Eine Auseinandersetzung mit dem Buch von
Christian Hofmann/Philip Broistedt: Goodbye Kapital
(Verlag Books on Demand, Juni 2019)
von Peter Miso
So trat aber an die Stelle des Handels ein System direkter Güterverteilung von den nationalen Vorratshäusern aus. Dabei ist aber das Geld ein durchaus überflüssiges Ding. (Edward Bellamy: Rückblick aus dem Jahre 2000 [1887])
Thematisches Vorspiel – Wie Chris&Phil ihr Thema gefunden haben
Occupy …
Occupy, von Chris&Phil als „globale Revolte“ deklariert, hatte im bürgerlichen Philosophen Noam Chomsky einen prominenten Unterstützer, trotzdem gab es diese, im Herbst 2011 beginnende, Protestbewegung nur für einige Monate, und eigentlich nur in den USA. Für Chomsky, bei dem sich Klassenkampf grundsätzlich auf den Gegensatz von Arm und Reich (entsprechend dem Occupy-Slogan: 99 % gegen 1 %) reduziert, ist das wichtigste Moment der Occupy-Bewegung „die Schaffung von Gemeinschaften, die auf gegenseitiger Unterstützung, demokratischen Austausch, der Sorge füreinander usw. bestehen.“1
… und die Tea Party
Die offensichtliche Harmlosigkeit der Occupy-Bewegung verdeutlicht noch stärker der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski: „Die Rebellen schimpfen gegen die Macht der Konzerne, ohne zu wissen, wie sie funktioniert. Das Ergebnis war wie vorherzusehen ein Scheitern auf ganzer Linie. Zum Beispiel gelang die proklamierte Besetzung der Wall Street zu keinem Zeitpunkt – das Camp im Zuccotti Park befand sich mehrere Straßen weiter entfernt. Als der Sicherheitsapparat binnen weniger Tage an mehr als 18 Orten in Aktion trat, wurde am 15. November 2011 auch der Zuccotti Park geräumt und die Bewegung brach praktisch zusammen.“ Mirowski stellt weiter fest, dass die Occupy-Bewegung sich nicht von der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung zu unterscheiden vermochte – „Noch schwerer wog allerdings, dass die Tea Party bewusst darauf ausgerichtet war, ihren Anhängern durch kommerzialisierten Protest Betätigungsfelder und erbauliche politische Identitäten zu bieten, während die Occupy-Bewegung nur die endlose Simulation eines anarchistischen Indianerfestes anbot, Zeltlager inklusive.“2
Anarchistische Demokratie
Für einen der maßgebenden Initiatoren, David Graeber, steht es außer Frage: „Occupy Wall Street ist in der Tat vom Anarchismus inspiriert, aber die Bewegung steht auch für eben die Tradition volksnaher amerikanischer Demokratie“3; wobei Graeber den amerikanischen Staat, die USA, als autoritär-aristokratische Herrschaft einschätzt, unter Demokratie aber, in einem anarchistischen Sinne, eine direkte anstatt einer parlamentarischen verstanden wissen will, mit kollektiver Versammlung statt Volksvertreter-Wahl, mit Konsens-Beschlüssen statt Mehrheits-Abstimmungen.
Das Geldrätsel
Das Verhältnis von Chris&Phil zur Occupy-Bewegung ist ambivalent, einerseits begeistert von deren aktiven Protest und Widerstand, sehen sie andrerseits doch ihre tatsächliche politische Belanglosigkeit. „Plötzlich empörten sich massenhaft Menschen und setzten sich auch in Bewegung. Die Formen, in denen sie dies taten, erschienen uns dabei allerdings zunächst so diffus, abstrakt und widersprüchlich, dass wir wenig Chancen sahen, mit einer Generalkritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen punkten zu können. […] Im Nachhinein, beim nochmaligen Lesen von Flugschriften aus Spanien, Portugal und den USA fiel uns auf, dass die Protestbewegung(en) in ihrer Entwicklung einige kluge Fragen entwickelt haben. Im Kern ging es dabei um das Rätsel, warum das Geld, das doch vom Menschen geschaffen und entwickelt wurde, nicht in seinen Diensten steht, sondern über ihm.“ (S. 7f.) ‚Goodbye Kapital‘ soll nun des Rätsels Lösung beinhalten. „Warum die Menschen dem Geld dienen und wie sie sich davon befreien könnten“, lautet der Untertitel ihres Büchleins (140 Seiten).
Was Geld ist – und was Chris&Phil dabei außer Acht gelassen haben
„Das Geld ist nicht nur ein Gegenstand der Bereicherungssucht, es ist der Gegenstand derselben.“ (Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie – MEW 13, S. 110)
In absichtlich möglichst einfachen Worten möchten die Autoren ihr Anliegen darstellen, um „für alle verständlich [zu] sein, die sich eine andere Welt wünschen.“ (S. 18f.) Doch ihre Simplifizierungen gehen auf Kosten von wissenschaftlicher Klarheit. Durch die fehlende Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert z.B. verschwimmt ihnen die Konsumtionssphäre in der Zirkulationssphäre. Sie verzichten weitgehend auf eine geschichtliche Erörterung und versuchen hauptsächlich das was Geld ist ganz in Alltagsbeispielen der Gegenwart zu erklären. Zuerst im Warenaustausch, mit einem etwas unglücklichen Beispiel einer Werbe-Agentur und einer Kleiderfabrikation, dann über die drei Funktionen des Geldes – als Maß der Werte, als Zirkulationsmittel, als Wert-Repräsentant – zur Kapitalbildung.
Die Macht des Geldes
Die Tatsache des kapitalistischen Akkumulationszwanges verleitet Chris&Phil dazu, die dritte Funktion des Geldes, als Wertaufbewahrungsmittel, zu vernachlässigen, ja geradezu auszuschließen, selbst da, wo sie einen flüchtigen Blick auf die „Konten der Superreichen“ (S. 68) werfen, vielmehr denken sie, alles gehortete Geld müsse wieder zu aktiven Kapital gemacht werden – „denn vermehren sie ihr Geld nicht, werden sie es verlieren, und damit ihre Stellung und ihre Macht.“ (S. 73) Doch dem ist nicht so. „Die Bereicherungssucht im Unterschied von der Sucht nach besonderm natürlichen Reichtum oder Gebrauchswerten, wie Kleider, Schmuck, Herden usw., ist nur möglich, sobald der allgemeine Reichtum als solcher in einem besondern Ding individualisiert ist und daher als einzelne Ware festgehalten werden kann. Das Geld erscheint also ebensosehr als Gegenstand wie Quelle der Bereicherungssucht.“4 Die alte Gier nach Gold ist noch wirksam, und nicht selten die Schatzbildung mit Geiz verbunden.
