Parallelwelten

Zur Replik des Genossen Kuczynski

Alfred Schröder

In der letzten Nummer der AzD (Nr. 90) habe ich mich im dritten Teil der „Kritischen Rückschau“1 mit einigen Positionen des Genossen Kuczynski aus seinem Artikel „Was bleibt von der Oktoberrevolution?“2 auseinandergesetzt. Darauf hat der Genosse in dieser Nummer geantwortet. Dies ist zu begrüßen.

Der Paragraph 5 – Zum ersten

Was kritisiert der Genosse Kuczynski an meinem Artikel? Er beginnt seine Replik „mit einem genaueren Blick auf Lenins Rede über die Bodenfrage. (… ) Die mehrfach in sich verschachtelte Rede (ist) nicht ganz einfach zu lesen. Wer aber ihre Interpretation durch andere kritisiert, sollte sie zuvor sorgfältig studiert haben. Das hat Genosse Schröder offenbar nicht getan, denn er reduziert das Dekret auf die Ziffern (1) bis (4) und ordnet die Ziffer (5) dem Wählerauftrag zu.“

Diese Kritik ist formal berechtigt. Der Paragraph 5 ist in den Lenin-Werken (Bd. 26) – obwohl von den ersten vier Paragraphen durch den Abdruck des Wählerauftrags räumlich getrennt – Bestandteil des Dekrets und nicht des Wählerauftrags. Dies zeigt, wie sinnvoll eine öffentliche Diskussion unterschiedlicher Positionen, wie nützlich die Überwindung der von mir kritisierten „mangelnden Konfliktfähigkeit der Linken“ (siehe AzD 90, S. 9) sein kann. Die öffentliche Auseinandersetzung ermöglicht, solche Mängel aufzudecken und zu korrigieren.

Aber was hatte ich genau zu diesem Punkt geschrieben? Genosse Kuczynski „vermutete, in ‚Punkt 5 des Dekrets‘ die ‚Achillesferse der Revolution‘ entdeckt zu haben. Ignorieren wir die begriffliche Ungenauigkeit (es handelt es sich um den Punkt 5 des Wählerauftrags),“ – so formulierte ich in meinem Artikel – „hat Kuczynski ironischerweise mit dem Punkt 5 genau jene Bestimmung des Wählerauftrags gefunden, die von der bäuerlichen Revolution weitestgehend ignoriert wurde.“ (AzD S. 29) Wie der Leser leicht erkennen kann, war nicht die Zuordnung des Paragraphen die eigentliche Kritik an seiner Position („Ignorieren wir die begriffliche Ungenauigkeit“ – die in diesem Fall bei mir lag), vielmehr ging es um die Frage der Bedeutung des Paragraphen 5 für den weiteren Verlauf der russischen Revolution.

Für die Argumentation des Genossen Kuczynski stellte dieser Paragraph die „Achillesferse der Revolution“ dar. Meine Kritik an seiner Position bestand darin, dass in den von der Obs̆c̆ina geprägten bäuerlichen Regionen Russlands, in denen die Mehrheit der russischen Bauernschaft lebte, dieser Paragraph durchgängig ignoriert und das Land wie das Inventar der Privateigentümer von der Dorfgemeinde zwecks Nutzung durch die Umteilungsgemeinde (Obs̆c̆ina) „konfisziert“ wurde. „So löste sich in der tatsächlichen Bauernrevolution die von Thomas Kuczynski entwickelte Theorie von einer „Achillesferse der Revolution“ mit dem Rauch der abgebrannten Bauernhöfe der Privateigentümer im wahren Sinne des Wortes ‚in Luft auf‘.“ (AzD, S. 30)

Welche Position bezieht der Genosse Kuczynski zu dieser für seine eigene Argumentation so zentralen These („Achillesferse der Revolution“), welche Position bezieht er zu der eigentlichen Kritik an seinen Ausführungen? Ihm reicht es festzustellen, dass in den Lenin-Werken der Paragraph 5 zum Dekret und nicht zum Wählerauftrag gehört. Die politische und gesellschaftliche Relevanz dieses Paragraphen innerhalb der russischen Agrarrevolution ist nicht sein Thema. Das ist „Schriftexegese“ ohne Erkenntnisgewinn.

Der „genauere Blick“ – Methodisches

Ich beginne meine Replik auf Alfred Schröders Kritik an meiner Rede … mit einem genaueren Blick auf Lenins Rede über die Bodenfrage“, so mein Kritiker. Sein „genauerer Blick“ – wie eingangs zitiert – reduziert sich auf eine detaillierte Darstellung der Gliederung von Rede, Dekret und Wählerauftrag in den Lenin Werken Bd. 26.

