete) wuchs von 11,6 Mio im Jahr 1928 auf 22,3 Mio im Jahr 1933, verdoppelte sich also nahezu in 5 Jahren. 1941 waren es 31 Mio, was im Verlauf von 12 Jahren fast eine Verdreifachung bedeutete.235

Jahr für Jahr strömten Millionen vom Land in die neuen Industriezentren und die Städte, die nun keine Angst vor dem Zuzug mehr haben mußten, sondern im Gegenteil nach Arbeitskräften schrien. „Diese neuen Massen von entwurzelten, geistig noch dem Dorf verhafteten Bauernarbeitern prägen das soziale Gesicht der dreißiger Jahre.“236 Bauern, Bauernsöhne und Bauerntöchter, ohne jede Berufsausbildung und häufig Analphabeten, kamen aus den Dorfgemeinden des tiefsten Rußland in die industriellen Produktionsstätten. Um die mitgebrachte Ziege zu füttern, verließen sie alle paar Stunden die Fabrik; zum Mittagessen gingen sie nach Hause, wenn der Sonnenstand dies anzeigte, denn eine Uhr besaßen sie nicht. Gesellschaftlicher Produktionsweise fremd, wanderten sie auf der Suche nach besserer Arbeit und Entlohnung von Fabrik zu Fabrik.

Aber nicht nur die neuen Arbeiter vom Dorf taten dies. Die Fluktuation der alten Facharbeiter war genauso groß.237 Zum Teil waren sie mit den neuen Verhältnissen in ihrer alten Fabrik unzufrieden, zum Teil suchten sie einfach besser bezahlte Tätigkeiten. Weil aber der Bedarf an ausgebildeten Arbeitern mit der Zahl der Neuankömmlinge stieg und die Fabriken unter Aufbietung aller Mittel erfahrene Produktionsarbeiter suchten, hatten sie alle denkbaren Aufstiegsmöglichkeiten. In den Werken wechselte die Belegschaft statistisch jedes Jahr, teilweise noch öfter. „Nimmt man die Daten für die Gesamtindustrie als Durchschnittswerte, so hat jeder Arbeiter der sowjetischen Industrie in den vier Jahren des 1.Fünfjahrplans mindestens fünfmal den Arbeitsplatz gewechselt.“238 Die permanente Wanderbewegung rief „schwere Produktionsstörungen hervor und verhinderte überdies einen kontinuierlichen Erziehungsprozeß.“239

Die erforderliche Arbeitsdisziplin konnte nur zwangsweise durchgesetzt werden. „Die gewaltsame, nun erst endgültig vollzogene Trennung von Stadt und Land, die Trennung von gewerblicher und agrarischer Produktion, die planmäßige Erweiterung der Arbeitsteilung bedeutete für die Produzenten den Verlust von ebenso vielen Ergänzungen ihres Lebensunterhalts – nicht zuletzt auf dem Lande selbst. (…) Um den wesentlich ökonomischen Zwangsmechanismus der neuen Arbeitsverfassung in Gang zu setzen, bedurfte es des vorausgegangenen außerökonomischen Zwangs, der in geraffter Form einen Prozeß nachholte, für den Westeuropa einige Jahrhunderte benötigt hatte: nämlich die Überführung der Masse der Bevölkerung in ein neues Wirtschaftssystem, ihre Unterordnung unter eine neue Arbeitsdisziplin.“240 Damit ging der Staatskapitalismus der 20er Jahre zu Ende.

Das sowjetische Strafrecht richtete sich gegen „böswillige Schädiger“ und „Produktionsdeserteure“ und sah die Ahndung „böswilliger Nichterfüllung eines mit einem öffentlichen Betrieb abgeschlossenen Vertrags“ vor (Art.131 Strafgesetzbuch der RSFSR).241 Ende 1932 wurde der Inlandspaß eingeführt; ein Ortswechsel mußte durch die Behörden genehmigt werden. Um innerhalb eines Orts den Wechsel von einem Betrieb zum anderen zu erschweren, gab es ab 1.1.1939 ein einheitliches Arbeitsbuch.

Trotz aller Stafandrohungen entzogen sich die Bauernarbeiter aber weiterhin der geregelten Produktion, was sich insbesondere auf die Schwerindustrie auswirkte und die Vorbereitung auf den herannahenden Krieg bedrohte. Am 26.Juni 1940, vier Tage nach dem Sieg Hitlerdeutschlands über Frankreich und ein Jahr vor dem Überfall auf die Sowjetunion, wurde per Erlaß der Siebenstundentag aufgehoben und die Freiheit des Arbeitsverhältnisses endgültig beseitigt. Die Arbeit wurde unter Militärrecht gestellt, das Verlassen des Arbeitsplatzes wie Fahnenflucht geahndet. „Es bedurfte in der Tat selbst damals noch, wie der nachfolgende Kampf um die Verwirklichung des Juni-Dekrets bewies, des Rufes >Hannibal ante portas<, um endlich zu erzwingen, was zehn Jahre hindurch immer wieder im Anlauf stecken geblieben war, und den Generalangriff gegen die Freizügigkeit zum Ziel zu bringen.“242 Auf diese Weise erfolgte die massenhafte Verwandlung von Bauern in Arbeiter innerhalb kürzester Frist durch Gewalt, die als ökonomische Potenz wirkte. Erst im Mai 1956 wurde die Unkündbarkeit des Arbeitsverhältnisses wieder aufgehoben, allerdings die Freizügigkeit nur unvollständig wiederhergestellt.

Die Gewerkschaften büßten ihre 1920 von Lenin in einer anderen Situation verteidigte Selbständigkeit ein und wurden 1932 dem „Produktionsprinzip“ unterworfen.243 Ihre Aufgabe war nicht länger die Verteidigung der ökonomischen Interessen der Arbeiter gegenüber staatskapitalistischen Betriebsführungen, sondern sie wurden darauf verpflichtet, die in den neuen Fünfjahrplänen gesteckten Produktionsziele zu erreichen. Ab 1935 trat an die Stelle des tarifvertraglich vereinbarten Lohns die Festsetzung der Löhne durch staatliche Regelung.244 Die Zwangsorganisation der Arbeit wurde ergänzt durch die direkte Zwangsarbeit von Millionen von Menschen in Arbeitslagern.

Der zweite Wesenszug des Prozesses, in dem die menschliche Produktivkraft geformt wurde, war die Durchsetzung des Leistungsprinzips in der Produktion. Die Masse der neuen Bauernarbeiter „war gegen die Versuchung sozialistischer Utopien resistent, sie wurde eher durch das Angebot materieller Vorteile motiviert. Der Anreiz, sich zu qualifizieren und mehr zu verdienen, wurde denn auch in der Lohnpolitik der Jahre 1931 und 1932 verstärkt.“245 Im Juni 1931 stellte Stalin sechs Punkte für die Schaffung neuer Entwicklungsbedingungen der Industrie auf.246 Dazu gehörte u.a. die Durchsetzung von persönlicher Verantwortung in der Arbeit, die Herausbildung einer neuen technischen Intelligenz aus der Arbeiterklasse und die Ausweitung der Lohnunterschiede zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit, um „einen festen Stamm von Arbeitern“, der „dem Betrieb dauernd erhalten“ bleibt, heranzuziehen.247 „Also: Die Fluktuation der Arbeitskraft beseitigen, die Gleichmacherei ausmerzen, den Arbeitslohn richtig organisieren, die Lebensverhältnisse der Arbeiter verbessern – das ist die Aufgabe.“248

Um das Leistungsdenken durchzusetzen, wurden „Stoßwettbewerbe“ organisiert, aus denen Mitte der 30er Jahre die Stachanow-Bewegung hervorging. Der „sozialistische Wettbewerb“ hatte mit großen Widerständen zu kämpfen. Stoßarbeiter wurden isoliert, verprügelt oder sogar umgebracht.249 Der gleichmacherische Widerstand wurde von „linken“ Tendenzen in der bestehenden Arbeiterbewegung getragen, die Anfang der 30er Jahre einen großen Aufschwung erfuhren. Mit Beginn der forcierten Industrialisierung entstanden in vielen Fabriken „Produktionskommunen“ unterschiedlicher Gestalt, spontan gebildet meist aus jungen Arbeitern. Sie wohnten z.T. zusammen, übernahmen Arbeitsaufträge als Kollektiv und erhielten auch den Lohn gemeinsam, der in den am weitesten entwickelten Kollektiven an alle „Kommunarden“ zu gleichen Teilen weitergezahlt wurde.250 1931 waren ca. 330 000 von 4,6 Mio. Industriearbeitern in derartigen Produktionskommunen organisiert. Diese Teile der Arbeiterbewegung registrierten nicht, daß die in die Fabriken strömenden ländlichen Massen ein anderes Bewußtsein und vor allem andere Produktionskenntnisse – nämlich keine – hatten.

In einer Unterredung mit dem Schriftsteller Emil Ludwig bemerkte Stalin 1932: „Die Quelle der Gleichmacherei ist die individuelle bäuerliche Denkweise, die Auffassung, daß alle Güter gleichmäßig verteilt werden müßten, die Mentalität des primitiven Bauern>kommunismus<.“251 Die Gleichheit der Dorfgemeinde, in aller Regel als Gleichheit in der Dumpfheit, dem Schlendrian und der Trägheit wirkend, war von den russischen Sozialrevolutionären stets als Ansatz für den direkten Übergang in den Sozialismus verklärt worden. Dieses Denken war traditionell weit verbreitet. In der Partei verknüpfte es sich mit linken Strömungen aus der Tradition des Kriegskommunismus, die das Endziel des Kommunismus jetzt zum Greifen nahe sahen – bis sie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in den großen Säuberungen vernichtet wurden.

Die Formierung der entscheidenden Produktivkraft, des Menschen selber, bildete den besten Nährboden für alle Arten von Subjektivismus.

2. Ein bäuerliches Massenproletariat

Die 1929 eingeleiteten Veränderungen zwangen „Dutzende von Völkern – darunter Bauern auf dem Niveau der Dreifelderwirtschaft, Viehzuchtnomaden auf nahezu alttestamentarischer Stufe, entlegene Jäger- und Fischervölker an der Schwelle prähistorischen Daseins – zu völliger Veränderung ihrer Lebens-, Arbeits- und Denkweise“.252 So wurden ökonomische Voraussetzungen für das gleichberechtigte Zusammenleben der verschiedenen Völkerschaften und Nationalitäten geschaffen. Das noch wichtigere Ergebnis der Umwälzungen aber war, daß aus ihnen eine neue Arbeiterklasse hervorging. Das Proletariat, das Oktoberrevolution und Bürgerkrieg mitgemacht hatte und 1929 mit der Partei den großen Sprung machte, war ein allmählich gewachsenes und trotz aller bäuerlichen Beziehungen relativ kultiviertes städtisches Proletariat gewesen. Das neue Proletariat, das jetzt an seine Stelle trat, war dagegen ein bäuerlich-barbarisches Proletariat.

Große Teile der alten Arbeiterklasse stiegen in Führungspositionen auf. Von 1930 bis 1933 wuchs das Leitungspersonal in der Schwerindustrie von 125.000 auf 362.000 Personen. Nahezu zwei Drittel der leitenden Kräfte von 1933 waren dementsprechend erst nach 1930 auf ihre Posten gekommen. Auf die ganze Industrie bezogen, waren „in einer Frist von fünf Jahren – 1928 bis 1933 – … gewiß mehr als eine halbe Million, zählt man die Studenten hinzu, über 1,5 Millionen Personen neu in Führungspositionen aufgestiegen.“253 40% des schwerindustriellen Leitungspersonals im Jahr 1933 waren sogenannte „Praktiker“ aus dem Betrieb, die ohne Hoch- oder Fachschulausbildung nach 1928 in Führungspositionen aufgestiegen waren. Hinzugenommen werden muß, daß 26% des Führungspersonals von 1933 erst nach 1928 ein Hoch- oder Fachschulstudium abgeschlossen hatte, das heißt zu der neuen Generation gehörte, die massenhaft aus Arbeiter- und Bauernfamilien in die neuen Hochschulen gegangen war und nach dem Abschluß sofort eine Leitungstätigkeit übernehmen mußte.

„Altes“ und „neues“ Führungspersonal (in %)
in Volkswirtschaft und Verwaltung 1.11.1933
(Tabelle nach Schröder 1988, S.272)

SchwerGanze Fach-
industrie Industrie leute
——————————————————————

Hoch- und Fachschulabschluß

– vor 1928 18,8 18,3 21,5
– nach 1928 25,8 22,7 21,3

Praktiker
– Aufstieg vor 1928 15,6 zus. zus.
– Aufstieg nach 1928 39,7 59,0 57,2
————————————-
99,9% 100,0% 100,0%

Dabei handelt es sich um die Zahlen von Ende 1933. Bis zum Beginn des 2.Weltkriegs setzte sich der Prozeß fort, der teils im bloßen Arbeitsplatzwechsel auf der Suche nach besserer Arbeit, teils im persönlichem Aufstieg zu höheren Funktionen den bis dahin relativ homogenen Kern der Arbeiterklasse auflöste. „Das Wachstum der Betriebe und die Unfähigkeit der Betriebe, ihren alten Arbeiterstamm bei der Stange zu halten, führten dazu, daß der Kader verlorenging, der in politisch-psychologischer Hinsicht und in technischer die neuen Arbeiter hätte >einrahmen< und integrieren können. Das mußte sowohl dazu führen, daß sich bei Durchsetzung von industrieller Arbeitshaltung, Disziplin, Genauigkeit und Pünktlichkeit Komplikationen ergaben, als auch dazu, daß Traditionen der Interessenvertretung und des politischen Verhaltens nicht mehr weitergegeben wurden. Die >neue Arbeiterklasse<, die in der forcierten Industrialisierung entstand, war geschichtslos.“254 Die neue Arbeiterklasse, die an ihre Stelle trat, bildete sich aus Bruchstücken des alten Proletariats und aus Bauern, die wahrscheinlich hauptsächlich der Dorfarmut, daneben der Mittelbauernschaft entstammten, teils aber auch zwangsweise aus dem Dorf vertriebene Kulaken waren.

Nicht nur die alte Arbeiterklasse, sondern auch die alte Intelligenz wurde völlig umgekrempelt. Die Zahlen der Geistesarbeiter geben die massenhafte Heranbildung einer neuen Intelligenz wider, die für die Industrialisierung und die Verwaltung des Staats benötigt wurde. Sie kam im Gegensatz zur alten Intelligenz millionenfach aus Arbeiter- und Bauernfamilien in die neuen Hochschulen und Fachschulen und aus ihnen wieder heraus. 1926 wurden 2,9 Mio nicht manuell Tätige gezählt, 1939 waren es 13,8 Mio; das bedeutet fast eine Verfünffachung.255 Diese neue Intelligenz war nicht zu vergleichen mit ihrer Vorgängerin, die unter dem Zarismus und – mit Abstrichen – während der NEP die Kader für Wirtschaft und Verwaltung gestellt hatte und in den politischen Auseinandersetzungen zwischen Zarismus, bürgerlicher Politik und Sozialismus, zwischen „legalen“ und revolutionären Marxisten, Menschewiki und Bolschewiki, Kriegskommunismus und NEP großgeworden war. Neben dem „qualvollen Prozeß der Differenzierung und Auflösung der alten Intelligenz vollzog sich der stürmische Prozeß der Formierung, Mobilisierung und Sammlung der Kräfte der neuen Intelligenz. Hunderttausende junger Menschen, hervorgegangen aus den Reihen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der werktätigen Intelligenz, gingen in die Hochschulen und Techniken (gemeint sind wahrscheinlich die technischen Fachschulen; d.V.) und füllten nach Beendigung der Schulen die gelichteten Reihen der Intelligenz auf. (…) Die Überreste der alten Intelligenz gingen in der neuen, der Volksintelligenz, der Sowjetintelligenz auf. Auf diese Weise entstand eine neue, die Sowjetintelligenz, die mit dem Volke eng verbunden und in ihrer Masse bereit ist, ihm treu und ehrlich zu dienen.“256

Damit löste sich auch die soziale Basis für die trotzkistische Opposition auf. „Die kulturellen und politischen Charakterzüge dieser neuen Intelligenz waren von denen der alten Intelligenz ganz und gar verschieden, die einst in der Zarenzeit die Flamme der Revolution erhalten und die Republik der Arbeiter und Bauern in den ersten Jahren ihres Bestehens auf neue Wege geleitet hatte,“257 schreibt Deutscher in Wiedergabe der resignierten Feststellungen Trotzkis. Nach seiner Verbannung aus Rußland gab Trotzki eine kleine periodische Zeitschrift mit dem Titel „Bulletin der Opposition“ heraus. „Im Gegensatz zu den Druckschriften, die einst in den bolschewistischen Geheimdruckereien hergestellt wurden, kamen Trotzkis Blätter wahrscheinlich nie in die Hände der russischen Arbeiter, aber sie wurden dafür um so bedenkenloser unter den hohen Sowjetbeamten und den einflußreichen Parteimitgliedern verbreitet“.258 Er wurde nur noch von den linken Vertretern der alten Intelligenz verstanden, aber nicht von der neuen Bauern-Arbeiter-Intelligenz, geschweige denn von der neuen Arbeiterklasse.

In Untersuchungen wird darauf hingewiesen, daß der Reallohn in den Jahren nach 1930 zurückging, weil der Rubel an Wert verlor. Bis dahin war der Reallohn stetig gestiegen; 1927/28 war er etwa dreimal so hoch wie 1921 und ein Jahr zuvor (1926/27) hatte er in den meisten Produktionszweigen das Vorkriegsniveau erreicht, zum Teil auch überschritten.259 „Die materielle Lage der Arbeiter verschlechterte sich seit 1929/30 rapide, der Reallohn sank, Wohnraum fehlte, die Versorgung mit Lebensmitteln stockte immer wieder. Im Betrieb war die Fünfjahrplanperiode durch zunehmende Arbeitshetze, durch Einführung neuer Technologien und Durchsetzung von Rationalisierung bestimmt“.260 Darum stellt sich die Frage, warum die Arbeiter darauf nicht reagierten.

Tatsächlich wurde diese Reallohnsenkung von ihnen nicht unbedingt erfahren, weil nur ein geringer Teil davon praktisch betroffen war. Für die Massen der neuen Bauernarbeiter bedeutete die Arbeit in der Fabrik allemal einen Fortschritt im Vergleich zum Dorf. Wenn die Löhne im Vergleich zum Ausgang der 20er Jahre zurückgingen, bemerkten sie es nicht, weil sie von Anfang an auf einem niedrigeren Lohnniveau eingestellt wurden. Große Teile der alten Arbeiterklasse dagegen übernahmen führende Positionen in den Betrieben und erfuhren die Entwicklung trotz zeitweiser Engpässe also ebenfalls als persönlichen Aufstieg.

Vor allem aber gab es trotz aller Schwierigkeiten und persönlichen Nöte eine allgemeine Aufbruchstimmung der Arbeiterklasse zur Verwirklichung der Industrialisierung und des Sozialismus. Die Parteiführung verstand es, „neuartige Wege der Massenführung durch Weckung von Enthusiasmus und kollektivem Opfergeist zu beschreiten. In solchen Lagen ist aber die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Zwang kaum zu ziehen.“261 Medwedew schreibt demgegenüber: „Das von Stalin geschaffene System der persönlichen Diktatur war komplex und stark. Sein Fundament waren die irregeführten Massen.“262 Bewußt oder unbewußt angelehnt an die kritische Theorie, begreift er die Verankerung der Stalinschen Herrschaft als Manipulation der Massen. Richtig ist, daß die Stalinsche Politik tatsächlich von den Massen getragen wurde, die aber nicht „irregeführt“ waren, sondern nach Überwindung der größten Schwierigkeiten um das Jahr 1930 herum im täglichen Leben und auf der Arbeit realisierten, daß es aufwärts ging. Darum verehrten sie auch den Repräsentanten der Politik, die dies garantierte. Diese Masse der neuen Bauernarbeiter zusammen mit den aufgestiegenen Teilen der alten Arbeiterklasse und der neuen Arbeiter-Bauern-Intelligenz bildete den Klassenkern unter Führung Stalins, der die Sowjetunion trug.

3. Die Industrialisierung

Die Industrialisierung, die als Ergebnis des siegreichen Klassenkampfs gegen die Kulaken mit der Schwerindustrie als Schrittmacher einsetzte, ließ die bisherigen Produktionsstandorte in Rußland und der Ukraine hinter sich, ergriff alle Republiken des Sowjetstaats und stampfte völlig neue Industriezentren und Städte aus dem Boden. „In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war nur der Stahlproduktion wirtschaftsraumbildende Kraft zuzusprechen. Eurasien war dementsprechend durch eine tunlichst gleichmäßig gestreute, bei zunehmender Raumtiefe freilich zunehmend kostenungünstige Verteilung von Stahlzentren zu erschließen. >Elektrifizierung< an sich hätte keine vergleichbare Wirkung hervorbringen können. Das wußte auch Lenin. Der erste Schritt in dieser Richtung (war) die gegenläufige Verbindung der Uralerze mit der Kuznetskohle über 1000 Eisenbahnkilometer“.263

Als erstes und wichtigstes waren Traktoren herzustellen. Sie mußten das Zugvieh ersetzen, das die Kulaken abgeschlachtet hatten und worauf die Bauern angewiesen waren. Ohne eine genügende Anzahl von Traktoren war weder die Getreideversorgung zu sichern noch die Kollektivierung zu stabilisieren. Von 35.000 vorhandenen Traktoren 1929 wuchs der Bestand auf 72.000 im Jahr 1930, 125.000 im Jahre 1931 und 204.000 im Jahre 1933.264 Die Industrieproduktion insgesamt betrug am Vorabend des 2.Weltkriegs ein Mehrfaches der Produktion vor dem 1.Weltkrieg.

Wachstum der Industrieproduktion insgesamt

1913 1917 1940

————————————————-

Gesamte Industrie 1 0,7 7,7
Schwerindustrie 1 0,8 13,0
Leichtindustrie 1 0,7 4,6

(offizielle sowjetische Angaben nach: Lorenz S.354)

Zwar wird das Wachstum im Westen unterschiedlich berechnet, aber „selbst die niedrigste Einschätzung zeigt ein die historischen Wachstumskoeffizienten der alten Industriestaaten weit überragendes Ergebnis.“265 Obwohl im 2.Weltkrieg der überwiegende Teil der Produktionsstätten und die fruchtbarsten Anbaugebiete vom Gegner erobert wurden, gelang es, die Versorgung des Volkes aufrechtzuerhalten und die deutsche Rüstungsindustrie im Kriegsverlauf zu überflügeln, so daß auch unabhängig von den alliierten Hilfslieferungen der Sieg erreicht werden konnte.266 Anders als Rußland in den vorangegangenen drei Kriegen seit 1859 (Krim-Krieg) ging die Sowjetunion diesmal als Sieger aus dem 2.Weltkrieg hervor.

Ein Resultat der Industrialisierung war das sprunghafte Wachstum der Städte. Es gründete sich nicht auf deklassierte Bauern, die subproletarische Millionenslums in den Vororten bildeten, sondern auf dringend benötigte bäuerliche Arbeitskräfte, für die gewaltige Wohnungsbauprogramme durchgeführt wurden, auch wenn die Wohnungsnot zeitweise sehr groß war. 1929 lebten bei 154 Mio Bevölkerung nur 28 Mio in den Städten. Das war derselbe Prozentsatz von etwa 18% der Bevölkerung wie vor dem 1.Weltkrieg; bis Ende der 20er Jahre hatte die Industrialisierung also keine merkliche gesellschaftliche Umwälzung vollbracht. Dagegen lebten 1933 bei einer Gesamtbevölkerung von 166 Mio schon 40 Mio, dh. ein knappes Viertel, in den Städten. 1939 waren es mit 56 von 171 Mio ein Drittel.267

VII. Vom Arbeiterstaat zum Arbeiter- und Bauernstaat

Neben die ökonomischen Veränderungen traten Mitte der dreißiger Jahre weitreichende politische Umwälzungen im Verhältnis zur Bauernschaft. Durch die Aufschließung der Dorfgemeinden und das Niederreißen der bis dahin bestehenden Schranken zwischen Stadt und Land mußte sich der Staat, bis dahin ein Arbeiterstaat, den Bauern öffnen. In den 30er Jahren bestimmte die Auseinandersetzung um die damit zusammenhängenden Fragen die Parteikämpfe – diesmal zwischen Stalin und den „Linken“. Höhepunkt war die „große Säuberung“. Zusätzlich komplizierte die Verschärfung der Weltlage die Situation und verschaffte der Armee eine vorher nicht gekannte Bedeutung.

1. Der Vormarsch der Bauern in Staat und Armee

Wenn die Kulaken geschlagen waren, keine Ausbeutung auf dem Land mehr herrschte, die Bauernschaft „sozialistisch“ produzierte und also kein wesentlicher Unterschied zum städtischen Proletariat mehr existierte, dann bestand kein Grund, den Bauern länger die Gleichberechtigung im Staat zu verweigern. Die Wahlrechtseinschränkung war nur so lange zu rechtfertigen, wie die NEP praktiziert wurde und das Dorf von den Kulaken dominiert war.

Hinzu kam die Entwicklung der außenpolitischen Situation. Mitte der 30er Jahre zeichnete sich ab, daß es bald zu einem erneuten großen Krieg kommen würde. In Deutschland verfolgten die seit Anfang 1933 an der Macht befindlichen Nazis einen rigorosen Aufrüstungskurs. Anfangs noch bedrohlicher war die Expansionspolitik Japans im Fernen Osten, die zunehmende Spannungen bis hin zu militärischen Zusammenstößen zwischen sowjetischen und japanischen Truppen hervorrief. Wegen der Kriegsgefahr im Fernen Osten wurde u.a. die Kollektivierung in dieser Region verlangsamt. „Der Oberbefehlshaber im Fernen Osten, General Blücher, lehnte die Verantwortung für den Schutz der fernöstlichen Grenze ab, wenn in den Grenzbezirken die Kollektivierung durchgeführt werde. Woroschilow unterstützte Blüchers Standpunkt im Politbüro und erreichte es auch, daß die Bauern im Fernen Osten nicht in Kolchosen gepreßt wurden.“268 Im Dezember 1933 wurde ein Dekret über die Sonderstellung der fernöstlichen Gebiete erlassen. Die Kollektivierung der dort verbreiteten Nomadenvölker wurde verlangsamt, Kolchosen und Individualwirtschaften auf 10 bzw. 5 Jahre von den Zwangsablieferungen an den Staat befreit, um zugleich Anreize zur Übersiedelung aus den übervölkerten westlichen Gebieten zwecks Grenzsicherung gegen Japan zu geben.269

Entscheidend aber waren die Bauern Zentralrußlands. Ohne sie, nach wie vor die Masse der Bevölkerung, war ein künftiger Krieg nicht zu gewinnen. Ende 1936 hob eine neue, „Stalinsche“ Verfassung das bisherige Mehrklassenwahlrecht auf, das der städtischen Arbeiterklasse die politische Vorherrschaft gesichert hatte. In einer grundlegenden Rede über den Verfassungsentwurf führte Stalin zur Begründung aus, daß die Klassenstruktur der Sowjetunion sich grundlegend gewandelt habe. Die Arbeiterklasse sei von Ausbeutung frei, die Intelligenz eine „völlig neue, werktätige Intelligenz“, und die Bauernschaft bestehe nicht mehr aus Kleinproduzenten, sondern sei als werktätige Kollektivbauernschaft eine „völlig neue Bauernschaft“. Der Klassenantagonismus sei bereits überwunden, und die verbliebenen ökonomischen und politischen Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen würden ebenfalls mehr und mehr verschwinden. Arbeiter, Intelligenz und Bauern seien gemeinsam dabei, „an demselben Strang ziehend, die neue, die klassenlose, sozialistische Gesellschaft“ aufzubauen.270 Alle Sowjetbürger erhielten das gleiche Wahlrecht, auch die ehemaligen NEP-Männer und Kulaken ebenso wie die verbliebenen Adeligen, die vorher von den Wahlen ganz ausgeschlossen waren. Vor allem aber erhielten die Bauern, die immer noch die breite Mehrheit der Bevölkerung stellten, jetzt gleiche Stimmen und damit die Mitentscheidung über die Zukunft des Landes.

