Rosa Luxemburg

Das Scheitern eines Revolutionsprogramms

von Heiner Karuscheit

Vor Fehlern ist niemand gefeit, der in dem großen Drang und Gewühl des welthistorischen Kampfes Entscheidungen zu treffen hat. Aber die gemachten Fehler nicht einsehen, aus ihnen nicht lernen können, aus aller Schmach immer wieder unbelehrbar hervorzugehen – das grenzt an Verbrechen.“ (Luxemburg 1916)

Vorbemerkung

Rosa Luxemburg verkörperte den Neuanfang der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs, aber auch die Niederlage, die mit diesem Neuanfang verbunden war. Die mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland beginnende Epoche der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung, die zugleich das „kurze“ 20.Jahrhundert einleitete und 1989/90 endete, war von Anfang an nicht nur durch einen Sieg in Petersburg gekennzeichnet, sondern auch durch eine Niederlage in Berlin.

Woran lag es, dass die deutschen Revolutionäre, anders als die Bolschewiki in Russland, zu keinem Zeitpunkt maßgeblichen Einfluss auf die Revolutionsbewegung gewinnen konnten und stattdessen zusehen mussten, wie die Zusammenarbeit der SPD-Spitze mit dem preußisch-deutschen Offizierskorps die bereits geschlagene alte Ordnung hinter der Fassade der Republik wiedererstehen ließ? War dafür die späte Parteigründung ursächlich, wie eine bis heute gängige Erklärung lautet?

Um darauf eine Antwort zu finden, untersucht der folgende Text das politische Denken und Handeln Luxemburgs, das dem Revolutionskonzept zugrunde lag, mit dem sie an der Spitze des linken Parteiflügels der Sozialdemokratie in die Novemberrevolution ging.

1. Die „kapitalistische Entwicklung“ als Universalschlüssel

Die Beschäftigung mit den Reden und Schriften Luxemburgs stößt rasch darauf, dass die von ihr getroffenen Aussagen zur Gesellschaftsstruktur und den Machtverhältnissen im Kaiserreich in hohem Maße widersprüchlich sind. So bezeichnete sie etwa den Ausgangspunkt der Reichsgründung, den preußischen Verfassungskonflikt der 60er Jahre des 19.Jahrhunderts, als „das letzte Aufflackern des Klassenkampfes des deutschen Bürgertums wider die feudale Monarchie“ und warf den im Reichstag vertretenen bürgerlichen Parteien vor, „zum Werkzeug der feudalen Reaktion“ zu werden, sobald sie an die Macht gelangten.1 Im selben Tenor konstatierte sie „die ausschlaggebende Herrschaft des ostelbischen Junkertums in Preußen-Deutschland“2 und wandte sich gegen die „ungenierte, nackte Herrschaft der absolutistisch-militärischen Reaktion“.3 Wenn wir diese Sätze zum Nennwert nehmen, müssen wir davon ausgehen, dass sie das kaiserliche Deutschland für einen vorbürgerlich-feudalen Staat unter der Herrschaft des preußischen Junkertums hielt.

An anderer Stelle finden sich jedoch gänzlich andere Aussagen. So bezeichnete sie kurz vor der Jahrhundertwende den Staat als „die Organisation der herrschenden Kapitalistenklasse“ und schrieb: „Mit dem politischen Sieg der Bourgeoisie ist der Staat zum kapitalistischen Staat geworden“ – eine Feststellung, die sie so oder ähnlich vielfach wiederholte.4 Dieser Einschätzung nach befand sich der Staat also in der Hand der Bourgeoisie, weshalb sie auch keine Zweifel an einer „bürgerlichen Klassenherrschaft“ im Kaiserreich hatte.5 In offenem Widerspruch zu den oben zitierten Äußerungen erscheint das Kaiserreich also hier als bürgerlich-kapitalistischer Staat unter der Herrschaft der Bourgeoisie.

Wiederum an anderer Stelle sprach sie von „der herrschenden bürgerlich-feudalen Reaktion“ bzw. von der „koalierten Herrschaft des ostelbischen Junkertums und des kartellierten Großkapitals.“6 In dieser Variante wurde die politische Macht demgemäß von zwei Klassen gemeinsam ausgeübt, als feudal-bürgerliche Doppelherrschaft von Junkertum und großer Bourgeoisie.