Der Genosse Kuczynski war keineswegs der einzige, dem mein Zuordnungsfehler aufgefallen war. Ein Genosse aus Bayern schrieb dazu: „gerade da, wo Du dem Kuczynski Ungenauigkeit vorwirfst, wirst Du selber ungenau: der von Kuczynski zitierte Satz ‚Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation.‘ (LW 26, S.252) gehört zum Textbereich des Dekrets, wie er richtig sagt. … Es macht (aber) keinen Sinn, den 4 Dekretpunkten an dieser Stelle diesen Satz als 5. hinzuzufügen.“ Und hier beginnt der Unterschied zwischen dem AzD-Leser und dem Genossen Kuczynski.

Der Leser versucht, sich Klarheit zu diesem Problem zu verschaffen, indem er die Lenin-Rede und das Agrardekret im historischen Kontext des Sowjetkongresses überprüft. Sein erstes Ergebnis: „Trotzki erwähnt, im Schlussteil seiner Geschichte der Oktoberrevolution, ein sonderbares Textproblem: ‚Der Dekretentwurf ist nicht vervielfältigt zum Verteilen: der Redner hält in den Händen das einzige Exemplar in Rohfassung, und es ist, nach Suchanows Erinnerungen,3 ’so schlecht niedergeschrieben, dass Lenin beim Lesen stolpert, sich nicht zurechtfindet, und schließlich abbricht. Jemand aus der auf der Tribüne zusammengedrängten Menge kommt ihm zu Hilfe. Lenin überlässt diesem willig den Platz und das unleserliche Papier‘.“4 Entsprechend dem Hinweis (dafür danke!) habe ich die Stellen bei Suchanow und Trotzki nachgelesen (siehe Zitatquellen in den entsprechenden Fußnoten) und fand sie zutreffend. Ich möchte sie noch um zwei weitere Stellen ergänzen.

Suchanow ergänzt seine Ausführungen einige Zeilen später durch den Satz: „Es ist sehr merkwürdig, dass über das ‚Dekret über den Boden‘ keine Debatte eröffnet wurde.“5 Keiner erkannte damals offenkundig die Relevanz des Punkt 5. Was Suchanow als Publizisten und Theoretiker erstaunt (die mangelnde Debatte), erklärt der Politiker Trotzki einleuchtend: „Der Kern des Dekrets ist in den zwei Zeilen des ersten Punktes enthalten: ‚Das gutsherrliche Eigentumsrecht an Grund und Boden wird mit sofortiger Wirkung ohne jede Entschädigung aufgehoben.‘ Das gesamte Dekret zählt keine drei Dutzend Zeilen: es durchhaut den gordischen Knoten mit dem Beil. Dem Haupttext ist eine umfangreichere Instruktion angeschlossen, die restlos den Bauernforderungen entlehnt ist.“6 Diesen Kern haben die Soldaten und Bauern klar erkannt und er bedurfte keiner weiteren Diskussion. Der Paragraph 5 wird weder bei Trotzki (der das Dekret über 2,5 Seiten vorstellt und kommentiert) noch bei Suchanow noch von den Sozialrevolutionären erwähnt.

Werfen wir zusätzlich einen Blick in die Dokumentensammlung zur russischen Revolution bei dtv. In dieser Sammlung hat das Agrardekret nur vier Paragraphen, einen Paragraph 5 gibt es dort nicht. Dort lautet der letzte Satz des Wählerauftrags: „Der Landbesitz der gemeinen Kosaken und Bauern wird nicht konfisziert.“7 Und dies, obwohl sich die LW wie die dtv-Dokumente auf dieselbe Quelle (Istwestija) beziehen.

Abschließend zu diesem Thema noch ein Hinweis. Robert Service „enthüllt“ in seiner Lenin-Biographie, dass Lenin gar nicht der Verfasser des Agrardekrets gewesen sei. „Aus Verdruss über Lenins Saumseligkeit bei der Erarbeitung des Dekrets hatte das Zentralkomitee Vladimir Miljutin, den führenden bolschewistischen Ökonomen nach Lenin und frisch bestellten Volkskommissar für die Landwirtschaft, gebeten, sich mit Juri Larin zusammenzusetzen und das Dekret zu konzipieren.“8 Lenin habe den Text nur übernommen, sozusagen die Endredaktion gemacht und die Forderungen des bäuerlichen Wählerauftrags hinzugefügt, so Herr Service vom St. Antony’s College in Oxford.