Der Eintritt der Bauern ins politische Leben wie zuvor die bäuerliche Umformung des anschwellenden Proletariats hatten sich z.T. schon vor der neuen Verfassung bemerkbar gemacht, zum Teil taten sie es unübersehbar in den folgenden Jahren: per Familiengesetz von 1936 wurde die Ehescheidung erschwert, Abtreibungen wurden verboten, die Homosexualität wurde wieder strafbar, und in der Kultur setzte sich im Lauf der Zeit unter dem Mantel des „sozialistischen Realismus“ eine Bauernkunst durch, die nicht zufällig Ähnlichkeiten mit der Nazikunst aufwies.

Zugleich mit der neuen Verfassung wurde die Armee aus- und umgebaut. Nach Beendigung des Bürgerkriegs war die Armee bis 1924 von 5,5 Mio auf etwas über 500.000 Mann reduziert worden, verbunden mit einer Militärreform, nämlich der Umwandlung in eine territoriale Milizarmee. Die Grenzverbände, die technischen Truppen und die Flotte hatten ihre volle Mannschaftsstärke behalten. Die Masse der Kampftruppen dagegen (Schützen- und einzelne Kavallerieverbände) war auf knapp 20% ihres Personalbestands zurückgeführt worden, ergänzt durch eine landwehrartige Territorialmiliz, die in kurzen Übungen ausgebildet wurde.271 Die weiterhin voll einsatzfähigen Grenzschutzverbände sowie die Kadertruppen der Milizeinheiten hatten einen hohen Arbeiteranteil, schon deswegen, weil der Umgang mit der Technik das erforderte. Die Bauern dagegen dienten im wesentlichen in der Territorialmiliz, wo sie im Lauf von fünf Jahren in kurzen jährlichen Übungen ausgebildet wurden. 30% der Angehörigen der Roten Armee waren 1926 in der Partei oder im Jugendverband organisiert.272 Geführt von dem „roten“ Offizierskader des Bürgerkriegs, war durch die neue Struktur klassenmäßig der proletarische Charakter der Armee sichergestellt. Hand in Hand mit der Reform hatte man deshalb die Politischen Kommissare abschaffen können, die in der Bauernarmee des Bürgerkriegs die aus der zaristischen Armee übernommenen Offiziere unter Kontrolle gehalten hatten, indem ohne ihre Zustimmung keine militärische Entscheidung getroffen werden durfte.

Die solcherart proletarisch gewordene Armee hatte die Kollektivierung überhaupt erst ermöglicht, indem sie trotz der jahrelangen innenpolitischen Unruhe Gewehr bei Fuß blieb und nicht zugunsten der Kulaken eingriff, um die Stabilität wiederherzustellen, wie Trotzki und andere das vorhersagten.

Mitte der 30er Jahre nunmehr wurde durch eine erneute Militärreform wieder ein stehendes Heer geschaffen. Wenn das Übergewicht der Bauernschaft über das Proletariat auch nicht mehr so erdrückend wie zu Beginn der 20er Jahre war, war es doch groß genug. Zwischen 1933 und 1938 stieg die Mannschaftsstärke von 885.000 auf 1,5 Mio.273 Im Jahr 1937, als Japan gerade die Mandschurei eroberte, kamen 45% der Soldaten der „Arbeiter- und Bauernarmee“ aus der Arbeiterklasse, (Unteroffiziere: 50%),274 weil beim Waffendienst nach wie vor Arbeiter bevorzugt wurden. 1939 beseitigte ein neues Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht die noch bestehenden Klassenbeschränkungen bei der Einberufung zum Wehrdienst.275 Die 4,2 Millionen Mann, die die Rote Armee 1941 umfaßte, waren hauptsächlich Bauern, weil diese in der Gesellschaft nicht nur zahlenmäßig das Übergewicht hatten, sondern viele Arbeiter gleichzeitig für die Steigerung der Produktion benötigt wurden.

2. Gegen den Strom in der Partei

Solange auf dem Land schwerpunktmäßig die Kulaken verfolgt wurden, richtete sich der innerparteiliche Kampf gegen die Anhänger der Bucharinschen Linie. Die „Abweichungen“ und „Oppositionsgruppen“, die 1930-1933 verfolgt wurden, verfochten „durchweg >rechte< Lösungen, die auf Verlangsamung des Industrialisierungstempos und vorsichtigeren Umgang mit den Bauern abzielten.“276 Insgesamt wurden aber nur einzelne Parteimitglieder getroffen, und die verhängten Strafen waren nicht schwer. Nachdem die „Rechten“ keinerlei Gefahr mehr darstellten, konnte sogar ihr Kopf, Bucharin, wieder an führender Stelle politisch aktiv sein, weil er keine organisierte Opposition anführte. Er arbeitete am Entwurf der Sowjetverfassung von 1936 mit und war – seit Februar 1934 – als Chefredakteur der Iswestija tätig, bis er Anfang 1937 verhaftet wurde.

Beim Vorgehen gegen die Rechten hatten Stalin und die Linken Schulter an Schulter gestanden, diejenigen Linken vorweg, die nach 1925 in die Opposition gegangen waren und jetzt wieder Parteiarbeit übernahmen. In der Agrarpolitik waren die Differenzen aber unüberbrückbar. Gegen welche Widerstände, wahrscheinlich sogar Parteimehrheiten derjenigen, die im Überschwang von 1929 nicht bei der Beseitigung der Kulaken stehenbleiben, sondern zur Agrarkommune durchmarschieren wollten, das Parteizentrum unter Stalin eine realitätstaugliche Bauernpolitik durchsetzen mußte, wird im „Kurzen Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU angedeutet: „Es bedurfte der größten Festigkeit des Zentralkomitees, der Fähigkeit, sich gegen den Strom zu stellen, um einen bedeutenden Teil der Parteikader, denjenigen Teil, der von den Erfolgen hingerissen, jählings hinabglitt und von der Parteilinie abgetrieben wurde, rechtzeitig auf den richtigen Weg zu lenken.“277

Die linken Tendenzen in der Partei konnten sich auf linke Strömungen in der Arbeiterklasse selber stützen, so auf die schon erwähnte spontane Bewegung der Produktionskommunen von Ende 1929/Anfang 1930, in deren linkesten Teilen der gemeinsame Lohn zu gleichen Teilen auf die Kommunarden verteilt wurde. „Die Kommunen nahmen damit einen gesellschaftlichen Zustand vorweg, den die offizielle Politik offiziell anstrebte; insofern besaßen sie einen utopischen Charakter, auch wenn sie an kollektive Verhaltensweisen anknüpfen konnten, wie sie im russischen Dorf üblich waren.“278 Im März 1930 gab es mindestens 922 Kommunen und Kollektive, vor allem in den traditionellen Industriegebieten um Leningrad, Moskau und im Ural, die Anfang 1931 schätzungsweise immerhin 330.000 von ca. 4,6 Mio Industriearbeitern erfaßten.279

Der „Strom“ in der Partei, gegen den die Mäßigung in der Bauernpolitik durchgesetzt werden mußte, war nach 1930/31 keineswegs versiegt. Der XVII.Parteitag 1934 wurde offiziell als „Parteitag der Sieger“ gefeiert – aber damit war nicht gesagt, welcher Sieger gemeint war. In seinem Rechenschaftsbericht griff Stalin die Linken an und kritisierte vor allem die „Gleichmacherei“ als Abweichung vom Leninismus. Er stellte „bei einem Teil der Parteimitglieder“ in der Frage von Kommune und Artel einen „gründlichen Wirrwarr“ fest. „Man meint, die Partei habe sich dadurch, daß sie das Artel zur Grundform der kollektivwirtschaftlichen Bewegung erklärte, vom Sozialismus entfernt“.280 Gleichzeitig wandte er sich gegen „das ultralinke Geschwätz, das unter einem Teil unserer Funktionäre in Umlauf ist, … daß wir den direkten Produktenaustausch organisieren müßten, daß das Geld bald abgeschafft werden würde, weil es zu einem bloßen Rechenschein geworden sei“.281

Die Positionen, gegen die er sich wendete, bedeuteten die offene Wiederaufnahme der Utopien des Kriegskommunismus, durch den die Partei maßgeblich geprägt war. Was vor 10 Jahren hatte abgebrochen werden müssen, gegen den Widerstand und die Träume so vieler Kommunisten, sollte jetzt endlich vollzogen werden, wenn nötig, ohne Stalin. Typisch ist die von Deutscher zitierte Einschätzung aus dem Jahre 1933 durch einen Gewährsmann Trotzkis, die wahrscheinlich die Stimmung eines großen Teils der „alten“ Partei richtig widerspiegelt: „Jeder spricht davon, daß Stalin isoliert sei, daß er allgemein gehaßt werde … Aber man fügt oft hinzu: >Hätten wir nicht diesen (wir unterdrücken hier den Ausdruck, den man für ihn benützt) gehabt, so wäre längst alles in Stücke zerfallen. Er ist es, der alles zusammenhält.<„282

Aus dem Kreis des Wahlkomitees ist bekanntgeworden, daß auf dem Parteitag von 1934 bei den geheimen ZK-Wahlen 270 Delegierte gegen Stalin stimmten;283 Wolkogonow spricht sogar von 300 der insgesamt 1225 Delegierten.284 Offiziell bekanntgegeben wurden allerdings nur 3 Gegenstimmen. Abwegig ist es, diesen Widerstand statt auf politische Differenzen auf Stalins „Grobheit“ zurückzuführen, die zu ganz anderen Zeiten nicht von seiner unbestrittenen Wahl abgehalten hatte. Wenig überzeugend ist auch, die Opposition mit den „Rechten“ in Verbindung zu bringen; die Bucharinsche Linie besaß zu diesem Zeitpunkt kaum noch Anhang. Die Gegenstimmen kamen von den Vertretern der linksradikalen Strömung, die an die Zeiten des Kriegskommunismus anknüpfen wollten und gegen die Stalin auf diesem Parteitag hauptsächlich Front gemacht hatte.

Dieser Parteitag bildete die Scheidelinie. 1921 war die NEP in der Partei nur durchzusetzen gewesen, weil die Bauernschaft zwar ökonomisch frei wirtschaften durfte, aber nicht nur von den Kommandohöhen der Industrie, sondern durch das ungleiche Wahlrecht auch vom Staat ferngehalten blieb. Die Gleichberechtigung der Bauern Mitte der 30er Jahre war nur gegen die Partei durchzusetzen; das bildete den Ursprung und Hintergrund der Säuberungen.

Innenpolitisch besaßen die Linken ihren machtmäßigen Rückhalt in der GPU, der politischen Polizei. Schon Ende August 1932 wurde die GPU-Führung ausgewechselt; ein Mitarbeiter von Stalins damaligem Vertrautem Ordschonikidse kam an die Spitze. „Die Maßnahme soll die Machtfülle der GPU, die Stalins neuem Kurs in der Wirtschaftspolitik im Wege steht, einschränken.“285 Dieser „neue Kurs“ war die Verlangsamung des Kollektivierungstempos und die Durchsetzung des Artels anstelle der Agrarkommune. Weil die Auswechselung der Spitze aber offenkundig nicht ausreichte, wurde die GPU im Juli/August 1934 in ein neues Volkskommissariat des Inneren (NKWD) übernommen, das alle Polizei- und Sicherheitsfunktionen erhielt. Damit war das Instrument der kommenden Säuberungen vorbereitet – aber noch längst nicht an allen Orten.

In Leningrad massierte sich der Widerstand gegen die Politik Stalins. Hier lag der Schwerpunkt der sowjetischen Industrie und hatten die Linken traditionell ihre Hochburg. In Petersburg-Leningrad hatte Trotzki bereits in der Revolution von 1905 als Vorsitzender des Sowjet und sodann 1917 in der Oktoberrevolution gewirkt. Hier hatte die „Arbeiteropposition“ unter den Metallarbeitern ihren Rückhalt gehabt, und hier war Sinowjew der örtliche Parteichef gewesen. Während Trotzki im bolschewistischen Parteiapparat nur verschwindend wenig Anhänger gehabt hatte, stießen mit Sinowjew, Kamenew und Krupskaja – der Witwe Lenins – nach 1925 auch Teile des Funktionärskörpers zur Linksopposition.

Um Sinowjew abzulösen, war einer der besten Männer der Partei, Sergej M. Kirow, 1925/26 nach Leningrad geschickt worden. Mittlerweile zum Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK aufgestiegen, wurde er am 1.Dezember 1934 ermordet. Der Täter gehörte zu einer Gruppe von Anhängern Sinowjews. Die politische Polizei in Leningrad wußte, daß ein Attentat geplant war, hatte jedoch keine Maßnahmen ergriffen, um es zu verhindern.286 Kirow stand Stalin nicht nur politisch nahe, sondern gehörte auch zu den wenigen, mit denen der Generalsekretär persönlich befreundet war; die Familien besuchten sich regelmäßig. Zwei Stunden nach dem Attentat fuhr Stalin, begleitet von anderen hohen Parteiführern, persönlich nach Leningrad, um die Untersuchungen in die eigene Hand zu nehmen. Er war nach Augenzeugenberichten so erregt, daß er bei der Ankunft in Leningrad den örtlichen Leiter der Geheimpolizei ohrfeigte.287

Weil die Polizei den Mord nicht verhindert hatte, behauptete Chruschtschow auf dem XX.Parteitag 1956, Stalin habe Kirow als Konkurrenten ermorden lassen – ein seither immer wieder erhobener Vorwurf. Selbst Wolkogonow, der sonst keine Gelegenheit ausläßt, um Stalin anzugreifen, muß zugeben, daß dafür trotz aller Bemühungen kein Beweis erbracht werden kann.288 Das hält ihn nicht davon ab, dem Generalsekretär der Partei nicht nur Kirows Tod anzulasten, sondern darüber hinaus die Hinterhältigkeit, alle Beweise dafür zu vernichten – eine Methode, mit welcher Stalin auch für den sibirischen Winter verantwortlich zu machen ist. Da die Beweislage kümmerlich ist, wird von Wolkogonow und anderen die politische Logik ins Feld geführt: Kirow sei seit einiger Zeit entgegen Stalin für eine Mäßigung in der Bauernpolitik eingetreten und in der Partei beliebter als Stalin gewesen. Dieser „logische“ Beweis spricht noch mehr als der fehlende Tatsachenbeweis bestenfalls für die Phantasie seiner Urheber: soweit Kirow für eine Mäßigung in der Bauernpolitik eintrat (wovon man ausgehen kann), handelte es sich nicht um eine Mäßigung gegenüber den Kulaken, wie unter der Hand unterstellt wird, sondern auf dem Boden der Ausschaltung der Kulaken um das Entgegenkommen gegenüber den mittelbäuerlichen Massen der Kolchosbauern. Das war aber nichts anderes als die Stalinsche Linie. Darüber hinaus war Kirow ausgewiesenermaßen ein entschiedener Gegner der Parteilinken, gegen die er an die Spitze der Leningrader Organisation gestellt wurde und die nach seinem Tod erst recht verfolgt wurden.

Die Antwort Stalins auf die Ermordung Kirows waren „außerordentliche Maßnahmen“, die die bis dahin bestehende Gesetzlichkeit außer Kraft setzten. Damit wurde der Massenterror eröffnet, der seinen Höhepunkt 1937 erreichte. Nach dem 1989 veröffentlichten offiziellen KGB-Archiv über die Verfolgungen wurden in den 30er Jahren 3,6 bis 3,7 Millionen Menschen Repressionen ausgesetzt und in der gesamten Zeit von 1921 bis 1954 642.980 Personen aus politischen Gründen zum Tode verurteilt. Kritiker behaupten allerdings, daß auch die internen amtlichen KGB-Statistiken gefälscht sind und die tatsächlichen Zahlen um ein Mehrfaches höher liegen.289

Sozial wurde in erster Linie die linke Intelligenz verfolgt, die entscheidende Quelle der linksradikalen Positionen. „Im Jahr 1937 erreichten die Gewalt und die Gesetzlosigkeit ihren Höhepunkt. Es traf in hohem Maße die Intelligenz, deshalb ist es nicht verwunderlich, daß darüber viel geschrieben wurde und jene Periode ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte.“290 Jetzt traf es mit den anderen Linken auch die Trotzkisten, die 1930 zurück zur Partei gefunden hatten. Und als die Maschine einmal in Gang gekommen war, erfaßte sie schließlich auch die Bucharinschen „Rechten“, denn jetzt wurde jede Opposition ausgemerzt.

3. Eine neue Partei und eine neue Armee

Aus der großen Säuberung ging am Ende eine neue Partei hervor – die Partei des Klassenbündnisses aus bäuerlichem Proletariat und Kolchosbauernschaft. Die Partei bis 1934 war sozial die Partei des städtischen Proletariats unter führender Beteiligung der Intelligenz gewesen. Politisch war sie die Partei des Kriegskommunismus gewesen, hatte den Rückzug zur NEP nur in höchster Not angetreten, brach in Teilen schon 1925/26 mit der NEP und handelte 1929, als die Schleusen geöffnet wurden, voller Überschwang. Die Fakten zeigen, daß wir 1939 eine andere Partei vor uns haben.

Zum Zeitpunkt des XVII.Parteitags 1934 hatte die KPdSU 2,8 Mio Mitglieder, davon 1,9 Mio Vollmitglieder und 0,9 Mio Kandidaten. Dieser Parteitag, auf dem Stalin die Auseinandersetzung mit den „Linken“ führte, beschloß strengere Kriterien für die Aufnahme in die Partei, worauf der „Kurze Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU(B) 1937 voll Stolz hinweist.291 Auf dieser Grundlage gab es 1935 und 1936 sogar eine Aufnahmesperre. Die Abschließung der Partei richtete sich offenkundig gegen die neuen Bauernarbeiter, die zu Millionen in den neuen Fabriken arbeiteten und prinzipiell natürlich das Recht hatten, in die Partei aufgenommen zu werden. Erst ab November 1936 wurden wieder Neuaufnahmen vorgenommen, also zu einem Zeitpunkt, als die Säuberungen ihren ersten Höhepunkt hinter sich hatten. Zum Zeitpunkt des Parteitags 1939 hatte die KPdSU dann 2,5 Mio Mitgliedern, davon 1,6 Mio Vollmitglieder und 900.000 Kandidaten.292 Das waren 300.000 weniger Parteimitglieder als 1934, genau gerechnet 270.000 weniger, wie Stalin in seinem Rechenschaftsbericht darlegte.293 Etwas mehr als 1 Mio dieser 2,5 Mio waren seit November 1936 neu aufgenommen worden. Das bedeutet, daß mehr als die Hälfte der Parteimitglieder von 1934 (1,5 von 2,8 Mio) verschwunden waren – weit mehr als durch natürliche Fluktuation möglich -, und daß zwei Fünftel der Parteimitglieder von 1939 (1 von 2,5 Mio) in den 16 Monaten zuvor neu zur Partei gestoßen waren. Auch wenn es darüber keine näheren Angaben gibt, ist anzunehmen, daß diese neuen Mitglieder sich im wesentlichen aus den neuen bäuerlichen Proletariern und der neuen Intelligenz rekrutierten.

Der Untergang der alten und die Entstehung einer neuen Partei zeigt sich insbesondere am Schicksal der führenden Parteischicht. Noch 1930 war es so, daß „die Intelligenz neben den Arbeitern in den Schlüsselstellen des Parteiapparats eine nicht unbedeutende Rolle spielte und daß die Parteimitglieder aus der Zeit der Illegalität und des Bürgerkriegs im oberen und mittleren Management der VKP dominierten.“294 Bis zum XVII. Parteitag 1934 hatte sich daran wenig geändert, nach der Säuberung um so mehr. Auf den Parteitagen bis 1934 waren 80% der Delegierten Parteimitglieder aus den Jahren vor 1920 gewesen; auf dem XVIII.PT 1939 betrug ihr Anteil nur noch 19%.295 Die Delegierten des Parteitags von 1934, denen gegenüber Stalin seine Agrarreformen verteidigen mußte und die wahrscheinlich zu einem Viertel gegen ihn stimmten, wurden in der Mehrzahl verhaftet, umgebracht oder verschwanden in der politischen Versenkung.296 Ebenso waren 110 der 139 auf dem XVII.PT gewählten ZK-Mitglieder Anfang 1939 verhaftet oder erschossen.

Unter diesen Umständen konnte Stalin auf dem Parteitag von 1939 das Ende der Säuberungen verkünden: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir die Methode der Reinigung im Massenmaßstab nicht mehr anzuwenden brauchen.“ Er bezeichnete die abgeschlossene Parteireinigung als „unerläßlich“; sie „zeitigte im wesentlichen positive Ergebnisse“. Es seien aber auch „ernstliche Fehler“ vorgekommen, sagte er und fügte hinzu: „Leider wurden mehr Fehler begangen, als anzunehmen war.“297 Welche Fehler das waren und wie sie korrigiert werden sollten, sagte er nicht. Es gibt Vermutungen, daß sich in den Säuberungen erneut zwei Gruppierungen innerhalb der KPdSU herausbildeten, die nach dem Weltkrieg in offenen Gegensatz traten.298 Möglicherweise deutet die unterschwellige Kritik an den „ernstlichen Fehlern“ bei der Parteireinigung in diese Richtung.

Nachdem der vorherige Parteitag die Kriterien für die Parteimitgliedschaft verschärft hatte, hob der XVIII.Parteitag im März 1939 alle sozialen Unterscheidungen bei der Aufnahme in die Partei auf. Statt der Einteilung in vier verschiedene Kategorien nach der Zugehörigkeit zu verschiedenen Klassen bzw. sozialen Gruppen (Arbeiter, Bauern, Intelligenz, Sonstige) wurden einheitliche Aufnahmebedingungen und die gleiche Kandidatenzeit (ein Jahr) für alle Eintretenden eingeführt.299 Nach der Gleichberechtigung in Staat und Armee öffnete sich den Bauern damit nun auch die Partei. Bis Mai 1940 wurden 1,1 Mio Kandidaten und 600.000 Mitglieder neu aufgenommen.300 Nimmt man die Zahlen von 1938 bis Juni 1941, so wurden sogar 2,1 Mio neu aufgenommen; das war mehr als die Hälfte der 1941 knapp 4 Mio Parteimitglieder.301 Die geänderten Aufnahmekriterien machten sich in der Veränderung der Klassenzusammensetzung der Partei direkt bemerkbar. Anfang 1938 hatte die KPdSU zu 64% Arbeiter, zu 11% Bauern und zu 25% Angestellte in ihren Reihen gehabt. Anfang 1941 waren es nur noch 47% Arbeiter, aber 30% Bauern und 23% Angestellte.302 Damit wurde die Partei, die bis dahin im wesentlichen eine Arbeiterpartei gewesen war, zu einer Arbeiter- und Bauernpartei.

Auch das Offizierskorps der Armee wurde in der zweiten Hälfte der 30er Jahre gesäubert. Mehrere 10.000 hohe Offiziere wurden entlassen, viele auch erschossen. Gestützt auf die Unterlagen Trotzkis und andere Quellen behauptet Deutscher, daß Planungen für einen militärischen Putschversuch vorangegangen waren. „Es ist richtig, daß die Generale einen Staatsstreich planten. (…) Der Hauptakt sollte eine Palastrevolution im Kreml sein, bei der Stalin ermordet werden sollte. Außerhalb des Kremls sollte ein entscheidender militärischer Schlag erfolgen. Unter anderem war die Besetzung des Hauptquartiers der GPU vorgesehen. Tuchatschewski war der treibende Geist dieser Verschwörung.“303 Zu diesem Zeitpunkt (1936/37) war die Kollektivierung bereits vorbei. Wenn die Armee Anfang der 30er Jahre nicht eingegriffen hatte, als das Land durch die Auseinandersetzungen auf dem Land tatsächlich in seiner Verteidigungsfähigkeit geschwächt war, muß die Unruhe unter den Offizieren Jahre später andere Ursachen gehabt haben.

Als offizieller Grund für die Säuberung wurden geheime Verbindungen mit der deutschen Wehrmacht zur Verschwörung gegen die Staatsführung angegeben. Es ist umstritten, ob diese Verschwörung tatsächlich existierte oder ob sie auf gefälschten Dokumenten des deutschen Geheimdienstes beruhte, der das sowjetische Offizierskorps schwächen wollte. Selbst wenn es geheime Kontakte mit den Deutschen gab, können sie der Natur der Sache nach nur einen kleinen Kreis umfaßt haben. Darum legt der Massencharakter der Säuberung eine andere Erklärung nahe: Die Armee war die Armee des Kriegskommunismus ohne die Millionenmassen der mittelbäuerlichen Soldaten des Bürgerkriegs. In sie hatte das Proletariat der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs seine besten Kräfte geschickt, um den Sieg über die Weißen zu organisieren; sie verkörperte militärisch den jenseits der Bauern stehenden Arbeiterstaat. Diese Armee stand bei der Kollektivierung Gewehr bei Fuß, nicht weil sie vor einem Eingreifen zurückscheute oder im Würgegriff der Partei war, sondern weil sie sich als militärische Garantin des Wegs zum Kommunismus betrachtete und die Politik des Angriffs auf die Kulaken befürwortete. Der Widerstand in ihrer Führung baute sich auf, als der Staat und sodann vor allem die Armee selber den Bauern geöffnet werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Generäle offensichtlich, Pläne für einen Staatsstreich zu schmieden.

Wenn diese Vermutung zutrifft, dann konnte als Grund für das Vorgehen gegen die Offiziere nicht ihr Festhalten an der Arbeitermacht – ohne Bauern – angegeben werden. Ebensowenig reichte es aus, nur einige Offiziere zu entlassen, sondern mußte das Rückgrat des Offizierskorps ausgewechselt werden. Die Verbindung mit den Deutschen – gleich ob vorhanden oder nicht – war dann nur der Vorwand, um diese Massensäuberung vorzunehmen.

Gibt es bei der Parteisäuberung trotz aller Vorbehalte eine Reihe von Anhaltspunkten für die vorgenommene Analyse, so sind bei der Armeesäuberung endgültig nur Mutmaßungen möglich, um eine schlüssige Erklärung zu finden – es sei denn, man hält den Hinweis auf die uferlose Machtgier Stalins für ausreichend. Um endgültige Klarheit über die Ereignisse zu erlangen, sind nähere Untersuchungen über die Zusammensetzung und Entwicklung der Arbeiterklasse, über die Strömungen im Proletariat wie über die verschiedenen Gruppierungen in Partei, Staatsapparat und Armee und ihre Vorstellungen erforderlich. Unabhängig vom Ergebnis solcher noch ausstehender Untersuchungen steht jedoch eines fest: So wie aus dem sowjetischen Arbeiterstaat in der zweiten Hälfte der 30er Jahre ein Arbeiter- und Bauernstaat und aus der bolschewistischen Arbeiterpartei eine Arbeiter- und Bauernpartei wurde, so wurde aus der proletarischen Roten Armee eine Arbeiter- und Bauernarmee.

4. Zur Frage der Staatsmacht

Am Vorabend des 2.Weltkriegs hatte die Sowjetunion ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht gefunden. Ohne die Zerschlagung der Kulaken hätte die beschleunigte Industrialisierung nicht eingeleitet werden können. Umgekehrt war die anschließende Befriedung des Dorfes die Voraussetzung, um den Fortgang der Industrialisierung zu sichern und den kommenden Krieg zu bestehen. „Gegen Ende der dreißiger Jahre erreichte die neue soziale Struktur Rußlands ein beachtliches Maß an Festigkeit, das umso bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt, wie brüchig die Fundamente dieser Ordnung zu Beginn dieses Jahrzehnts noch gewesen waren.“304 Grundlage dieses Gleichgewichts war das Zusammengehen von Arbeiterklasse und Kolchosbauernschaft.