Der Hintergrund: das Erfurter Programm

Zusammengefasst vertrat Luxemburg also drei unterschiedliche Beurteilungen der Herrschaftsverhältnisse, und wenn wir die Reden des Parteivorsitzenden August Bebel oder die Schriften des Parteitheoretikers Karl Kautsky nachlesen, ergibt sich dasselbe Bild: Ein Mal wird die Macht des Junkertums angeprangert, ein andermal ebenso selbstverständlich die bürgerliche Herrschaft – bei Bebel manchmal hintereinander in derselben Rede. Die wechselnden Charakterisierungen entsprangen also keiner persönlichen Marotte Luxemburgs, sondern waren sozialdemokratisches Gemeingut.

Der Nährboden für diese Konfusion ist das 1891 verabschiedete Erfurter Programm der SPD. Sein einleitender, allgemeiner Teil verkündete in einer Kurzdarstellung der geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation den Untergang der kleinen Warenproduzenten und den schließlichen Sieg des Proletariats aufgrund der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus. Der zweite Teil des Programms, der politische Forderungen und Arbeiterschutzforderungen enthielt, fiel gegenüber dem stringent aufgebauten ökonomischen Teil um Längen ab. Vom gleichen Wahlrecht bis zum Achtstundentag umfasste er ein Sammelsurium von 14 Punkten, die ohne roten Faden aneinandergereiht waren und als übergreifendes Ziel nicht einmal die Forderung nach vollen parlamentarischen Rechten für den Reichstag, geschweige denn nach einer Republik enthielten.

Zu den Klassen- und Herrschaftsverhältnissen, zur Reichsgründung und zum Charakter des Kaiserreichs schwieg sich das Programm vollständig aus. Weder enthielt es eine Gesellschaftsanalyse noch eine Einschätzung der Reichskonstruktion unter Vormacht Preußens. Dazu passte, dass Kautsky zur Erläuterung des ökonomischen Grundsatzteils und des angestrebten Zukunftsstaats einen Kommentar von 250 Seiten schrieb, aber nicht einen Satz zu den konkreten gesellschaftlichen Zuständen.

Unter diesen Umständen ergab sich die von dem Parteiprogramm vorgegebene Orientierung aus dessen ökonomisch-theoretischer Ausrichtung, und gemäß dieser Ausrichtung war das Kaiserreich ein kapitalistischer Staat, der den Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Ökonomie gehorchte, bürgerliche Herrschaftsverhältnisse aufwies und in kürzerer oder längerer Frist durch den sozialdemokratischen „Zukunftsstaat“ abgelöst werden würde. Auf dieser Basis registrierte man zwar die Existenz des Junkertums und der feudalen bzw. halbabsolutistischen Züge von Staat und Armee, aber entweder begriff man diese als historische Überbleibsel, deren Restbestände dem unwiderstehlichen Sog der kapitalistischen Produktionsweise nicht lange standhalten würden, oder man sah darin äußerliche Gegebenheiten, hinter deren Fassade sich bereits bürgerliche Zustände etabliert hatten. Daher konnte man das reaktionäre Junkertum kritisieren, wann immer sich dafür ein Anlass bot – und gleichzeitig vertreten, dass das Kaiserreich ein bürgerlicher Staat war.

Revolutionspolitisch mündete dieses Verständnis in einer simplen Zusammenbruchstheorie, die besagte, dass die bürgerliche Gesellschaft infolge der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus demnächst zusammenbrechen und aus ihren Trümmern der sozialdemokratische Zukunftsstaat hervorgehen würde. Eine Revolutionsstrategie erübrigte sich auf diesem Boden, man musste lediglich die Geduld aufbringen, den naturgesetzlich kommenden Zusammenbruch der Gesellschaft abzuwarten. Bis dahin bestand die entscheidende Aufgabe von Partei und Gewerkschaften darin, in täglicher Kleinarbeit die eigene Organisation aufzubauen und sich vor politischen Abenteuern zu hüten, um nicht der Staatsmacht den Vorwand für ein neues Sozialistengesetz zu geben.7 Kaschiert wurde dieser „Attentismus“ durch revolutionäre Sonntagsreden, in denen vor allem August Bebel regelmäßig den baldigen „Kladderadatsch“ der bürgerlichen Gesellschaft prophezeite und den daraus hervorgehenden „Zukunftsstaat“ pries.