Mit vorhandenen Geldverhältnissen (bzw. Besitzverhältnissen) werden bestehende Herrschaftsverhältnisse zementiert. „Der Klassenkampf der antiken Welt z.B. bewegt sich hauptsächlich in der Form eines Kampfes zwischen Gläubiger und Schuldner und endet in Rom mit dem Untergang des plebejischen Schuldners, der durch den Sklaven ersetzt wird. Im Mittelalter endet der Kampf mit dem Untergang des feudalen Schuldners, der seine politische Macht mit ihrer ökonomischen Basis einbüßt. Indes spiegelt die Geldform – und das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner besitzt die Form eines Geldverhältnisses – hier nur den Antagonismus tiefer liegender ökonomischer Lebensbedingungen wider.“5 Das Verhältnis von ‚Gläubiger und Schuldner‘ ist das von Herr und Knecht, die Entwicklung des Geldes aus und in den Handelsgeschäften ein juristischer Akt, die Gesetze des Handels, der Schulden, des Marktes.
Es gab, in den letzten 200 Jahren, nicht nur eine Kapital-Metamorphose der Art, dass „die landwirtschaftlichen Nutzflächen nach und nach durch Immobilien sowie durch das gewerbliche und das Finanzkapital ersetzt wurden, das in Unternehmen und in die öffentliche Hand investiert wurde“6, auch das Kapital-Nationaleinkommen-Verhältnis hat sich verändert, wobei Thomas Piketty, der dies untersuchte, unter Kapital die Summe aller privaten Vermögenswerte rechnet, während das Nationaleinkommen die Summe aller Einkünfte darstellt (Löhne, Profite, Zinsen etc.), seine Formel r>g besagt: Vermögen ist immer größer als Einkommen bzw. das Einkommen wächst langsamer als das Vermögen, was bei einer bereits gegebenen ungleichen Verteilung vorhandenen Vermögens auf eine zunehmende Ungleichheit von Arm und Reich hinausläuft (nach einem Rückgang 1914-45 auf das bloß noch Zwei- bis Dreifache des (National-)Einkommens ist das (Privat- )Vermögen 2010 bereits wieder auf das Vier- bis Sechsfache angestiegen7). Natürlich spielen hier die staatlichen Steuern eine Rolle – eine progressive, die für Reichere mit höherem Einkommen einen höheren Steuersatz vorsieht als für Ärmere, statt einer proportionalen, wenn der Steuersatz für alle gleich ist, mindert das Vermögen-Einkommen-Verhältnis, ein regressiver Steuersatz, der die Reicheren niedriger besteuert als die Ärmeren, wie seit den 1970er Jahren nachweisbar, lässt die Reichen wieder schneller reicher, die (relativ) Armen noch ärmer werden.
Schon früher gab es die Problematik der Steuerhinterziehung, die eine reale Anwendung einer progressiven Einkommenssteuer erschwerte oder gar unmöglich machte. „Man kann eine Einkommenssteuer mit progressiv steigenden und für die großen und größten Einkommen sehr hohen Sätzen einführen. Unsere Regierung hat, den anderen imperialistischen Regierungen folgend, diese Steuer eingeführt. Aber sie bleibt in bedeutendem Maße eine Fiktion, bleibt toter Buchstabe, denn erstens sinkt der Wert des Geldes immer rascher, und zweitens werden umso mehr Einkünfte verheimlicht, je mehr die Spekulation die Quelle dieser Einkünfte bildet und je zuverlässiger das Geschäftsgeheimnis gehütet wird.“8, schreibt Lenin im September 1917 zur Lage in Russland. Im Jahr 2013, da Geld und Wertpapiere nicht mehr so einfach transportiert werden können, fast alles über Kontenbuchungen geschehen muss, beschreibt Gabriel Zucman, ein Schüler von Piketty, wie das gehandhabt wird (via Scheinfirmen und Zahlungs-Überweisungen für fiktive Dienstleistungen) und wie der, soweit berechenbar, weltweite Stand des versteckten Geld-Vermögens, das wiederum nur ein Bruchteil des Gesamtvermögens, der Reichen und Superreichen aktuell aussieht. „Zum Umfang der Offshore-Vermögen zeigen meine Berechnungen, dass sich weltweit etwa acht Prozent des privaten Finanzvermögens in Steueroasen befindet. … Das private Finanzvermögen besteht aus sämtlichen Bankguthaben, Spareinlagen, Aktien- und Anleiheportfolios, Anteilen an Investmentfonds und Versicherungsverträgen von Privatpersonen der ganzen Welt, abzüglich ihrer Schulden. … Ende 2013 etwa 73000 Milliarden Euro. … acht Prozent, also 5800 Milliarden Euro auf Konten in Steueroasen.“9
Da sind immer einzelne Kapitalisten, die eine Machtfunktion ausüben, ihr (Geld- ) Vermögen nutzen, um politisch Einfluss zu gewinnen, womit sie aber, selbst wenn nur egoistisch gemeint, letztlich solidarisch für ihre Klasse handeln. „Mit der Ausdehnung der Warenzirkulation wächst die Macht des Geldes … Das Geld ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann. Die gesellschaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson.“10
Die Börse
Obwohl der Ausgangspunkt von Chris&Phil die Occupy-Bewegung ist, reden sie in Sachen Geld-Geschäft nur vom Geld als solchem, Banken und Börsen werden bloß flüchtig erwähnt, doch deren wichtige Rolle im Zusammenhang mit internationaler kapitalistischer Wirtschaft sollte beim Thema Geld nicht unerörtert bleiben. „An der Börse wird ein Geschäft geschlossen über eine nicht gegenwärtige, oft noch unterwegs befindliche, oft erst künftig zu produzierende Ware, zwischen einem Käufer, der sie regelmäßig nicht selbst behalten, sondern (womöglich noch, ehe er sie abnimmt und bezahlt) mit Gewinn weitergeben will und einem Verkäufer, der sie regelmäßig noch nicht hat, meist nicht selbst hervorbringt, sondern mit Gewinn erst beschaffen will.“11
Aus formlosen Versammlungen der Kaufleute entstand als feste Einrichtung die Börse, das Wort wurde im 16. Jahrhundert geprägt, einerseits nach dem Versammlungsort in Brügge, ein Platz, nach der Familie van der Bourse benannt, andrerseits nach dem Namen der Lederbeutel, in denen die Handelskaufleute ihre Wechsel aufbewahrten, die Bursa. Amsterdamer Gewürzhändler, die von Indonesien (dort, wo der Pfeffer wächst) große Fuhren einschifften, gründeten die ‚Vereinigte Ostindische Kompanie‘ (1602), die erste Aktiengesellschaft. So entstand neben der Produktenbörse (Lebensmittel, Rohstoffe etc.) die Effektenbörse als Spekulationshandel mit Aktien, Wechsel und sonstigen Wertpapieren.