Die bestehenden Aufgaben waren nur mithilfe des Staates zu lösen. Solange das Proletariat eine Minderheit in der Gesellschaft bildete und die Grundlagen seiner eigenen Herrschaft erst schaffen mußte, existierten keine Voraussetzungen, um den Staat in die Gesellschaft zurückzunehmen. Im Gegenteil mußte er als entscheidender Hebel der Industrialisierung ausgebaut werden. Aus den gleichen Gründen, weshalb dieser Ausbau überhaupt erfolgte, mußte er auch in zentralisierter Gestalt erfolgen. „Zwar sind die lokalen und regionalen Verhältnisse noch zu wenig erforscht, aber vieles spricht für die Vermutung, daß die Schwäche der dezentralen Instanzen gerade nach einer Ausweitung zentraler Eingriffe verlangte.“305 Auf ökonomischem Gebiet hatte dies den Aufbau einer zentralisierten Wirtschaftsverwaltung in der Hauptstadt Moskau zur Folge. „Aber die geschichtlich einzigartige, unter schwierigen geographischen Umständen vollbrachte Anstrengung hat auch jene monolithische Wirtschaftsbürokratie entstehen lassen, die Voraussetzung und Ergebnis der ökonomischen Raumdurchdringung war und die bisher jeder Absicht dezentralisierender Reform widerstand.“306

Stalin kritisierte 1934 auf dem XVII. Parteitag diejenigen (Linken), die meinten, „daß man den Klassenkampf abschwächen, die Diktatur des Proletariats abschwächen und überhaupt dem Staat ein Ende machen könne, der ja ohnehin in der nächsten Zeit absterben müsse.“307 Die von ihm kritisierte Position war jedoch auch die Auffassung von Marx und Engels über die erste Stufe der neuen Gesellschaft gewesen, in der sie den Staat zwar nicht nicht auf einen Schlag abgeschafft, aber allmählich absterben sahen. In der Sowjetunion konnte von einem Absterben des Staats jedoch keine Rede sein, obwohl der Klassenantagonismus verschwunden war und man den Sozialismus, dh. die erste Stufe der neuen Gesellschaft, seit 1932/33 erreicht glaubte. In seiner Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch begründete Stalin die Verstärkung des Staats 1939 ausschließlich mit der internationalen Lage, mit der Gefahr eines Überfalls von außen.308 Tatsächlich aber mußte der Staat nicht nur wegen der umgebenden Mächte und ausländischer Spione stark sein, sondern hauptsächlich, weil die Gesellschaft im Umbruch und die Gesellschaftsstruktur ungesichert war, die Arbeit zwangsweise organisiert werden mußte und schließlich das Mehrprodukt der Bauern nur auf dem Boden außerökonomischer Gewalt erlangt werden konnte.

Wie bei den Fragen der Agrarkommune und des Geldes hatten die Linken in der Theorie mit ihrer Behauptung recht, daß dem Marxismus zufolge der Klassenkampf im Sozialismus sich abschwächt und der Staat zurückgeht. Demgegenüber hatte Stalin in der Sache recht, daß weder für den Übergang zur Agrarkommune noch für das Verschwinden des Geldes noch für den Abbau des Staates die Verhältnisse reif waren. Das Problem war nur, daß aus eben diesen Gründen die Sowjetunion nicht sozialistisch war.

1920 hatte Trotzki die Militarisierung der Arbeit und die Verschmelzung von Partei, Staat und Gewerkschaften verlangt. Das war gegenüber der Arbeiterklasse der Oktoberrevolution und angesichts der herannahenden NEP ebenso massenfeindlich wie falsch und hätte eine ungeheuere Bürokratisierung zur Folge gehabt. Als eine ähnliche Politik in den 30er Jahren und gegenüber der neuen Arbeiterklasse unumgänglich wurde, gab das dem Widersacher Stalins stets neue Nahrung für seine Bürokratiekritik (er wußte, wovon er sprach). Dabei verhinderte die proletarische Avantgarde mit allen Mitteln, daß sich die Staatsbürokratie etablieren und verselbständigen konnte. „Dennoch war das Mißtrauen der Parteiführung gegenüber dem Apparat so stark, daß der vielfältige Mechanismus der Kontrolle (weiter)entwickelt wurde. Die Papierflut wuchs noch mehr, zunehmend wurden alle Entscheidungen doppelter oder gar mehrfacher Kontrolle unterworfen. Schnell und hart waren die Strafen bei Versagen, und jeder Aufgestiegene konnte über Nacht wieder unten sein. Es gab keinen Halt für diese Bürokratie. Sie blieb abhängig von der Parteiführung.“309 Nicht nur wurde die Wirtschaftsbürokratie immer wieder umgewälzt, auch jene Elemente an der Spitze des Gewaltapparats, derer sich Stalin in den Säuberungen der 30er Jahre bediente, wurden regelmäßig ausgetauscht.

Über die Herrschaftsverhältnisse führte Stalin näher aus, daß die Verfassung von 1936 davon ausgehe, „daß es in der Gesellschaft keine antagonistischen Klassen mehr gibt; daß die Gesellschaft aus zwei befreundeten Klassen, aus Arbeitern und Bauern besteht, daß ebendiese werktätigen Klassen an der Macht stehen, daß die staatliche Führung der Gesellschaft (die Diktatur) der Arbeiterklasse als der fortgeschrittensten Klasse der Gesellschaft zukommt“.310 Beide Klassen waren „an der Macht“ – das hieß, daß die Bauernschaft durch das ungleiche Wahlrecht nicht länger vom Staat ausgeschlossen war. Die Arbeiterklasse hatte aber nach Stalins Worten weiterhin die „staatliche Führung der Gesellschaft“ inne; nicht Proletariat und Bauernschaft gemeinsam, sondern das Proletariat übte die „Diktatur“ aus. Die Arbeiterklasse übte also nicht nur die Hegemonie aus, sondern verfügte auch über die Schlüsselstellen der Macht, insbesondere über den Gewaltapparat. Das wiederum war nur mithilfe ihrer Avantgarde möglich, und die befand sich wie die Klasse selber in einem tiefgreifenden Umbruch. Zwar änderte sich das Parteiprogramm nicht und behielten die Arbeiter nach wie vor das soziale Übergewicht. Aber es war unausweichlich, daß mit dem Umbruch eine Schwächung des proletarischen Charakters der Partei einherging.

Die Widersprüchlichkeit der Entwicklung konnte kaum größer sein: in den 20er Jahren war die Sowjetunion ökonomisch weit vom Sozialismus entfernt, aber politisch war die Arbeitermacht gesichert, weil die Bauern jenseits des Staates standen, durch soziale Gegensätze gespalten waren und das Proletariat und seine Partei trotz aller Brüche in Revolution und Bürgerkrieg historisch gewachsenen Charakter trugen. Jetzt war die ökonomische Grundlegung des Sozialismus durch die Industrialisierung in vollem Gange und machte sich das Proletariat daran, auch rein zahlenmäßig zur Mehrheit der Gesellschaft zu werden. Aber durch den gleichen Prozeß wurde die gesellschaftliche Grundlage der Arbeitermacht schwächer, denn die Industrialisierung ließ eine form- und traditionslose Masse bäuerlicher Arbeiter an die Stelle des Oktoberproletariats treten. Keine politische Maßnahme konnte verhindern, daß die Arbeitermacht objektiv auf dünnem Boden stand. Mehr und mehr wurde die Herrschaft des Proletariats von Personen abhängig, an erster Stelle von Stalin.

Solange die NEP betrieben worden war, hatten Stadt und Dorf beziehungslos nebeneinandergestanden, nur durch den Handel miteinander verbunden. Der Gewaltapparat spielte nach dem Ende des Bürgerkriegs eine untergeordnete Rolle. Als das Dorf jedoch durch die Kollektivierung in die Politik hineingerissen wurde, die Bauern die Städte überfluteten und eine Zwangsorganisation der Arbeit eingerichtet werden mußte, wurde nicht nur der Staat stärker, sondern fand mit den bäuerlichen Millionenmassen auch die Barbarei des flachen Landes Eingang in die Stadt und in den Staat.

Die in den 30er Jahren entstehende Ordnung entsprach dem Charakter des bäuerlich-barbarischen Proletariats, das sie trug. Es trieb die Entwicklung voran und mußte zugleich vorangetrieben werden. Es herrschte und mußte zugleich beherrscht werden. Seine Herrschaft war schreckenerregend stark und stand zugleich auf schwachen Füßen. Erst wenn die Industrialisierung alle Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Agrarverhältnisse, umgewälzt hatte und aus Bauern agrarische Arbeiter geworden waren, erst dann war die Arbeitermacht gesichert und der Weg zum Kommunismus frei. Und erst in dem Maße, wie aus dieser Industrialisierung ein kultiviertes Proletariat hervorging, konnte mit dem Abbau des Staates die Herrschaft eine andere, zivilere Form annehmen.

5. Der „Kurze Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU

Auf dem Höhepunkt der Säuberungen erschien der „Kurze Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU, in dem die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der Form subjektiver Geschichtsschreibung wiedergegeben wurden. „Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow u.a.“ wurden darin in einem Atemzug als „Verteidiger und Fürsprecher“ der Kulaken attackiert.311 „Vor dem Übergang der Partei zur Offensive gegen das Kulakentum … verhielt sich die Bucharin-Rykow-Gruppe mehr oder weniger ruhig, blieb sie in der Reserve der parteifeindlichen Kräfte … und trat sogar zuweilen zusammen mit der Partei gegen die Trotzkisten auf. Als jedoch die Partei zur Offensive gegen das Kulakentum überging …, warf die Bucharin-Rykow-Gruppe die Maske ab“.312 Bucharin mit Trotzki und Sinowjew in einem Atemzug zu nennen, spiegelte insoweit einen Funken Wirklichkeit wider, als sie alle die Bauernfrage mit den Mittelbauern im Zentrum nicht begriffen hatten. Davon ausgehend ging ihre Politik jedoch in entgegengesetzte Richtungen, so daß es absurd war, Trotzki gemeinsam mit Bucharin als Fürsprecher der Kulaken zu attackieren.

Der Subjektivismus ging so weit, Bucharin und den „Volksfeinden Trotzki, Sinowjew und Kamenew“ vorzuwerfen, daß dieser „Abschaum der Menschheit“ schon „seit den ersten Tagen der Sozialistischen Oktoberrevolution in einer Verschwörung gegen Lenin, gegen die Partei, gegen den Sowjetstaat gestanden“ und „im Auftrage ausländischer bürgerlicher Spionagedienste“ Meuchelmorde begangen hatte.313 Auf der Gegenseite wurde die Politik Lenins und Stalins in ebensolcher Weise geglättet und beschönigt. Es scheint so, als ob die handelnden Personen von Natur genial oder verbrecherisch, gut oder schlecht waren. In dieser Hinsicht ging der „Kurze Lehrgang“ allen seinen Kritikern – von Trotzki über Medwedew bis zu Woronzow, von den Bürgerlichen ganz zu schweigen – voraus, die als letzte Ursache für die sowjetische Innenpolitik der 30er Jahre Stalins Skrupellosigkeit, Machtgier oder brutale Mittelmäßigkeit ausmachten.

Als Kampfschrift inmitten der Ereignisse verfaßt, ist dem „Kurzen Lehrgang“ von vornherein nicht die Objektivität eines Geschichtsbuchs abzuverlangen, das die widersprüchlichen Handlungsweisen der Akteure aus den widersprüchlichen Verhältnissen erklärt. Aber auch wenn man dies berücksichtigt, trägt die Schrift einen spezifisch subjektivistischen Charakter. Dieser Subjektivismus hat seinen Ursprung in der Umwälzung der 30er Jahre, als durch bloße Willensanstrengung und heroische Kraftentfaltung sowie gleichzeitig den Kampf gegen „die Saboteure“ alles möglich schien. Wer das Werk als Geschichtsbuch liest, findet ein Produkt ideologischer Geschichtsschreibung vor, untauglich, die Geschichte der Sowjetunion und der sie führenden Partei zu erklären. Es muß als Dokument seiner Zeit verstanden werden, als Werk, das wenig erklärt, sondern selber erklärt werden muß.

VIII. Die Aufgabenstellung nach dem 2.Weltkrieg

Den 2.Weltkrieg, die stärkste Probe auf die Tragfähigkeit ihrer Gesellschaftsordnung, bestand die Sowjetunion siegreich und stieg neben den USA zur Weltmacht auf. Der industrielle Wiederaufbau in den ersten Nachkriegsjahren ging erheblich schneller vonstatten als in den kapitalistischen Ländern. Aber die Produktionsverhältnisse als solche hatten sich nicht geändert, so daß auch die daraus resultierende Aufgabenstellung bestehenblieb. Gleichzeitig verselbständigte sich die Armee im Gefolge des Weltkriegs, so daß eine weitere Aufgabe dazukam.

In Fortsetzung der bisherigen Darstellung soll versucht werden, die Nachkriegsentwicklung bis zum Untergang der Sowjetunion nachzuzeichnen. Der Stand der ökonomischen, sozialen und politikgeschichtlichen Forschung läßt allerdings gesicherte Schlußfolgerungen nicht zu. Schon aufgrund des fehlenden Zugangs zu den Materialien existieren weder tiefergehende Untersuchungen über den industriellen Produktionskörper noch solche über die sowjetische Herrschaftsordnung. Darum müssen die gegebenen Erklärungen thesenhaft bleiben.

1. Nichtsozialistische Verhältnisse

In der politökonomischen Debatte spiegelt sich das bäuerliche Grundproblem der sowjetischen Entwicklung wider. In seinem Rechenschaftsbericht an den XVII.Parteitag im Januar 1934 hatte Stalin an die von Lenin zu Beginn der NEP aufgezählten Elemente fünf verschiedener gesellschaftlich-ökonomischer Formationen im jungen Sowjetstaat erinnert. Drei davon, nämlich die patriarchalisch-naturalwirtschaftliche Produktion, der privatwirtschaftliche und der Staatskapitalismus würden mittlerweile nicht mehr existieren. Die kleine Warenproduktion der getreideanbauenden Bauern sei auf untergeordnete Positionen zurückgedrängt, die sozialistische Form der Wirtschaft dagegen sei uneingeschränkt vorherrschend und einzig bestimmend.314 Als sozialistisch nannte er dabei sowohl die staatlich geplante und organisierte Fabrikproduktion der städtischen Arbeiterklasse als auch die genossenschaftliche Agrarproduktion der Kolchosbauern.

1952 führte er aus, welche prinzipiellen Widersprüche sich nach wie vor im Schoße der einen „sozialistischen“ Produktionsweise verbargen: „Gegenwärtig existieren bei uns zwei grundlegende Formen der sozialistischen Produktion: die staatliche, volkseigene, und die kollektivwirtschaftliche, die man nicht als volkseigene bezeichnen kann. In den staatlichen Betrieben sind die Produktionsmittel und die Erzeugnisse der Produktion allgemeines Volkseigentum. In den kollektivwirtschaftlichen Betrieben hingegen sind, obwohl die Produktionsmittel (Boden, Maschinen) auch dem Staat gehören, die Erzeugnisse der Produktion Eigentum der einzelnen Kollektivwirtschaften, da es sich in den Kollektivwirtschaften sowohl um eigene Arbeit als auch um eigenes Saatgut handelt“.315 Weil „die Überschüsse der kollektivwirtschaftlichen Produktion auf den Markt gelangen und auf diese Weise in das System der Warenzirkulation einbezogen werden“,316 handele es sich um Warenproduktion und Austausch von Waren. Darum gelte auch das Wertgesetz weiter, wenngleich nur beschränkt, weil es nicht die Produktion insgesamt reguliere, sondern nur im Konsumgüterbereich wirke und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sowohl in der Stadt als auch auf dem Land seinen Wirkungsbereich einschränke.317

Die individuelle Warenproduktion der Kolchosbauern auf dem privat von ihnen genutzten Land erörterte Stalin nicht; wahrscheinlich glaubte er sie wegen der festgelegten Pflichtablieferungen und der hohen Steuern auf die Marktverkäufe fest unter Kontrolle.

Lassen wir einmal die oben erörterte Frage, inwieweit die Kolchosproduktion als Warenproduktion zu begreifen ist oder nicht, beiseite und unterstellen den für den Entwicklungsstand günstigsten Fall, daß sie tatsächlich Warenproduktion war. Dann ergibt sich zwischen den Stalinschen Ausführungen und den Überlegungen von Marx über den Zusammenhang von Sozialismus/Kommunismus und Ende der Warenproduktion ein gravierender Unterschied. Marx schreibt in seiner Kritik des Gothaer Programms über die neue Gesellschaft: „Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren.“318

Anschließend differenziert er diese von ihm „kommunistisch“ genannte Gesellschaft nach zwei Phasen, für deren erste sich später die Bezeichnung „sozialistisch“ eingebürgert hat. In der ersten Phase, „nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt“, findet nach seiner Auffassung bereits keine Warenproduktion mehr statt, weil der Einzelne nur individuelle Konsumtionsmittel zu Eigentum hat. Aber die Verteilung der individuellen Konsumgüter auf die Gesellschaftsmitglieder weist insoweit Analogien zum Warenaustausch auf, als jeder nur soviel von der Gesellschaft erhält, wie er ihr in Form von Arbeit gibt; es „herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht“: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung. Erst in der höheren Phase der neuen Gesellschaft, wenn der Kommunismus sich auf seinen eigenen Grundlagen bewegt, wenn mit der Teilung der Arbeit der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist, die Arbeit aus einem Mittel zum Leben selbst das „erste Lebensbedürfnis“ geworden ist, mit der allseitigen Entwicklung der Individuen ihre individuellen Produktivkräfte gewachsen sind und „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ – dann erst kann die Gesellschaft verkünden: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“319 Unabhängig von der Phaseneinteilung des Kommunismus ist festzuhalten, daß Marx das Verschwinden der Warenproduktion als gemeinsame Grundlage beider Phasen der neuen Gesellschaft sieht.

In offenem Gegensatz zu Marx behauptet Stalin, erst „in der zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft wird die Menge der für die Herstellung der Produkte aufgewandten Arbeit nicht auf einem Umwege gemessen werden, nicht vermittels des Wertes und seiner Formen, wie es in der Warenproduktion der Fall ist, sondern direkt und unmittelbar – durch die zur Herstellung der Produkte verausgabte Menge der Zeit, Menge der Stunden.“320 Auf Basis seiner Ausführungen über die Warenproduktion in der sozialistischen Sowjetunion folgerichtig, verschwindet für Stalin das Wertgesetz erst in dieser zweiten Phase, dh. im eigentlichen Kommunismus; darum wandte er sich 1934 auch gegen die Linken, die für die Abschaffung des Geldes bereits jetzt, im „Sozialismus“, eintraten.

Marx dagegen sieht den Wert und damit natürlich Wertgesetz und Geld mit dem Eintritt in die neue Gesellschaft verschwinden, weil damit die Warenproduktion überhaupt verschwindet. Ihre Ersetzung durch eine andere Produktionsweise stellt das ökonomische Wesen des Übergangs dar; sonst würde die Ablösung der früheren Gesellschaft rein politisch erfolgen, als bloßer Wechsel des Überbaus. Im Unterschied zur Stalinschen Auffassung kann die „sozialistische“ Produktion in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft nicht – auch nicht zu einem maßgeblichen Teil – Warenproduktion sein. Die neue Produktionsweise steht im Ganzen jenseits der Warenproduktion, auch wenn es außerhalb von ihr noch für eine Übergangszeit mehr oder weniger große Reste von (evt. auch kapitalistischer) Warenproduktion geben mag.

Darüber hinaus weist Marx darauf hin, daß in der ersten Phase der neuen Gesellschaft lediglich auf einem Gebiet, nämlich bei der Aufteilung der individuellen Konsumtionsmittel auf die einzelnen Gesellschaftsmitglieder, eine Analogie zum Austausch von Warenäquivalenten zum Tragen kommt: hier gilt dasselbe „Prinzip“ wie beim „Austausch Gleichwertiger“, weil jeder von der Gesellschaft exakt (nur) dieselbe Menge Konsumtionsmittel erhält, die der von ihm geleisteten Arbeit entspricht (abgesehen von den gesellschaftlich erforderlichen Abzügen). Mehr als eine Analogie ist dies jedoch nicht, denn gegenüber dem auf Werten beruhenden Austausch von Waren sind „Inhalt und Form“ hier „verändert“, wie Marx ausdrücklich hinzufügt; es gibt weder Warenproduktion noch das Wertgesetz. Dieser Austausch ist gegenüber der Warenproduktion wesensverschieden, weil er keine produktionssteuernde Funktion mehr hat. Die Produktion findet im Gegenteil von Beginn an bewußt, dh. geplant gemäß den Bedürfnissen, statt.

Darum hat auch das Geld hier seine Funktion verloren. An seiner Stelle existieren nur noch „Arbeitszettel“, die den eben genannten „Austausch“ zur Erlangung von Konsumgütern vermitteln. Sie bescheinigen dem Produzenten, wieviel Arbeit er geleistet hat, unter Abzug der Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds. Mit ihnen kann er aus dem gesellschaftlichen Vorrat an Konsumtionsmitteln soviel herausziehen, wie seiner eigenen Arbeit entspricht. Er „tauscht“ damit (seine eigene) Arbeit in der einen Form gegen Arbeit (von anderen), die in einer anderen Form vergegenständlicht ist.

Der politökonomische Gegensatz zu Marx steht im Zusammenhang mit politischen Auswirkungen. Wenn die Kolchosproduktion als „sozialistisch“ begriffen wurde, bestand kein Grund, den Trägern dieser Produktionsweise die politische Gleichberechtigung im sozialistischen Staat zu verweigern. Neben den objektiven Zwängen gab es also auch eine politisch-ideologische Logik, die zur Gleichstellung von Arbeitern und Bauern im Staat führte. Auf die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei trifft dies allerdings nicht zwingend zu. Als Klassenpartei des Proletariats konnte sie weiterhin den Arbeitern vorbehalten bleiben, die trotz „sozialistischer“ Gemeinsamkeiten mit den Bauern die höhere Form der sozialistischen Produktionsweise repräsentierten. Nachdem der Stein aber einmal ins Rollen gekommen war, waren die Zwänge offenbar zu stark, auch die Partei den Bauern zu öffnen.

Abgesehen von der Bauernschaft kann die sowjetische Gesellschaft auch von Seiten der Arbeiterklasse nicht als sozialistisch betrachtet werden. Marx zufolge stellt die neue Gesellschaft eine freie Assoziation der Produzenten, einen „Verein freier Menschen“ dar.321 Das setzt einen Entwicklungsstand der produktiven Klasse voraus, der wiederum nur auf dem Boden entwickelter Produktivkräfte möglich ist.

Im KAPITAL heißt es, mit dem Fortgang der kapitalistischen Produktion „entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit, die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt.“322 In Gestalt der kapitalistischen Produktionsweise sind dies die Anforderungen gesellschaftlicher Produktion überhaupt, die sich mit der Entwicklung des Kapitals im Ganzen der Gesellschaft durchsetzt. Darin eingeschlossen ist die Tendenz zur allseitigen Entwicklung der Eigenschaften und Fähigkeiten der Produzenten. Das geschieht in den Schranken einer Produktionsweise, für die die gesellschaftliche Produktion Mittel zum Zweck der Verwertung des Werts ist, deren Zweck also nicht die Befriedigung der Bedürfnisse ist und die deshalb nicht die Entwicklung der Individualität als Selbstzweck setzt. Aber erst auf dieser Basis kann sich eine Arbeiterklasse herausbilden, die nicht nur die alten Gewalten stürzen kann, sondern auch in der Lage ist, eine freie Assoziation der Arbeit zu bilden, die Produktivkräfte aus den Fesseln des Kapitals zu befreien und an die Rücknahme des Staats in die Gesellschaft zu gehen.

Diese Voraussetzungen waren in der Sowjetunion nicht gegeben. Die alte Arbeiterklasse der Oktoberrevolution, die tendentiell dazu in der Lage war, ging in der Industrialisierung als Klasse unter. Die neue Arbeiterklasse aus barbarischen Bauern aber mußte erst durch ein Zwangsregime an gesellschaftliche Arbeit gewöhnt werden. Findet in der nachkapitalistischen Gesellschaft die Planung auf Grundlage der Entwickeltheit der Produktion statt, um entwickelte Bedürfnisse zu befriedigen, so fand sie in der Sowjetunion auf Grundlage der Unentwickeltheit der Produktion statt, um die Industrialisierung überhaupt erst durchzuführen. Es konnte noch nicht der Sozialismus selber aufgebaut, sondern nur seine Voraussetzungen geschaffen werden.

Aus Anlaß der Verabschiedung der Verfassung von 1936 meinte Stalin, daß die Sowjetgesellschaft „den Sozialismus im wesentlichen schon verwirklicht, die sozialistische Gesellschaftsordnung errichtet, d.h. daß sie das verwirklicht hat, was bei den Marxisten sonst die erste oder untere Phase des Kommunismus genannt wird.“323 In Wirklichkeit blieb die Sowjetunion entgegen den Auffassungen ihrer Führung auch nach dem großen Umschwung, was sie nach der Aussage Lenins in den 20er Jahren gewesen war: sozialistisch nur dem Ziel nach. Nimmt man die Produktionsverhältnisse des Kolchos und die Zwangsorganisation der Arbeit in den Fabriken zusammen, so muß man feststellen, daß die bäuerliche Zurückgebliebenheit des Landes sich doppelt geltend machte: auf dem Land und in der Stadt, bei den Bauern selber und bei den Arbeitern. Zwar rückte die Sowjetunion ihrem Ziel mit der Industrialisierung und Kollektivierung einen großen Schritt näher. Indem die erste Stufe des Kommunismus aber bereits für verwirklicht erklärt wurde, mußte der wissenschaftliche Sozialismus ab den 30er Jahren dazu dienen, eine nichtsozialistische Gesellschaftsformation als sozialistisch zu deklarieren. Hier liegt ein maßgeblicher Grund für die Wandlung des Marxismus von einer Wissenschaft zur Ideologie.

2. Gegen die Bauern

Gleich nach dem Weltkrieg wurde das individuelle Hofland, das die Bauern im Zuge des Weltkriegs ausgedehnt hatten, wieder auf den alten Stand zurückgedrängt. 1946 erfolgte eine Währungsreform, die in erster Linie zu Lasten der Ersparnisse ging, die die Bauern im 2.Weltkrieg gemacht hatten, als man ihnen weit entgegenkommen mußte. Eine große Anzahl von Kolchosleitern, die eigenmächtig für die Bevorzugung der individuellen Bauernwirtschaften gesorgt hatten, wurde gemaßregelt.

Als Verantwortlicher für die Bauernpolitik trat im September 1946 das Mitglied des Politbüros A.A.Andrejew an die Spitze eines neugebildeten Rates für Kolchosangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR. Bei den Maßnahmen gegen die Kolchosen fiel auf, „daß hierbei mit großer Milde“ verfahren wurde: Kolchosleiter wurden bei der Aufdeckung von Mißständen nur abgesetzt, sonst geschah ihnen nichts. Außerdem trat Andrejew dafür ein, das System der individuellen Arbeitsgruppen als Grundlage der Arbeitsorganisation auszubauen. Die Arbeitsgruppen berücksichtigten besonders stark familiäre Bindungen;324 sie bauten damit auf den von Familienverbänden getragenen Strukturen der obscina auf.