Die Zauberformel der „kapitalistischen Entwicklung“

Bürgerliche Gesellschaftswissenschaftler wie Max Weber oder Werner Sombart untersuchten vor dem Krieg die Produktionsverhältnisse auf den ostelbischen Adelsgütern und kamen zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsverfassung nicht auf freier Lohnarbeit beruhte, sondern auf persönlicher Abhängigkeit, denn die Gutsarbeiter hatten kein Koalitionsrecht, durften also nicht streiken; der Lohn wurde großenteils in Naturalform gezahlt; die Gutsherren hatten in den Gutsbezirken die Polizei- und Ordnungsgewalt inne und waren zugleich die militärischen Vorgesetzten ihrer Arbeiter als Reservesoldaten. Zwar erforderte eine zunehmende Maschinisierung selbständige Arbeiter, nahm die Entlohnung in Geld statt in Naturalien zu und bewirkte die Abwanderung in die Industriestädte des Westens eine langsame Auflockerung der halben Leibeigenschaftsverhältnisse. Nichtsdestotrotz unterlag die Agrarproduktion auf den Gütern bis zuletzt nicht dem Grundgesetz der kapitalistischen Produktionsweise, der Erzeugung von Profit, sondern blieb ein Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts der Gutsfamilie und der Beibehaltung ihrer gesellschaftlichen Stellung, so dass der Nationalökonom Sombart die Schlussfolgerung zog, dass die „Junker als soziale Klasse … nichts anderes als die Vertreter einer vor- und antikapitalistischen Großgutswirtschaft“ sind.8

Die führenden Marxisten zogen keine ernstlichen Schlussfolgerungen aus den Veröffentlichungen der Bürgerlichen, denn pauschal formuliert galt ihnen das allmähliche Eindringen kapitalistischer Elemente in die ostelbischen Gutswirtschaften schon als Sieg der Profitproduktion. Auch zum Kleinbürgertum in Land und Stadt, das mehr als die Hälfte der Bevölkerung umfasste, gab es keine näheren Untersuchungen.

Luxemburg selber befasste sich in einer Reihe von Arbeiten mit wirtschaftlichen Fragen und veröffentlichte 1913 ihr mehrere hundert Seiten umfassendes ökonomisches Hauptwerk über „Die Akkumulation des Kapitals“, einen „Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“. Aber eine Analyse der Produktions- und Klassenverhältnisse in Deutschland sucht man bei ihr vergebens. Ihre Theorie beschränkte sich auf den Kosmos des Kapitals im allgemeinen bzw. auf den Widerspruch von Bourgeoisie und Proletariat als solchen. Das breite Klassenspektrum, das Deutschland an der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert aufwies und das noch bis in die Nachkriegszeit nach 1945 Bestand hatte, fand in ihren Schriften keinen Widerhall.

Nach ihrem Urteil über das 1870 gegründete Deutsche Reich hatte die „wirtschaftliche Entwicklung … die Umgestaltung der ganzen politisch-administrativen Staatsmaschine aus einem halb- oder ganzfeudalen in einen kapitalistischen Mechanismus“ herbeigeführt.9 Die kapitalistische Ökonomie hätte demzufolge fertig gebracht, woran die Bourgeoisie bis dahin gescheitert war: nicht durch den Kampf der Klassen, sondern als Resultat der wirtschaftlichen Entwicklung sollte der (halb-) feudale preußisch-deutsche Staat bürgerlich geworden sein. Was in Frankreich die Große Revolution erledigt hatte, sollte in Deutschland also die Bewegung des Kapitals bewirkt haben. An unterschiedlichen Stellen und in verschiedenen Variationen wiederholt, offenbarte sich in diesen Worten ein Verständnis des Marxismus, das Luxemburg mit der gesamten Sozialdemokratie teilte: diesem Verständnis zufolge war die gesellschaftliche Entwicklung ein einfaches Produkt der Entwicklung des Kapitals; die politische Herrschaft resultierte nicht aus dem Kampf der Klassen, sondern aus ökonomischen Gesetzmäßigkeiten.

Auf dem Boden dieser Marxismusinterpretation hatte sie keinen Grund, die gesellschaftspolitische Basis des Deutschen Reichs, den antagonistischen Klassenkompromiss von Junkertum und Bourgeoisie, näher zu untersuchen. Kontroversen um Steuerfragen und Weltpolitik, Schlachtflottenbau und Zollpolitik erschienen in dieser Sichtweise nicht als Ausdruck unterschiedlicher Klassenlagen sondern als einfache Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Abteilungen derselben bürgerlichen Klasse, denn schließlich stand ja fest, dass Staat und Herrschaft aufgrund der Tätigkeit des Kapitals bürgerlich-kapitalistisch waren. Das Erfurter Programm war ebenso wie die Kladderadatsch-Theorie Bebels ein Produkt dieses Denkens.

Obwohl die Sozialdemokraten in der Realität regelmäßig mit der fortdauernden halbabsolutistischen Verfasstheit des Reichs und der Macht der Junkerkaste konfrontiert waren, blieb Luxemburg bis zum Schluss der Zauberformel der „kapitalistischen Entwicklung“ verhaftet – ein Begriff, der in ihren Veröffentlichungen immer wieder auftaucht, als Universalschlüssel an die Stelle der Klassenbeziehungen zwischen Junkertum und Bourgeoisie tritt und die vorhandenen Widersprüche regelmäßig wie ein deus ex machina in bürgerlichem Sinne auflöst.