Isaac Pinto, holländischer Großkaufmann und Börsenspekulant, und ökonomischer Schriftsteller, belegt, dass wohl (oder übel) schon von Anfang an die Börsenspekulation als Spiel aufgefasst wurde: „Der Handel ist ein Spiel und an Bettlern kann man nichts gewinnen. Wenn man lange Zeit hindurch allen alles abgenommen hätte, so müsste man in gütlichem Übereinkommen den größten Teil des Gewinns wieder zurückgeben, um das Spiel von neuem anzufangen.“ (Pinto, „Traité de la Circulation et du Credit“, Amsterdam 1771)12
Marx registriert spät die Schädlichkeit der ‚Börsenspieler‘: „Die Geldkrise, wie im Text bestimmt als besondre Phase jeder allgemeinen Produktions- und Handelskrise, ist wohl zu unterscheiden von der speziellen Sorte der Krise, die man auch Geldkrise nennt, die aber selbständig auftreten kann, so dass sie auf Industrie und Handel nur rückschlagend wirkt. Es sind dies Krisen, deren Bewegungszentrum das Geld-Kapital ist, und daher Bank, Börse, Finanz ihre unmittelbare Sphäre.“13
Marx&Engels unterschätzen anfangs die ökonomische Bedeutung der Börsenspekulation, die oben zitierte Anmerkung findet sich erst in der dritten (deutschen) Auflage von ‚Das Kapital Erster Band‘. Chris&Phil glauben gar nicht an eine ökonomische Wirksamkeit von Bankenkrisen, für sie bedeutet die Krise von 2008 eine Weltmarktkrise, eine Überproduktionskrise, die den Finanzsektor infizierte, nicht umgekehrt. Hyman Minsky dagegen schließt aus seinen Untersuchungen zu instabilen Finanzierungen (nicht-erfüllbare Zahlungsverpflichtungen eines nur spekulativen Bestandes von Geld und Quasigeld): „Die Wirtschaftseinheiten hängen in zunehmendem Maße vom normalen Funktionieren der verschiedenen Finanzmärkte ab.“14 Das Finanzdesaster 2008 scheint Minsky’s Überlegungen Recht zu geben.
„Arbeit ist die einzige Substanz von Wert“
Die internationale Verflechtung der Produktion, die auch Grundlage der Börse, die Globalisierung des Kapitals, geprägt von Konzernen, bestimmt heute allgemein Arbeitsverhältnisse und jede nationale Regierungspolitik, aber in den Marktbeziehungen, die in ‚Goodbye Kapital‘ zur Sprache kommen, fehlt dieser reale Hintergrund, bloß abstrakt analysieren Chris&Phil eine vom Geld regierte Gesellschaft.
Ihr Schluss lautet dann: Weil Geld essentiell nur eine Summe gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit sei, könne es leicht durch eine direkte Form der Arbeitszeitmessung ersetzt werden. „Vieles, was dem Geld zugeschrieben wird, liegt eigentlich tiefer und steckt schon in der Ware. Dem Wert der Waren wie des Geldes liegt die Arbeit zugrunde. Dieser Wert bemisst sich wesentlich nach der Arbeitszeit. Arbeit ist die einzige Substanz von Wert.“ (S. 72).
Und die Zeit als Maß wird das Geld aufheben, im Konjunktiv – „Arbeitszeitkonten hätten also ähnliche Funktionen wie das Geld: als Maß für die geleistete Arbeitszeit, als Verteilungsmittel der Arbeitsprodukte und als ihr Repräsentant. Sie beruhten auf einer ähnlichen Grundlage – der geleisteten Arbeit. Aber da die Arbeit von vornherein geplant wäre, würde die Warenproduktion und mit ihr die Grundlagen des Geldes aufgehoben sein. Die durchschnittliche notwendige Arbeitsstunde wäre die Keimzelle der ökonomischen Verfassung der neuen Gesellschaft“ (S. 77) ‚Plan und Arbeitszeitrechnung‘ soll das Geld als Nicht-Geld wieder in den Dienst der Menschen stellen.
Wunschwelten – oder: Über den Unterschied von Sozialismus und Kommunismus
„Ich bin verdammt zu warten / in einem Bürgergarten“ (Erich Mühsam: Rendezvous – Ausgewählte Werke Bd. 1, S. 27, Berlin-Ost 1978)
‚Alternativen aus dem Rechner‘
Bei der anvisierten Arbeitszeitrechnung beziehen sich Chris&Phil auf das Konzept der Arbeitsgutscheine, das Cockshott&Cottrell in ihrem Buch ‚Alternativen aus dem Rechner‘ entwickelten, nach deren Glauben in Übereinstimmung zu Marxschen Aussagen in der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ (der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland – wie sich zu dieser Zeit die SPD noch nannte) – „Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet.“15, ohne dabei zu beachten, dass hier von Marx im Kontext Lasallesche Standpunkte kritisiert werden, von ihm nachfolgend als Vulgärsozialismus beschimpft, die dann im letztlich verabschiedeten Parteiprogramm so zu lesen sind: „Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrags.“16
Die spöttische Anmerkung von Marx im ‚Kapital‘ – „Hier sei noch bemerkt, dass z.B. das Owensche ‚Arbeitsgeld‘ ebensowenig Geld ist wie etwa eine Theatermarke.“17 – nehmen Cockshott&Cottrell als zustimmenden Beweis, mit ihren ‚Arbeitskreditkarten‘ das Geld abzuschaffen. „Die Menschen werden für die geleistete Arbeit mit Arbeitsguthaben bezahlt. Für gemeinschaftliche Bedürfnisse gibt es Abzüge. Die Güter werden auf der Basis der in ihnen enthaltenen Arbeit verteilt, mit entsprechenden Abzügen bei den Arbeitsguthaben. Die Produktion wird auf einer direkten gesellschaftlichen Grundlage organisiert, wobei die Produkte nie die Form von Waren annehmen.“18
Es bleibt seltsam und beinahe unverständlich, an Lohn und Preis (wenn auch ohne Profit) in einer kommunistischen Gesellschaft festhalten zu wollen, anstatt eine bedarfsgerechte Verteilung vorhandener Wirtschaftsgüter anzustreben, ohne Auf- und Abrechnung von ‚Arbeitsguthaben‘ (Junge können noch nicht arbeiten, Alte können es nicht mehr; die Bewertung der Arbeitsleistung von Künstlern ist problematisch; etc.).