Andrejews Gegenspieler in der Agrarpolitik war Chruschtschow. Er forderte die Zusammenlegung von Kolchosen zu Großkolchosen, bei denen als Grundlage der Arbeitsorganisation anstelle kleiner Familiengruppen Brigaden von 100 bis 150 Arbeitern gebildet werden sollten. Außerdem plante Chruschtschow damals die Gründung von Agrostädten. „Es ging um nicht mehr oder weniger als um die Beseitigung des bisherigen Typus des Bauern, den man durch einen im vollmechanisierten Betrieb beschäftigten landwirtschaftlichen Facharbeiter ersetzt wissen wollte.“325 Im Politbüro gab es wieder einmal heftige Auseinandersetzungen über die Agrarfrage. „Am schärfsten wurde an Chruscevs (Chruschtschows; H.K.) Plan kritisiert, daß das private Gartenland des Kolchosbauern verkleinert und dazu noch an die Peripherie der neuen Großkolchose verlegt werden sollte, um es hier kollektiv zu bearbeiten.“326

Mit Unterstützung Stalins, der Chruschtschow wegen seiner Agrarpolitik förderte, wurde der Zusammenschluß von Kolchosen durchgeführt, wodurch die Zahl der Kolchosen von 254.000 (1.1.1950) auf 94.000 (September 1953) sank.327 Insbesondere in den Steppengebieten konnten auf diese Weise auch Verwaltungskosten eingespart werden; in den übrigen Gebieten waren die finanziellen Einsparungen aber nicht groß.328 Die weitergehenden, von Chruschtschow vorgeschlagenen Veränderungen auf dem Land (Bildung von Agrostädten, Zurückdrängung des privaten Hoflands) wurden nicht umgesetzt, sei es, weil Stalin den Widerstand der Bauern als zu groß einschätzte, sei es, weil die Mehrheitsverhältnisse in der Parteiführung es nicht zuließen. Auch Andrejew blieb vorerst auf seinem Posten.

In seiner Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus“ nahm Stalin 1952 dann grundsätzlich zur weiteren Entwicklung der Kolchosen Stellung. Er wies darauf hin, daß die in den 30er Jahren auf dem Land geschaffenen Produktionsverhältnisse von großem Nutzen für die Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft gewesen seien und es auch noch in der nächsten Zukunft blieben, nannte es aber eine „unverzeihliche Blindheit“, nicht zu sehen, daß sie gleichzeitig bereits „beginnen, die gewaltige Entwicklung unserer Produktivkräfte zu hemmen, da sie Hindernisse für die vollständige Erfassung der gesamten Volkswirtschaft, besonders der Landwirtschaft, durch die staatliche Planung schaffen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß diese Erscheinungen je länger, je mehr das weitere Wachstum der Produktivkräfte unseres Landes hemmen werden.“329 Damit hatte er das ökonomische Kernproblem der weiteren Entwicklung benannt: die agrarische Produktivität war auf dem Boden der gegebenen Produktionsverhältnisse nicht ausreichend zu entwickeln. Um die latente Stagnation zu überwinden, mußten andere Produktionsverhältnisse auf dem Land geschaffen werden. Wie aber sollte das geschehen?

Den Weg der „einfachen Aufsaugung des kollektivwirtschaftlichen Sektors durch den staatlichen Sektor“ bezeichnete Stalin als „wenig wahrscheinlich“, weil das „als Expropriation der Kollektivwirtschaften aufgefaßt werden“ würde.330 Dem Kolchos das Eigentum an seinen Erzeugnissen zu entziehen und die Bauern zu Landarbeitern zu machen, erschien Stalin demzufolge nach wie vor zu gefährlich; noch lebte auf dem Land mehr als die Hälfte der Bevölkerung, und freiwillig verzichteten die Kolchosbauern nicht auf ihre Rechte. Wahrscheinlicher erschien Stalin die „Organisierung eines einheitlichen Wirtschaftsorgans des ganzen Volkes (in dem die staatliche Industrie und die Kollektivwirtschaften vertreten sein werden)“.331 Wie dieses „einheitliche Wirtschaftsorgan“ aussehen und wie es zustandekommen sollte, erörterte er nicht näher.

Er forderte, die vorhandenen „Widersprüche zu beseitigen durch allmähliche Umwandlung des kollektivwirtschaftlichen Eigentums in allgemeines Volkseigentum und durch – gleichfalls allmähliche – Einführung des Produktenaustauschs an Stelle der Warenzirkulation.“332 Diesen Produktenaustausch begünstigte der Staat nach Stalins Worten schon jetzt, denn es „ist bekannt, daß die Kollektivwirtschaften, die mit der Regierung Verträge über Produktenaustausch (>Waren<lieferung) abgeschlossen haben, bedeutend größere Vorteile erzielen als die Kollektivwirtschaften, die keine solche Verträge haben.“333 Die Aufgabe sah er darin, diese Ansätze „zu einem weitverzweigten System des Produktenaustauschs zu entwickeln, damit die Kollektivwirtschaften für ihre Erzeugnisse nicht nur Geld, sondern vor allem die notwendigen Erzeugnisse erhalten.“334

Ökonomische Vergünstigungen für den Produktentausch waren die eine Seite. Darüber hinaus erblickte Stalin anscheinend im Beharren auf dem Wertgesetz eine Möglichkeit, die Bauern ökonomisch in die Knie zu zwingen. In den „Ökonomischen Problemen“ wird erwähnt, daß das ZK einige Zeit zuvor das Verhältnis von Baumwoll- zu Getreidepreisen geregelt hatte. Nach einem Vorschlag der Wirtschaftler und Planer sollte eine Tonne Getreide fast soviel kosten wie eine Tonne Baumwolle, obwohl Baumwolle in der Herstellung viel teurer sei. Gleichzeitig sollte der Preis für die Tonne Getreide der gleiche sein wie für eine Tonne Brot, ungeachtet der zusätzlichen Kosten für Mahlen, Backen und Verteilung. Im ZK wurde stattdessen beschlossen, fährt Stalin unter Hinweis auf die Weltmarktpreise und das Wertgesetz fort, die Getreidepreise herab- und die Baumwollpreise heraufzusetzen.335

Ob der von Stalin in Ansätzen aufgezeigte Weg einer ökonomischen Lösung der Agrarfrage mit Zuckerbrot und Peitsche für die Bauern gangbar war oder nicht, mußte sich noch zeigen. Eine Bedingung für den Erfolg war die ausreichende Zunahme der Industrieproduktion. Stalin wies darauf hin, daß das System des Produktenaustauschs „eine gewaltige Steigerung der von der Stadt an das Dorf gelieferten Produktion (erfordert), deshalb sollte man es ohne Überstürzung, entsprechend der Anhäufung der von der Stadt hergestellten Erzeugnisse, einführen.“336 Ein weiterer Industrialisierungsschub war auch aus anderen Gründen notwendig: wenn durch Auflösung der Kolchosen die agrarische Produktivität entwickelt werden konnte, bedeutete das die Überflüssigmachung von lebendiger Arbeit. Diese Arbeitskräfte mußten von der Industrie aufgefangen werden, so wie umgekehrt der industrielle Aufbau mit ihnen vorangetrieben werden konnte. Die Fortsetzung der Industrialisierung warf aber die Frage nach den Ausgaben für Rüstung und Militär auf.

3. Um die Zwei-Lager-Theorie

Nach einem Satz von Gramsci war im Osten die Gesellschaft wenig, der Staat alles. Gramscis Aussage zielte auf die vorrevolutionäre Gesellschaft Rußlands, trifft aber auch die nachrevolutionäre Ordnung in der Sowjetunion. Ist die „Gesellschaft wenig“ und der „Staat alles“, ist die Armee naturgemäß von besonderer Bedeutung. Trägerin des Siegs im Bürgerkrieg, trat die Rolle der Roten Armee nur solange nicht hervor, wie die Politik der Partei sich mit ihren eigenen Vorstellungen deckte. Durch die Säuberungen Ende der 30er Jahre aus einer proletarischen zu einer Arbeiter- und Bauernarmee geworden, stellte der Weltkrieg jedoch ein neues Verhältnis zwischen Armee- und Staatsführung her.

In den ersten Kriegswochen wurde das Gros der proletarischen Truppen vernichtet, die als die kampfstärksten, mit den technischen Kriegsgeräten vertrauten Einheiten an vorderster Front gestanden hatten. Das waren die voll ausgerüsteten Kampfverbände aus den Jahren der Milizarmee, die auch nach der Armeereform die proletarische Vormacht garantierten. Die Eroberung der industrialisierten, westlichen Teile der Sowjetunion durch die deutschen Truppen tat ein übriges. Sie machte die bäuerlichen Massen und die asiatischen Rückzugsgebiete, von denen aus der Kampf fortgesetzt werden mußte, endgültig kriegsentscheidend. Die Armee wurde aus einer Arbeiter- und Bauernarmee zu einer Bauern- und Arbeiterarmee. Daß der Krieg nicht für den Sieg des Sozialismus, sondern als Großer Vaterländischer Krieg geführt werden mußte, war u a. eine Konsequenz daraus.

Die Politischen Kommissare wurden ein Hauptstreitpunkt zwischen Armee und Partei. 1925 abgeschafft, weil durch den Übergang zur Kadertruppe der proletarische Charakter der Armee gesichert war, wurden sie im Gefolge des Übergangs zum stehenden Heer am 10.Mai 1937 wiedereingeführt, diesmal aber nicht zur Kontrolle zaristischer Offiziere, sondern um die Hegemonie des Proletariats über die Bauern zu sichern. Am 12.August 1940 wurden sie erneut abgeschafft und 3 Wochen nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, mit Dekret vom 16.Juli 1941, noch einmal eingerichtet. Am 9.Oktober 1942 wurden sie dann endgültig abgeschafft.337 Damit hatte die Armee die Kontrolle durch die Partei abgeschüttelt. Von jetzt an duldete sie weder weitere Säuberungen in ihren Reihen noch war sie bereit, erneute innenpolitische Unruhen wie z.B. Auseinandersetzungen auf dem Land hinzunehmen.

Nähere Untersuchungen kommen zu dem Schluß, daß es in der Führung der sowjetischen Partei tiefgreifende Differenzen über die außenpolitische Orientierung nach dem 2.Weltkrieg gab. „Eine Reihe gut unterrichteter Beobachter spricht von zwei rivalisierenden Gruppierungen innerhalb der Führung der KPdSU im Jahre 1952.“338 Die erste Gruppierung verfocht außenpolitisch die „Zwei-Lager-Theorie“. Dieser Theorie zufolge stand dem Lager des Sozialismus ein geschlossenes, einheitliches Lager „des“ Imperialismus gegenüber; ein Krieg zwischen beiden war unvermeidlich. Aus dieser Analyse der Weltlage folgte die Notwendigkeit der militärischen Hochrüstung und Sicherung des osteuropäischen Vorfelds um jeden Preis, mit der Armee als entscheidender Kraft. Shdanow (Zdanov) war bis zu seinem Tod im Jahr 1948 der Repräsentant dieser Gruppierung. „In der sowjetischen Außenpolitik trat seit 1945 immer prägnanter der starke Einfluß und die energische Initiative des Leningrader Parteisekretärs Andrej Aleksandrovic Zdanovs hervor. (…) Im allgemeinen konnte er … als der Hauptverfechter der Doktrin von den Zwei Welten gelten, die der amerikanischen >one-world<-Auffassung gegenübergehalten wurde. Sehr bald konnte man in ihm eine der treibenden Kräfte der sowjetischen Außenpolitik im aggressiven Sinne erkennen.“339

Die „Zwei-Welten-Theorie“ bedeutete einen Bruch mit der bisherigen sowjetischen Außenpolitik. In „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ hatte Lenin 1920 geschrieben: „Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs angelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten >Riß< zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten innerhalb der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder … ausnutzt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen“.340 Auf dem Boden dieser Grundsätze hatte die Sowjetunion ihre Außenpolitik betrieben. Durch die Ausnutzung der Nachkriegsgegensätze zwischen Deutschland und den Westmächten (Vertrag von Rapallo) konnte sie in den 20er Jahren ihre seinerzeitige Abrüstung vollziehen und Mittel für den industriellen Wiederaufbau freisetzen. Nach dem 2.Weltkrieg dagegen gefährdete die fortgesetzte Rüstung trotz Demobilisierung eines Teils der Armee die Rekonstruktion und den Ausbau der Industrie.

Stalin war ein Gegner der „Zwei-Lager-Theorie“ und der darauf gestützten Rüstungspolitik. Er „fürchtete wohl eine weitere Verschärfung der internationalen Lage, die eine erneute Erhöhung der Rüstungsausgaben der USA und damit auch der UdSSR hätte zur Folge haben können.“341 In einem Interview in der Prawda vom 17.Februar 1952 wies er darauf hin, daß Hochrüstung die wirtschaftliche Entwicklung verhindern und die Sowjetunion in den Staatsbankrott treiben würde.342 Allerdings verfocht er in den „Ökonomischen Problemen des Sozialismus“ weiterhin den Vorrang der Schwerindustrie. Zu diesem Zeitpunkt war noch kein neuer Fünfjahrplan in Kraft gesetzt worden. Das vierte Planjahrfünft (1945-1950) hatte im Zeichen der Beseitigung der Kriegsschäden gestanden; die aufgetauchten Wirtschaftsschwierigkeiten führten dazu, daß erst im Oktober 1952 Direktiven für den fünften Fünfjahrplan verabschiedet werden konnten.343

In demselben Interview vom Februar 1952 widersprach Stalin der Behauptung, daß ein neuer Weltkrieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus unvermeidlich sei.344 In den „Ökonomischen Problemen des Sozialismus“ ging er auf die damit zusammenhängenden Fragen grundsätzlich ein. Er wandte sich gegen „manche Genossen“, die „meinen, daß die Gegensätze zwischen dem Lager des Sozialismus und dem Lager des Kapitalismus stärker seien als die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Ländern.“345 Die nicht namentlich Angesprochenen vertraten die Linie, daß Deutschland und Japan durch die Weltkriegsniederlage als selbständige Mächte ausgespielt hätten, und folgerten daraus, daß die sowjetische Außenpolitik nicht mehr auf die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Mächten setzen könne. Demgegenüber arbeitete Stalin heraus, daß der Wiederaufstieg Deutschlands und Japans und ihre Befreiung aus US-Vorherrschaft nur eine Frage der Zeit sein könne. Das Fazit seiner Ausführungen war, daß nicht ein Krieg zwischen Sozialismus und Kommunismus, sondern „die Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern bestehen bleibt.“346

Den Schlüssel für die daraus resultierende Politik stellte Deutschland dar. Ohne Deutschland war die Sowjetunion nicht zu isolieren, geschweige denn – abgesehen von einem atomaren Überfall – militärisch zu bedrohen. Die sowjetische Deutschland-Note von 1952 setzte diese Erkenntnis in Politik um: Gegen das Angebot der Wiedervereinigung bei freien Wahlen und selbständiger Entscheidung über die Gesellschaftsordnung sollte Deutschland sich zur Bündnislosigkeit verpflichten, dh. kein Militärbündnis mit den Vereinigten Staaten eingehen. Die Realisierung dieses Angebots hätte das US-geführte internationale „Lager“ gespalten, noch bevor es sich endgültig formiert hatte, und der Sowjetunion eine Abrüstung in großem Umfang erlaubt. Die Rolle der Armee wäre auf natürliche Weise zusammengeschrumpft, es hätte freie Mittel für den Fortgang der Industrialisierung und Spielraum für eine Politik gegen die Bauern gegeben.

Um den Kampf mit seinen Gegnern in Partei und Armee aufzunehmen, wurde Stalin nach Jahren der Zurückhaltung auch theoretisch wieder aktiv. Mitte 1950 erschienen mehrere Artikel in der Prawda über „Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft“. Sie richteten sich gegen die Anhänger der Sprachtheorie von Marr, der die Behauptung aufgestellt hatte, daß die Sprache klassengebunden sei, dh. Adel bzw. Bourgeoisie und Proletariat jeweils eine eigene Sprache hätten. Diese Zwei-Lager-Theorie in der Sprachwissenschaft wurde von Stalin zurückgewiesen.

1952 erschien die Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“. Sie enthielt „Bemerkungen zu ökonomischen Fragen“ (Untertitel) im Zusammenhang mit der Diskussion über den Entwurf eines Lehrbuchs der politischen Ökonomie. Hauptsächlich befaßte sich Stalin darin mit den Fragen der bäuerlichen Warenproduktion und mit der Existenz objektiver ökonomischer Gesetze im Sozialismus. Daneben nahm er Definitionen der ökonomischen „Grundgesetze“ von Kapitalismus, monopolistischem Kapitalismus und Sozialismus vor. Unter anderem wandte er sich gegen den sowjetischen Ökonomen L.D.Jaroschenko. Dieser war nicht nur einer derjenigen, die die Rolle der bestehenden Produktionsverhältnisse als objektiver Basis (und Grenze) der Politik auch im Sozialismus leugneten und damit den Zugang für eine weiterführende Bauernpolitik verschlossen; er trat auch für den Primat der Produktion vor der Konsumtion ein. „Bei ihm wird die Produktion aus einem Mittel zum Zweck … Es ergibt sich Wachstum der Produktion um des Wachstums der Produktion willen, Produktion als Selbstzweck, während der Mensch mit seinen Bedürfnissen aus dem Blickfeld des Genossen Jaroschenko verschwindet.“347

Es war dem Verfasser nicht möglich, die politische Zuordnung Jaroschenkos zu klären. Aber unverkennbar ist, daß seine Auffassung vom Selbstwert der Produktion im Verhältnis zum Konsum der dem Militär verbundenen Parteiströmung, die prinzipiell für den Vorrang der Schwer- und Rüstungsindustrie eintrat, Schützenhilfe bot. Im Gegensatz dazu verteidigte Stalin zwar für den gegebenen Zeitpunkt den Vorrang der Schwerindustrie, beharrte aber darauf, daß das Ziel der Produktion im Sozialismus „der Mensch mit seinen Bedürfnissen, das heißt die Befriedigung seiner materiellen und kulturellen Bedürfnisse“ sein müsse.348 Als „ökonomisches Grundgesetz des Sozialismus“ formulierte er die „Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch ununterbrochenes Wachstum und stetige Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchstentwickelten Technik.“349

Über die rein ökonomischen Fragen hinaus, mit denen sich die Schrift ansonsten beschäftigt, nahm der 6.Abschnitt „Die Frage der Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern“ eine außenpolitische Abrechnung mit der Zwei-Lager-Theorie vor, wiederum ohne ihre Vertreter zu nennen. Hier wird greifbarer, was ohne zusätzliche Informationen nicht nachvollziehbar ist: die von Stalin bezogenen Positionen richteten sich gegen die Vertreter einer schwerindustriell-bäuerlich-militärischen Strömung in der Parteiführung, die der Weiterentwicklung der Sowjetunion zunehmend im Wege stand.

4. Zwei Strömungen

Georg v.Rauch bemerkt, daß bereits lange vor 1952 zwei Fraktionen in der Parteiführung existierten, die ihren Kampf mit allen Mitteln austrugen. Er weist darauf hin, „daß sich seit der großen Säuberung der dreißiger Jahre zwei Gruppen im Kreml herausgebildet haben: eine mehr russisch-national bestimmte um Zdanov und eine mehr übernational-sowjetische um Berija und Malenkov. Sowohl aus der äußeren als auch der inneren Politik läßt sich nachweisen, daß zwischen beiden Gruppierungen Meinungsverschiedenheiten bestanden, die durch persönliche Rivalitäten ihrer Exponenten und Parteigänger verschärft wurden.“350 Es scheint so, als ob die beiden Parteiflügel vorübergehend durch den Krieg zusammengehalten wurden, bevor ihre Gegensätze in der Nachkriegszeit wieder aufbrachen. Die Informationen darüber sind aber nur sehr spärlich.

Als Parteisekretär in Leningrad war Shdanow der Nachfolger des Ende 1934 ermordeten Kirows geworden. Zuständig für die sowjetische Kulturpolitik, sorgte er nach dem Weltkrieg unter der Fahne des Kampfes für den „sozialistischen Realismus“ auf allen Gebieten der Wissenschaft, Kunst und Literatur für eine bäuerlich-russische Ausrichtung gegen den „vaterlandslosen Kosmopolitismus“. Er war es auch, der die Ideen des sowjetischen Biologen Lyssenko per Parteibeschluß zur Richtschnur der biologischen Wissenschaft machen ließ.351 Die Reglementierung des Geisteslebens war so weitgehend, daß sich dafür die Bezeichnung „Zdanovscina“ (Shdanow-Wirtschaft) einbürgerte.352

Außenpolitisch spricht Rauch von den Anhängern der Zwei-Lager Theorie als einer „aggressiven Strömung“ im Politbüro, deren Sprachrohr neben Zdanov der mit ihm befreundete N.A.Voznesenskij, jüngstes Mitglied des Politbüros und Chef des Planungsamtes, war. In seinem 1948 erschienenen Buch „Die Kriegswirtschaft der UdSSR in der Periode des Vaterländischen Krieges“ vertrat er in Abgrenzung zu Eugen Varga die Auffassung, daß das kommunistische Lager dem Lager des Kapitalismus in jeder Hinsicht überlegen sei. Unter den gegebenen Umständen liegt die Vermutung nahe, „daß dieses Buch dazu bestimmt war, das Programm Zdanovs zu untermauern und den Kreml für den Gedanken eines Krieges gegen den Westen zu erwärmen.“353 In der Berlin-Krise von 1948 sowie bei der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit dem Jugoslawien Titos soll diese Parteigruppierung für ein militärisches Vorgehen eingetreten sein. Aber auf dem Höhepunkt der Krise, am 31.August 1948, starb Shdanow. Man hat „gemeint, daß der Herzschlag, der den erst 52jährigen Mann hinwegraffte, eine Folge von heftigen Auseinandersetzungen im Politbüro wegen der Berliner und der jugoslawischen Frage gewesen sei. Zdanov habe eine militärische Aktion, wenn nicht gegen Berlin, das heißt gegen die Westmächte, so doch gegen Tito befürwortet, was von der Mehrheit des Politbüros einschließlich Stalins abgelehnt wurde.“354

Nachdem Shdanow tot war, wurden auch einige seiner führenden Parteigänger entmachtet. In Leningrad führte Malenkow die Säuberungen durch (die sog. „Leningrader Affäre“). Neben seinen außenpolitischen Ansichten hatte Voznejenskij vertreten, daß im Sozialismus nicht länger objektive ökonomische Gesetze herrschten, sondern die Wirtschaft frei geplant werden könne. Das war das Thema, womit sich Stalin später in seiner Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus“ grundsätzlich auseinandersetzte. Nicht wegen seiner außenpolitisch-militärischen Forderungen, sondern wegen seiner ökonomischen Ansichten verurteilte das ZK Voznesenkijs Auffassungen im Juli 1949 als „subjektivistisch und voluntaristisch“.355 Der Staat könne nicht, wie von ihm behauptet, „willkürlich die Wirtschaftsgesetze der sozialistischen Gesellschaft durch seine Planungen umgestalten“, sondern sei an selbständig wirkende Gesetzmäßigkeiten gebunden. Der Kritisierte wurde seiner Funktionen entbunden. Wie wenig die attackierte Strömung damit jedoch getroffen war, zeigt die Tatsache, daß Stalin sich 1952 wieder intensiv mit den 1949 verurteilten Positionen auseinandersetzen mußte.

Zu der Gruppierung um Shdanow gehörte auch der erwähnte Andrejew, der in der Kolchospolitik für eine familiäre Arbeitsorganisation eintrat. 1952 wurde er seines Postens enthoben. Kaltgestellt wurde ebenfalls der damalige Ministerpräsident der Russischen Sowjetrepublik, A.N.Kossygin, später – unter Breschnew – Ministerpräsident der Sowjetunion.

Die Richtung, die sich um Shdanow zusammengefunden hatte, verband die Interessen von Schwerindustrie, Bauern und Militär, dh. von den Kräften, die die Sowjetunion schließlich beherrschen sollten. In entscheidenden Fragen war Stalin offenbar ihr Gegner. In der Bauernfrage förderte er Chruschtschow, auch wenn er dessen damalige Agrarpolitik an einigen Punkten (Gründung von Agrostädten) abbremste. Außenpolitisch stellte er sich auf die Seite Malenkows, der gegenüber Shdanow „eine vorsichtigere Außenpolitik befürwortete“.356 Malenkow rückte an die zweite Stelle hinter Stalin, indem er gemeinsam mit dem Innenminister Berija „den Apparat von Anhängern Zdanovs säuberte und den Einfluß der älteren Politbüromitglieder zurückdrängte. In diesem Zusammenhang trat auch Molotov seit Anfang 1949 zeitweilig in den Hintergrund.“357 Dieser Säuberung fielen die oben erwähnten Voznesenskij, Andreev und Kosygin zum Opfer.

Nachdem die Prawda zu seinem 50.Geburtstag am 8.Januar 1952 sein Bild auf der ersten Seite im Großformat gezeigt hatte – womit sonst nur Stalin geehrt wurde -, trat Malenkow auf dem XIX.Parteitag im Oktober 1952 in aller Öffentlichkeit als künftiger Nachfolger Stalins in Erscheinung. Die von ihm repräsentierte „Trojka“ (Malenkow, Chruschtschow, Berija) hatte mit Stalins Unterstützung im Sekretariat und Präsidium des Zentralkomitees das Übergewicht.

Durch die Niederlagen vom Tod Shdanows 1948 bis zum XIX.Parteitag Oktober 1952 war die von Shdanow repräsentierte Gruppierung indes zwar geschwächt, aber nicht geschlagen worden: schließlich hatte sie gesellschaftliche Grundlagen. Mit der sogenannten „Ärzte-Affäre“ gingen ihre Vertreter offenbar zum Angriff über. Im Januar 1953 gab die Prawda die Verhaftung und Anklageerhebung gegen 9 sowjetische Ärzte, sechs davon Juden, bekannt. Sie sollten führende sowjetische Politiker, darunter auch Shdanow, ermordet haben. Begleitet wurde die Anklage von einer antisemitisch gefärbten Kampagne im Geiste Shdanows gegen „Kosmopolitismus und Zionismus“. Der zur gleichen Zeit stattfindende Prozeß gegen den Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, R.Slansky, operierte mit ähnlichen Untertönen.358

Im Westen wird die Vermutung geäußert, daß Stalin durch die Verhaftung der führenden Kremlärzte seiner gewohnten medizinischen Betreuung beraubt werden sollte. Rauch hält es für wahrscheinlich, „daß der Ärzteprozeß einen Gegenschlag der ehemaligen Gefolgsleute von Shdanow darstellt, vielleicht nicht ohne Wissen und Billigung von Molotow, jedenfalls aber unter Beteiligung militärischer Kreise. Sie konnten im Hinblick auf die anhaltende Eliminierung ihrer Parteigänger angesichts des zu erwartenden Ablebens von Stalin durchaus daran interessiert sein, Malenkov und Berija Schwierigkeiten zu bereiten.“359 Berija sollte vorgeworfen werden, „daß er das Eindringen jüdisch-amerikanischer Spione in Schlüsselpositionen des Kreml-Krankenhauses nicht bemerkt habe.“360

Die Parteikämpfe seit der großen Säuberung der 30er Jahren fanden jenseits der Klassenbewegung im engen Kreis der führenden Parteimitglieder statt. Die Ursache dafür war nicht die bürokratische Abgehobenheit der Parteiführung, sondern der Charakter der neuen Arbeiterklasse, die ein entwickeltes Klassenbewußtsein erst noch herausbilden mußte und nur in dem Maße, wie dies geschah, zum bewußten Träger der notwendigen Entscheidungen werden konnte. Neben dem Krieg und den Nachkriegsspannungen ist dies die eigentliche Ursache für die spärlichen Informationen über die Diskussionen in der Partei. Vor allem erhielt unter diesen Umständen die Rolle der Persönlichkeit eine sonst nicht gekannte Bedeutung. Darum hatte der Tod Stalins am 5.März 1953 so tiefgreifende Auswirkungen.

5. Über Stalin

Dort, wo Stalin sich mit abstrakten Fragen beschäftigt, zeigt sich, daß er kein Mann der Theorie war. Die philosophische Abhandlung „Über dialektischen und historischen Materialismus“ hat einen Zug zur Scholastik: die Dialektik wird verkürzt und die Geschichte einem abstrakten Schema unterworfen. Politökonomisch steht der Versuch, in den „Ökonomischen Problemen“ das „ökonomische Grundgesetz des monopolistischen Kapitalismus“ als „Sicherung des kapitalistischen Maximalprofits“ zu fassen, mit Marx auf dem Kriegsfuß, denn das Streben jedes Einzelkapitals nach Maximalprofit resultiert im Durchschnittsprofit für das Gesamtkapital, dessen Rate der Konkurrenz zugleich vorausgesetzt ist. Die ganze, seinerzeit vorherrschende und von Stalin mitvertretene politökonomische Begründung der Theorie eines monopolistischen Kapitalismus ist falsch; ebenso fehlerhaft ist der Versuch Stalins – und so gut wie aller Kommunisten jener Zeit -, die Krise des damaligen Weltsystems als sich permanent vertiefende „allgemeine Krise des Weltkapitalismus“ zu fassen.361 Sie war eine Krise im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus, eines Kapitalismus, der so weit entwickelt war, daß er die bis dahin bestehenden Ordnungen untergraben hatte, aber noch zu wenig weit entwickelt, die ihm entsprechende neue politische Ordnung – die parlamentarische Massendemokratie – stabil zu tragen.