Ende oder Weiterführung der bürgerlichen Revolution?

Damit verbunden war ein grundlegendes historisch-politisches Unverständnis der bürgerlichen Revolution. Die fehlgeschlagene Revolution von 1848/49 hatte in Deutschland vor einer doppelten Aufgabenstellung gestanden, denn sie musste durch den Sturz des reaktionären Preußentums nicht nur die Demokratie erkämpfen, sondern auch einen Nationalstaat. Beides war miteinander verbunden, weil der in Preußen herrschende Kleinadel ein entschiedener Gegner nicht nur der Demokratie war, sondern auch eines Nationalstaats, in dem Preußen aufgehen würde.

Doch dann war Bismarck zwanzig Jahre später gelungen, was niemand für möglich gehalten hatte, Marx und Engels eingeschlossen. Indem er Preußen dazu brachte, durch den Einsatz seiner Armee in den deutschen Einigungskriegen einen Nationalstaat zu schaffen, konnte er die Bourgeoisie spalten, ihren rechten, schwerindustriell fundierten Flügel auf seine Seite ziehen und die Vorherrschaft der Junker auf Jahrzehnte sichern. Der 1866-1870 zustande gekommene Klassenkompromiss erlaubte ein verstümmeltes Parlament und gewährte den bürgerlichen Kräften eine Beteiligung an der Macht, schloss sie aber von deren inneren Kern aus. Das Heer blieb als entscheidendes Machtinstrument in der Hand des Militäradels, der mit Hilfe des Dreiklassenwahlrechts auch die Herrschaft in Preußen behielt, dem deutschen Hegemonialstaat.10 Die bürgerliche Revolution war also nicht beendet, sondern musste nach Erledigung ihres nationalen Aspekts als demokratische Revolution weitergeführt werden.

Im Erfurter Programm stand zu dieser Fragestellung nichts. Wozu auch? Wenn man die bürgerliche Revolution rein ökonomisch auffasste, war sie mit der Reichsgründung vollendet worden, denn damit war im Interesse des Kapitals ein großer nationaler Binnenmarkt ohne Zollgrenzen entstanden, mit einer gemeinsamen Währung und einheitlichen Normen, rechtlich kodifiziert durch das Bürgerliche Gesetzbuch und das Handelsgesetzbuch. Demzufolge bestand für ihre Weiterführung keine Notwendigkeit mehr, so dass Kautsky in seiner Schrift „Der Weg zur Macht“ ohne weitere Erläuterung feststellen konnte, was in der SPD Allgemeingut war, nämlich dass die deutsche bürgerliche Revolution 1870 ihr Ende erreicht hatte.

Ein ideologisches Konstrukt

Was Russland anging, stand für Luxemburg fest, dass die Zurückgebliebenheit des Landes eine bürgerliche Revolution erforderlich machte. Anders sah es für sie in Deutschland aus, denn hier hatte sich inzwischen mit der Entwicklung des Kapitals die Demokratie erschöpft, wie sie meinte. Nachdem sie, wie oben zitiert, festgestellt hatte, dass die wirtschaftliche Entwicklung den feudalen Staat in bürgerlich-kapitalistischem Sinn umgewandelt hätte, fuhr sie fort, dass diese Umgestaltung „geschichtlich von der Demokratie unzertrennlich“ gewesen sei. Inzwischen sei die bürgerliche Umgestaltung des Staates jedoch vollendet und deshalb die Demokratie überflüssig geworden – „die rein demokratischen Ingredienzien des Staatswesens, das allgemeine Stimmrecht, die republikanische Staatsform“ könnten gefahrlos verschwinden, ohne einen Rückfall des Staatsapparats in „vormärzliche“ Feudalstrukturen befürchten zu müssen.11 Deshalb bestand hier eine andere Aufgabenstellung als in Russland, wie sie meinte: „Gerade weil die bürgerliche Rechtsordnung in Deutschland längst besteht, weil sie also Zeit hatte, sich gänzlich zu erschöpfen und auf die Neige zu gehen, weil die bürgerliche Demokratie und der Liberalismus Zeit hatten auszusterben, kann von einer bürgerlichen Revolution in Deutschland nicht mehr die Rede sein. Und deshalb kann es sich … als letztes geschichtlich notwendiges Ziel nur noch um die Diktatur des Proletariats handeln.“12