Dies alles ist für die akademische Forschung durchaus von Interesse. Welche Zuordnung der besagte Paragraph 5 auf den „Zetteln“ in Lenins Händen hatte, ob die Iswestija ZJK Nr. 209, die als Textquelle des Dekretes in den LW ebenso wie in den dtv-Dokumenten angegeben wird, dieselben richtig geordnet hatte, ob der Text überhaupt von Lenin formuliert wurde, darüber kann man – wie die Beispiele oben zeigen – durchaus streiten. Zu neuen Erkenntnissen über den Verlauf der Agrarrevolution in Russland gelangt man auf diesem Weg nicht.

Warum habe ich obige Quellen trotz ihrer politischen Irrelevanz angeführt? An diesem Beispiel kann anschaulich illustriert werden, mit welch unterschiedlichen Methoden man an ein Problem herantreten kann, oder, wie Kuczynski es formuliert, wie man einen „genaueren Blick“ auf eine Fragestellung wirft. Kuczynskis „genauerer Blick“ reduziert sich auf einen erneuten Blick in die „Schrift“. Der AzD-Leser prüfte die „Schrift“ in ihrem historischen Kontext (Sowjetkongress) und verglich den Text mit anderen Quellen zu diesem Thema. Während Kuczynski mit seiner Herangehensweise nicht einen Schritt über die „Schriftexegese“ hinausgelangte, führt die andere Methode unweigerlich zu einer Reihe neuer Fragen.

Der Vorwurf

Kuczynski erhebt in seiner „Replik“ den Vorwurf, ich hätte mich mit der von ihm aufgedeckten „Achillesferse der Revolution“ unzureichend auseinandergesetzt. „Was sie aber (gemeint sind die Ergebnisse der neueren Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, auf die ich in meinem Artikel verwiesen hatte; A.S.) mit der von mir diskutierten Frage zu tun haben, dass sich die dekretierte Übereignung des Gemeindelandes an die Bauern als die ‚Achillesferse der Revolution‘ herausgestellt habe, erschließt sich mir nicht, vor allem deshalb nicht, weil beim Genossen Schröder jegliche konkrete Auseinandersetzung mit dieser Charakterisierung fehlt.“ Soweit mein Kritiker in seiner Replik.

Dass bei mir jegliche konkrete Auseinandersetzung mit Kuczynskis Charakterisierung fehlt, ist wenig verwunderlich. Ich habe versucht, die tatsächliche Agrarrevolution in den Obs̆c̆ina-Regionen darzustellen und nicht eine vom Genossen Kuczynski unterstellte, nirgendwo in den tatsächlichen Verhältnissen belegte „Enteignung des Gemeindelandes“ oder Umwandlung des „Gemeineigentums in Privateigentum“9 zum Thema gewählt. Es wäre die Aufgabe meines Kritikers nachzuweisen, wo die von ihm unterstellten Entwicklungen stattgefunden haben.

  1. Wo und wann in der russischen Revolution soll die vom Genossen Kuczynski behauptete Entwicklung, in der „das Gemeineigentum in Privateigentum verwandelt (wurde)“10 geschehen sein? Er kann nicht eine Region benennen, er kann nicht einen Beleg, weder aus marxistischen noch aus bürgerlichen Veröffentlichungen zur russischen Revolution, für die obige Entwicklung anführen. Vielmehr dürfte es so sein, dass der Genosse eine von Marx geäußerte Hypothese (MEW Bd. 35, S. 166) der tatsächlichen russischen Bauernrevolution überstülpt.
  2. Wo und wann geschah „die dekretierte Übereignung des Gemeindelandes an die Bauern“11? Privatbesitzer des zugeteilten Gemeindelandes waren die Obs̆c̆ina-Bauern schon vor der siegreichen russischen Revolution, ebenso wie nach derselben. Geändert, nämlich vergrößert, hat sich die zur Landverteilung zur Verfügung stehende Landmenge, die die Bauern unter sich aufteilen konnten, sowie der Wegfall von Pacht und Zinszahlungen. Privateigentümer des Landes wurden die einzelnen Obs̆c̆ina-Bauern dadurch nicht.