Dort hingegen, wo Stalin sich der Theorie in direktem Zusammenhang mit praktisch-gesellschaftlichen Fragen zuwendet, tut er dies mit scharfem Verstand. Das beweist noch einmal seine letzte Veröffentlichung über „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“, worin er gegen die linken Dogmatiker und Parteiphraseure zu Felde zieht. Sie interessierten sich nicht für die konkreten Produktionsverhältnisse und die daraus resultierenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern für die Entwicklung der Produktivkräfte im allgemeinen und die freie Entscheidung über die Ökonomie. Es war das letztemal, daß ein sowjetischer Führer eine konkrete sozialökonomische Analyse wenigstens von Teilen der sowjetischen Gesellschaft – der Kolchosbauern – vornahm und daraus Schlußfolgerungen für die weitere Politik zog.

Stalins wichtigste Eigenschaft als Revolutionär war sein Realitätssinn. „Man kann bei Stalin nachträglich zuweilen mehr Einsicht in wirtschaftliche Gesetzlichkeit finden als bei seinen Widersachern, wobei er ja eher als Vollstrecker denn als Initiator der von der kollektiven Führung einmal gesetzten Ziele und Termine agierte“, schreibt Raupach.362 Mit erzwungener Bewunderung gesteht auch Deutscher Stalin eine „einzigartige Hellhörigkeit für alle diese psychologischen Unterströmungen in und um die Partei“ zu, die in den 20er Jahren auf die Partei einwirkten. „Er lauschte auf die unausgesprochenen Hoffnungen und die stille Sehnsucht des Volkes, zu dessen Sprecher er sich zu machen verstand.“363

Um ihn gegenüber Trotzki abzuqualifizieren, nennt Deutscher ihn gleichzeitig einen Mann der Mitte: „Er verkörperte eine Diktatur des goldenen Mittelwegs über all die unruhigen Ideen und Doktrinen, die in der nachrevolutionären Gesellschaft auftauchten, die Diktatur des goldenen Mittelwegs“, und fügt hinzu: „Es war weder Stalins Verdienst noch seine Schuld, daß es ihm nie gelang, diesen mittleren Kurs durchzuhalten, daß er immer wieder gezwungen wurde, die gefährlichsten Abenteuer da zu begehen, wo er Sicherheit hätte suchen wollen.“364 Der verächtlich gemeinte „Mittelweg“ war die „Mitte“ zwischen dem Ziel des Kommunismus einerseits, den ökonomischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten andererseits. Stalin wußte genau, welche Anforderungen er, der objektiven Entwicklung entsprechend, an die Massen stellen konnte und welche nicht. Er machte darum immer den nächsten Schritt auf dem Weg zum Sozialismus – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn es sich nicht umgehen ließ, daß der nächste Schritt ein Sprung sein mußte, wagte er – wie bei der Kollektivierung – auch diesen. Womit Deutscher Stalin abwerten will, ist in Wahrheit eine vernichtende Kritik an dem von ihm bewunderten Trotzki, dessen politische Sprünge, von dem Sonderfall der Oktoberrevolution abgesehen, dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand nicht entsprachen und den Massen fremd blieben.

Wenn erforderlich, war Stalin auch zu den folgenschwersten Entscheidungen bereit, über deren blutige Konsequenzen er sich im klaren war. In einem Gespräch mit Churchill in Moskau im August 1942 nannte er die Vernichtung der Kulaken die schwerste Entscheidung seines Lebens. Er sprach von einem erbarmungslosen Kampf mit 10 Millionen Menschen.365 Dort hingegen, wo er Handlungsspielraum hatte, wandte er sich gegen Zuspitzungen. So setzte er sich 1924 gegen den Parteiausschluß Trotzkis ein, den die Leningrader Linken mit Sinowjew an der Spitze verlangten – zwei Jahre, bevor sie mit demselben Trotzki die „Vereinigte Linksopposition“ bildeten. Dazu bemerkte Stalin: „Wir waren mit Sinowjew und Kamenew nicht einverstanden, da wir wußten, daß die Politik des Absägens große Gefahren für die Partei in sich birgt, daß die Methode des Absägens, des Aderlassens – und sie forderten Blut – gefährlich und ansteckend ist: heute hat man den einen abgesägt, morgen kommt der andere, übermorgen ein dritter dran, und was bleibt dann in der Partei?“366 Ebenso ließ er nach 1930 die Rückkehr seiner früheren Parteifeinde von links (Preobraschenski, Sinowjew, Kamenew) und rechts (Bucharin) in führende Positionen von Staat und Partei zu. Darum ist es abwegig, wenn Medwedew über die Ausrottung der alten bolschewistischen Führungskader in der zweiten Hälfte der 30er Jahre schreibt: „Stalins eigentliches Motiv hieß Rache, Rache an seinen ehemaligen politischen Gegnern, die gelegentlich lose Bemerkungen gemacht hatten.“367 Warum sollte Stalin seine politischen Gegner fast zehn Jahre nach den Auseinandersetzungen aus persönlichen Rachegefühlen töten, wenn er sie zwischenzeitlich wieder zur Mitarbeit herangezogen hatte?

Stalin persönliche Motive, Rache oder Machtgier, zu unterstellen, soll in aller Regel die Entwicklungen erklären, die man nicht erklären kann. Stalin war zwar einerseits der Vollstrecker der ungeheuren sozialen Umwälzung, die durch die Kollektivierung ausgelöst wurde, war aber andererseits den Konsequenzen dieser Umwälzung selber unterworfen. Zwar stand er im Zentrum der Macht, aber die Grenzen dieser Macht und die Art und Weise, wie sie zu gebrauchen war, bestimmte letztendlich die neue bäuerlich-barbarische Arbeiterklasse. In der Partei verfügte Stalin nie über die unumschränkte Herrschaft, wie ihm immer wieder nachgesagt wurde. Allein die Tatsache, wie vorsichtig er gegen die Shdanowsche Gruppierung vorgehen mußte und wie stark die Strömung seiner Gegner die ganze Zeit über blieb, zeigt dies.

Der arbeiterbäuerliche Untergrund der Industrialisierung ist auch die letzte Ursache für die massenhafte Verehrung Stalins. Von den Kritikern wird regelmäßig auf Lenin verwiesen, der zu seinen Lebzeiten keinerlei Kult um seine Person geduldet hatte. Stalin selber war ebenfalls kein Anhänger dieser persönlichen Verehrung, sondern spottete über die demonstrierenden Millionenmassen, die mit dem Bild eines bärtigen Mannes – seinem eigenen – durch die Straßen zogen. Dennoch fand er sich damit ab. Die einzig interessante Frage in diesem Zusammenhang ist daher, warum Lenin den Personenkult verhindern konnte, aber Stalin nicht. Anders gefragt, warum brach sich er sich nicht in den 20er, sondern erst in den 30er Jahren Bahn?

Auf einer ZK-Konferenz der KPdSU im November 1965 wurde die von 1933 bis 1953 datierte „Periode des Persönlichkeitskults“368 auf die bäuerliche Tradition Rußlands zurückgeführt und mit der Zarenverehrung auf dem Land in Verbindung gebracht. Dem widerspricht Medwedew mit dem Hinweis, daß die Masse der Bauern mit der gezwungenen Getreideablieferung zu staatlichen Festpreisen unzufrieden war und nicht dem Atheisten Stalin, sondern der alten Religion anhing, die auf dem Land noch sehr verbreitet war. Er schreibt: „Auch hat sich der Stalinkult nicht vom Lande in die Stadt ausgebreitet, sondern von der Stadt aufs Land. Entstanden war er Anfang der 30er Jahre“.369 Sozial getragen wurde er nach Medwedews Feststellung von folgenden Kräften: „In den 30er Jahren war der Stalinkult am stärksten unter Arbeitern verbreitet, besonders unter Arbeitern, die Parteimitglieder waren, und auch bei der jungen Intelligenz, insbesondere, soweit sie von Arbeitern und Bauern abstammte. Auch im Apparat von Staat und Partei, besonders in jenem Apparat, der nach den Repressionen von 1936-38 entstand, war der Kult weit verbreitet.“370

Medwedews Widerspruch ist zugleich richtig und falsch. Richtig scheint, daß nicht die Kolchosbauern Hauptträger des Personenkults waren, denn schließlich war Stalin nicht ihr Klassenvertreter. Falsch ist jedoch die Zurückweisung der bäuerlichen Wurzel des Personenkults überhaupt. Soziale Träger dieses Phänomens waren zwar nicht die (aktiven) Bauern, aber die vom Land kommenden Bauernarbeiter, die neue Arbeiter- und Bauernintelligenz und die neue Partei. Das waren die Teile der Gesellschaft, die die Industrialisierung durchführten, mit ihr aufstiegen und das Gesicht der Sowjetunion ihrer Zeit trugen: dem mittalterlichen Dorf entstammend und der Zukunft zugewandt.

Dabei verfocht Stalin die Interessen der Klasse auf dem Boden der Weiterentwicklung zum Sozialismus; er vertrat, um mit dem Kommunistischen Manifest zu sprechen, „das Interesse der Gesamtbewegung“.371 Die notwendigen Umwälzungen der Produktion konnten nur „von oben“ erfolgen; sie ergaben sich nicht „von unten“, aus der spontanten Erfahrung der Produzenten. Seine Gegner in der Etappe nach der Kollektivierung dagegen vertraten die gegenwärtigen Interessen – nicht nur der Arbeitermassen (und der Angestellten) in der Schwerindustrie, sondern auch der Kolchosbauern auf dem Land. Das machte ihre Stärke aus, die sie auch die Säuberungen Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre überstehen ließ und schließlich an die Macht brachte.

Die 30er Jahre an der Spitze des Staats zu überstehen, war wie ein Ritt auf dem Tiger: entweder man blieb oben oder wurde abgeworfen und zermalmt. Das wäre auch einem Stalin nicht anders gegangen. Um obenzubleiben, bedurfte es besonderer Charakterzüge: neben ausgeprägtem politischem Gespür und Willensstärke mußten dazu Geduld und nicht allein Grobheit, sondern auch Skrupellosigkeit gehören. Der Preis, den er für seine Stellung zu zahlen hatte, war die zunehmende persönliche Isolierung. Im November 1932 nahm sich seine Ehefrau Allilujewa das Leben; wahrscheinlich fühlte sie sich mitverantwortlich für die blutige Kulakenverfolgung und die Hungersnot auf dem Land. Nach vorliegenden Berichten war Stalin daraufhin so getroffen, daß er seinen Rücktritt von allen Posten anbot, den das Politbüro jedoch nicht annahm. Ende 1934 wurde Kirow ermordet, einer seiner wenigen, wenn nicht der einzige persönliche Freund, den er besaß. Danach wird über engere persönliche Beziehungen nichts mehr berichtet.

So wie die bäuerliche Arbeiterklasse der 30er Jahre die Nachfolge der Arbeiterklasse der Oktoberrevolution antrat, trat Stalin die Nachfolge Lenins an. Wie zuvor Lenin hatte er die ausschlaggebende Bedeutung der russischen Bauern begriffen: das richtige Herangehen an die Agrarfrage war nicht nur die Voraussetzung für die Oktoberrevolution, sondern auch der Schlüssel für die weiteren Schritte zum Sozialismus. Außenpolitisch führte Stalin mit seiner Politik des Ausnutzens der Widersprüche zwischen den kapitalistischen Mächten ebenfalls das Leninsche Erbe fort. Deshalb steht er zu Recht neben Lenin. Die Schattenseiten, die er in höherem Maße als Lenin aufweist, waren die Schattenseiten eines anderen Proletariats. Lenin verkörperte die vergleichsweise kultivierte städtische Arbeiterklasse der Oktoberrevolution und Stalin das barbarische Bauernproletariat der 30er Jahre.

Stalins schwerster theoretischer Fehler war, die Sowjetunion aufgrund der Kollektivierung als sozialistisch zu begreifen. Sein schwerster politischer Fehler steht damit im Zusammenhang: er ließ es zu, daß die Bauern gleichberechtigt in die Partei aufgenommen wurden. Dennoch stellte er Anfang der 50er Jahre die richtigen Aufgaben sowohl gegenüber den Kolchosbauern als auch gegenüber den Militärs und der Schwerindustrie. Seine persönliche Tragik war, daß er starb, als der Kampf gerade seinem Höhepunkt entgegenstrebte.

Nach seinem Tod konnten sich diejenigen Kräfte in der Parteiführung durchsetzen, die er bis zuletzt bekämpft hatte und die jetzt Gelegenheit erhielten, die Geschichte neu zu schreiben. Sie nahmen auf dem XX.Parteitag 1956 ihre Abrechnung mit Stalin, dh. mit den Anhängern der gegnerischen Gruppierung vor. In den Mittelpunkt rückte Chruschtschow die Säuberungen der 30er Jahre, für die er Stalin in vollem Umfang verantwortlich machte. Am wenigsten Interesse hatten die Gegner Stalins daran, die tatsächlichen Kernpunkte der Auseinandersetzung (Frage der Kolchosbauernschaft, der Zwei-Lager-Theorie und des Militärs) herauszuarbeiten, die seither unter wahren Bücherbergen der subjektiven Geschichtsbetrachtung begraben worden sind.

Das letzte Produkt in dieser Geschichtsschreibung der Sieger ist die 1989 in Moskau erschienene Stalin-Biographie („Stalin – Triumph und Tragödie“) von Wolkogonow, einem General der Roten Armee, der nach eigenen Angaben Zugang zu den geheimen Archiven hatte, weshalb er auch eine Reihe von Zetteln anführen kann, die Stalin geschrieben hat. Herausgekommen ist ein Werk, dessen empirische und analytische Inhaltsleere in direktem Verhältnis zur anekdotenhaften Geschwätzigkeit von 800 Seiten steht.

IX. Die Versteinerung der Verhältnisse

Die Aufgaben, die Stalin stellte, drängten nach seinem Tod weiterhin zur Lösung – wenn nicht in der einen, dann in der anderen Form. Die gefundene Lösung bedeutete anstelle der Überwindung die Stabilisierung und sodann Versteinerung der vorgefundenen Verhältnisse. Damit war der Weg in den Untergang vorgezeichnet.

1. Entscheidung nach Stalins Tod

Die erste Phase des nach Stalins Tod einsetzenden Machtkampfs war innerhalb weniger Wochen zu Ende. Malenkow war nicht in der Lage, Stalins Platz einzunehmen. Der Grund dafür dürfte weniger in persönlichen Unzulänglichkeiten zu suchen sein als vielmehr in der Tatsache, daß er nicht über die erforderlichen Machtmittel verfügte. Stalin besaß eine solche Popularität und Autorität in der Gesellschaft und der Partei, daß er es nicht nötig hatte, selber bewaffnete Kräfte zu befehligen. Das war bei Malenkow anders. Deshalb begann nach Stalins Tod nicht nur ein offener Machtkampf, sondern wurde er auch zwischen denjenigen ausgetragen und entschieden, die die beiden Säulen der bewaffneten Macht – Innenministerium und Armee – ins Feld führen konnten. Das waren Berija und Chruschtschow; Malenkow spielte in ihrem Kampf die Rolle eines Zuschauers.

Vorübergehend konnte der Innenminister Berija die Macht an sich nehmen, indem er unmittelbar nach Stalins Tod die gesamten militärischen Verbände des staatlichen Sicherheitsdienstes in Moskau zusammenzog. Die Ministerien für Staatssicherheit und Inneres wurden mit ihm an der Spitze zusammengelegt; als erster stellvertretender Ministerpräsident bestimmte er anstelle Malenkows die Politik.

Anknüpfend an Stalins Position machte Berija auf das Zurückbleiben des Fünfjahrplans aufmerksam; er forderte die Verständigung mit dem Westen und eine entschiedene Abrüstung, um Spielraum für die Entwicklung der Wirtschaft zu bekommen. Was ihn jedoch „besonders beunruhigte, war die Tatsache, daß das Politbüro vor dem Druck und den Forderungen der Armee zu weichen begann, in erster Linie vor ihrem renommiertesten Vertreter, Marschall Schukow. Nicht das Politbüro war das Haupthindernis für Berijas Träume und Pläne von der Realisierung seiner Allmacht; immer deutlicher wurde, daß es noch einen weitaus stärkeren und gefährlicheren Gegner gab.“372 Das war die besagte Armee.

Mithilfe der deutschen Frage wollte Berija den Knoten durchschlagen. „Es müsse eine Lösung für das deutsche Problem gefunden werden, das europäische Problem Nummer eins, fuhr Berija fort. Die Verhärtung der Fronten und die beschleunigte Aufrüstung Westdeutschlands und Westeuropas stelle die Sowjetunion vor zugegebenermaßen nicht zu bewältigende Aufgaben im Bereich der Modernisierung und verstärkten Aufrüstung der Streitkräfte.“373 Über geheimdienstliche Kanäle versuchte er, an den offiziellen sowjetischen Stellen vorbei die Erfolgsaussichten seines Kurses eines Ausgleichs mit Deutschland zu prüfen.

Ganz anders sahen die Marschälle unter Führung von Schukow die Perspektive der Außenpolitik. Sie wandten sich strikt gegen die Aufgabe der DDR, dieses vorgeschobenen Postens der sowjetischen Militärherrschaft, als Preis für die Spaltung des Westens durch eine Versöhnung mit den Deutschen. Der 17.Juni 1953 entschied den Machtkampf. Als es zu Demonstrationen in Ostberlin kam, verließen die sowjetischen Besatzungstruppen entgegen den Anweisungen Berijas die Kasernen und schossen die demonstrierenden Massen nieder. „Berija war viel zu intelligent und erfahren, als daß er nicht augenblicklich begriffen hätte, daß die Mißachtung seiner Befehle, ja ihre völlige Verdrehung bei den Vorgängen in Berlin eine unverhüllte Kriegserklärung an ihn war, die von einer bestimmten Clique ausging: Schukow, Bulganin und Chruschtschow.“374

Vier Tage nach dem Aufstand in Ostberlin, am 21. Juni 1953, wurde Berija verhaftet. Auf Verlangen der Armee wurde er vor ein Militärgericht gestellt und wegen antisowjetischer Aktivitäten angeklagt. Aufgrund seiner geheimdienstlichen Verbindungsaufnahmen wurde ihm vorgeworfen, er habe im Dienst ausländischer Mächte gestanden, mit ihnen gegen die Sowjetunion konspiriert und die DDR an die Bundesrepublik verkaufen wollen.375 Am 23.Dezember 1953 wurde er hingerichtet. Es war das erstemal, daß die sowjetische Politik mit militärischen Interessen gleichgesetzt wurde und ein sowjetischer Führer sich in dieser Art vor dem Militär verantworten mußte.

Ein Jahr nach ihm teilte Abakumow sein Schicksal, der als Sicherheitsminister „nach dem Tode Shdanows Ende 1948 auf Befehl Stalins und mit Billigung, vielleicht auch auf Anregung von Malenkow, die erwähnte Säuberungsaktion gegen dessen (Shdanows; H.K.) Anhänger in Leningrad vorgenommen“ hatte.376 Er wurde mit anderen Funktionären des Sicherheitsdienstes wegen der „Leningrader Affäre“ zum Tode verurteilt und hingerichtet.

2. Chruschtschows Bauernpolitik

Aufgestiegen war Chruschtschow vor und im Weltkrieg als fähiger Organisator sowie anschließend als „linker“ Agrarexperte. „Es war kaum ein Zufall, daß mit Chruschtschow ein Mann an die Führung gelangte, der ganz anders als Stalin mit den Problemen der Landwirtschaft unmittelbar und sachkundig vertraut war. Denn entgegen allen Verlautbarungen der Stalinzeit erwies sich wieder einmal das Problem der Agrarerträge als die Schicksalsfrage Rußlands.“377 Daß Stalin mit den Verhältnissen der Landwirtschaft nicht vertraut war, widerlegt die Beschäftigung mit seinen Entscheidungen. Aber im Gegensatz zu ihm vertrat Chruschtschow eine andere Klassenpolitik; mit ihm verlor die Arbeiterklasse ihre Herrschaft.

Auf Iniative Chruschtschows wurde ab 1953 begonnen, riesige Flächen im asiatischen Teil der Sowjetunion mit Getreide zu bebauen. 40 Mio ha, die vorher nur für Weidewirtschaft genutzt wurden – eine Fläche von der Größe Japans – wurden unter den Pflug genommen, obwohl Fachleute wegen der dünnen Humusschicht und des halbtrockenen Charakters der Gebiete vor der baldigen Auslaugung der Böden gewarnt hatten. Anstatt die Energien des Proletariats für einen erneuten Industrialisierungssprung oder die Umwandlung der Kolchosen zu nutzen, gingen hunderttausende von Freiwilligen, meist Angehörige des Komsomol, voller Begeisterung für den Aufbau des Sozialismus in die Steppen, um sie zu kultivieren. Die Opfer der Arbeiterjugend kamen den neuen Arbeiter-Bauern zugute: in den auf Neuland gegründeten Riesenbetrieben erhielten die Sowchosarbeiter dasselbe Anrecht auf ein Stück Privatland wie die Kolchosbauern, darin eingeschlossen Weiderechte für das eigene Vieh auf den staatlichen Ländereien. „Das Vorhandensein großer Parzellen und Vieh im persönlichen Eigentum ist zu einem ernsten Hindernis auf dem Weg der weiteren Entwicklung der Sowchosenproduktion geworden“, mußte Chruschtschow selber im Dezember 1958 feststellen.378

In den vorhandenen Kolchosen fanden ebenfalls kurze Zeit nach Stalins Tod umfassende Agrarreformen zugunsten der Bauern statt.379 Als erstes wurden die staatlichen Ankaufpreise für Getreide und andere Agrarprodukte erhöht, für Getreide um etwa das Doppelte, für Milch und Kartoffeln um das 2-1/2fache und Fleisch um das 5fache. Die Pflichtablieferungsquoten von der privaten Hoflandproduktion wurden gesenkt und vorhandene Steuerrückstände erlassen.380 Darüberhinaus versuchte Chruschtschow durch verschiedene weitere Maßnahmen die Agrarproduktion zu steigern.

Ein neues Kolchos-Musterstatut von 1956 empfahl, die Größe des Hoflands nicht anhand der Zahl der Arbeitskräfte eines Haushalts festzulegen, sondern entsprechend dem Arbeitseinsatz der Kolchosniki, die zu dem Haushalt gehörten. Der Grund dafür war: es gab millionenfach Arbeitskräfte – meistens Frauen -, die keine Arbeit für den Kolchos leisteten, sondern ausschließlich auf dem Hofland arbeiteten. Diese Reform konnte aber nur funktionieren, wenn sie vom Staat durchgesetzt wurde; das heißt, dem Kolchos mußte das Recht genommen werden, über die Vergabe des Hoflands selber zu entscheiden. Dies aber geschah nicht, so daß sich auch nichts änderte: „Auf der Basis der Kolchosvollversammlungen wurde über Hoflandgröße und Viehbestand auch weiterhin kollektiv mitentschieden, was eine individuelle Ankoppelung an die Produktivität verhinderte.“381 Das Resultat war, daß etwa die Volkszählung von 1959 feststellte, daß ca. 6 Millionen Menschen in den Kolchosen nicht an der gemeinsamen Arbeit teilnahmen, sondern sich ausschließlich um ihr Hofland kümmerten.

Als weitere Maßnahme wurde die Umwandlung von Kolchosen in Sowchosen gefördert. Um die Bauern zum Übertritt zu locken, durften sie nicht nur ihr Hofland behalten, sondern wurden gleichzeitig die bisherigen Beschränkungen der Anzahl des Privatviehs gelockert. Weil die Umwandlung außerdem den Vorteil hatte, daß man in der Sowchose feste Löhne erhielt, vollzog eine Minderheit von Kolchosen den Schritt zum Sowchos. Nachdem mit der Kollektivierung in den 30er Jahren die damals vorhandenen Sowchosen (bis auf Versuchsgüter u.ä.) aufgelöst worden waren, entstanden jetzt wieder neue Staatsfarmen in größerem Umfang. 1970 arbeiteten zwei Drittel der Bauern in Kolchosen und ein Drittel in Sowchosen.382 Alle diese Sowchosen – gleich ob auf Neuland gegründet oder aus Kolchosen hervorgegangen – waren keine Staatsbetriebe, die auf dem Boden entwickelter Produktivkräfte standen und mit Landarbeitern betrieben wurden, die Industriearbeitern verleichbar waren. Sie waren eine Art Gutswirtschaften, die genauso wie die Kolchosen auf dem Zusammenhang von Groß- und Kleinproduktion beruhten und die Existenz von Parzellenbauern voraussetzten, statt sie überflüssig zu machen. Darum stellten sie auch gegenüber den Kolchosen keinen entscheidenden Fortschritt dar.

Um den Konsequenzen seiner eigenen Politik zu begegnen, ließ Chruschtschow 1957/58 das vermehrte private Großvieh aufkaufen und ordnete an, die Sowchosländereien, die als Gemeindewiesen für das Privatvieh dienten, umzupflügen. Abgesehen davon, daß dies offenbar nur unvollständig geschah, fanden die Sowchosbauern Auswege: zum Teil besorgten sie das notwendige Viehfutter durch „schwarze Umteilung“, dh durch Diebstahl, zum Teil gingen sie dazu über, das äußerst billige Brot zu verfüttern, statt die vom Staat verlangten hohen Preise für Kraftfutter zu zahlen. 1986 sollen 3 Millionen Tonnen Brot, 9% der Gesamtproduktion, verfüttert worden sein.383 Das Resultat seiner Politik nannte Chruschtschow im Juli 1963: „Es ist charakteristisch, daß in einer Anzahl Sowchosen, die auf der Basis von Kolchosen geschaffen wurden, die Menge des Viehs der Arbeiter und Angestellten bedeutend größer wurde, als sie bei den Kolchosniki gewesen waren“.384 Insgesamt führte Chruschtschows seit 1957/58 verfolgte Politik jedoch zu einer erneuten Schrumpfung der privaten Erzeugung.385

Nach dem Sturz Berijas verschwand Malenkow nicht gleich in der Versenkung. Während Chruschtschow erster Sekretär der KPdSU wurde, amtierte er zunächst weiter als Ministerpräsident an der Spitze des Staats. In dieser Zeit war die Führung von Partei und Staat vorübergehend getrennt. Als Ministerpräsident trat Malenkow Mitte 1953 für die Forcierung der Konsumgüterproduktion und der Leichtindustrie ein.386 Dagegen sprach sich das ZK der KPdSU auf Initiative Chruschtschows für den Vorrang der Schwerindustrie aus.387 Daraufhin trat Malenkow am 8.Februar 1955 als Ministerpräsident zurück, blieb aber im Präsidium des ZK. Regierungschef (Ministerratsvorsitzender) wurde Bulganin.

Nach dem XX.Parteitag 1956, auf dem Chruschtschow überraschend Stalin attackiert hatte, und nach dem Ungarn-Aufstand unternahm eine Fraktion in der Parteiführung, angeführt von Molotow, Malenkow und Kaganowitsch, 1957 den Versuch, Chruschtschow zu stürzen. Vom ZK-Präsidium als Erster Sekretär des ZK bereits abgesetzt, wurde Chruschtschow durch die Armee gerettet. Die Marschälle sicherten die Abhaltung eines ZK-Plenums, das Chruschtschow bestätigte und die gegnerische Fraktion ausschaltete. Daraufhin konnte Chruschtschow 1958 von Bulganin auch den Ministerratsvorsitz übernehmen, so daß Partei- und Staatsführung wieder in einer Hand waren (bis 1941 waren sie getrennt gewesen; erst angesichts des herannahenden Krieges hatte Stalin, bis dahin nur Partei-Generalsekretär, auch die Regierung übernommen). Am Ende dieses Jahres wurde dann ebenfalls realisiert, was Stalin 1952 verhindert hatte: auf Vorschlag Chruschtschows wurden die staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen aufgelöst und die Landmaschinen den Kolchosen verkauft.