‚Grundrisse‘
Chris&Phil benennen eine Stelle in den ‚Grundrissen‘, in der sich Marx zur Frage der Überwindung des Geldes so äußere, dass sie daran anknüpfen zu können glauben – MEW 42, S. 49ff. – „Hier kritisiert Marx zeitgenössische Arbeitszeitutopist*Innen, die die Idee vertraten, Arbeitsprodukte nicht in Geld, sondern in ‚Stundenzetteln‘, die die benötigte Arbeitszeit repräsentieren, zu bezahlen. Die von ihm gescholtenen ‚Stundenzettler‘ sahen im Geld den Grund allen gesellschaftlichen Übels und hatten die Hoffnung, mit diesem auch alle anderen gesellschaftlichen Probleme aus der Welt zu schaffen. Detailliert und in aller Schärfe weist Marx nach, warum es unter gegebenen Umständen nicht möglich ist, Geld durch ‚Stundenzettel‘ zu ersetzen und warum die Probleme tiefer liegen als in der Form, die der Lohn annimmt. Was aber ist, wenn wir von anderen Umständen ausgehen? Könnten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht so modifiziert werden, dass die Idee, Geld durch eine gesamtgesellschaftliche Arbeitszeitrechnung zu ersetzen, eine praktikable Form ist? Wer die Grundrisse einmal aus diesem Blickwinkel liest, wird zugeben müssen, dass Marx diese Möglichkeit wohlwollend, wenn nicht gar zustimmend in Betracht zog.“ (S. 10f.) Chris&Phil bieten zudem begeistert eine, allerdings exzessiv zusammengekürzte, Fassung der ‚Grundrisse‘ online an19.
Doch sie lesen in Marx etwas hinein, was so gar nicht herauslesbar ist; da ist keine Zustimmung zu den Stundenzetteln bzw. dem Arbeitsgeld (beides meint dasselbe), auch in den ‚Grundrissen‘ findet sich eine deutliche Ablehnung dieser sozialistischen Form des Lohns, weil eben jede Form des Lohns, egal ob Münzen oder Zettel, nichts am System der Lohnarbeit selbst ändert, das abzuschaffen ein kommunistischer Zielpunkt ist. Marx schreibt, es bleibt die „Frage, ob die verschiednen zivilisierten Formen des Geldes — Metallgeld, Papiergeld, Kreditgeld, Arbeitsgeld (letztres als sozialistische Form) — erreichen können, was von ihnen verlangt wird, ohne das in der Kategorie Geld ausgedrückte Produktionsverhältnis selbst aufzuheben […] Die verschiednen Formen des Geldes mögen der gesellschaftlichen Produktion auf verschiednen Stufen besser entsprechen, die eine Übelstände beseitigen, denen die andre nicht gewachsen ist; keine aber, solange sie Formen des Geldes bleiben und solange das Geld ein wesentliches Produktionsverhältnis bleibt, kann die dem Verhältnis des Geldes inhärenten Widersprüche aufheben, sondern sie nur in einer oder der andern Form repräsentieren. Keine Form der Lohnarbeit, obgleich die eine Missstände der andren überwältigen mag, kann die Missstände der Lohnarbeit selbst überwältigen.“20 (diese Stelle findet sich übrigens nicht in der gekürzten Fassung der ‚Grundrisse‘, die Chris&Phil online anbieten)
Der Stundenzettler Alfred Darimon, den Marx an besagter Stelle in den ‚Grundrissen‘ kritisiert, ist ein Proudhon-Schüler, die Lehre vom Arbeitsgeld, mit der Arbeitszeit als Maß, ist aber keine ursprünglich Proudhonsche Idee, laut Marx hat sie vorher schon der schottische Sozialist John Gray systematisch entwickelt (inspiriert von Robert Owen), doch mit Pierre-Joseph Proudhon wurde es ein anarchistisches Programm. Zur Kritik des Arbeitsgeldes ist es übrigens unnötig, bei den Entwurfsnotizen der ‚Grundrisse‘ stehenzubleiben: „Die Produkte sollen als Waren produziert, aber nicht als Waren ausgetauscht werden. Gray überträgt einer Nationalbank die Ausführung dieses frommen Wunsches. Einerseits macht die Gesellschaft in der Form der Bank die Individuen unabhängig von den Bedingungen des Privataustausches und andererseits lässt sie dieselben fortproduzieren auf der Grundlage des Privataustausches.“21
Anarchistische Ideen
Anarchistische Ideen sind nach wie vor eine naheliegende Option für kleinbürgerlichen Individualismus, sowie Randgruppenbewegungen. Bäuerliche Bedürfnisse, Regionales und Ökologisches harmonieren scheinbar gut mit dem grundsätzlich föderalistischen Anarchismus, wogegen marxistisch-leninistischer Kommunismus die zentralisierte und (Stadt-)konzentrierte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu beerben wünscht, mit geänderten Besitz- und Herrschaftsverhältnissen. Lenin bringt das lakonisch auf den Punkt: „Aus den kleinbürgerlichen Anschauungen des Anarchismus ergibt sich prinzipiell der Föderalismus. Marx ist Zentralist.“22
Chris&Phil, die anscheinend nicht zwischen Sozialismus und Kommunismus unterscheiden, verteidigen die von Marx kritisierten anarchistischen Stundenzettler, ohne die Marxschen Einwände zu widerlegen. Sie schmücken sich mit utopistischen Bloch-Zitaten, als ob das schon genügen würde, sie vor den fehlerhaften Anschauungen des utopischen Sozialismus zu bewahren – Ernst Bloch kritisierte ja daran, durchaus einvernehmlich mit Marx&Engels, die Geschichtslosigkeit der Akteure sowie den noch unreifen Stand der ökonomischen Entwicklung. Mit ihrer übertriebenen Wertschätzung der ‚Grundrisse‘ erinnern sie an Herbert Marcuse, auch wenn sie diesen nicht zitieren. „Alle materiellen und intellektuellen Kräfte, die für die Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden können, sind da. Dass sie nicht für sie eingesetzt werden, ist der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben.“23, sprach Marcuse 1967 in Berlin zu den revoltierenden Studenten, und machte mit seinem ausdrücklichen Quellenbezug zu den Marxschen ‚Grundrissen‘ diese populär.