Alle dieser Ereignisse haben nicht in der russischen Revolution von 1917-1918 stattgefunden. Sie sind Chimären einer Parallelwelt, die Kuczynski aus einem spekulativen Marx-Zitat12 und einer fehlerhaften Interpretation des Landdekrets konstruiert hat. Was in Wirklichkeit geschehen ist, kann in jedem halbwegs seriösen Geschichtsbuch bzw. (mit weitergehenden politischen Schlussfolgerungen) in der AzD-Nr. 90 nachgelesen werden: „Im Kern hatten also die Bauern gesiegt – nicht jene, die besonders im Westen und im Süden auf dem Weg waren, kapitalistische Farmer zu werden, sondern jene drei Fünftel der russischen Bauernschaft, die an der Umteilungsgemeinde festhielten. Die Güter der Adeligen und des Zarenhauses wurden aufgeteilt. Auch viele Bauern, die nach der Stolypinschen Reformen die Gemeinden verlassen hatten, wurden zurückgeholt. Nur im Westen und Norden blieb Einzelbesitz im größeren Umfang erhalten.“ (Hervorhebung von mir, A.S.)13 Wo läge der Erkenntnisgewinn, sich mit den Chimären der Parallelwelt auseinanderzusetzen, wenn die politische Interpretation der wirklichen Revolution schon schwierig genug ist, wie in der letzten AzD gezeigt wurde?

Nochmals Paragraph 5

In seiner Replik auf meinen Artikel geht Genosse Kuczynski noch einmal auf die Bedeutung seiner Entdeckung des fatalen Paragraphen 5 ein: „Ziffer (5) des Dekrets lautet: ‚Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation.‘ Sie steht damit in diametralem Gegensatz zu Punkt (1) des Wählerauftrags: ‚Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben… Der gesamte Boden… wird entschädigungslos enteignet…‘, wobei die Formulierung „der gesamte Boden“ genau spezifiziert und darunter auch ‚das Gemeinde- und Bauernland‘ genannt wird. Genau diese im Wählerauftrag formulierte entschädigungslose Enteignung (Konfiskation) des Bauernlandes ist im Dekret ausdrücklich ausgeschlossen. Nichts anderes hatte ich in meinem Aufsatz festgestellt (S. 136/37).“

Neben dem Genossen Kuczynski ist dem bei bürgerlichen Historikern so beliebten Robert Service in seiner Lenin-Biographie ebenso diese „Unstimmigkeit“ aufgefallen. „Das Dekret ermangelte auch der rechtlichen Kohärenz. … Auch die Terminologie war vage. So war festgelegt, dass der Grundbesitz von ‚einfachen Bauern‘ nicht angetastet werden sollte. Wer diese einfachen Bauern waren, wurde jedoch nicht gesagt. Und gleichzeitig wurde verfügt, das Privateigentum an Grund und Boden, also vermutlich auch der Grundbesitz von Bauern, solle für alle Zeiten abgeschafft werden. Doch juristische Feinheiten interessierten Lenin nicht. Er wollte, dass das Dekret einen ‚demonstrativen‘ Effekt hatte und den Fortgang der Revolution förderte.“14

Zumindest mit dem letzten Satz liegt R. Service richtig. Das Agrardekret diente dazu, die bäuerliche Agrarrevolution zu befeuern und vermied deshalb jegliche genauere Definition zur Landverteilung. Dies sollte die Bauernschaft selbst regeln. Weshalb dann dieser Satz „der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation“ bzw. die mangelnde „juristische Feinheit“ des Dekrets, die Service entdeckt hat? Der Ursprung dieser Widersprüchlichkeit liegt in der Differenziertheit der Agrarverhältnisse des zaristischen Russlands, die Nolte im obigen Zitat kurz angerissen hatte, die bezeichnenderweise weder von Service noch von Kuczynski erwähnt werden.

In meinem Text (AzD 90) hatte ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es „irreführend“ sei „von der ‚russischen Bauernschaft‘ zu sprechen, da sie sowohl geographisch als auch sozial sehr unterschiedlich geprägt war. … 1905 verfügten in den 46 Provinzen des europäischen Teils von Russland 8,68 Millionen Haushalte über Land, das formell der kommunalen Neuaufteilung unterstand, während 2,3 Millionen über Landbesitz auf erblicher Basis verfügten (das also vom Vater auf den Sohn überging). … Diese unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse sind dazu regional deutlich geschieden. Die Ukraine, das Baltikum, teilweise Sibirien und verschiedene kosakische Siedlungsgebiete sind Regionen mit Privateigentum am Boden. Hier nimmt die Revolution einen anderen Verlauf als in den Gebieten der Umteilungsgemeinde.“ (AzD 90, S. 14) In dem Artikel wird dann im Folgenden kurz die Geschichte der Obs̆c̆ina-Bauernschaft entwickelt, da sie die Mehrheit der russischen Bauernschaft ausmachte. Zum Verlauf der Agrarrevolution in den oben angeführten, nicht von der Obs̆c̆ina geprägten Regionen treffe ich keine Aussagen.