Diese Aussage ignorierte, dass entscheidende Teile der bürgerlichen Rechtsordnung wie etwa das Streik- und Koalitionsrecht für Landarbeiter keine Geltung besaßen und auf den großen Gütern Ostelbiens anstelle bürgerlicher Freiheiten halbe Leibeigenschaftsverhältnisse herrschten. Vor allem aber: welche bürgerliche Demokratie sollte in Deutschland existiert haben, die mittlerweile überholt war und deshalb vom Sozialismus abgelöst werden musste? Ein Grundcharakteristikum Preußens bzw. Preußen-Deutschlands war, dass die Entwicklung der großen Industrie hier nicht zur Machtübernahme durch die Bourgeoisie und zur Durchsetzung einer demokratisch-bürgerlichen Herrschaft geführt hatte, sondern mit der Fortdauer eines junkerlich beherrschten Militär- und Obrigkeitsstaats einher ging. Während in Großbritannien und Frankreich die Parlamente das Zentrum der bürgerlichen Herrschaft bildeten, war der Reichstag in Deutschland ein Pseudoparlament ohne Macht. Weder konnte er die Regierung wählen noch über Krieg und Frieden bestimmen noch die Armee befehligen noch die Macht Preußens überwinden. Er war und blieb nach einem Wort von Marx ein Feigenblatt, mit dem der Halbabsolutismus seine eigene Blöße verdeckte. Der von Luxemburg angenommene Gleichklang von kapitalistischer Entwicklung und bürgerlicher Demokratie war ein ideologisches Konstrukt, das die gesellschaftliche Realität ignorierte und sich aus der Logik des Kapitals ableitete.

Für sie ergab sich auf dieser Basis allerdings noch eine weitergehende Konsequenz: Weil der Kapitalismus in Deutschland weiter fortgeschritten war als in Großbritannien oder Frankreich, musste in der Logik dieses Denkens auch die gesellschaftlich-politische Entwicklung – und das hieß in diesem Fall: der Verfall der Demokratie – weiter vorangeschritten sein. Die politische Zurückgebliebenheit des Kaiserreichs war also kein Beweis für die bislang ausgebliebene bürgerliche Revolution, sondern dafür, dass die Errichtung einer proletarisch-sozialistischen Herrschaft nahe gerückt war, näher als in den bürgerlichen Staaten des Westens.

2. Schiefe Fronten: Bernstein und die Verpreußung der SPD

In Russisch-Polen aufgewachsen und 1894 Mitgründerin der Sozialdemokratie des Königreichs Polen, zog Luxemburg 1898 nach Deutschland, wurde Mitglied der SPD und geriet sofort in den gerade beginnenden „Revisionismusstreit“ mit Eduard Bernstein.

Der Weggefährte von Friedrich Engels und Ko-Autor des Erfurter Programms hatte in einer Artikelserie in der Neuen Zeit, dem Theorieorgan der SPD, das Kernstück der politischen Strategie der SPD angegriffen – das Warten auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft und auf das sozialistische Endziel. Er wies auf die Kluft hin „hier die kapitalistische, dort die sozialistische Gesellschaft“, die der sozialdemokratischen Politik zugrunde lag, und vermerkte, dass diese Kluft von vielen Parteimitgliedern gar nicht als Problem wahrgenommen werde, für sie müsse „die ökonomische Entwicklung … über alle theoretischen Schwierigkeiten hinweghelfen.“13 Aufgabe der SPD sei es jedoch, nicht bloß auf die künftige Katastrophe der bürgerlichen Gesellschaft zu warten, sondern hier und heute Politik zu betreiben.

Um den Graben zwischen kapitalistischer Gegenwart und sozialistischem Zukunftsstaat zu überbrücken, rückte er den demokratischen Kampf ins Zentrum; er forderte, die Arbeiterklasse „zur Demokratie auszubilden, und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, … das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten.“14 In diesem Zusammenhang prägte er seinen wohl bekanntesten Ausspruch „die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“, um damit auszudrücken, dass eine demokratische Gegenwartspolitik wichtiger sei als das ferne Sozialismusziel.