Das Absterben des Geldes
Exkurs über bürgerliche Bestrebungen, das Geld abzuschaffen
„Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle“
(Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften – in Deleuze: Unterhandlungen, 1990, S. 260)
Das Regiogeld
Besonders im süddeutschen Raum ist das sogenannte Regiogeld weit verbreitet. Die erfolgreichste dieser in ländlichen Regionen kursierenden ‚Währung‘ ist der ‚Chiemgauer‘, im Chiemgau, der Gegend um den Chiemsee.24 Da die Verbreitung von vornherein auf regionale Geschäfte begrenzt bleibt, wird das Regiogeld von den maßgebenden Banken als ungefährliche Komplementärwährung toleriert. Der ‚Chiemgauer‘ z.B. ist Eins-zu-Eins gedeckt durch den Euro, doch Rücktausch wie Nichtverwendung wird mit quartalsweisen Wertverlust bestraft.
Es ist eine Art Kaufhausgutschein, mit der Verpflichtung, ihn kurzfristig einzulösen – ein Marketingtrick, umsatzsteigernd für die Geschäfte, ein tendenzielles Verlustgeschäft für lohnabhängige Arbeiter. „Regiogeld will Instrument der Regionalförderung sein, den Unternehmern als Marketingwerkzeug zur Kundenbindung und -gewinnung dienen und sie so im Wettbewerb gegen überregionale Konkurrenten stärken. Soziale Zielsetzungen des Regiogeldes wären etwa die Schaffung von Netzwerken und letztlich einer kooperativen Zusammenarbeit zugunsten aller Menschen in der Region. […] In ideeller Hinsicht will das ‚bessere‘ Geld ein anderes Geld- und Wirtschaftssystem konstituieren, das dem Menschen dient und ihn nicht beherrscht.“25
Das ökonomische Konzept des Regiogeldes stammt vom Proudhon-Schüler Silvio Gesell, bei dem es ‚Freigeld‘ bzw. ‚Reformgeld‘ hieß. „Das Geld ist Tauschmittel, nichts anderes. […] Geld, das wie eine Zeitung veraltet, wie Kartoffeln fault, wie Eisen rostet, wie Aether sich verflüchtet, das allein kann sich als Tauschmittel von Kartoffeln, Zeitungen, Eisen und Aether bewähren. Denn solches Geld wird weder vom Käufer noch vom Verkäufer den Waren vorgezogen. […] Der Inhaber dieses vergänglichen Geldes wird sich also ebenso hüten, das Geld zu behalten, wie der Eierhändler sich hütet, die Eier länger als absolut nötig zu behalten.“26
Der Bitcoin
2008 erfand der pseudonyme Satoshi Nakamoto, als Antwort auf die Bankenkrise, mit dem Bitcoin eine virtuelle, kryptographische Währung, die geschäftliche Transaktionen ohne Finanzintermediäre (z.B. einer Bank) möglich macht, einen direkten Austausch zwischen Käufer und Verkäufer, verifiziert durch eine Blockchain-Datenbank.27
Krypto-Geld ist Fiat-Geld, d.h. es hat keinen intrinsischen Wert, keinen nachweisbaren materiellen Wert also, der Tauschwert des Krypto-Geldes hat keine materielle Deckung (kein Gold o.ä.); die Gültigkeit dieser Privat-Währung ist abhängig vom Vertrauen der Nutzer bzw. deren Vertrauen in die stabile Sicherheit der Blockchain-Technologie, einer auf vielen Computern (Knoten) verteilten (dezentralen) Datenbank, verteilt aber nicht in dem Sinne, dass an verschiedenen Orten partielle Stücke, sondern an jedem Knoten sich eine vollständige Kopie befindet.
Nun mag man einwenden, solches Vertrauensverhältnis sei bei der nationalen Geldwährung ebenso notwendig, nachdem 1944 im Bretton-Woods-Abkommen anstatt einer direkten Golddeckung der amerikanische Dollar (mit Golddeckung) zur Leitwährung gemacht, und 1971 US-Präsident Nixon weiters für den Dollar das Ende der Goldbindung verkündete. Doch das stimmt so nicht ganz, da die Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative die Gültigkeit der sanktionierten Nationalwährung schützen. Einen solchen Schutz gibt es nicht für das Privatgeld Bitcoin (BTC), Ethereum (ETH) etc. (Bitcoin steht hier beispielhaft für inzwischen sehr viele Krypto-Währungen).
Die Blockchain-Datenstruktur ist eine Verkettung der einzelnen Transaktionsblöcke, redundant auf allen Knoten der Kette, mit jedem neuen Block-Eintrag aktualisiert sich die Kette im Blockchain-Netzwerk. Teilnehmer (miner) werden für den Erhalt des Netzes durch Bereitstellung von Rechenleistung (Energieverbrauch) und Erzeugung neuer Blöcke (Arbeitsleistung) mit Krypto-Geld, z.B. Bitcoins, belohnt; das Schürfen von Bitcoins ist letztlich limitiert auf 21 Millionen Bitcoins maximal (diese Summe imitiert einen dahinterliegenden Goldbestand, der die Menge der Bitcoins begrenzt).
Anarchisten wie Neoliberale begrüßten dieses Konzept, da es Staat und Banken das Recht auf Geldschöpfung streitig macht, und scheinbar unabhängig von bürokratischen Vermittlern bzw. Finanzintermediären. Doch statt einem direkten freien Handel interessierte die meisten Anhänger nur die Chance einer persönlichen Bereicherung – „der Bitcoin [wurde], obwohl seine Verbreitung oder zumindest seine Akzeptanz als alternatives Zahlungsmittel in der Online-Geschäftswelt durchaus zunimmt, bislang vor allem als Anlage- oder genauer Spekulationsobjekt und nicht als Tauschmittel nachgefragt“28
Die Blockchain-Technologie
Das Vertrauen in die technische Sicherheit der Blockchain ist vermutlich zu optimistisch, zudem sich die Transparenz lediglich auf die Transaktion selbst bezieht, die Akteure derselben aber anonymisiert bleiben. Und Staaten und Banken lassen sich durch entnationalisierte virtuelle Privat-Währungen nicht ausschalten. „Gerade wenn und insofern dem Bitcoin eine Zukunft beschieden ist, wird um ihn herum ein Finanzmarkt entstehen. Seriöse Bitcoin-Banker werden sich auf diesem ebenso tummeln wie virtuelle Beutelschneider. Und all dies wird Regulierung erfordern, so dass wiederersteht, wovon man sich loszusagen glaubte.“29
Blockchain hat noch eine andere Seite, die aktuell als wichtiger gilt: neben der virtuellen Geldschöpfung kann sie nämlich Rechtsverbindlichkeiten absichern. Der sogenannte smart contract ist eine verbindliche Vertragsabwicklung, in die nicht nur Menschen, sondern ebenso Dinge miteinbezogen sein können (das Internet der Dinge), oder gar ausschließlich eine Kontroll-Kommunikation zwischen Dingen (dApps – dezentralisierte Programme). Das Strategie-Papier der Bundesregierung zur Blockchain-Technologie im September 201930 zeigt einerseits die Absicht, die staatsfeindlichen Währungsmacher mit der eigenen Waffe zu schlagen, andrerseits die Datentransparenz der Blockchain, wenn möglich, zur Intensivierung von Kontrolle und Verwaltung (der beherrschten Klasse) zu nutzen.