In den Gebieten der Dorfgemeinde hatte der den Genossen Kuczynski so beunruhigende Satz (Paragraph 5) keine ernstzunehmende Bedeutung. So schreibt Altrichter: „Das meiste Land kam vom Adel (63 %), viel aber auch von den größeren Einzelbauern (19%), die im letzten Jahrzehnt vor der Revolution aus dem Dorfverband ausgeschieden waren und Boden hinzugekauft hatten.“15 Die Dorfgemeinde holte sich dieses Land mit der Revolution zurück, wie in meinem Artikel dargestellt und von der bürgerlichen Forschung belegt wird.

Was aber geschah in jenen Regionen, die nicht von der Dorfgemeinschaft geprägt waren? Auf diese Regionen dürfte der letzte Satz des Dekrets oder Wählerauftrags abzielen, da in ihm die Kosaken ausdrücklich erwähnt werden. Und für diese Regionen macht der Satz aus einem sehr einfachen Grund Sinn. Es gab in diesen Regionen keine gesellschaftliche Kraft, die das Land des privatwirtschaftenden bäuerlichen Eigentümers „konfiszieren“ und neu aufteilen konnte oder wollte. Selbst gegenüber dem Großgrundbesitz tritt hier die bäuerliche Revolution sehr „zurückhaltend“ auf, um es vorsichtig zu umschreiben. „In den Randgebieten des Reiches … wurde die Enteignung des Großgrundbesitzes erst in den 20er Jahren nachgeholt.“16

Um diese regional durchaus umfänglichen Regionen (die Ukraine, das Baltikum, teilweise Sibirien und verschiedene kosakische Siedlungsgebiete) nicht direkt gegen die proletarische Minoritätenrevolution aufzubringen (wie es dann ab dem Sommer 1918 geschieht), wird ihnen ihr Besitz durch das Dekret zugesichert. Lenin selbst formuliert dies relativ deutlich im Schlussteil seiner Rede zum Agrardekret: „Deshalb sind wir gegen jede Abänderung dieses Gesetzentwurfes, wir wollen keine Detaillierung, weil wir ein Dekret und kein Aktionsprogramm schreiben. Russland ist groß, und die örtlichen Verhältnisse sind mannigfaltig. Wir glauben, dass die Bauernschaft selbst es besser verstehen wird, die Frage richtig, so wie es notwendig ist, zu lösen.“ (AzD, S. 24)

Der „diametrale Gegensatz“ zwischen Punkt (1) des Wählerauftrags und Ziffer (5) des Dekrets, der dem Genossen Kuczynski so Probleme bereitet, war ein Produkt der gesellschaftlichen Realität der russischen Agrarverhältnisse (obs̆c̆ina versus Einzelbauern), zwischen Landbesitzern (vermittelt durch die Dorfgemeinde) und Landeigentümern, zwischen den zentralrussischen Rayons und den Randgebieten. Die Untersuchung der Agrarrevolution in den Randgebieten ist eine eigenständige Aufgabe und war nicht Thema meines Artikels. Für das Jahr 1917, für den Oktoberumsturz und für die bäuerliche Agrarrevolution, besaßen diese Regionen keine ernsthafte Bedeutung. Diese gewannen sie erst als Stützpunkte der Konterrevolution ab Mitte 1918.

Die „eigene Scholle“

Besonders missverstanden fühlt sich der Genosse durch meine Darstellung seiner Position zur Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft. So schreibt er in seiner Replik: „Genosse Schröder meint, ich hätte der Aussage Plechanovs zugestimmt, dass ‚die wirtschaftliche Tätigkeit der Bauern… nicht auf den Sozialismus, sondern auf den Kapitalismus gerichtet sein‘ werde (S. 20). Das glatte Gegenteil ist der Fall, denn ich zitiere (und kommentiere) an dieser Stelle zwar Plechanov, stelle aber im unmittelbar darauf folgenden Absatz völlig unmissverständlich fest: ‚Die große Masse der Bauern war nach der entschädigungslosen Enteignung de Gemeindelandes weder am Erhalt des Kapitalismus noch am Aufbau des Sozialismus interessiert, sondern an ihrer eignen Scholle und an ihrem eignen Wohlergehen‘ (S. 138). Schon deshalb ist sein Vorwurf, ich würde ‚die Aufrichtung des Kapitalismus… als unvermeidliche, gesetzmäßige Entwicklung unterstellen‘ (S. 20), ganz und gar unbegründet“.