Er wies darauf hin, dass der im KAPITAL und im Erfurter Programm vorhergesagte Untergang der kleinen Warenproduzenten in Deutschland bislang nicht eingetreten sei und das industrielle Proletariat weiterhin eine Minderheit bildete. Eine weitergehende Untersuchung der Klassen- und Herrschaftsverhältnisse in Deutschland nahm er nicht vor und stellte auch keine Überlegungen zum Verhältnis von bürgerlicher und sozialistischer Revolution an. Er ging davon aus, dass die angestrebte Demokratisierung des Kaiserreichs ohne Revolution auf parlamentarisch-friedlichem Weg zu erreichen sei und wollte aus der SPD eine demokratisch-sozialistische Reformpartei, d.h. eine bürgerlich-reformistische Arbeiterpartei machen.15

Sozialistischer und demokratischer Kampf

Seine Ablehnung der „Kladderadatsch“-Politik des Abwartens auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch stellte eine offene Herausforderung des von Bebel und Kautsky geführten Parteizentrums dar, das darauf mit einer Kritikkampagne gegen den „Revisionismus“ reagierte. In dieser Debatte war die soeben in Deutschland angekommene Luxemburg, die sich in ihrer polnischen Heimat einen Namen als streitbare Publizistin gemacht hatte, eine willkommene Bundesgenossin für den Parteivorstand, der ihr freie Hand für die Auseinandersetzung mit Bernstein gab.

Neben anderen Artikeln verfasste sie in der Hauptsache die umfangreiche Schrift „Sozialreform oder Revolution?“, worin sie die von Bernstein vorgebrachten Argumente für das friedliche Hineinwachsen der Gesellschaft in den Sozialismus auf jede erdenkliche Art und Weise zerpflückte. Allerdings tat sie dies lediglich auf allgemeiner Ebene und leitete die Unmöglichkeit eines parlamentarisch-friedlichen Sturzes der Herrschaftsordnung nicht aus der konkreten Verfasstheit des preußisch-deutschen Staats her.

Das Junkertum befand sich im Niedergang. Aufgrund der mangelnden Produktivität der ostelbischen Gutswirtschaften war das dort angebaute Getreide auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig, und um ihre Zukunft zu sichern, benötigten die Junker den Staat in zweifacher Hinsicht: Zum einen musste er die Schutzzölle verhängen, die ihr Getreide vor der Auslandskonkurrenz schützten, und zum andern waren ihre nicht gutsbesitzenden Mitglieder angewiesen auf eine Tätigkeit im Staatsapparat, vor allem im Heer, das sie als Militäradel beherrschten. Bei Strafe des Untergangs mussten sie ihre Vorherrschaft über den Staat bewahren, und es bestand wenig Zweifel, dass sie daran unter Einsatz aller Mittel festhalten würden. Im Grundsatz hatte Luxemburg daher recht gegen Bernstein, dass ein Umsturz der Machtverhältnisse nur auf revolutionärem Weg möglich war – nur musste dieser Weg revolutionär-demokratisch sein.

Bei der Gelegenheit schrieb sie über das Verhältnis zwischen demokratischem und sozialistischem Kampf, dass die politische und rechtliche Wand zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft „durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht“ würde.16 Diese Aussage musste als Absage an den Sinn des demokratischen Kampfs überhaupt verstanden werden. Bei der Formierung eines revolutionären Flügels in der SPD spielte ihre Schrift eine wichtige Rolle.

Die unbegriffene „Verpreußung“ der Arbeiterpartei

Gegen die gemeinsame Front des Parteizentrums und der Linken hatten Bernstein und seine Anhänger keine Chance. Rückhalt hatte der „Revisionismus“ vor allem im Süden des Landes, wo die deutschen Teilstaaten seit den Napoleonischen Kriegen bürgerlichen Zuschnitt trugen. In der Sozialdemokratie Preußens und der SPD als Ganzes war der Bernstein-Flügel zu keinem Zeitpunkt mehrheitsfähig und Bernstein selber spielte weder vor noch nach dem Krieg eine maßgebliche Rolle. Auf dem Dresdner Parteitag der SPD im September 1903 ließ Bebel eine Resolution verabschieden, welche die revisionistischen Bestrebungen „auf das entschiedenste“ verurteilte und proklamierte, dass es keinen Anlass gebe, „unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik … zu ändern“. Wie die „bewährte Taktik“ konkret aussehen sollte, stand in der Resolution nicht.

Wie die englischen und französischen Sozialisten näherte sich auch die deutsche Sozialdemokratie in der Vorkriegszeit dem Staat an. Aber Frankreich und Großbritannien waren parlamentarisch regierte Länder mit einer gelungenen bürgerlichen Revolution, weshalb die Annäherung hier zur Verbürgerlichung der Arbeiterparteien führte. Dagegen hatte die SPD es nicht mit einem bürgerlichen Gemeinwesen zu tun, sondern mit einem vorbürgerlichen Militär- und Obrigkeitsstaat, weshalb sie einer schleichenden Verpreußung unterlag, wie der Historiker Arno Klönne diesen Prozess bezeichnete. Statt zu einer bürgerlich-reformistischen Arbeiterpartei à la Bernstein zu werden, setzte sich in der deutschen Sozialdemokratie der Geist eines preußischen Staatssozialismus durch, der sich im Weltkrieg und sodann in der Novemberrevolution geltend machte.17