Das Buchgeld
Bei Kreditvergaben privater Geschäftsbanken, werden nicht, wie landläufig oft geglaubt, die Geldeinlagen der Kunden für Kredit-Investitionen benutzt, sondern Geld, das noch gar nicht existiert. Der Kreditnehmer bekommt nicht echtes Geld, er bekommt sogenanntes ‚Buchgeld‘ (womit nicht Literatur gemeint ist, sondern Eintragungen in Rechnungsbücher), und der für reale Geldvorräte (Papiergeld) zuständigen Zentralbank bleibt nichts anderes übrig, als im Nachhinein dieses bloß imaginäre Geld, das faktisch ein Zahlungsversprechen darstellt, durch reale Geldscheine, wenigstens teilweise (als Mindestreserve) – in der Regel wird ja keine Ausgabe in Bargeld verlangt, sondern nur Kontenumbuchung bzw. Verrechnung – zu ersetzen, neu zu drucken (dieser Vorgang wird in der Finanzsprache als ‚Geldschöpfung‘ bezeichnet).
Die Geschichte der Zentralbank
Die Geschichte privater Geschäftsbanken reicht weit zurück, neu und entscheidend für die handelskapitalistische Welt der Neuzeit wurden aber die öffentlichen Banken, die regierungsamtlich legitimiert sich ums Geld kümmerten, ab 1609 gab es die Amsterdamsche Wisselbank (Wechselbank), ein wichtiger Vorläufer des Zentralbankwesens, und 1694 wurde die Bank von England gegründet, „ihre Entstehung verdankt sie der Staats- und Kriegsfinanzierung – ein Muster, das seit der Gründung von Banken in italienischen Stadtstaaten im späten Mittelalter gut bekannt war. Diese sehr frühen italienischen Banken übernahmen allerdings noch keine Funktionen, die man heute einer Zentralbank zuordnet. Die Bank von England hingegen erhielt mit ihrer Gründung das Recht, Banknoten auszugeben.“31
Trotz staatlicher Unterstützung ist die Rolle der Zentralbanken heute eine etwas klägliche, zwar wären sie scheinbar „über den Mechanismus der Mindestreserve imstande, die Geldschöpfung der Banken zu begrenzen. Allein, diese Erklärung ist falsch, und zwar nicht weil es keine Mindestreservevorschriften gäbe oder die Banken sich nicht an sie hielten, sondern weil die kreditäre Buchgeldschöpfung der Hinterlegung von Reserven vorhergeht. Zunächst werden Kredite ausgereicht, dann und in Reaktion darauf versorgen die Geschäftsbanken sich mit Zentralbankgeld.“32
Die Vollgeld-Initiative
In Anbetracht der möglichen Spekulationsgeschäfte gibt es seit 2008 einige Befürworter des sogenannten ‚Vollgelds‘, z.B. in der Schweiz33 ‚Vollgeld‘ heißt: hinter jeder Kreditsumme soll echtes (gedrucktes) Geld stehen, was weiter bedeutet: die Zentralbank übernimmt die Kontrolle über Kreditvergaben, die privaten Geschäftsbanken verleihen nur noch real vorhandene Gelder, nicht mehr leere Zahlungsversprechen. „Durch staatliche Ausgaben respektive schon die Umdefinition von Giral- zu Zentralbank- oder eben Vollgeld in Umlauf gelangt, würden auch im bargeldlosen Zahlungsverkehr insgesamt limitierte Geldbestände bewegt, anstatt wie im gegenwärtigen System nicht nur Zahlungsversprechen miteinander zu verrechnen, sondern auch und vor allem unkontrolliert neue wie Geld behandelte Zahlungsversprechen zu kreieren.“34 Theoretisch ist zwar eine solche Verfahrensänderung leicht festzulegen, praktisch wird es aber die herrschende neoliberale Lobby der Kasino-Kapitalisten sicher zu verhindern wissen.
Das Giralgeld
Bereits im Gange ist die Abschaffung des Bargeldes, seine Ersetzung durch vollständig bargeldlosen Zahlungsverkehr mittels Girokonten und Kreditkarten. Die Vorreiter-Rolle bei der Ummünzung von Bargeld in Datensätze spielt Schweden, wo aktuell nur noch ca. ein Fünftel aller Bezahlvorgänge mit Bargeld vonstatten gehen; in vielen Geschäften und Lokalen ist es jetzt schon unmöglich, mit Bargeld zu bezahlen, außerdem nehmen die meisten Banken kein Bargeld mehr an, geben keines mehr aus. So ziemlich jeder, der ein Smartphone hat, hat auch die Bezahl-App ‚Swish‘, die vorläufig gebührenfrei ist. Bisherige Prognosen rechneten mit dem endgültigen Aus für das Bargeld in Schweden im Jahr 2030, nach einer aktuellen Schätzung vom August 2019 soll es bereits 2023 soweit sein.35
Diese fortschreitende Tendenz der Umstellung von Bargeld auf Giralgeld findet überall statt, nur nirgendwo so rasant wie in Schweden. Die Transparenz wird als Sicherheit (vor Kriminalität) verkauft, doch in Wahrheit ist es nur ein ‚Instrument der sozialen Kontrolle‘ und eine erweiterte Marktbeherrschung großer Konzerne. „Der konkrete Umlauf von Bargeld ist der letzte Bereich der Ökonomie, der noch nicht vollständig transparent, also kontrollierbar ist. […] Bargeld spielt in der Liga der Global Player nur insofern eine Rolle, als dass es Schlupflöcher für lästige – kleine – Konkurrenten bietet […] Die Zurückdrängung oder gar die vollständige Eindämmung von Bargeldverkehr würde für die Kleinen eine große Umstellung und damit in vielen Fällen die Schließung bedeuten, während die marktbeherrschenden Ketten die Umstellung technisch bereits vollzogen haben.“36
Entmündigung und Kontrolle
