Stellungnahme zu Heiner Karuscheit: Rosa Luxemburg – Das Scheitern eines Revolutionsprogramms

F/HU, Redaktion Arbeiterpolitik

Der Artikel wirft wichtige Fragestellungen auf zum Verhältnis von:
– Theorie und Praxis,
– Individuum und Klasse,
– Führung und Bewegung,
– (speziell Kaiserreich) monarchischer Konstitutionalismus und bürgerliche Demokratie,
– (ebenso) Junkertum und Bourgeoisie,
– Klassenbewusstsein und materialistische Grundlage,
– Einbindung der Arbeiterklasse/-bewegung in die bürgerliche Gesellschaft,
– Differenzierungen in der Arbeiterklasse,
– Formen und Elemente der bürgerlichen Demokratie,
– Geschichte der SPD,
– Rolle der Linken in dieser Geschichte
usw. Nur auf einiges will ich eingehen.

Ich stimme zu, dass das Kaiserreich nicht als bürgerlicher Staat/bürgerliche Gesellschaft (im westeuropäischen Sinne) gelten kann. Es gab die herrschenden Klassen -Junkertum und Bourgeoisie-, die -dem Artikel zufolge- sowohl einen „antagonistischen Konflikt“ als auch einen Klassenkompromiss miteinander hatten. Das bedeutet aber auch, dass die bürgerlichen Elemente (ökonomische Macht der Bourgeoisie, Zustimmungserfordernis des Reichstags bei Haushalt und Gesetzen) immerhin so stark waren, dass ein Kompromiss erforderlich war. Wenn das so ist, können die Verhältnisse im Kaiserreich nicht in Gänze als „vorbürgerlich“ bezeichnet werden.

Beide herrschende Klassen verband auf jeden Fall die Gegnerschaft zur Arbeiterklasse. Dieser Konflikt überlagerte sehr bald nach der Reichsgründung den älteren zwischen Adel und Bürgertum (auch wenn der nicht ganz verschwand).

Unübersehbar ist eine historische Tendenz zur Verschmelzung beider herrschenden Klassen (bürgerliches Kapital in Grundbesitz ehemals adeliger „Rittergüter“, ehemals adeliges Kapital in Industriebetrieben – auch außerhalb der Schnapsbrennereien). Damit trägt das Kaiserreich Züge einer Übergangsgesellschaft. Wie sich das entwickelt hätte ohne Krieg und Revolution, kann keiner wissen. Fakt ist, dass es 1918 der Revolution bedurfte und diese eine bürgerliche unter Führung des Proletariats war, wie im Artikel dargestellt.

Die These auf Seite 12, dass mit dem Scheitern der Bülow’schen Steuerreform 2009 das Reich „unregierbar“ geworden sei, ist überzogen. Der Reichskanzler fand – nach dem Ende des sogenannten Bülow-Blocks – keine sichere parlamentarische Mehrheit mehr (was nach dem konstitutionellen System bekanntlich nicht zwingend erforderlich war, aber Folgen hatte). Ich stimme zu, dass damit die „Vorherrschaftsstellung der Junker immer mehr unter Druck“ geriet und sie einen Ausweg in einem Krieg (bzw. Staatstreich) sahen.

Im Artikel wird aber der Eindruck erweckt, dass die Kanzlerwechsel von 1909 (Bülow zu Bethmann Hollweg) und 1917 (Bethmann Hollweg zu Michaelis) derart einschneidende Brüche im politischen System des Kaiserreichs gewesen seien, dass hier ein Vorantreiben zu demokratisch-parlamentarischen Verhältnissen möglich gewesen wäre. Wer hätte das umsetzen und dafür 1909 bessere Voraussetzungen als 1918 finden können – die schwache Linke? Oder der Teil der SPD, der erst 1917 aufgrund seiner Weigerung, weiteren Kriegskrediten zuzustimmen, aus der SPD ausgeschlossen wurde und sich dann als USPD konstituierte?

Ich stimme der Beschreibung der Kriegsziele der imperialistischen Bourgeoisie, resultierend aus der Weltpolitik, und der Junker, resultierend aus dem Trieb der Machterhaltung, beides S. 15, zu. Diese jeweiligen Kriegsziele waren nicht deckungsgleich, gingen aber in die gleiche Richtung und ergänzten sich faktisch. Die Verfügung über Krieg und Frieden lag beim Militäradel (juristisch: bei Kaiser und Bundesrat), die Zustimmung zur Finanzierung des Krieges bei allen Volksklassen (juristisch: beim Reichstag), die Verantwortung damit auch bei der SPD.