Trägerinnen dieser Entwicklung waren u.a. die Gewerkschaften. Da der preußisch-deutsche Staat anders als in Frankreich oder Großbritannien nicht von der Bourgeoisie beherrscht war, konnte er den Arbeitern auf dem Gebiet der Sozialpolitik entgegenkommen und den Gewerkschaften als Kooperationspartner erscheinen. So wurden hier schon früh Arbeiter-Sozialversicherungen für Krankheit und Alter geschaffen, die als Vorfeldorganisationen des eigentlichen Staatsapparats die Arbeiter gemäß dem Willen Bismarck an den monarchischen Staat heranführen sollten. 1910 war ungefähr jedes achte Parteimitglied der SPD in ihnen sowie in anderen halbstaatlichen Einrichtungen engagiert.

In diesem Zusammenhang bemerkte der Parteivorsitzende Bebel en passant in einer Rede auf dem SPD-Parteitag 1910: „Es gibt keinen zweiten, dem preußischen ähnlichen Staat, aber wenn wir einmal diesen Staat in der Gewalt haben, haben wir alles. … im Süden versteht man nicht diesen Junkerstaat in seiner ganzen Schönheit.“18 Mit einigem Wohlwollen konnte man die Bemerkung als Ausrutscher verstehen. Aber abgesehen davon, dass Bebel selber betonte, dass er diese Ansichten vom Staat schon mehrfach geäußert hatte, dokumentierten seine Sätze die mittlerweile in der SPD dominierenden Vorstellungen über den sozialdemokratischen Zukunftsstaat: es ging nicht mehr um die Zerschlagung des alten und den Aufbau eines neuen Staatsapparats, sondern um die Übernahme des von Preußen geschaffenen Beamtenstaats. Am Ende des Kriegs realisierte die SPD-Führung diese Perspektive.

Überzeugt von der Allmacht der kapitalistischen Entwicklung, war Luxemburg blind für die preußisch-obrigkeitsstaatliche Durchdringung der Gesellschaft und das Hineinwachsen der Arbeiterbewegung in den Militär- und Beamtenstaat. Ihr entging, dass nicht der Bernstein-Flügel, sondern das Parteizentrum der entscheidende Träger einer Rechtsentwicklung war, welche die SPD zu einer preußisch-sozialpatriotischen Arbeiterpartei machte. Im Gegenteil trug die gemeinsame Frontstellung mit Bebel und dem Parteizentrum gegen Bernstein und den bürgerlichen Reformismus dazu bei, dass sie sich bis zuletzt weigerte, praktisch-politische Konsequenzen aus ihrer zunehmenden Kritik an der SPD-Führung zu ziehen.

3. Nach der russischen Revolution 1905

Als im Januar 1905 nach der Niederlage Russlands im Krieg gegen Japan die erste russische Revolution ausbrach, stellte Luxemburg das Auftreten der Arbeiterklasse in Petersburg und Moskau sofort ins Zentrum ihrer Publizistik und setzte alles daran, den deutschen Arbeitern die Aktionen ihrer russischen Kollegen nahe zu bringen. Ende des Jahres reiste sie in der Überzeugung, dass die revolutionäre Bewegung weitergehen würde, nach Warschau, um ihre Genossinnen und Genossen vor Ort zu unterstützen. Jedoch war der Höhepunkt der Bewegung bereits überschritten und im März 1906 wurde sie verhaftet. Im Juli wieder freigekommen, fuhr sie zunächst nach Finnland, um dort persönlichen Kontakt mit den russischen Revolutionären aufzunehmen, und traf hierbei auch mehrfach mit Lenin zusammen.

Nach Deutschland zurückgekehrt, machte sie sich an die Auswertung der revolutionären Ereignisse. Ihre erste Schlussfolgerung war, dass sich ein Epochenwechsel ankündigte: „Mit der russischen Revolution schließt die nahezu 60jährige Periode der ruhigen, parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie“, schrieb sie, und „geraten wir … in die -Übergangsperiode von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft.“19 Eine längere Periode parlamentarischer Herrschaft der Bourgeoisie, auf die sie sich zur sozialistischen Begründung des Epochenwechsels berief, hatte es jedoch lediglich in Frankreich und Großbritannien gegeben und nicht in Deutschland. Ihre Behauptung implizierte, dass die deutsche Bourgeoisie aufgrund der Auswirkungen von 1848 wie auch immer zur parlamentarischen Macht gelangt wäre. Das unterstellte sie regelmäßig auch bei anderen Gelegenheiten, indem sie etwa die gescheiterte deutsche Märzrevolution mit der siegreichen französischen Revolution in eine Reihe stellte.20 Die Basis für diese Gleichsetzung ergab sich aus ihrer Überzeugung vom Gleichklang zwischen kapitalistischer Entwicklung und bürgerlicher Herrschaft.