Plechanow wie Lenin gingen davon aus, dass die russischen Bauern zwar subjektiv Gegner des Kapitalismus in der Landwirtschaft waren, dass aber die Gesetzmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung unvermeidlich zur Auflösung der Dorfgemeinde und Durchsetzung eines freien, kapitalistisch wirtschaftendenden „Farmertums“ (wie Lenin es nannte) führen würde. Diese Auffassung teilt auch Kuczynski – anders kann ich den roten Faden seiner Darstellung auf Seite 138 vom Plechanov-Zitat über die „eigene Scholle“ bis hin zur Bestrafung durch die „Zwangskollektivierung“ nicht lesen.

Allerdings sträubt er sich gegen diese Feststellung: er hätte sich von Plechanov „völlig unmissverständlich“ abgegrenzt, indem er formulierte „die große Masse der Bauern war … an ihrer eignen Scholle und an ihrem eignen Wohlergehen (interessiert).“ Das nenne ich weder eine „unmissverständliche“ Abgrenzung, noch ist es überhaupt ein Argument. An ihrem eignen Wohlergehen waren die Bauern sicherlich zu allen Zeiten interessiert, aber eine Abgrenzung zu der von Lenin und Plechanov unterstellten Tendenz der ökonomischen Entwicklung ist die zitierte Passage nicht.17 Kuczynski flüchtet vor den ökonomischen Kategorien in die Sprache der deutschen Heimatdichtung.

Der russische obs̆c̆ina-Bauer kannte weder vor noch nach der Agrarrevolution 1917 eine „eigene Scholle“. Sein Ackerland wurde ihm alle drei, sechs, neun oder zwölf Jahre neu von der Dorfgemeinde zugeteilt. Die „eigene Scholle“ war somit alle paar Jahre eine andere. Die aus der deutschen Heimatdichtung entlehnte Begrifflichkeit von der „eigenen Scholle“ spiegelt die Interessen einer anderen, nämlich der westeuropäischen Bauernschaft wider, die für das uneingeschränkte Privateigentum am Boden, gegen feudale Vorrechte und Abgaben gekämpft hatte. Der russische obs̆c̆ina-Bauer kämpfte für das Verbot des Privateigentums am Boden, für die Ausdehnung des Gemeindelandes auf Kosten der Privateigentümer.

Das Kuczynskis sich in seiner „Replik“ beklagt, falsch zitiert oder falsch verstanden worden zu sein, hat eine einfache Ursache: Er besitzt keine ernsthaften Kenntnisse der russischen Agrarrevolution und hütet sich deshalb, auch nur in einer Frage des Verlaufs und der sozialökonomischen Inhalte der russischen Revolution eine konkrete Position zu beziehen. Dafür aber besitzt er eine überbordende Phantasie, was in Russland hätte geschehen können, wenn man auf Marx gehört und Lenin und Plechanov dies nicht völlig anders gesehen hätten.18 Sich damit näher auseinanderzusetzen bringt keinen Erkenntnisgewinn.

Geschichtliches

In seiner Replik schreibt der Genosse, dass für die adäquate Auseinandersetzung mit seiner Theorie von der „Achillesferse der Revolution“ eine Auseinandersetzung nicht mit der „Geschichte der russischen Dorfgemeinschaft“, sondern mit der „Geschichte der sowjetischen Landwirtschaft“ nötig gewesen wäre: „Da wäre allerdings nicht ein Blick in die Geschichte der russischen Dorfgemeinde vonnöten gewesen, sondern einer in die Geschichte der sowjetischen Landwirtschaft, und der fehlt eben leider auch“, so Kuczynski ziemlich am Ende seiner Replik. Dass dies in dem Artikel nicht das Thema war, dürfte sowohl ihm als auch den Lesern klar sein.

Ein Blick in die Geschichte der russischen Dorfgemeinde war allerdings unerlässlich, da nicht nur der Genosse Kuczynski, sondern bedeutende Teile der Linken, die Marxsche Position aus dem Sassulitsch-Brief zur Grundlage ihrer Vorstellungen zum Verlauf der russischen Geschichte und Revolution gemacht haben. Es war daher unvermeidbar, die Marxsche Position historisch einzuordnen (damaliger Stand der Forschung) und ihre Untauglichkeit für das Verständnis der russischen Verhältnisse herauszuarbeiten. Dass der Genosse sich damit nicht gerne näher auseinandersetzen möchte, ist verständlich, bildet doch das Marx-Zitat aus dem Brief die Quelle, aus der er seine oben dargestellte Parallelwelt entwickelt hat.