Es geht um Entmündigung und Kontrolle. Alles was jeder tut, wird transparent gemacht, und vor den Negativzinsen gibt es keine Flucht, wenn kein Bargeld mehr von den Banken entfernt werden kann – außer auf dem Weg der Investition oder Konsumtion. Der konservative Satiriker Ulrich Horstmann beschreibt das Szenario der Bargeldabschaffung so: „Der vermeintlich hohe Anteil an Bakterien – von 20000 Bakterien und 3000 Bakterienstämmen ist die Rede – wird in den Medien zunehmend thematisiert. Insbesondere die großen Kartenanbieter weisen verstärkt darauf hin, dass Bargeld unhygienisch ist. […- plötzlich ist es] nicht mehr möglich, frei und unbeschränkt einzukaufen. Alkoholiker können kein Bier mehr kaufen, da ihre Geldkarte gesperrt ist. Dies wird als gesundheitlich notwendig eingestuft. Viele akzeptieren das Argument. Ist ja auch gut so und in ihrem eigenen Interesse.“37 In Deutschland gibt es mehr Widerstand gegen das Bargeldverbot, doch durch die ‚Digitalisierung‘ macht allgemein die Bargeld-Abschaffung große Fortschritte. Was soll man übrigens von einem Widerstand halten, wenn er von einem ‚Institut für Vermögensentwicklung‘ initiiert wird?38
PayPal
Internet-Bezahldienste – das bekannteste Beispiel ist PayPal – bieten eine sehr bequeme Zahlungsabwicklung, besonders bei Online-Einkäufen, und behaupten: ‚Bezahlen ist gebührenfrei‘, doch zu den tagtäglichen Geschäftsanforderungen gehört: Überwachung, Analyse und ein gewinnbringender Verkauf sämtlicher Kundendaten. Laut AGB der PayPal kann der Kunde ausdrücklich und schriftlich dagegen Einspruch erheben – danach aber den Dienst nur noch eingeschränkt nutzen (vermutlich so eingeschränkt, dass er nicht mehr nützlich ist). Die permanente Datenverwertung (primär natürlich immer im Marketing-Sinne), die jetzt z.B. PayPal praktiziert, können nach Abschaffung des Bargelds alle Banken ungehindert ausführen – ihre Kundschaft ist von ihnen abhängig, ohne ein Konto kann kein Mensch mehr existieren.
Science Fiction – Über den Gebrauchswert von ‚Goodbye Kapital‘
„Wir sind keine Utopisten. Wir ‚träumen‘ nicht“ (Lenin: Staat und Revolution)
„In der Star-Trekschen Zukunft gibt es keine Konkurrenz mehr und auch kein Geld. Kein Mensch besitzt mehr als der andere und die Weltenregierung fühlt sich für alle gleich zuständig.“, schreibt Laura Meschede in der ‚Zeit Campus‘39 zum Thema Kommunismus. Chris&Phil sind sich nicht sicher, was besser ist, der Star-Trek-Kommunismus (obgleich in besagter trivialer TV-Serie der Kommunismus höchstens als Schreckgespenst vorkommt) oder die vollautomatische Zukunftsvision von Aaron Bastani (der ein Robotermärchen träumt – die Menschen bekommen mehr Freizeit, Maschinen übernehmen ihre Arbeit). „Sowohl der vollautomatisierte Luxuskommunismus als auch der Star-Trek-Kommunismus sind sympathische und verlockende Zukunftsvisionen […] die sich positiv auf die kommunistische Idee berufen“ (S. 132) Und sie fügen hinzu: „Es dürfte kein Zufall sein, dass die modernen Entwürfe der bedürfnisorientierten Verteilung ausnahmslos vom Science-Fiction-Genre inspiriert sind.“ (S. 133) Ein reichlich absurder Gedanke – der aber eine Inspirationsquelle von Chris&Phil offenlegt, das ist zweifellos Captain Picard vom Raumschiff Enterprise: „Im 24. Jahrhundert gibt es kein Geld. Der Erwerb von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben.“ (Jean-Luc Picard in: ‚Star Trek: First Contact‘ / USA 1996) Ein Nachdenken über mögliche postmonetäre Gesellschaften gibt es schon in gegenwärtigen bürgerlichen Kreisen, z.B. das von der Volkswagenstiftung gesponserte Projekt „Die Gesellschaft nach dem Geld – Eine Simulation“40
Abschied vom Marxismus
Das Proletariat ist als Subjekt revolutionärer Umwälzung nicht mehr so vorhanden wie zur Zeit von Marx&Engels, es hat sich gewandelt. Das ist wohl wahr und bedenkenswert, aber für Chris&Phil nur ein Grund, sich vom Proletariat zu verabschieden, und stattdessen schwammig von einer Masse zu reden, bezahlt für Arbeit und Dienste; womit sie einer Ideologie nachgeben, die es vom Arbeiter-Standpunkt aus zu bekämpfen gilt: Alle sollen Kleinbürger sein, wenn sie keine Großbürger sein können.
„All dies Gute sollte mit einem Schlage kommen, gegründet werden.“41, schreibt Ernst Bloch über Robert Owen, in seiner durchaus lesenswerten Abhandlung der Sozialutopien. Einstimmig mit Bloch denken Chris&Phil, dass ein neues Bewusstsein sich nur entwickeln, nicht einfach beschlossen werden kann. Aber mit der Arbeitskontenrechnung, die sofort umsetzbar wäre, könne es sich entwickeln. Das ist derselbe Zirkelschluss wie bei Proudhon: dass das neue Bewusstsein, das für die Umsetzung des Plans notwendig ist, das sich erst nachträglich entwickeln kann, bereits vorausgesetzt wird. „Geistesgeschichtlich betrachtet, ist die Revolution der Ideen und der Herzen, die Proudhon herbeiführen will, seit dem späten Mittelalter im Gang. Die soziale Bewegung in Gestalt der Bettelorden gehört ebenso dazu wie die Bauernaufstände und die Kämpfe der Reformationszeit. Das Problem bleibt sich durch die Jahrhunderte gleich: Die neue Sittlichkeit muss vorausgesetzt werden, um zu ihr zu gelangen.“42
Die Ausgangsfrage – „Warum die Menschen dem Geld dienen und wie sie sich davon befreien könnten“ – ist eigentlich ganz falsch gestellt. Fraglos dient das Geld den Menschen zum Warenaustausch, und wer über viel Reichtum bzw. Besitz verfügt, in der Regel auf Kosten der Arbeiterklasse, wird sich gewiss nicht davon befreien wollen. Selbst die Börsenwölfe dienen nicht dem Geld, sondern sind nur süchtig, damit und darum zu spielen; und wer spielt, gewinnt eben nicht immer, verliert bisweilen.