Alles in allem wurde durch die unter Chruschtschow, später auch Breschnew, getroffenen Maßnahmen tatsächlich mehr Getreide produziert – bis zu einem bestimmten Punkt.

Getreideerzeugung im mehrjährigen Durchschnitt

Getreide-Bruttoprod. durchschnittl.
in Mio. to. ha-Erträge

1913 86 8
1940 96 9
1950 81 8
1960 126 11
1970 187 16
1980 189 15

(Tabelle nach: Länderbericht Sowjetunion, S.324, 325)

Wie den Zahlen zu entnehmen ist, hat sich die agrarische Produktivität seit der Stalin-Zeit bis Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre fast verdoppelt – um anschließend in eine bis heute andauernde Stagnation einzutreten.

1973/74 betrug die Produktivität in der sowjetischen Industrie ca. 54% der USA; in der Landwirtschaft waren es 20-25%.388 Zur gleichen Zeit (1976) produzierten die privaten Nebenwirtschaften in den Kolchosdörfern auf 1,25% der landwirtschaftlichen Nutzfläche 64% der Kartoffeln, 53% des Gemüses, 41% der Eier und 22% der Fleisch- und Milchprodukte.389 Darum wird von Bürgerlichen immer wieder unterstellt, daß eine Privatisierung der Landwirtschaft die sowjetischen Versorgungsprobleme gelöst hätte. Solche Vorstellungen stehen jenseits der ländlichen Realität. Soweit die Erträge auf dem Privatland höher sind, hat das damit zu tun, daß der Arbeitsaufwand auf dem Privatland schätzungsweise 20% des Arbeitspotentials insgesamt beträgt.390 Auf dem Hofland werden die arbeitsintensiven Produkte erzeugt, bei denen Entwicklung und Einsatz von Maschinerie wenig vorangeschritten ist und Maschinenbetriebe daher keine Konkurrenz sind. Im Schlüsselbereich der Agrarproduktion, der Getreideerzeugung, ist das Hofland dagegen nicht produktiver, weil hier die große Fläche und die große Maschinerie der Kleinproduktion überlegen sind.

Außenpolitisch ersetzte Chruschtschow die These von der Unvermeidbarkeit eines Kriegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus durch die friedliche Koexistenz zwischen beiden Lagern. Die Änderung war eine Konsequenz aus der Weiterentwicklung der Nuklearwaffen. In der einen wie der anderen Form blieb die Zwei-Lager-Theorie Grundlage der Außenpolitik.

Das von Chruschtschow initiierte neue Parteiprogramm von 1961, welches das Programm von 1919 ersetzte, spiegelt die Mischung aus „rechter“ Praxis und „linken“ Phrasen wider, die nach Stalins Tod vorherrschte. In dem Programm wurde behauptet, daß durch die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln „unbegrenzter Spielraum“ für die Entwicklung der Produktivkräfte vorhanden sei. Binnen 20 Jahren, so wurde versprochen, würde die Sowjetunion die USA auf allen Gebieten ein- und überholen. Welche sozialen Umwälzungen erforderlich waren, um dieses bescheidene Ziel zu erreichen, darüber schweigt das Programm sich aus.

Das Zahlenverhältnis zwischen den Bewohnern von Stadt und Land kehrte sich in der Nachkriegszeit um, hauptsächlich durch Zunahme der Stadtbevölkerung, indem der ländliche Bevölkerungsüberschuß in die Städte ging, in geringerem Umfang auch durch Abnahme der Landbevölkerung, die allmählich überalterte. Von den insgesamt 250 Mio. Einwohner der Sowjetunion im Jahre 1975 lebten 100 Mio, das sind 40%, auf dem Land. Beschäftigt waren 1970 in der Landwirtschaft 26,8 Mio, davon 17 Mio Kolchosbauern und 9,8 Mio Sowchosenarbeiter.391 Die Zahlen zeigen, welche Bedeutung das flache Land in der untergegangenen Sowjetunion nach wie vor hatte. „Ein beträchtlicher Teil des Sowjetvolkes lebt in Verhältnissen, die von der gegebenen Agrarverfassung zumindest mittelbar geprägt sind. Die sozialen Veränderungen in diesem Milieu haben deshalb für die sowjetische Gesellschaft immer noch ein großes Gewicht.“392

Dieses Gewicht wurde mehr und mehr zu einem Bleigewicht, weil durch die Politik Chruschtschows und später Breschnews sich nur die materielle Situation der Agrarbevölkerung, nicht aber die Grundstruktur der gegebenen Produktionsverhältnisse qualitativ änderte. Die „soziale Stellung der landwirtschaftlichen Produzenten (hat sich) merklich und zu ihren Gunsten gewandelt.“393 Der einmal erreichte Besitzstand war von da an unangreifbar. Weder konnten die staatlichen Ankaufpreise einfach wieder gesenkt noch die Produktionsmittel den Kolchosen erneut weggenommen, geschweige die Produktionsverhältnisse des Kolchos/Sowchos revolutionär umgestaltet werden. Das Resultat dieser Politik war ein faktisches Klassengleichgewicht zwischen Bauernschaft (die Sowchosarbeiter mit Privatparzellen eingeschlossen) und Arbeiterklasse. Keine der beiden Klassen war von nun an in der Lage, der anderen ohne Revolution ihren Willen aufzuzwingen.

Obwohl mit Hilfe des Militärs an die Macht gekommen, war Chruschtschow kein Mann des Militärs wie später Breschnew. Die elf Jahre seiner Regierung waren eine Übergangszeit; die alte Herrschaft (der Arbeiterklasse) löste sich auf, die neue (des Militärs) war noch nicht endgültig etabliert. Der durchgängige Zug seiner Politik war die Bauernpolitik, auch wenn er keine Klassenherrschaft der russischen Bauernschaft repräsentierte, wozu diese schon aufgrund ihrer Produktionsweise und gesellschaftlichen Stellung unfähig ist. So wenig sich Bucharin in den 20er Jahren als Vertreter der Kulaken betrachtete, fühlte sich Chruschtschow als Vertreter der Kolchos- und Sowchosbauern, sondern als Marxist-Leninist, der das Land dem Kommunismus entgegenführte. Darum versuchte er auch, in Fortsetzung seiner Agrarvorstellungen von Ende der 40er Jahre die Kolchosen zu Sowchosen zu machen und die Hoflandwirtschaft ökonomisch zurückzudrängen. Sein Pakt mit dem Militär und der Schwerindustrie von 1953 verhinderte jedoch jedes ernsthafte politische Vorgehen gegen die Bauern. Darum verfestigten alle Maßnahmen, die er zur Förderung der Agrarproduktion und in einem Zickzack-Kurs gegen die Hoflandwirtschaft traf, letztlich nur die Stellung der Bauernschaft.

Aus der Tatsache, daß seine Regierung einen Übergang darstellte, erklärt sich „das rastlose und sprunghafte, von keiner überzeugenden Gesamtkonzeption getragene Hin und Her in Chruschtschows Politik“, das „seine Wirtschafts- und Kulturpolitik ebenso wie seine Außenpolitik“ kennzeichnete.394 Durch sprunghafte Wirtschafts- und Verwaltungsreformen und kaum weniger sprunghafte außenpolitische Wechsel zwischen Konfrontationspolitik in Berlin oder Kuba und halbherzigen Versuchen der Entspannungspolitik untergrub er schließlich selber seine Stellung, bis die Armee ihn 1964 absetzte. Der Auslöser dafür war erneut die Agrarfrage.

3. Armeeherrschaft unter Breschnew

Anfang der 60er Jahre zeigte sich, daß die Agrarpolitik in eine Sackgasse geraten war. Die Ernten der neuen Sowchosen auf den Steppenböden des Neulandes gingen zurück, weil die Erde ausgelaugt war, und die Ernten in den alten Kolchosen stiegen nicht genug an. Außerdem war die Privatproduktion der Nebenwirtschaften zurückgegangen. Daraufhin plante Chruschtschow, den Agrarbereich durch zusätzliche gesellschaftliche Mittel zu fördern. Zusammen mit der Agrarproduktion sollte die Konsumgüterindustrie ausgebaut werden. Den Massen versprach dieser „Gulaschkommunismus“ eine gewaltige Steigerung des Konsums „wie in Amerika“.

Die für diese Politik erforderlichen Mittel sollten auf Kosten der Schwerindustrie aufgebracht werden. Im Parteiprogramm von 1961 hatte noch gestanden, daß das Volumen der Industrieproduktion bis 1980 auf das Sechsfache gesteigert werden sollte, um u.a. den „Bedarf der Landesverteidigung restlos zu decken“. Das war die Grundlage für die Unterstützung Chruschtschows durch die Marschälle gewesen. Jetzt bedrohte seine neue Planung die Rüstungsproduktion und damit die Politik des Militärs. „Bedenken seitens der Schwerindustrie gegenüber Chruschtschows Absichten, die Konsumgüterproduktion noch stärker voranzutreiben, wie er noch Ende September 1964 angekündigt hatte, verbanden sich mit denen des Militärs, das der Abrüstungs- und Entspannungspolitik ablehnend gegenüberstand.“395 Im Oktober 1964 sorgte die Armee für Chruschtschows Sturz und ließ Breschnew an seine Stelle treten.396

In der Agrarpolitik wurden die von Chruschtschow Ende der 50er Jahre vorgenommenen Einschränkungen der Hoflandwirtschaften aufgehoben, so daß auch die Privatproduktion wieder anstieg. In der neuen Verfassung von 1977 wurde das Recht jedes Sowjetbürgers auf eine Privatparzelle und private Viehhaltung ausdrücklich aufgenommen. Außerdem wurde in den 60er Jahren eine Sozialversicherung (Altersrenten) für die Kolchosmitglieder eingeführt, die jedoch nicht zum Lebensunterhalt im Alter ausreicht, sondern die Naturalversorgung durch den Kolchos und die eigene Nebenwirtschaft voraussetzt. Der weitergehende Ausbau der Hoflandwirtschaften kam nicht voran, „vermutlich wegen Widerständen auf mittlerer und unterer Funktionärs- und Betriebsleiterebene.“397

Wie schon bei Chruschtschows widersprüchlicher Politik sind für diese „Widerstände“ im Kern keine selbständigen „Funktionärsinteressen“ verantwortlich zu machen (gleich ob die Funktionäre „oben“ oder „unten“ sitzen), sondern geben die Funktionäre den widersprüchlichen Charakter einer Agrarverfassung wider, auf deren Boden der Bauer gleichzeitig Individualproduzent und Kollektivproduzent ist. So sehr er als Privatproduzent für die Ausweitung des eigenen Hoflands sein mag, so sehr ist er als Kollektivproduzent gegen die Ausweitung der Hoflandaktivitäten der andern, insoweit die Funktionsfähigkeit des Kolchos/Sowchos dadurch beeinträchtigt und sein hauptsächlicher Lebensunterhalt gefährdet werden könnte.

Die sowjetische Außenpolitik wurde immer mehr durch die Sicht der Militärs dominiert. „An Shdanows Zwei-Lager-Theorie anknüpfend, bildete die bipolare Betrachtungsweise der Welt, das heißt die Reduktion der internationalen Beziehungen ausschließlich auf das Verhältnis von Sozialismus und Kapitalismus und ihrer Führungsmächte Sowjetunion und Vereinigte Staaten von Amerika den Schlüssel der Politik der Breschnew-Ära. Die Fixierung auf die USA bedeutete deshalb in erster Linie die Konzentration auf die Stärkung der militärischen Macht.“398 Das schloß nicht aus, daß zwischenzeitlich auch „Entspannungspolitik“ betrieben wurde, wie seit Ende der 60er Jahre in Europa, solange die Grundlinie der Politik erhalten blieb.

Breschnew garantierte dafür, daß kontinuierlich wenigstens ca. 13-14% des sowjetischen Sozialprodukts für die Rüstung verausgabt, d.h. unproduktiv verwendet wurden.399 Die ganze Industrie richtete sich nach militärischen Gesichtspunkten aus. „Die sowjetische Wirtschaft mit ihrem erdrückenden Übergewicht der Schwerindustrie ist sogar nach ihrer Organisation eine Kriegsindustrie. Mindestens ein Drittel des Maschinenbaus, der Metallverarbeitung und der Elektroindustrie, ein Fünftel der chemischen Produktion, zwei Drittel aller Flugzeuge und Schiffe sowie jeder zweite der fast eine Million forschenden Wissenschaftler arbeiten direkt für die Wehrwirtschaft – insgesamt etwa fünf Millionen Arbeiter, Techniker und Ingenieure. Es sind die qualifiziertesten, die das Land bereitstellen kann.“400

Im Unterschied zur Zeit Stalins, aber auch Chruschtschows, fand eine allgemeine Militarisierung der Gesellschaft statt. „Während der Breshnew-Ära hat sich der Einfluß der sojwetischen Streitkräfte aber nicht nur auf die politischen Entscheidungen der sowjetischen Führungsspitze ausgewirkt – er ist auch im gesamten öffentlichen Leben, sogar im kulturellen Bereich und in Fragen der Volksbildung, deutlich geworden. Seit 1966 spielt die >militärpatriotische Erziehung< eine immer größere Rolle. In allen offiziellen Publikationen wird neben der >führenden Rolle der Partei< die militärische Tradition in den Vordergrund gerückt.“401 Hinter der Fassade der Parteiherrschaft bedeutete die Breschnewsche Periode der Stagnation innenpolitisch die Durchsetzung einer indirekten Militärherrschaft, die auf dem Klassengleichgewicht von Arbeiterklasse und Bauernschaft beruhte und sozial getragen wurde von (Kolchos- und Sowchos-)Bauern und den Beschäftigten in der Schwer- und Rüstungsindustrie, dh. auch großen Teilen der Arbeiterklasse.

Gegenüber Europa mündete die Politik Breschnews in der zweiten Hälfte der 70er Jahre in die Stationierung neuer SS-20-Mittelstreckenraketen, die sich vor allem gegen Deutschland richteten und die Entspannungspolitik einfrieren ließen. Die militärische Bedrohung sollte Deutschland politisch erpreßbar machen und von den USA abkoppeln. Die Ersetzung von Politik durch Rüstung, das Gegenteil der von Lenin und Stalin verfolgten Außenpolitik, hatte indes das Gegenteil des Gewollten zur Folge. Die deutsche Bourgeoisie fühlte sich genötigt, wieder enger an die Seite der USA zu rücken, um nicht sowjetischen Pressionen ausgesetzt zu sein. Sie trat mehrheitlich für den NATO-Doppelbeschluß und, als die Sowjetführung bei der Raketenrüstung blieb, für die „Nachrüstung“ ein.402 Gegenüber Asien fand die Breschnewsche Außenpolitik schließlich ihren Höhepunkt im Einmarsch sowjetischer Truppen Ende 1979 in Afghanistan.

Der Untergang erfolgte schließlich an den beiden Fronten, an denen Stalin 1952 den Kampf aufgenommen hatte, an der Front der Bauern und des Militärs. „Seit 1972 muß die Sowjetführung jährlich Millionen von Tonnen Getreide aus dem Ausland einführen, um eine Versorgungskrise ernsten Ausmaßes zu verhindern. Selbst von Funktionären wird nicht mehr bestritten, daß die Landwirtschaft zum entscheidenden Problem, zur >Achillesferse< der Sowjetunion geworden ist.“403 Die wachsenden Bedürfnisse der Massen wurden durch Einkauf der fehlenden Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt mithilfe von Krediten, also durch zunehmende Staatsverschuldung, und durch Produktion auf Kosten der Arbeitsmittel befriedigt: Arbeitsgebäude und Maschinerie wurden nicht rechtzeitig erneuert, sondern vernutzt, bis sie auseinanderfielen. Nur die Rüstungsindustrie wurde kontinuierlich ausgebaut. Wirtschaftlich zehrte das Land mehr und mehr von der Substanz.

Der ökonomische und gesellschaftliche Stillstand ließ in den Republiken des sowjetischen Vielvölkerstaats die nationalen Widersprüche wachsen. Der jahrelange Krieg in Afghanistan gegen mittelalterliche Stammeskrieger, der militärisch nicht zu gewinnen war, unterspülte schließlich Stellung und Zusammenhalt des Militärs, der maßgeblichen Kraft, die zuletzt die staatliche Einheit der Sowjetunion garantierte. So führte das militärische Desaster am Ende nicht nur zum Zusammenbruch der gegebenen Herrschaftsverhältnisse, sondern auch des sowjetischen Nationalitätenstaats.

4. Zurück zu Stolypin?

Zum Abschluß wollen wir noch einen Blick darauf werfen, wie die Agrarfrage sich nach der Auflösung der Sowjetunion in Rußland stellt.

Alle bis Ende der 80er Jahre durchgeführten Agrarreformen, sei es unter Chruschtschow, unter Breschnew oder in den ersten Jahren der Perestrojka, hatten die bestehende Agrarverfassung, wie sie aus der Kollektivierung hervorgegangen war und ihrerseits an Grundzüge der obscina anknüpfte, in ihren Kernstrukturen unangetastet gelassen. Seit 1988 – also noch zu Zeiten der Sowjetunion – begann der Versuch, durch eine Änderung der Verfügungsverhältnisse über Grund und Boden die Agrarverfassung zwar ebenfalls nicht umzustürzen, aber aufzulockern.404 Ein neues Kolchos-Musterstatut und ein Genossenschaftsgesetz hoben 1988 die bis dahin bestehenden Höchstgrenzen für die Privatparzellen und den Viehbesitz auf bzw. übertrugen die Entscheidung über deren Erweiterung den einzelnen Kolchosen. Die sowjetische Gesetzgebung ging so weit, zwar kein Eigentum am Boden, aber dessen „lebenslangen, erblichen Besitz“ zuzulassen. Daneben wurden verschiedene Möglichkeiten der Pacht eingeräumt.

Insbesondere nach der Auflösung der Sowjetunion wurde in Rußland von den „Reformern“ um Jelzin der Versuch gemacht, durch die Einführung des Privateigentums an Land die Agrarverfassung tiefergehend umzugestalten.405 Gestützt auf eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen, die man in den kommenden Jahren umsetzen will, sollen von 222 Millionen ha landwirtschaftlicher Nutzfläche in Rußland lediglich 15-20 Mio ha in Staatseigentum verbleiben und die übrigen 200-205 Mio ha in Privateigentum überführt werden. Das betrifft nicht nur die bisher schon individuell genutzten Grundstücke (Nebenwirtschaften, Gärten, Datschen), sondern vor allem die große Masse des im Besitz von Kolchosen und Sowchosen befindlichen Bodens. 170-180 Mio ha von den für die Privatisierung vorgesehenen Flächen sollen kostenlos nach Normen verteilt werden, die der jeweilige Landkreis festlegt. Den Rest von 25-35 Mio ha will der Staat vorübergehend verpachten; die Pächter erhalten das Recht auf späteren Ablösekauf.

Für die Kolchsen/Sowchosen bedeutet dies, daß ihr Boden zu gleichen Teilen an alle Mitglieder (Werktätige, Rentner oder im Sozialbereich Tätige, z.B. Kolchosärzte oder Kindergartenangestellte) zu Eigentum aufgeteilt werden soll; jedes Kolchosmitglied erhält so einen Eigentumstitel auf ein bestimmtes Grundstück, das im Regelfall zwischen 20 und 60 ha groß sein dürfte. Die neuen Eigentümer können dann frei entscheiden – so jedenfalls die Theorie -, ob ihr Land weiter kollektiv bebaut wird (durch eine Genossenschaft oder eine „Aktiengesellschaft“), oder ob sie aus dem Produktionskollektiv ausscheiden und einen selbständigen Bauernhof gründen wollen. Sie können ihren Boden auch verpachten oder verkaufen. Der Verkauf ist allerdings nur in wenigen, genau festgelegten Fällen erlaubt, so daß von „Privateigentum“ im bürgerlichen Sinn kaum gesprochen werden kann:
– Am weitesten geht die private Verfügungsgewalt bei den schon jetzt individuell genutzten Grundstücken (Gärten, Datschengrundstücke oder Parzellen für eine Nebenwirtschaft): im Erbfall oder wenn der Eigentümer ins Rentenalter kommt, dürfen diese Grundstücke frei verkauft werden – aber auch nur dann.
– Auch die Erben eines selbständigen Bauernhofs (der also aus der Aufteilung des Kolchos-/Sowchoslands hervorgegangen sein muß) dürfen den Hof frei verkaufen.
– Schließlich kann auch derjenige, der bei Aufteilung des Kolchos-/Sowchosbodens auf diesem Land keine individuelle Bauernwirtschaft errichten will, sein Land in drei Fällen verkaufen: a) bei der Pensionierung an einen in demselben Betrieb Tätigen; b) wenn er das erhaltene Land nicht selber bebauen, sondern auf dem Lande (also nicht in der Stadt) einen nicht-landwirtschaftlichen Betrieb aufmachen will (bsp. einen weiterverarbeitenden, Handels- oder Dienstleistungsbetrieb); dazu wird zwar nichts ausgeführt, aber es ist davon auszugehen, daß auch in diesem Fall nur an einen Betriebsangehörigen verkauft werden darf, ebenso wie im folgenden Fall; c) darf der frischgebackene Landeigentümer verkaufen, wenn er statt auf dem von Kolchos/Sowchos erhaltenen Land lieber woanders einen Hof errichten will. Für diesen Fall soll jedoch vorgesorgt werden: „Die Gefahr besteht, daß viele Bodeneigentümer die Absicht der Umsiedlung erklären, ihre Grundstücke verkaufen, dann aber das Geld vertrinken und am neuen Ort keinen Bauernbetrieb gründen. Um das zu verhindern, hatte man seinerzeit bei der Stolypin-Reform dem Umsiedler seinen Erlös nicht am alten Ort in Assignaten gegeben. Stattdessen händigte ihm die Bauernbank ein Zertifikat aus, mit dem er am neuen Ort Produktionsmittel kaufen konnte. Das wäre ein zweckmäßiges Vorgehen auch bei der heutigen Reform.“406

Verpachtung und Beleihung des Bodens sind im Unterschied zum Verkauf nicht eingeschränkt; die Aufnahme von Krediten bei einer normalen Bank ist jedoch gänzlich unrealistisch, wenn die Bank das als Sicherheit verpfändete und mit einer Hypothek belastete Grundstück nicht verwerten, dh. verkaufen darf.

Wie sieht die konkrete Situation gegenwärtig (Zahlenstand von Mitte 1992) aus? Von den 222 Mio ha landwirtschaftlicher Nutzfläche befinden sich 2 Mio ha im Eigentum von Städtern. 27,8 von insgesamt 29,7 Mio städtischen Familien besaßen Mitte 1992 ein Garten- oder Datschengrundstück oder eine persönliche Nebenwirtschaft. Außerdem liegen weitere 1,2 Mio Anträge auf Zuweisung eines solchen Grundstücks vor. So gut wie alle Städter haben also ein Stückchen Land zur Eigennutzung zur Verfügung. Gemessen am gesamten Grund und Boden sind 2 Mio ha nicht viel; die Grundstücke haben aber eine wichtige Funktion: sie dienen überwiegend der Selbstversorgung und mindern darum bestehende Versorgungsschwierigkeiten.

Unter den genannten städtischen Familien mit Privatgrundstücken auf dem Land sind 7,3 Mio, deren Landbesitz wie das Hofland der Kolchos-/Sowchosbauern als „persönliche Nebenwirtschaft“ zählt. Der Unterschied zu den Gärten dürfte sein, daß in der persönlichen Nebenwirtschaft auch Vieh gehalten werden kann und die Inhaber das Recht haben, auf den Märkten zu verkaufen (eine genaue Abgrenzung der „Nebenwirtschaften“ von den „Gärten“ war allerdings nicht zu finden). Neben den 7,3 Mio städtischen Familien betreiben 10,7 Mio ländliche Familien eine solche „Nebenwirtschaft“; das sind im wesentlichen die Kolchos- und Sowchosbauern mit ihrem Hofland. Anders gerechnet, verfügen von über 40 Mio russischen Familien insgesamt 18 Mio über eine Nebenlandwirtschaft und sind als „Parzellenbauern“ anzusprechen (wenn man einen Blick zurückwirft: 21 Mio Bauernwirtschaften gab es 1916; auf 25 Mio war ihre Zahl bis 1925 angewachsen). Ihren hauptsächlichen Lebensunterhalt verdienen diese Parzellenbauern in der Fabrik, der Verwaltung oder im Kolchos/Sowchos; nebenberuflich sind sie als selbständige Landwirte tätig. Da etwa ein Viertel aller städtischen Familien eine solche Nebenlandwirtschaft betreibt, ist eine nicht zu unterschätzende materielle Basis für bäuerliches Denken und Handeln auch in der Stadt vorhanden. Die Züge eines Agrarstaats, die Rußland hat, rühren daher nicht allein von der großen Zahl und der Struktur seiner Landbevölkerung; ebensowenig nimmt es wunder, daß seit seiner Einberufung praktisch auf jeder Sitzung des Kongresses der Volksdeputierten Rußlands die Frage des Bodeneigentums diskutiert wurde.

Die Gesamtfläche der Nebenwirtschaften (städtische und ländliche Familien zusammen) ist bis Mitte 1992 auf 4,7 Mio ha gewachsen (von 3,3 Mio ha Anfang 1991), lag also im Durchschnitt bei 0,26 ha pro Nebenwirtschaft. Dazu müssen die Viehweiden hinzugezählt werden, die den Parzellenbauern nach obscina-Tradition vom Sowchos/Kolchos zur gemeinsamen Nutzung überlassen sind. 1983 waren das (auf dem Gebiet der Sowjetunion) 5,5 Mio ha Heuwiesen und 10,3 Mio ha Weidefläche.407 Neuere Zahlen für Rußland sind nicht bekannt.

Vom Staat wurden den Dorfsowjets im Jahr 1991 weitere Bodenflächen für die Nebenwirtschaften zur Verfügung gestellt, so daß diese um 13-14 Mio ha wachsen können. Da die Bebauung einer größeren Bodenparzelle jedoch Kleinmaschinen erfordert und diese rar sind, wird der zusätzliche Boden voraussichtlich erst im Lauf der nächsten Jahre in Anspruch genommen werden.

Welchen Stand die Aufteilung des Kollektivbodens zu Individualeigentum hat, ist unklar; Usun erwähnt, daß im Laufe des Jahres 1992 etwa 16 Mio Personen Eigentumstitel auf Kolchos-/Sowchosland erhalten sollten.

Damit sind wir bei den eigentlichen Einzelbauern, dh. denjenigen, die nicht nur eine private Nebenwirtschaft betreiben, sondern als selbständige Landwirte tätig werden und zu diesem Zweck auf aufgeteiltes Kolchos-/Sowchosland oder auf Land aus dem staatlichen Bodenfonds angewiesen sind. Die insgesamt 18 Mio Familien mit Parzellenwirtschaften sind das Potential, aus dem solche selbständigen Bauern hervorgehen könnten. Schon vor Auflösung der Sowjetunion zeichnete sich ab, daß derartige Wechsel zum Individualbauerntum hauptsächlich im Baltikum, wo entsprechende Traditionen noch lebendig sind, stattfinden. In Rußland selber ist die Zahl der selbständigen Bauern von einigen Dutzend Anfang 1990 bis Ende 1992 auf 184.000 angewachsen. Sie verfügen im Durchschnitt über eine Betriebsfläche von 44 ha, Ende 1992 insgesamt 8 Mio ha.408

Das ist alles in allem eine nur kleine Zahl, die bisher von den Möglichkeiten der Agrarreformen Gebrauch gemacht hat oder noch machen will. Hinzu kommt, daß die Gründung von Bauernbetrieben auf dem Gebiet eines Kolchos oder Sowchos in vielen Fällen rein formal war, denn solche Höfe sind die ersten fünf Jahre nach Gründung steuerfrei, brauchen nur 8% Zinsen für aufgenommene Darlehen zu zahlen (Kolchosen 8-12%; andere Betriebe seit Juni 1992 inflationsbedingt: 80%) und genießen außerdem Vorteile bei der Beitragszahlung für die Sozialversicherung (5% der für Konsum verwendeten Gelder; Sowchos/Kolchos: 27%; andere Betriebe: 38%). Zwar ist von Seiten der Reformer von bis zu 10% die Rede, die laut Meinungsumfragen aus dem Kolchos ausscheiden wollen,409 aber selbst wenn diese Zahl stimmt, bleiben 90%, die den Kolchos (oder Sowchos) nicht aufgeben wollen. Was ist der Grund dafür?