Nicht besser steht es bei ihm mit dem Thema „sowjetische Landwirtschaft“. Auch hier fabuliert er im „luftleeren Raum“, ohne Tatsachen oder Belege und diesmal sogar ohne Zitate von Marx oder Lenin. „Auf einem unzerstörten und durch die Enteignung der großen Privateigentümer gewaltig angewachsenen Gemeindeland eine technisch moderne und ökonomisch effektive Großraumwirtschaft aufzubauen, wäre im rückständigen Russland der 1920 Jahre … gewiss ein schwieriges Unterfangen gewesen, aber kein aussichtsloses Unternehmen.“19 Unser Kritiker scheint sich mit der Geschichte der „sowjetischen Landwirtschaft“ genauso intensiv beschäftigt zu haben, wie mit der Geschichte der russischen Dorfgemeinde.

Hier gilt es, die Bolschewiki vor unzutreffender Kritik in Schutz zu nehmen. In der wirklichen Geschichte haben die russischen Kommunisten mit Nachdruck versucht, solche Betriebe zu schaffen. Lutz Häfner spricht für Ende 1918 von über 3.100 Staatswirtschaften allein im europäischen Teil Russlands. „Auf der Grundlage statistischer Angaben aus 32 Gouvernements kam das Volkskommissariat für Landwirtschaft zu dem Ergebnis, dass nach der Landverteilung … 2,9 % der Böden von Kollektiven, 11,9 % vom Staat … genutzt wurden.“20 Damit wären über 14 Prozent der Bodenfläche in kollektive oder staatliche Produktion übergegangen. Altrichter schreibt dazu: „In den Revolutions- und Bürgerkriegsjahren hatte der Staat die Gründung von Sowjet- und Kollektivwirtschaften lautstark propagiert und vorbehaltlos gefördert. … Und dass die ‚Organisation einer sozialistischen Großlandwirtschaft‘ … das Ziel der bolschewistischen Agrarpolitik war, hatte das im März 1919 verabschiedete Parteiprogramm noch einmal mit Nachdruck bestätigt.“21 Weitere Zitate anzuführen will ich mir ersparen.

In der wirklichen Welt der russischen Revolution hat man das „schwierige Unterfangen“ mit großem Elan angegangen. Warum es letztlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat, ist ein anderes Thema.22 Sicherlich lag es aber nicht an der von Kuczynski unterstellten mangelnden Erkenntnis der Notwendigkeit einer sozialistischen Großlandwirtschaft oder der mangelnden Bereitschaft der Bolschewiki, sie aufzurichten. Der Genosse konstruiert sich auch hier eine Parallelwelt, in der er Rezepte für eine erfolgreiche Agrarpolitik ausstellen kann, ohne den tatsächlichen Verlauf der sowjetischen Landwirtschaft näher untersucht zu haben.

Einige Hinweise zum Schluss

Da mir nur eine begrenzte Zeichenzahl für die Antwort von der Redaktion vorgegeben ist und die Behandlung des Paragraphen 5 trotz seiner für die russische Revolution weitgehend irrelevanten Bedeutung bereits unangemessen viel Platz erhalten hat, hier zum Schluss noch einige Bemerkungen.

Um welche Fragen ging es in meinem Artikel?