Chris&Phil bestreiten zwar nicht die Tatsache gegebener Klassenverhältnisse, aber der Satz des ‚Kommunistischen Manifests‘: dass die bisherige Gesellschafts-Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist43, behagt ihnen nicht. Zumindest soll er heute nicht mehr zutreffen, sie sehen die aktuellen ökonomischen und ökologischen Probleme nicht mehr als eine Klassen-, sondern als eine Menschheitsfrage. Falls sich die beiden noch als Revolutionäre verstehen, dann gehören sie zu den frustrierten, die, anstatt sich ernsthaft mit dem bisherigen Scheitern von Marxismus und Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen, berauscht und verträumt alte Klamotten aus der Mottenkiste hervorholen, um sie als die einzig glücklich-machende neue Mode anzupreisen. Doch schon Marx sah es als Irrweg, wenn sich revolutionäre Arbeiter (er spricht vom Proletariat) wegwerfen auf „doktrinäre Experimente, Tauschbanken und Arbeiterassoziationen, also in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig scheitert.“44
Literatur:
Bellamy, Edward: Rückblick aus dem Jahre 2000, München-Berlin 2017
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung [1959], Frankfurt a. M. 1982
Cockshott, W. Paul / Cottrell, Allin: Alternativen aus dem Rechner [1993], Köln 2006/2012
Chomsky, Noam: Occupy!, Münster 2012 [Deutsche Ausgabe]
Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften
– https://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html
Dericum, Christa: Die Aktualisierung der öffentlichen Vernunft / in: Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität – Anarchistisches Ja(hr)buch I, Berlin-Neukölln 1983
Dowe, Dieter u. Klotzbach, Kurt: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1990
Gesell, Silvio: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, Lütjenburg 1991
Graeber, David: inside Occupy, Frankfurt a.M. 2012
Hofbauer, Hannes: Die Diktatur des Kapitals, Wien 2014
Horstmann, Ulrich / Mann, Gerald: Bargeldverbot, Finanzbuchverlag München 2015
Lenin, W. I.: Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll / LW 25
Lenin, W. I.: Staat und Revolution / LW 25
Marcuse, Herbert: Das Ende der Utopie, Frankfurt a.M. 1980
Minsky, Hyman P.: Instabilität und Kapitalismus, Zürich 2011
Mirowski, Philip: Untote leben länger, Berlin 2015 [Deutsche Ausgabe]
Mühsam, Erich: Rendezvous – https://www.deutschelyrik.de/rendezvous.html
Paul, Axel T.: Theorie des Geldes zur Einführung, Hamburg 2017
Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2018
Thiel, Christian: Das ‚bessere‘ Geld, Wiesbaden 2011
Weber, Max: Politik und Gesellschaft, Neu Isenburg 2006
Zucman, Gabriel: Steueroasen, Berlin 2014
Anmerkungen
1 Noam Chomsky: Occupy! – Münster 2012, S. 58 [Deutsche Ausgabe]
2 Philip Mirowski: Untote leben länger, Berlin 2015, S. 279 u. 282f. [Deutsche Ausgabe]
3 David Graeber: inside Occupy, Frankfurt a.M. 2012, S. 103
4 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 110
5 Karl Marx: Das Kapital Erster Band, MEW 23, S. 149f.
6 Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2018, S. 159 – vergl. Schaubild: http://piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/pdf/G3.1.pdf
7 http://piketty.pse.ens.fr/files/capital21c/pdf/G0.I.2.pdf
8 Lenin: Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, LW 25, S. 364
9 Gabriel Zucman: Steueroasen, Berlin 2014, S. 47 – vergl. das Datenmaterial online: http://gabriel-zucman.eu/richesse-cachee/
10 Karl Marx: Das Kapital Erster Band, MEW 23, S. 145f.
11 Max Weber: Die Börse [1894], in Max Weber: Politik und Gesellschaft, Neu Isenburg 2006
12 zitiert nach Marx: Das Kapital Erster Band, MEW 23, S. 165
13 Karl Marx: Das Kapital Erster Band, MEW 23, S. 152, Anm. 99
14 Hyman P. Minsky: Instabilität und Kapitalismus [1970], S. 111f.
15 Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 20
16 zitiert nach Dieter Dowe u. Kurt Klotzbach: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1990
17 Karl Marx: Das Kapital Erster Band, MEW 23, S. 109, Anm. 50
18 W. Paul Cockshott/Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner – Für sozialistische Planung und direkte Demokratie [1993], Köln 2006/2012, S. 46
19 http://assoziation.info/grundrisse_grundrisse_lesen.htm
20 Karl Marx: Grundrisse, MEW 42, S. 58f.
21 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 68
22 W. I: Lenin: Staat und Revolution, LW 25, S. 442
23 Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie [Vortrag 1967], Frankfurt a.M. 1980, S. 12
24 http://www.chiemgauer.info
25 Christian Thiel: Das ‚bessere‘ Geld, Wiesbaden 2011, S. 133
26 Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld [1916], Lütjenburg 1991, S. 93 u. 96 u. 11
27 https://nakamotoinstitute.org/bitcoin/
28 Axel T. Paul: Theorie des Geldes zur Einführung, Hamburg 2017, S. 156
29 Axel T. Paul a.a.O., S. 161
30https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2019/20190918-bundesregierung-verabschiedet-blockchain-strategie.html
31https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/wirtschaftswissen-kleine-geschichte-der-zentralbank-1606276.html
32 Axel T. Paul a.a.O., S. 146
33 https://www.vollgeld-initiative.ch/
34 Axel T. Paul a.a.O., S. 163
35 https://www.nzz.ch/wirtschaft/schweden-cash-ist-nicht-mehr-koenig-ld.1504526
36 Hannes Hofbauer: Die Diktatur des Kapitals, Wien 2014, S. 205f.
37 Ulrich Horstmann/Gerald Mann: Bargeldverbot, Finanzbuchverlag München 2015, S. 29ff.
38 https://rettet-unser-bargeld.de/
39https://www.zeit.de/campus/2016-07/kommunismus-alternativlosigkeit-politische-beteiligung-jung-und-links/
40 https://nach-dem-geld.de
41 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung [1959], Frankfurt a. M. 1982, S. 650,
42 Christa Dericum: Die Aktualisierung der öffentlichen Vernunft / in: Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität – Anarchistisches Ja(hr)buch I, Berlin-Neukölln 1983, S. 70
43 Karl Marx/Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest, MEW 4, S. 462
44 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 122