„Im Wolgagebiet, wo bis 1930 auf gemeindeeigenen Bodenbesitz 95,5% entfielen, darf man ein Entstehen von Weiler- und Einödhöfen (gemeint sind selbständige Bauernbetriebe; H.K.) überhaupt nicht erwarten. Dies umso weniger, als dort fast 40 Prozent der Familien nur aus zwei Personen bestehen und mehr als die Hälfte der Arbeitsfähigen über 50 Jahre alt sind.“410 Aufschlußreich ist der Hinweis auf die obscina („gemeindeeigener Bodenbesitz“), der als erstes erfolgt, um die Schwierigkeiten der Agrarreform zu begründen. Daneben spielt die Überalterung der Landbevölkerung eine wichtige Rolle, denn abgesehen vom Gesundheitszustand lohnt es sich für einen über 50-Jährigen ökonomisch nicht, die Umstellung auf einen eigenen Betrieb vorzunehmen.

Allerdings stellt die Überalterung noch einen ganz anderen Hindernisgrund dar, der wiederum mit den Produktionsverhältnissen im Kolchos/Sowchos und früher in der obscina zusammenhängt. Die seit den 60er Jahren an die Landbevölkerung gezahlten Renten reichen nicht zum Lebensunterhalt aus, sondern setzen weiteres Einkommen in Natural- oder Geldform voraus. So stammt das Haushaltseinkommen alleinstehender Kolchosrentner bzw. ‑rentnerinnen zu 43% aus der eigenen Hoflandwirtschaft (Stand 1989/90).411 Außerdem haben die Alten Wohnrecht und den Anspruch auf ein Deputat (in Naturalien) aus der Kolchosproduktion. Um ihre Parzellenwirtschaft zu betreiben, brauchen sie Weiderechte für ihr Vieh auf dem Kollektivland (oder Viehfutter) und Unterstützung bei der Bearbeitung des Bodens, beim Transport und Absatz ihrer Erzeugnisse. Aus eben diesen Gründen haben aber nicht nur sie selber ein elementares Interesse an der Aufrechterhaltung des Kolchos/Sowchos, sondern auch ihre Kinder – die werktätigen Mitglieder des Kolchos/Sowchos. Sie müßten ihre Eltern sonst alleine versorgen. >Die Dorfgemeinde sorgt dafür, daß alle leben können<, war vor fast 90 Jahren der Tenor der obscina-Bauern gegen die Stolypinschen Reformen, und das ist heute die Stimmung in den Dörfern gegen alle Versuche zur Schwächung oder gar Auflösung der Kolchosen und Sowchosen.

Der Schriftsteller Iwan Wassiljew, Agrardeputierter des Volkskongresses, schildert die gegenwärtige Lage aus der Sicht des Dorfes. Er wohnt in einem Sowchos-Dorf im Gebiet Pskow, wozu die Redaktion der Zeitschrift OSTEUROPA einleitend schreibt: „Pskow ist auch eine traditionsreiche Provinz, wo die altrussische Dorfgemeinde mit ihren Sitten noch nachwirkt“. Wassiljew erläutert zunächst, daß die Dorfbevölkerung der gesamten Provinz 312.000 Menschen umfaßt, von denen nur 10% erwerbstätig sind. Zum Dorfsowjet von Uspenskoje – dem Dorf, in dem er anscheinend wohnt -, gehört ein halbes Hundert Weiler mit (insgesamt) 209 Einwohnern, davon 39 Erwerbstätige, 10 Personen Leitungspersonal, 10 Kinder und 150 Rentner. Das vermittelt bereits ein Bild von den Verhältnissen auf dem Land nach 80 Jahren „Sozialismus“.

Er weist darauf hin, daß in seiner Provinz kaum angesessene Bauern, sondern nur – sehr wenige – Zugereiste einen selbständigen Bauernhof gegründet haben. „Die Theorie“ (der Reformer), führt er aus, „schlägt vor: sogleich her mit dem Betrieb des arbeitenden Bauern, modern ausgedrückt der Farm, altmodisch gesagt, dem Einzelbauern, den man von leichter Hand als Kulaken gebrandmarkt hat.“ Der Gründung eines solchen Hofs, fährt er fort, stehen jedoch jede Menge Hindernisse im Weg. Man braucht dafür nicht nur eine Hütte zum Wohnen, sondern auch Gebäude für Maschinen, die Unterbringung der Ernte und des Viehs. Woher soll das Baumaterial kommen und der Baubetrieb, der die Gebäude errichtet? Außerdem wird Maschinerie und Ausrüstung benötigt. Das eigentliche Hindernis auf dem Weg in die „Einödbauern-Robinsonade“, wie Wassiljew den Übergang zum selbständigen Bauerntum nennt, liegt aber jenseits von all dem: „Auf Robinson Crusoe hatte niemand ein beobachtendes Auge, ihn störte niemand, doch auf unseren Einödbauer-Robinson sind hundert Paar aufpassende Augen von Dorfgenossen gerichtet, hundert Zungen hecheln ihn durch, hundert Gehirne denken sich Streiche aus – und keine helfende Hand ist ausgestreckt. Das ist die Hauptfolge in sozialer Hinsicht, von einem der unsrigen wird er zu einem Fremden.“412

Läßt sich ein Sowchosnik bisherigen Kollektivboden für die Gründung eines eigenen Bauernhofs übertragen, so reagieren die übrigen Dorfbewohner mit Boykott: >Du hast Land in eigenen Besitz genommen, jetzt darfst Du keinen Huf auf unseren Boden treten lassen.< Die anderen Sowchosmitglieder lassen ihre Kühe hintereinander auf den Gemeindeweiden grasen; das darf der Ausgetretene nicht mehr, er muß sehen, wie er sein Vieh durchbringt; „es scheint, daß die schon ein Jahrhundert alte Geschichte mit den abgeschnittenen Flurstücken sich auf neue Weise wiederholt: Der Einzelbauer schmälert den Kollektivbauern.“

Wenn alle diese Schwierigkeiten gemeistert sind, stellt sich die Frage, wie der Absatz der erzeugten Waren erfolgen soll. Es gibt keinen selbständigen Zwischenhandel, sondern nur den staatlichen Handel oder den Genossenschaftshandel (der Kolchosen). Alles andere ist nach wie vor gesetzlich verboten. Selbst wenn der staatliche oder Genossenschaftshandel dem Einzelbauern wohlgesonnen sein sollte – was meist nicht der Fall ist – er ist gar nicht auf den Ankauf kleiner Mengen eingerichtet, sondern auf die Massenerzeugung der großen Produktionseinheiten. Aus allen diesen Gründen sind selbständige Bauernhöfe bisher meist nur in direkter Nachbarschaft von Städten gegründet worden, und da zu einem großen Teil von Dorffremden.

„Heißt das, daß der angesessene Bauer auf die Zeichen der Zeit nicht reagiert? Ganz und gar nicht“, schreibt Wassiljew. „Er reagiert schnell, aber mit gesundem Menschenverstand. Er lebt sich ein. Er wählt den leichtesten, einfachsten, zugänglichsten Weg, und das heißt, den wirtschaftlichsten. Er hält sich an die noch lebendige Wurzel, den eigenen Hofhaushalt. Die Hoflandwirtschaft, das ist die Saft führende Hauptwurzel des Bauern …, die Restwurzel, welche die totale Losreißung des Arbeiters vom Eigentum überstanden hat. Aus ihr begann der Bauer wieder Leben zu schöpfen.“ Nach seinen Vorstellungen muß darum alles getan werden, um die Entwicklung der Parzellenwirtschaft zu fördern: Vergrößerung der Fläche, der Heuwiesen etc. Auf diese Weise würde der Bauer noch eine Zeitlang in der allgemeinen Dorfordnung bleiben, und erst wenn er sich mit seiner Hofwirtschaft einen festen Stand verschafft hätte, könnte er auf die zweite Stufe treten, dh. einen individuellen Agrarbetrieb gründen und die Dorfgemeinschaft verlassen.

Unter den gegebenen Bedingungen riefen bereits die ersten Reformversuche gegen Ende der 80er Jahre auf dem Land Unruhe hervor. „Im Namen derer, die Getreide bauen“ (dh. der ausschlaggebenden Masse der russischen Bauern) propagierten 417 Agrardeputierte von insgesamt 2.250 Mitgliedern des damaligen sowjetischen Volksdeputiertenkongresses Mitte 1989, daß „bäuerliche Arbeit … wie in allen entwickelten Ländern zur prestigeträchtigsten und angesehensten gemacht werden“ muß. Sie forderten die (soundsovielte) Streichung aller Schulden der Sowchosen und Kolchosen und neue Subventionen. Damit nicht genug, verlangten sie, „unverzüglich, beginnend mit diesem Kongreß, die Wirtschaft des Landes auf die Bedürfnisse des Dorfes auszurichten (…), die Städte nicht weiter wachsen zu lassen, die Urbanisierung des Landes zu stoppen.“413 Wo die Agrarsubventionen herkommen sollen, wenn nicht durch den Ausbau der Industrie und damit der Städte, überschreitet den Horizont dieses Manifests, das auf einem durch und durch rückwärtsgerichteten bäuerlichen Weltbild gründet und den gesellschaftlichen Boden beleuchtet, auf dem in Rußland die zahlreichen reaktionären und faschistischen Gruppierungen heranwachsen, die das „alte Rußland“ verherrlichen.

Das Widerstreben der Bauernschaft gegen die Reformen führte zu einem permanenten Hin und Her: „Privates Bodeneigentum wurde von Gesetzes wegen zugelassen, aber zugleich für Grundstückskäufe und Verkäufe ein Moratorium von zehn Jahren eingeführt. Bauernwirtschaften wurden anerkannt, aber Land wurde ihnen in Lagen zugeteilt, wo es Jahre baucht, bis ein normales Leben und eine effiziente Produktion erreicht werden kann.“414 Beim August-Putsch von 1991 befand sich der Führer der „Bauern-Union“ konsequenterweise im Putsch-Komitee. Nachdem der Putsch zusammengebrochen war, beschleunigte sich die Agrargesetzgebung zunächst, bis Anfang 1992 Ruzkoj, der russische Vizepräsident, mit der Fortsetzung der Agrarreform beauftragt wurde.

Er hat inzwischen ein neues Zentrum für die Boden- und die Agrarreform geschaffen, das eine Bodenbewertung durchführen und die Aufteilung des Bodens organisieren soll; mit anderen Worten: „Ruzkoj beabsichtigt, alles von vorn zu beginnen“.415 Am 3.Juni 1992 schloß er namens der Regierung mit den Vertretern der Bauernschaft (der Verband der Einzelbauern – AKKOR – war nicht beteiligt) einen sogenannten „Generalvertrag“ ab.416 Darin wird den Bauern neben der unbefristeten, unentgeltlichen Nutzung der Wälder zugesagt, Treib- und Schmierstoffe zu 50% zu finanzieren, Subventionen und Kredite zu gewähren, die Preise für Agrarprodukte zu regulieren und – das ist der Kern der Sache – das Funktionieren von Sowchosen und Kolchosen zu gewährleisten.

Die Zeitschrift OSTEUROPA kommentiert dazu, die Ergebnisse des „Generalvertrags“ ließen vermuten, „daß um sie in der Führung in einer heftigen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung gerungen wurde. Das Ergebnis war unverkennbar der Sieg der durch A.Ruzkoj, ehemals Oberst in Afghanistan und heute Exponent nationalistischer Strömungen unterstützten Richtung der >Agrarier<. Diese sind es, welche Ruzkoj >nicht im Stich gelassen< hat. Sie stellen sich gerne als Interessenvertreter der Landwirtschaft und der >Bauern< insesamt dar, sind aber in Wirklichkeit Vertreter der Kolchos- und Sowchos-Manager und der meisten Verwaltungskader, so wie es vor dem August 1991 die >Bauern-Union< des am Putsch beteiligten W.Starodubzew war. Nicht zufällig geschah es auch während der vermutlichen Auseinandersetzungen, daß Starodubzew auf Fürsprache Jelzins aus der Haft entlassen wurde.“417

Der auf westliche Einzelbauern eingeschworenen Zeitschriftenredaktion ist es nicht nachvollziehbar, daß die attackierten „Agrarmanager“ und „Verwaltungskader“ keine verselbständigten bolschewistischen Rückzugsgefechte liefern, sondern die Interessen der breiten bäuerlichen Masse vertreten (sonst würden sie sich nicht lange halten können). Aber davon abgesehen, scheinen die Beobachtungen zutreffend zu sein. Mit Ruzkoj haben sich nicht allein bäuerliche Interessen durchgesetzt, sondern nehmen jene militärisch-bäuerlich-schwerindustriellen Kräfte wieder Gestalt an, die die Sowjetunion seit Chruschtschow und vor allem seit Breschnew geprägt haben. Die gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen sie stehen, haben sich durch die stürmischen Veränderungen des politischen Überbaus nicht aufgelöst.

Der „Generalvertrag“ gibt eine klare Antwort auf die Frage, ob es auf dem Land ein Zurück zu Stolypin gibt. Die Agrarreform vor fast 90 Jahren gegen die obscina war nur unter der zaristischen Ordnung möglich, weil die Bauern nicht über das allgemeine Stimmrecht oder eine andere Vertretungsmacht verfügten. Die heutige Stellung der Bauernschaft in Rußland verurteilt eine solche Politik von vornherein zum Scheitern. Eine Auflösung des Kolchos/Sowchos ist nicht im Sturmangriff, sondern nur von innen heraus, nur auf lange Sicht, durch die allmähliche Entwicklung der Nebenwirtschaften möglich. Das ist ein langer und qualvoller Weg, auf dem die Bauern, um mit Marx zu sprechen, sowohl durch die Entwicklung des Kapitalismus als auch durch seine Nichtentwicklung leiden werden.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts stellten die Bauernmassen der vorzeitlichen Dorfgemeinde Rußlands ein gewaltiges revolutionäres Potential zum Sturz der überlebten zaristischen Ordnung dar. Unter Führung des Proletariats eröffnete ihre Revolution den Durchgang zur Industrialisierung, auf deren Grundlage der Weg zum Sozialismus möglich war. Am Ausgang dieses Jahrhunderts machen sie sich als festes Bollwerk der Vergangenheit, als Bleigewicht gegen jegliche Entwicklung geltend, während gleichzeitig eine erneute kommunistische Formierung des Proletariats weit entfernt ist.

X. Zusammenfassung

1. Politisch war die Oktoberrevolution eine proletarische Minoritätenrevolution; ihrem sozial-ökonomischen Wesen nach aber war sie eine bürgerlich beschränkte Bauernrevolution unter Führung des Proletariats. Der entscheidende Gegensatz, der den Sieg des Proletariats ermöglichte, war der zwischen Gemeindebauern und Gutsbesitzern; die Bauern stellten nicht nur die Hauptmassen im Prozeß der Revolution, sondern waren auch ihre unmittelbaren Hauptnutznießer. Die politische Führung durch das Proletariat gewährleistete den Sieg, durch den die Arbeiterklasse sich in den Besitz der Staatsmacht und der industriellen Produktionsmittel setzte.
Die Revolution richtete sich neben Zar und Adel auch gegen das Kapital, weil neben dem Grundeigentum der Gutsbesitzer auch das der Stolypinschen Bauern sowie die Fabriken und Banken nationalisiert wurden. Andererseits war sie aber bürgerlich beschränkt, insoweit das bäuerliche Privateigentum an Produktionsmitteln nicht angetastet wurde.

2. Den Schlüssel für das Verständnis der russisch-sowjetischen Entwicklung liefert die primitive Dorfgemeinde (obscina) und ihre Überführung in den Kolchos nach 1929. Lediglich in Teilen des Zarenreichs (Ukraine, Baltikum, Sibirien) hatte sich bei den Bauern das Privateigentum an Grund und Boden bereits durchgesetzt, befördert durch die Stolypinschen Reformen nach 1905. Dagegen blieb in Kernrußland, dh. bei der Masse der Bauernschaft, die Agrarverfassung der obscina vorherrschend, die auf dem urkommunistischen Gemeindeeigentum und der regelmäßigen Umteilung des Bodens fußte.

Durch die Stolypinschen Reformen endgültig zur Feindin der zaristischen Ordnung geworden, vernichtete die obscina in der Oktoberrevolution ihre äußeren Gegner durch Verbot des Privateigentums an Land und erklärte ganz Rußland zur Dorfgemeinde. Gleichzeitig wurde sie von innen heraus durch die beginnende kapitalistische Warenproduktion zersetzt, deren soziale Träger die Kulaken (reiche Bauern) waren, die mit ihren Produktionsmitteln eine Monopolstellung im Dorf innehatten und die Schlüsselfigur für den Produktionsablauf in der obscina bildeten.

3. Im Bürgerkrieg versuchten die Bolschewiki zunächst, durch die Getreide-Ablieferungspflicht, die Abschaffung des Geldes und die Entfachung des Klassenkampfs im Dorf direkt von der – von Lenin so verstandenen – bürgerlichen Revolution zum Kommunismus weiterzumarschieren. Der Kriegskommunismus scheiterte an den Bauern, die keinen Grund für die weitere Getreideablieferung mehr sahen, als die Armeen der Gutsbesitzer geschlagen waren. Kronstadt wurde zum Symbol des Umschlagens.
Mit der in letzter Minute durchgesetzten Neuen Ökonomischen Politik (NEP) machten sich die bäuerlichen Grundlagen wie die bürgerlichen Schranken des Oktobers geltend. Die Bauern konnten frei über ihre Produkte verfügen; die Industrialisierung sollte in Abhängigkeit vom Warentausch mit dem Land erfolgen. Die Produktion in den Städten wurde auf den Staatskapitalismus umgestellt: kapitalistisch dem Wesen, staatlich der Form nach. Politisch behielt die Arbeiterklasse die Staatsmacht, militärisch abgesichert durch die Umwandlung der mittelbäuerlichen Millionenarmee des Bürgerkriegs in eine Milizarmee mit proletarisch dominierten Kadertruppen; das Mehrklassenwahlrecht der ersten sowjetischen Verfassung hielt die Bauern vom Staat fern.
Der Sozialismus sollte nach Lenins Vorstellung durch die genossenschaftliche Umwandlung des Dorfes und die Industrialisierung in ein bis zwei Generationen erreicht werden, indem die proletarische Partei die Kommandohöhen des Staats und der Wirtschaft in der Hand hielt.

4. In den 20er Jahren entfalteten sich die Widersprüche der NEP; die Machtkämpfe in der Partei waren eine Widerspiegelung der sich entwickelnden Klassengegensätze. Trotzki verfocht auf dem Boden seiner Theorie der permanenten Revolution das Konzept einer umfassenden Planwirtschaft, um den sofortigen Übergang zum Sozialismus zu forcieren. Weil er die dafür erforderliche beschleunigte Industrialisierung zunächst durch eine Militarisierung der Arbeit auf Kosten der Arbeiter durchführen wollte, isolierte er sich sowohl in der Arbeiterklasse als auch in der Partei. Seine soziale Stütze fand er in der radikal gesonnenen Jugend (Studenten, Komsomol) und in der linken Intelligenz, die als kommunistische Staatsbürokratie vom Ausbau des Staatsapparats profitiert hätte.

Als die NEP 1925 erweitert wurde – vorangetrieben durch Bucharin und mitgetragen von Stalin -, schwenkten Teile der Arbeiterklasse und Partei von ihr ab, Sinowjew und Kamenew an der Spitze. Sie verbündeten sich mit Trotzki und traten gemeinsam für eine industrielle Offensive hin zum Sozialismus auf Kosten einer verschärften Ausbeutung der Bauernschaft ein. Die „Vereinigte Opposition“ fand jedoch auch gemeinsam keine Mehrheit in der Partei, weil nach den praktischen Erfahrungen des Kriegskommunismus die Masse der Arbeiterklasse bis Ende der 20er Jahre keinen erneuten Streit mit den Bauern befürwortete.

5. Ende der 20er Jahre geriet die NEP endgültig in die Krise. Auf dem Land hatten die Kulaken ihre Schlüsselstellung innerhalb der Dorfgemeinden ausgebaut; aufgrund der Verfügung über die wichtigsten Produktionsmittel führten sie das Dorf an und bestimmten über den Verkauf des Getreides, das sowohl für die Ernährung der Städte als auch für die Exportfinanzierung der Industrialisierung benötigt wurde. Die überschüssige Landbevölkerung, kurzzeitig durch die Landverteilung in der Oktoberrevolution zurückgegangen, nahm wieder zu und strömte in die Städte. Die Städte ihrerseits waren mangels ausreichender Industrialisierungsfortschritte nicht in der Lage, die arbeitssuchenden bäuerlichen Massen produktiv zu beschäftigen, sondern litten selbst unter zunehmender Arbeitslosigkeit. In der Arbeiterklasse machten sich Tendenzen bemerkbar, mithilfe der Gewerkschaften eine zünftlerische Interessenpolitik zu betreiben.

Bucharins Weg einer Fortsetzung der NEP hätte unter diesen Umständen nicht nur absehbar in eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Katastrophe geführt, sondern war auch deswegen nicht realisierbar, weil das Militär, das ihn allein durchsetzen konnte, proletarischen Charakter trug. Den Ausweg aus der Krise bot die Politik Stalins, der mittlerweile die Bedingungen für einen grundlegenden Umschwung herangereift sah.

6. Als die Zurückhaltung des Getreides durch die Bauern 1928/29 erneut einen Hungerwinter androhte, schlug die Stimmung in den Städten gegen die NEP und gegen das Land um. Die Arbeiterklasse war nicht länger bereit, ihre Ernährung und den industriellen Aufbau von den Kulaken abhängig zu machen. Der 1929 begonnene Generalangriff auf das Land vernichtete die Kulakenschaft als Klasse und schuf die Voraussetzungen für eine sprunghafte Industrialisierung.

In der Arbeiterklasse und Partei brach die „Zweite Revolution“ massenweise „linken“ Tendenzen Bahn. In der Agrarpolitik wurde die Vertreibung der Kulaken von den „Linken“ mit dem Versuch verknüpft, wie in den Anfängen des Kriegskommunismus durch ein Zusammengehen mit der Dorfarmut und eine überhastete Kollektivierung mit dem Ziel der Errichtung von Agrarkommunen auf direktem Weg in den Kommunismus zu gelangen, obwohl die Produktionsmittel dafür bei weitem nicht vorhanden waren. Wie nach der Oktoberrevolution scheiterte das Agrarprogramm der Linken an den mittelbäuerlichen Massen. Diese waren nur für das Stalinsche Agrarprogramm einer zurückhaltenden Umgestaltung des Landes mit dem „Artel“ als grundlegender Organisationsform der Kolchosen zu haben. Dabei behielten sie ihr Hofland sowie eigenes Vieh.

7. Der Kolchos knüpfte an die obscina an. Der Unterschied zur Dorfgemeinde bestand darin, daß die Masse des Bodens nicht länger individuell umgeteilt, sondern genossenschaftlich bearbeitet wurde und die Produktionsmittel in den staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen als Stützpunkten der Arbeiterklasse auf dem Land gesellschaftliches Eigentum waren. Durch die „gutsähnliche“, auf dem Zusammenhang von Großproduktion und Parzellenbauern beruhende Organisation der Kolchosen war es möglich, ein gegenüber vorher erheblich vergrößertes bäuerliches Mehrprodukt für die Versorgung der Städte und die Finanzierung von Maschinenimporten zu erzielen.

Die Produktionsweise des Kolchos ist nicht auf einen einfachen Begriff zu bringen. Der Kolchos als Kollektivproduzent war Eigentümer des erzeugten Getreides, so wie das individuelle Kolchosmitglied Eigentümer der auf dem Hofland erzeugten Agrarprodukte war. Das bäuerliche Mehrprodukt stellte sich teils als Ware dar, mußte aber überwiegend als Zwangsablieferung in Warenform abgegeben werden. Auch soweit Warenproduktion, war sie als einfache, nichtkapitalistische Warenproduktion stationär. Von Stalin wurde diese Produktionsweise fälschlich als „sozialistisch“ begriffen, weil kein Privateigentum an den agrarischen Produktionsmitteln mehr existierte und die Kolchosbauern werktätig waren.

8. Die gesellschaftlichen Folgen der Kollektivierung waren weitreichend: Zunächst wurden die sozialen Gegensätze, die die Bauernschaft vorher gespalten hatten, durch das Verschwinden der Kulaken und der Dorfarmut beseitigt; das Proletariat stand von nun an einer geschlossenen Klassenfront der Bauernschaft gegenüber, die 1939 noch 2/3 der Bevölkerung ausmachte. Weil die Vorherrschaft der Kulaken über das Dorf und jede Form der Ausbeutung beseitigt war, bestand kein Grund mehr, die Bauern vom Staat fernzuhalten, zumal der nahende Weltkrieg den Zusammenschluß mit ihnen erforderte. Auf dem Boden der neuen Verfassung von 1936, die das gleiche Wahlrecht für alle vorsah, wurde der vorherige Arbeiterstaat zum Arbeiter- und Bauernstaat; neben der Armee wurde schließlich auch die Partei den Bauern geöffnet.

9. Als Träger der Industrialisierung entstand in den 30er Jahren eine neue, bäuerlich-barbarische Arbeiterklasse, die millionenfach aus ungebildeten, mittelalterlichen Bauernmassen herausgestampft wurde und die Arbeiterklasse der Oktoberrevolution in sich aufsog. Gesellschaftlicher Produktionsweise fremd, konnte sie nur durch eine Zwangsorganisation der Arbeit an die Industriearbeit gewöhnt werden; um die Gewalt als ökonomische Potenz wirken zu lassen, mußte der Staat ausgebaut werden.
Politisch gesehen, hatten die mit der Kollektivierung und Industrialisierung verknüpften Veränderungen eine scheinbar paradoxe Konsequenz: die Bauernschaft, obwohl sie zahlenmäßig zurückging, wurde politisch stärker, weil nicht mehr durch Klassengegensätze gespalten. Die Arbeiterklasse dagegen, obwohl – bzw. weil – sie zahlenmäßig gewaltig zunahm, wurde politisch schwächer, weil die alten Klassenstrukturen sich auflösten und die neue Klasse sich erst formieren mußte.

10. Auch wenn mangels ausreichender wissenschaftlicher Erforschung noch keine endgültige Klarheit möglich ist, deutet alles darauf hin, daß den massenhaften blutigen Säuberungen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre die Auseinandersetzung um die Bauernfrage zugrundelag. Die Hereinnahme der Bauern in Staat, Armee und Partei war nur gegen erheblichen Widerstand durchzusetzen. Mit den Säuberungen, die sich klassenmäßig insbesondere gegen die alte, linke Intelligenz richteten, wurden die darauf gestützten linksradikalen Tendenzen in der Partei und Gesellschaft ausgemerzt. Nicht nur die Arbeiterklasse, auch die Partei wurde in den 30er Jahren eine andere. Bedingt durch die bäuerliche Abkunft des neuen Massenproletariats und die Hereinnahme der Bauern in den Staat nahm die Diktatur des Proletariats bäuerlich-barbarische Züge an. Der gewalttätige Charakter der Herrschaft in den 30er Jahren war kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche des Proletariats.