  1. Im ersten Teil des Artikels wurde das Marxismusverständnis der Linken in Deutschland kritisiert. Zwei Positionen standen dabei im Zentrum der Kritik. Zum einen die Geschichtsherleitung aus der stalinschen Formationstheorie, die für den osteuropäisch geprägten Marxismus typisch war, und zum anderen die speziell in Deutschland verbreitete Richtung, die durch eine Neuinterpretation der Schriften von Marx, Engels und Lenin einen neuen Zugang zur russischen Geschichte und Revolution gewinnen wollte und (wie Kuczynski belegt) noch immer will.
  2. Wurde in meinem Artikel die Position von Marx, Engels und Lenin zur Geschichte und Gestalt der russischen Dorfgemeinde hinterfragt. Die bürgerliche Wissenschaft ist heute in der Lage, eine komplett andere Geschichte der russischen Dorfgemeinde zu präsentieren, als wir sie in den Schriften von Marx und Lenin finden können. „Bei dieser Faktenlage ist es zweifelsfrei eine originelle Idee, das Scheitern des Sozialismus in der Sowjetunion aus den Abweichungen Lenins von der Marxschen Interpretation erklären zu wollen“ (AzD S. 18), wie der Genosse Kuczynski es in seinem Artikel versucht hat.23
  3. War die Herausarbeitung des Doppelcharakters des russischen Oktobers, als proletarischer Minoritätenrevolution in den Städten und einer eigenständigen, rückwärtsgewandten bäuerlichen Revolution in großen Teilen Russlands, Thema des Artikels.
  4. Man kann den russischen Oktober nicht gegen die bürgerliche und kleinbürgerliche Kritik verteidigen, ohne grundsätzlich mit der stalinschen Interpretation (Kurzer Lehrgang) des Revolutionsjahres 1917 zu brechen. Die Form des geplanten und bewusst herbeigeführten Umsturzes ist inzwischen zu deutlich belegt. Weshalb diese Form nicht nur möglich, sondern auch notwendig war, ist nur verständlich, wenn die Ereignisgeschichte des Jahres 1917 vollständig anders begriffen wird als es der „Kurze Lehrgang“ vorgibt.

Dies waren die wesentlichen Aussagen meines Artikels. Und sie enthalten ausreichend Sprengstoff für eine ernsthafte Diskussion. Welche Position bezieht der Genosse Kuczynski zu diesen Ausführungen? Gar keine, und das, obwohl diese Aussagen allesamt in Abgrenzung zu seiner Veröffentlichung entwickelt wurden. Er beklagt mit einem larmoyanten Unterton, falsch zitiert und vielleicht sogar absichtlich falsch verstanden worden zu sein. Zu den wesentlichen inhaltlichen Fragen – siehe die vier genannten Punkte – kein Wort von ihm. Eine Kritik, die sich nicht zum eigentlichen Thema äußert, die die zentralen Positionen der Auseinandersetzung vollständig umgeht, das ist ein Geplänkel ohne substantiellen Inhalt. Das ist keine ernsthafte Diskussion.

1 AzD, Nr. 90, Hundert Jahre russische Revolution, Kritische Rückschau auf weitere Publikationen (Teil 3), S. 5-42
2 Abgedruckt in der Zeitschrift „Berliner Debatte Initial“ Nr. 28, S. 133-141. Der Text hat seinen Ursprung in einem Vortrag des Genossen in der „Hellen Panke“ in Berlin vom 17. Oktober 2017.
3 N.N. Suchanow: 1917-Tagebuch der russischen Revolution, München 1967, S. 686
4 L. Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, S. 741
5 N.N. Suchanow, ebenda
6 L. Trotzki, ebenda
7 „Die russische Revolution 1917“, dtv-Dokumente, München 1964, S. 318
8 Robert Service: Lenin, München 2002, S. 41
9 Kuczynski, S. 139
10 Kuczynski, S. 139
11 Kuczynski, Replik in dieser Nummer
12 Ein Marx-Zitat (Sassulitsch-Brief), das auf einer nachgewiesen fehlerhaften Auffassung von der Geschichte der russischen Dorfgemeinschaft fußt. Auch dazu kein Wort in Kuczynskis Replik.
13 Hans Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Russlands, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, S. 186
14 Robert Service: Lenin, München 2002, S. 414
15 Helmut Altrichter: Staat und Revolution in Sowjetrussland, Darmstadt 1981, S. 82
16 Altrichter, S. 83
17 Dass sowohl Lenin wie Plechanov die der kapitalistischen Entwicklung entgegenwirkenden Tendenzen der Umteilungsgemeinde vernachlässigten, dass sie die Zersetzung der Dorfgemeinde überschätzten und zu politisch fehlerhaften Schlussfolgerungen gelangten, war ein Thema meines Artikels in der AzD 90.

18 Kuczynski, S. 139
19 Kuczynski, S. 139
20 Lutz Häfner: Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre, Köln 1994, S. 317
21 Altrichter: Die Bauern von Tver, S. 175
22 Wer sich weitergehend für die Ursachen des Scheiterns interessiert, sei auf unser Buch „Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus“ (VTK-Verlag 1993, S. 123-291) sowie einen Artikel des Genossen Karuscheit in der AzD Nr. 67 (März 1999), verwiesen. Im Netz unter: https://kommunistische-debatte.de/?page_id=1687
23 „Ich möchte vielmehr zu der Frage zurückkehren, in der es einen klaren Dissens gibt zwischen der 1882 von Marx und Engels formulierten Sicht und der unter Lenin praktizierten Politik.“ (Kuczynski, S. 136)