Damit steht aber die Frage nach den Kriegsursachen doppelt: Für die Bourgeoisie ging es um die Stellung in der Weltwirtschaft, für die Junker (Repräsentanten eines niedergehenden Systems) innenpolitisch um die Machterhaltung. Die sich zuspitzende imperialistische Konkurrenz hatte das Klima geschaffen, in dem ein drittklassiger Kriminalfall (Ermordung des österreichischen Thronfolgers) den zufälligen Anlass – nicht mehr- bot.

Zum „Revolutionskonzept Rosa Luxemburgs“

Ich stimme allem zu, was mit dem Schlagwort „Verpreußung der SPD“ zusammenhängt. Es geht fehl, hierbei von „Verrat“ zu reden. Damit ist aber auch klar, dass man die materialistischen Grundlagen der Einbeziehung mindestens der oberen Schichten der Arbeiterklasse, aber auch immer weiterer Kreise, in die bürgerliche (!) Gesellschaft, herausarbeiten muss.

Dass ein Artikel sich mit der Auffassung von Rosa Luxemburg auseinandersetzt, ist selbstverständlich legitim und im Rahmen der Vervollständigung des Wissens zu den historischen Vorgängen sowie des Lernens daraus notwendig. Dabei kommt es zwangsläufig zu einer gewissen „Theorielastigkeit“. Die Theorie ist dazu da, die Praxis anzuleiten, die Praxis dazu, die Theorie zu korrigieren.

Es sollte nicht der Eindruck entstehen, als sei die Novemberrevolution an der Unzulänglichkeit der Theorie Rosa Luxemburgs (und anderer in ihrem Umfeld) gescheitert. Dafür sind die Vorgänge viel zu komplex. „Mängel“ in der Theorie sind im Nachhinein aus der zeitlichen Distanz immer feststellbar. Sie sind aber in der fraglichen Zeit und auf der Grundlage vorhergehender Entwicklungen und Erfahrungen entstanden. Von daher sind die „Mängel“ in der Auffassung Rosa Luxemburgs, etwa die sogenannte „Spontaneitätstheorie“, zu verstehen. Wir können nur daraus lernen, nicht im Nachhinein uns ausmalen, was hätte sein können.

Zweifel sind angebracht gegenüber den durchgängigen Überlegungen, dass die Linke besser eine breite Bündnispolitik mit kleinbürgerlichen Schichten praktiziert hätte, um eine bürgerliche Republik durchzusetzen. Dies hätte auch im Proletariat besser verstanden werden können. Der Artikel erweckt den Eindruck, als sei diese Blockade in der politischen Strategie der (oder ein) Hauptgrund dafür gewesen, dass nicht einmal dieses historisch notwendige Etappenziel in der Novemberrevolution erreicht worden sei, sondern eine viel größere Niederlage (der Faschismus) gefolgt sei. Dies sind m. E. Sandkastenüberlegungen. Sie erscheinen nicht aus der damaligen Zeit und Erfahrung entwickelt, sondern aus unserem heutigen Wissen des Gangs der Geschichte.

Wir haben in unserem Artikel zur Novemberrevolution (Eine Revolution der Arbeiterklasse, die in der bürgerlichen Konterrevolution endete, Arbeiterpolitik 5/6 2018, S. 10) Unterschiede zwischen der russischen Oktoberrevolution 1917 und der deutschen Novemberrevolution 1918 herausgearbeitet, die Hindernisse für eine revolutionäre Machtübernahme bilden konnten: in Russland die Situation einer kleinen, hochkonzentrierten Arbeiterklasse in einer großen Masse armer Bauern, in Deutschland den Reformismus in der Arbeiterbewegung in Gestalt der SPD und großer Teile der USPD.

Nach unserer Auffassung entsprach die Orientierung auf die sozialistische Revolution den Erwartungen der Massen in der Arbeiterschaft in Deutschland, wenn auch nicht dem Stand des politischen Bewusstseins. Wie aber hätte die organisatorisch schwache Linke das zentrale Problem, nämlich das Bündnis von SPD und kaiserlichem Militär, ausgerechnet in einer Zusammenarbeit mit kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten sprengen können? M. E. hat die Führung des Spartakusbundes/der KPD das Richtige getan, indem sie nach dem Scheitern im Rätekongress (wie immer man die Taktik bewerten mag) auf Langfristiges orientierte: die Klassenkämpfe in der kommenden Weimarer Republik und damit die Weiterentwicklung des Klassenbewusstseins im Proletariat. Dafür brauchte es eine selbständige kommunistische Organisation. Das war, realistisch betrachtet, der Ertrag der Novemberrevolution. Schon der Anfang -die Weigerung, an der Wahl zur Nationalversammlung teilzunehmen- zeigte Problematiken dieses Weges auf, später auch das Scheitern im Kampf gegen den Faschismus. Aber einfache Lösungen gab es nicht.

15.2.2020