11. Den 2.Weltkrieg überstand die Sowjetunion zwar siegreich, der Armee gelang es aber infolge des Kriegs, sich von der Unterordnung unter die Partei- und Staatsführung freizumachen; sie übte in den von sowjetischen Truppen besetzten Ländern Osteuropas eine Herrschaft des Militärstiefels aus. Stalin stellte Anfang der 50er Jahre die Aufgabe der Umgestaltung der Kolchosen, um der von ihm befürchteten Stagnation der Produktivkräfte entgegenzutreten. Außenpolitisch trat er für einen Ausgleich mit Deutschland ein (Stalin-Note von 1952), um die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Mächten auszunutzen, das Militär zurückzudrängen und durch eine Abrüstung Mittel für die weitere Industrialisierung freizusetzen. Nur auf diesem Weg war die Herrschaft der Arbeiterklasse zu sichern und die weitere Entwicklung zum Sozialismus ökonomisch und gesellschaftlich zu gewährleisten.

In Abgrenzung zu dieser Politik bildete sich in der Parteiführung eine militärisch-schwerindustriell-bäuerliche Gruppierung heraus, deren Ursprünge möglicherweise schon in der großen Säuberung liegen. Auf dem Boden der Shdanowschen Zwei-Lager-Theorie verfolgten ihre Vertreter gegenüber dem als homogen betrachteten Westen („der“ Imperialismus) eine Aufrüstungs- und Militärpolitik und wandten sich gegen die Umwälzung der Kolchosen. Die Schrift über „Ökonomische Probleme des Sozialismus“ stellte in allen zentralen Punkten (Bauernfrage, Zwei-Lager-Theorie, Orientierung der Industrie) einen verdeckten Angriff Stalins auf seine Gegner dar. Aber noch bevor der Kampf offen zur Austragung kommen konnte, starb er.

12. Nach dem Zwischenspiel Berijas gelangte mithilfe des Militärs Chruschtschow an die Macht. Er machte im wesentlichen eine Politik für die Bauern, angefangen von der Erhöhung der staatlichen Ankaufpreise für Agrarprodukte bis zur Übergabe der Maschinen-Traktor-Stationen an die Kolchosen. Dadurch wurde der „gutsähnliche“ Zusammenhang von Großproduktion und Parzellenwirtschaft und die Stellung der Bauernschaft insgesamt zementiert. Chruschtschows Regierung führte zum Verlust der Herrschaft der Arbeiterklasse. Das gesellschaftliche Resultat seiner Politik war ein Klassengleichgewicht zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft. Als er versuchte, die Bauern noch mehr zu fördern, diesmal auf Kosten der Schwer- und Rüstungsindustrie, wurde er auf Betreiben des Militärs gestürzt und 1964 durch Breschnew ersetzt.

Breschnews Regierungsantritt bedeutete die Errichtung einer indirekten Militärherrschaft hinter der Fassade der Partei. Die ökonomische und gesellschafliche Stagnation ließ die Widersprüche im sowjetischen Vielvölkerstaat anwachsen. Der seit 1985 durch Gorbatschow betriebene Versuch, durch „Perestrojka“-Reformen den Staat zu modernisieren, führte unter den gegebenen Bedingungen nur zu dessen weiterer Untergrabung. Durch die militärische Niederlage in Afghanistan geschwächt, war das Militär nicht mehr in der Lage, die Sowjetunion zusammenzuhalten. Als die Repräsentanten der alten Ordnung im August 1991 gegen Gorbatschow putschten, um den Zerfall aufzuhalten, stellten sich die entscheidenden Teile des Militärs (Afghanistan-Reformer) auf die Seite Jelzins, der die Sowjetunion zur Auflösung brachte.

13. Ausgehend von den Produktionsverhältnissen, war die Sowjetunion im Marxschen Sinne zu keinem Zeitpunkt ein sozialistisches Land. In den 20er Jahren war sie staatskapitalistisch; anschließend widersprach einerseits die nichtsozialistische Produktionsweise des Kolchos, andererseits die Zwangsorganisation der industriellen Arbeit ihrer Einstufung als „sozialistisch“.

Auf ihren eigenen ökonomischen Grundlagen war die sowjetische Gesellschaft nicht dauerhaft lebensfähig. Sie mußte sich entweder zum Sozialismus weiterentwickeln oder untergehen. Soweit auf dem gegebenen Stand ein zusammenfassendes Urteil gegeben werden kann, ist dies kurz zu machen: Ohne die Bauernschaft war die Oktoberrevolution nicht möglich, und ohne die Umwandlung der Kolchosbauern in agrarische Arbeiter war der Aufbau des Sozialismus nicht möglich. Gescheitert ist nicht der Sozialismus, sondern der Versuch, den Sozialismus zusammen mit der Bauernschaft aufzubauen.

15. Die Personen, die die sowjetische Politik historisch bestimmten, verkörperten individuell die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte, an deren Spitze sie standen. Lenin repräsentierte die vergleichsweise kultivierte städtische Arbeiterklasse der Oktoberrevolution. Trotzki, bis 1917 linker Menschewik, vertrat die revolutionäre Intelligenz, die in der Revolution mit der Arbeiterklasse marschierte und dann in der neuen Staatsbürokratie aufging, bis sie in den 30er Jahren unterging. Bucharin, von links nach rechts schwankend, vertrat die Kulaken innerhalb der Partei als Kommunist, weil er die Fortsetzung der NEP als einzige Möglichkeit eines zivilisierten Übergangs zum Sozialismus ansah. Stalin repräsentierte die bäuerlich-barbarische Arbeiterklasse der Industrialisierung, die in aufopfernden Produktionsschlachten den Weg aus der Barbarei öffnete; die Widersprüchlichkeit seines Bildes erklärt sich mit einem Satz: er trieb die Entwicklung zum Sozialismus voran – und konnte dies nur mit den Mitteln tun, die die „real existierende“ Klasse ihm vorgab. Chruschtschow verkörperte in Wort und Tat wie Gestalt die russische Bauernschaft der Kolchosen und Sowchosen. Breschnew schließlich war der bornierte Mann des bornierten Militärs.

16. Die Stalinismuskritik der Linken ist so begriffslos wie die Linke selbst. Wer die Stalinsche Politik zurückweisen will, muß aufzeigen: erstens, auf welchem anderen Weg die unabdingbar notwendige Industrialisierung stattfinden konnte; zweitens, woher ein anderes Proletariat als aus den kulturlosen, im Mittelalter fußenden Bauernmassen kommen sollte; und drittens, wie auf dieser Grundlage eine andere Herrschaftsform zustandekommen sollte. Aus den gleichen Gründen, weshalb die Herrschaft der Arbeiterklasse barbarische Formen annehmen mußte, war sie gesellschaftlich schwach fundiert und in hohem Maße von einzelnen Personen abhängig. Sie brach nach Stalins Tod zusammen, und der Staat, bis dahin ein mächtiges Werkzeug der Industrialisierung und Umwälzung des Landes, wurde zu einem umso machtvolleren Bollwerk der Stagnation und Versteinerung.

Stalins entscheidender theoretischer Fehler war, daß er die Produktionsweise des Kolchos als sozialistisch auffaßte und daher mit der Kollektivierung seit Anfang der 30er Jahre vom Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion ausging. Gleichzeitig mußte er begründen, warum trotzdem Klassenkampf stattfand und der Staat im Gegensatz zur Marxschen Theorie nicht nur nicht abgebaut, sondern verstärkt wurde. Damit trug er maßgeblich zur Ideologisierung des Marxismus bei: eine erst auf dem Weg in die niedere Stufe des Kommunismus befindliche Gesellschaft konnte nur unter Bruch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus als sozialistisch deklariert werden. Der größte politische Fehler Stalins – die Öffnung der kommunistischen Partei für die Bauern – hängt mit seiner theoretischen Fehleinschätzung zusammen. Desungeachtet hat er die zentralen Aufgaben der Weiterentwicklung der Sowjetunion in der Praxis richtig gestellt.

17. Wird auf Basis der geführten Untersuchung der Bogen nach Deutschland hin geschlagen, so muß man feststellen, daß die soziale Revolution in Deutschland in entscheidenden Punkten einen anderen Verlauf nehmen wird als der russische Oktober. Die Produzenten sind in der Masse keine Bauern – auch nicht zu einem ausschlaggebenden Teil -, sondern Produzenten des industriellen Kapitals. Zwar existiert noch eine Reihe vorbürgerlich-ständischer Relikte, im Ganzen fußt die Gesellschaft jedoch auf entwickelten kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Dem entspricht die Form der politischen Herrschaft der Bourgeoisie: die bürgerliche, parlamentarische Demokratie. Damit findet die Arbeiterklasse die ihr gemäßen Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution vor. Sie muß die ökonomischen Grundlagen ihrer eigenen Herrschaft nicht erst mit Hilfe des Staates schaffen, sondern kann alsbald dessen Abbau, dh. seine Rücknahme in die Gesellschaft vornehmen. Die Diktatur des Proletariats wird, wie von Marx angenommen, aller Voraussicht nach ein kurzes Übergangsstadium sein können, das nicht mit Produktionsverhältnissen eigener Art verknüpft ist.

Lange vorher sind jedoch zwei zentrale theoretische Aufgaben zu erledigen: Das bisherige Scheitern des Kommunismus muß erklärt und das Programm der Revolution erarbeitet werden.

Literaturliste

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Anmerkungen

1 Lorenz, S.28

2 MEW 23, S.536

3 Hans Raupach, Die Agrarsysteme in Ost und West als Grundlage der sozialökonomischen Verhältnisse, in: Gegenwartskunde 1963/64, S.7

4 ebda

5 Lorenz, S.21

6 Lorenz, S.22

7 Lorenz, S.22 f

8 Handbuch III/1, S.49 f

9 Lorenz, S.20

10 Andreas Moritsch, Die Stolypinsche Agrarreform aus regionaler und betriebswirtschaftlicher Sicht, in: Auerbach 1985, S.208

11 Altrichter 1984, S.21

12 Lorenz, S.309

13 Lorenz, S.25

14 Altrichter 1984, S.21

15 Lorenz, S.30

16 Lorenz, S.25

17 Lorenz, S.28

18 Zur Oktoberrevolution: A.Schröder, Vom sowjetischen Oktober 1917 zum deutschen November 1989, in: Kommunistische Presse, März 1991

19 Lorenz, S.65 f

20 Lenin, LW 30, S.96

21 Lorenz, S.83 f

22 Lorenz, S.108

23 nach: LW 26, S.250

24 LW 26, S.250 f

25 Altrichter 1984, S.33

26 LW 30, S.96

27 Altrichter 1984, S.34

28 Handbuch III/1, S.732

29 Raupach, S.30; Tabelle S.28

30 Hildermeier, S.139

31 LW 28, S.300

32 LW 33, S.31, 32

33 LW 28, S.295

34 Chamberlin I, S.232

35 Rauch, S.48

36 Rauch, S.90-93

37 Über die Naturalsteuer, April 1921, LW 32, 355

38 Lorenz, S.113

39 Chamberlin II, S.126

40 Hildermeier, S.277

41 Chamberlin II, S.236

42 Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Oktober-November 1918; LW 28, S.300

43 Meyer 1974, S.84 ff

44 Lorenz, S.119

45 Lorenz, S.100

46 Chamberlin II, S.412

47 Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, April 1918, LW 27, S.260

48 nach: Lorenz, S.91

49 Trotzki auf dem XI.PT 1920; nach: Lorenz, S.114

50 Diktatur oder Demokratie; nach: Daniels, S.151

51 Diktatur oder Demokratie; nach: Daniels, S.151

52 Die Gewerkschaften und ihre weitere Rolle, X.Parteitag, Anhang 10, S.786; nach: Daniels, S.160

53 Rede auf dem II.Gesamtrussischen Verbandstag der Bergarbeiter, Januar 1921; LW 32, S.48

54 Über die Gewerkschaften, Dezember 1920, LW 32, S.9

55 Die Krise der Partei, Januar 1921, LW 32, S.34

56 LW 32, 193

57 Ursprünglicher Entwurf der Resolution über die syndikalistische und anarchistische Abweichung in unserer Partei; LW 32, S.249

58 Hofmann, S.19

59 LW 33, S.292

60 Referat auf dem X.Parteitag 1921; LW 32, S.230

61 Über die Naturalsteuer, April 1921; LW 32, S.343

62 LW 32, S.346, 348

63 Über das Genossenschaftswesen, Januar 1923; LW 33, S.454

64 LW 33, S.460 f

65 LW 33, S.459

66 VIII.Parteitag, März 1919; LW 29, S.200

67 Engels, Brief vom 20.1.1886 an Bebel

68 Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? Ende September/1.Oktober 1917; LW 26, S.91

69 Lorenz, S.93

70 Über „linke“ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, Mai 1918; LW 27, S.326

71 LW Ergänzungsband 1917-1923, S.393

72 LW 33, S.171

73 Über die Naturalsteuer, April 1921; LW 32, S.342

74 Über das Genossenschaftswesen; LW 33, S.456

75 Raupach, S. 56 f

76 Handbuch III, S.739; smycka: Arbeiter-Bauern-Bündnis

77 Daniels, S.248f

78 Daniels, S.24O

79 Daniels, S.250

80 nach: Daniels, S.274

81 Daniels, S.275 f

82 Handbuch III, S.741

83 Stalin, SW 6, S.276

84 Lorenz, S.136

85 Stephan Merl, Entwicklungsprobleme des Agrarsektors in der Sowjetunion, in: Bergmann/Schäfer

86 dazu Stalin, SW 7, S.332 f

87 SW 7, S.328

88 Bronger, S.69

89 Stalin, Der XIV.Parteitag der KPdSU, Dezember 1925; SW 7, S.309-312

90 zitiert nach: Stalin, Die Partei und die Opposition, November 1927; SW 10, S.222

91 SW 10, S.224

92 Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B), SW 14, S.345

93 Deutscher, Trotzki I, S.457

94 Trotzki, Der Neue Kurs, 1972, Berlin, S.79, 80

95 Rede am 22.Oktober 1922 vor dem 5.Kongreß des Komsomol; nach Deutscher, Trotzki II, S.54, 55

96 nach: Deutscher, Trotzki II, S.56

97 Deutscher, Trotzki II, S.57; in seinem Artikel „Über den einheitlichen Wirtschaftsplan“ vom Februar 1921 nannte Lenin den Bericht der Kommission für die Elektrifizierung die „einzige ernste Arbeit betreffend den einheitlichen Wirtschaftsplan“. (LW 32, S.132)

98 Daniels, S.240

99 Brief an den Parteitag; LAW (Ausgewählte Werke in 3 Bänden), Band III, S.842 f

100 Deutscher, Trotzki II, S.116

101 SW 6, S.25

102 Wolter I, S.199

103 Schreiben vom Oktober 1923, Wolter I, S.205

104 Wolter I, S.212

105 Daniels, S.269

106 Preobrashenski auf der 13.Parteikonferenz 16.-18.Januar 1924; nach: Daniels, S.285

107 Daniels, S.269

108 Daniels, S.269

109 Daniels, S.280

110 SW 7, S.330

111 Deutscher, Stalin, S.333

112 Deutscher, Trotzki II, S.358

113 Deutscher, Trotzki II, S.395; Hervorhebung vom mir, d.V.

114 Trotzki 1957, S.93

115 Trotzki 1957, S.104

116 Deutscher, Trotzki II, S.279

117 Deutscher, Trotzki II, S.299

118 Trotzki, „Brief an Freunde“ vom Oktober 1928; nach Deutscher, Trotzki II, S.437-440

119 Lorenz, S.166

120 Lorenz, S.166

121 Raupach, S.53

122 Hofmann, S.20, Anm.37

123 Raupach, S.53

124 Hofmann, S.21

125 so der Ökonom Bronskij, nach: Lorenz, S.167

126 Erlich, S.163 f

127 Tagebuchblätter; LW 33, S.448, 447

128 Handbuch III, S.690

129 Altrichter 1984, S.141

130 Altrichter 1984, S.143

131 Altrichter 1984, S.48 f

132 Lorenz, S.132

133 Raupach, S.29

134 Lorenz, S.147 f

135 Altrichter 1984, S.163-166

136 dazu Altrichter 1984, S. 175-182

137 Altrichter 1984, S.176

138 Altrichter 1984, S.178

139 Raupach, S.47

140 Lorenz, S.141

141 Raupach, S.47

142 Raupach, S.47

143 Lorenz, S.147

144 Lorenz, S.141

145 Lorenz, S.137

146 Lorenz, S.151

147 Handbuch III, S.742

148 Handbuch III, S.743

149 Handbuch III, S.745

150 Stalin, Die ersten Ergebnisse der Beschaffungskampagne (13.2.1928), SW 11, S.16

151 Raupach, S.50

152 Handbuch III, S.750

153 Altrichter 1987, S.219, 218

154 Lorenz, S.173 f

155 Schröder 1982, S.42

156 an anderer Stelle werden allein die Landarbeiter mit 6 Mio angegeben; die Differenz konnte nicht aufgeklärt werden

157 Schröder 1982, S.320

158 Altrichter 1987, S.268 f

159 Altrichter 1987, S.164 f

160 Schröder 1982, S.331

161 Schröder 1982, S.337

162 Schröder 1982, S.330

163 Schröder 1982, S.340

164 Erlich, S.163

165 Bronger, S.135-144 (Exkurs über „Stalins agrarpolitische Auffassungen 1925-1927“)

166 SW 11, S.139 ff

167 Löwy, S.354

168 Bucharin 1990, S.215, Anm.25

169 Lorenz, S.174

170 Bucharin 1990, S.132

171 Bucharin 1990, S.141

172 Bucharin 1990, S.132

173 Löwy, S.366

174 Raupach, S.50

175 Handbuch III, S.753

176 Handbuch III, S.749

177 SW 11, S.206

178 Löwy, S.368 f

179 Rede vor dem ZK im April 1929; Bucharin 1990, S.79

180 Altrichter 1984, S.186 f

181 Lorenz, S.186

182 Lorenz, S.175

183 Löwy, S.371

184 Handbuch III, S.757

185 Löwy, S.389

186 SW 12, S.149

187 Wolkogonow, S.249

188 Lorenz, S.155

189 Handbuch III, S.755

190 Lorenz, S.198

191 Zahlen nach Lorenz, S.196-198

192 Lorenz, S.379

193 Zu Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR, SW 12, S.147 f

194 nach: Erlich, S.165

195 Trotzki 1957, S.104

196 Deutscher, Stalin, S.377

197 SW 12, S.168

198 SW 12, S.177

199 SW 12, S.186

200 SW 13, S.313

201 SW 13, S.312

202 Altrichter 1984, S.195

203 Altrichter 1984, S.194

204 SW 12, S.186

205 Rauch 1990, S.258

206 SW 13, S.312

207 SW 12, S.196

208 abgedruckt in: Lenin/Stalin 1955, S.449-466

209 SW 13, S.226

210 SW 14, S.369

211 Lenin/Stalin 1955, S.450

212 Wädekin, S.63 f

213 Wädekin, S.61 f

214 MEW 36, S.426

215 Stalin, Leninismus, S.701

216 Stalin, Leninismus, S.702; die Abgaben für die MTS-Arbeiten werden von Stalin nicht extra erwähnt und sind wahrscheinlich in der „Getreideaufbringung“ enthalten

217 Lorenz, S.346, Anm.58

218 Wädekin, S.72

219 nach Wädekin, S.71

220 Schiller, S.44

221 Schiller, S.45

222 Barsov nach: Lorenz, S.347, Anm.65

223 Stalin, Leninismus, S.701

224 s.Marx, MEW 25, S.802-805

225 s.MEW 25, S.798-802

226 K.E.Wädekin, Sowjetische Agrarpolitik heute, in: OSTEUROPA, 40.Jg 1990, S.516

227 SW 15, S.268

228 SW 13, S.202

229 SW 13, S.289

230 Stalin, Leninismus, S.701

231 Lorenz, S.198

232 Hofmann, S.27, Anm.5

233 Leninismus, S.701

234 SW 13, S.203

235 Hofmann, S.48

236 Gruppe Arbeiterpolitik, S.12

237 Schröder 1988, S.295

238 Schröder 1988, S.294

239 Lorenz, S.240

240 Hofmann, S.24

241 nach Hofmann, S.100

242 Hofmann, S.104

243 Raupach, S.62

244 Raupach, S.60

245 Schröder 1988, S.291

246 Stalin, Neue Verhältnisse – neue Aufgaben des wirtschaftichen Aufbaus, SW 13, S.47-72

247 SW 13, S.52

248 SW 13, S.54

249 Schröder 1988, S.111-114, 302

250 Schröder 1988, S.284-288

251 SW 13, S.105

252 Hofmann, S.302

253 Schröder 1988, S.272

254 Schröder 1988, S.296

255 Raupach, S.147

256 Stalin, Rechenschaftsbericht an den XVIII.Parteitag 1939, Leninismus, S.730

257 Deutscher, Stalin, S.360

258 Deutscher, Stalin, S.372

259 Schröder 1988, S.100-103

260 Schröder 1988, S.291

261 Raupach, S.61

262 Medwedew, S.429

263 Raupach, S.46

264 Rechenschaftsbericht Stalins an den XVII.PT, SW 13, S.290

265 Raupach, S.77

266 Lorenz, S.267

267 Zahlenangaben nach Hofmann, S.46; die Zahlen unterscheiden sich geringfügig von anderen Angaben

268 Deutscher, Stalin S.377

269 Daten, S. 84

270 Stalin, Leninismus, S.619

271 Hans-Henning Schröder, Geschichte und Struktur der sowjetischen Streitkräfte: ein Überblick, in: Adomeit, S.44 f

272 Gosztony, S.111

273 Schröder 1982, in: Adomeit, S.46

274 Geschichte der KPdSU in sechs Bänden, Band IV/2, S.429

275 Geschichte der KPdSU in sechs Bänden; Band V/1, S.144 f

276 Schröder 1988, S.323

277 Kurzer Lehrgang, S.374 f; Hervorhebung durch mich; d.V.

278 Schröder 1988, S.285

279 Schröder 1988, S.288

280 SW 13, S.314

281 SW 13, S.304

282 Deutscher, Stalin, S.375

283 Medwedew, S.177

284 Wolkogonow, S.298

285 Daten, S.80

286 Deutscher, Stalin S.378 f

287 Wolkogonow, S.308

288 Wolkogonow, S.310

289 René Ahlberg, Stalinistische Vergangenheitsbewältigung. Auseinandersetzung über die Zahl der GULAG-Opfer; in: Osteuropa, 42.Jg 1992, S.921

290 Wolkogonow, S.248

291 Kurzer Lehrgang, S.392

292 Geschichte der KPdSU in einem Band (1971), S.559

293 Stalin, Leninismus S.714

294 Schröder 1988, S.170

295 Medwedew, S.261

296 Medwedew, S.215

297 Stalin, Leninismus S.713

298 Rauch 1990, S.491

299 Geschichte der KPdSU in sechs Bänden, Band V/1, S.27

300 Geschichte der KPdSU in einem Band, S.584

301 Geschichte der KPdSU in sechs Bänden, Band V/1, S.39, 40

302 Geschichte der KPdSU in sechs Bänden, Band V/1, S.41

303 Deutscher, Stalin S.403 f

304 Deutscher, Stalin, S.354

305 Handbuch III, S.753

306 Raupach, S.78

307 SW 13, S.311

308 Stalin, Leninismus, S.724

309 Gruppe Arbeiterpolitik, S.18

310 Stalin, Leninismus, S.624

311 Kurzer Lehrgang, S.353

312 Kurzer Lehrgang, S.355

313 Kurzer Lehrgang, S.419, 420

314 SW 13, S.276

315 SW 15, S.268

316 SW 15, S.342

317 SW 15, S.273

318 MEW 19, S.19 f.

319 MEW 19, S.21

320 SW 15, S.274

321 MEW 23, S.92

322 MEW 23,S.765

323 Stalin, Leninismus, S.622

324 Rauch 1990, S.460

325 Rauch 1990, S.462

326 Rauch 1990, S.462

327 Schiller, S.51

328 Schiller, S.52

329 SW 15, S.317 f

330 SW 15, S.269

331 SW 15, S.269

332 SW 15, S.318

333 SW 15, S.343

334 SW 15, S.342

335 SW 15, S.273

336 SW 15, S.342

337 Daten, S.91

338 Meyer 1970, S.57

339 Rauch 1990, S.453

340 LW 31, S.56 f

341 Meyer 1970, S.15

342 SW 15, S.129 f

343 Daten, S.154

344 SW 15, S.134; s.a. Antwort auf vier Fragen amerikanischer Redakteure, SW 15, S.167

345 SW 15, S.284

346 SW 15, S.287

347 Stalin, Ökonomische Probleme, SW 15, S.327

348 SW 15, S.326

349 SW 15, S.291

350 Rauch 1990, S.491

351 Rauch 1990, S.466

352 Rauch 1990, S.463

353 Rauch 1990, S.471

354 Rauch 1990, S.474

355 nach: Rauch 1990, S.489

356 Rauch 1990, S.492

357 Rauch 1990, S.493

358 Rauch 1990, S.493

359 Rauch 1990, S.494

360 Medwedjew 1984, S.92

361 SW 15, S.282

362 Raupach, S.85

363 Deutscher, Stalin, S.314

364 Deutscher, Stalin, S.320, 319

365 Churchill, der zweite Weltkrieg, Bern 1960, S.700; nach B.Meissner, Die Sowjetunion im Umbruch, S.342, Anm.34

366 SW 7, S. 330

367 Medwedew, S.214

368 Medwedew, S.483

369 Medwedew, S.476

370 Medwedew, S.476

371 MEW 4, S.474

372 Kolendic, S.128

373 Kolendic, S.131

374 Kolendic, S.146

375 Kolendic, S.283

376 Rauch 1990, S.504

377 Raupach, S.87

378 nach: Das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells, S.300 f

379 Schiller, S.55-62

380 Raupach, S.88

381 Das Ende …, S.300

382 Raupach, S.146

383 Gelij I.Schmeljow, Hoflandwirtschaften als Faktor und Objekt sowjetischer Agrarpolitik, in: OSTEUROPA, 40.Jg 1990, S.227

384 zitiert nach: Das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells, S.301

385 Wädekin, Private Leistungen für den Lebensmittelmarkt der UdSSR, in: OSTEUROPA, 36.Jg 1986, S.51

386 Rauch 1990, S.500

387 Rauch 1990, S.504 f

388 Raupach, S.111

389 Raupach, S.145

390 Raupach, S.145

391 Raupach, S.146

392 Raupach, S.146

393 Raupach, S.142

394 Ruffmann, S.75

395 Rauch 1990, S.535

396 Meissner, S.14

397 Wädekin, OSTEUROPA 1986, S.51

398 Rauch 1990, S.536

399 Länderbericht Sowjetunion, S.366

400 Fritjof Meyer 1984, S.216

401 Leonhard, S.187

402 s.dazu u.a.: Karuscheit, Die Außen- und Militärpolitik der Sozialdemokratie, in: AzD 24; Schröder/Karuscheit, Ein Frühling für die Menschheit, in: AzD 40; Vogt, Das Ende eines Gemeinschaftsunternehmens, in: AzD 43

403 Leonhard, S.16

404 Der Stand der Agrarreformen bis Mitte 1990 wird zusammengefaßt von K.E.Wädekin, Sowjetische Agrarpolitik heute, in: OSTEUROPA 1990, S.503

405 Alle Angaben nach W.J.Usun, Agrarreform in Rußland, in: 0STEUROPA, 42.Jg 1992, S.755-764

406 Usun, 0STEUROPA 1992, S.760 f

407 Wädekin, OSTEUROPA 1986, S.50 f

408 Zahlen von Ende 1992: FAZ vom 01.Februar 1993

409 OSTEUROPA 1990, A 349

410 OSTEUROPA 1990, A 351

411 G.I.Schmeljow, Hoflandwirtschaften als Faktor und Objekt sowjetischer Agrarpolitik, in: OSTEUROPA 1990, S.226

412 OSTEUROPA 1990, A 352

413 Prawda vom 1.6.1989, in: OSTEUROPA 1990, A 340-342

414 Usun, Agrarreform in Rußland, in: OSTEUROPA 1992, S.764

415 Usun, OSTEUROPA 1992, S.763

416 OSTEUROPA 1992, A 557-559

417 OSTEUROPA 1992, A 554