Vor einer neuen Epoche in Europa

Ihr Fehlurteil in dieser Frage änderte nichts daran, dass die russische Revolution in der Tat eine neue Epoche ankündigte, die sich mit der Oktoberrevolution 1917 endgültig Bahn brach. Nur war deren Inhalt nicht der Übergang zum Sozialismus, wie Luxemburg meinte, sondern die Durchsetzung der bürgerlichen Revolution in der Mitte und im Osten Europas, also dort, wo es noch keine bürgerliche Revolution gegeben hatte.

Bislang hatte diese Revolution lediglich in Großbritannien und Frankreich gesiegt, wogegen sie im restlichen Europa noch ausstand und hier unter neuartigen Bedingungen ausgefochten werden musste. Im Westen hatten die Revolutionen zu einer Zeit stattgefunden, als das Proletariat erst im Entstehen begriffen war und den bürgerlich-kleinbürgerlichen Kräften im Kampf gegen die Feudalherrschaft als Manövriermasse bzw. Hilfstruppe dienen konnte. Doch mit dem Voranschreiten der Industrialisierung in den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts bekam die Bourgeoisie es mit einer zahlenmäßig gewachsenen und politisch selbständig agierenden Arbeiterklasse zu tun, was zur Folge hatte, dass sie sich von „ihrer“ Revolution verabschiedete und es vorzog, die Aussöhnung mit den alten Mächten zu suchen.

Für Russland konstatierte Luxemburg „die merkwürdige, widerspruchsvolle geschichtliche Situation“, dass dort die „bürgerliche Revolution in erster Linie von einem modernen, klassenbewussten Proletariat ausgeführt wird“, welches „das führende und treibende Element (ist), während die großbürgerlichen Schichten teils direkt konterrevolutionär, teils schwächlich-liberal“ gesinnt sind.21 Dieses Urteil war richtig. Indessen lag im Deutschen Kaiserreich wesentlich dieselbe „widerspruchsvolle geschichtliche Situation“ vor, die Luxemburg für Russland konstatiere, denn auch hier war die Bourgeoisie gespalten und strebte keine Revolution mehr an. Unter der Hegemonie ihres rechten, schwerindustriell fundierten Flügels hatte sie sich mit dem preußischen Gutsadel und dem Halbabsolutismus verbündet, um die anwachsende Arbeiterbewegung niederzuhalten und eine demokratische Umwälzung zu verhindern.22

Lenin gelangte aufgrund des Auftretens der russischen Bourgeoisie in der Revolution von 1905 zu der Auffassung, dass im Zarenreich „der Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg der Bourgeoisie unmöglich“ sei; er müsse durch eine Koalition von Proletariat und Bauernschaft erkämpft werden, mit einer „revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ als Ziel.23 Mit dieser Perspektive einer demokratischen Volksrevolution unter Führung des Proletariats im Bündnis mit dem Kleinbürgertum (in Russland der Bauernschaft) formulierte er eine für den Marxismus grundlegend neue Strategie.

Diese Strategie musste nicht nur in Russland, sondern auch in den anderen nichtbürgerlichen Ländern Europas Anwendung finden. Das galt insbesondere für das Deutsche Reich. Bürgerlich würde diese Revolution deshalb sein, weil sie gegenüber dem städtischen und ländlichen Kleinbürgertum das bürgerliche Privateigentum an Produktionsmitteln und dessen Bewegungsgesetze anerkennen musste. „Und diese Anerkennung erfolgt nicht auf Grund einer falsch verstandenen politischen Großzügigkeit des Proletariats, sondern weil das Proletariat im 20.Jahrhundert die politische Macht nicht anders erobern konnte als im Bündnis mit der Masse des Kleinbürgertums.“24 Indem es die im historischen Prozess unumgängliche Etappe der bürgerlichen Revolution anerkannte und seine eigene Strategie daran ausrichtete, erhielt es die Möglichkeit, an die Macht zu gelangen und sich einen Weg zum Sozialismus zu öffnen.

Für Massenstreiks und einen Politikwechsel

Aufgrund der Erkenntnis, dass die russische Revolution einen Gezeitenwechsel ankündigte und eine Zeit ruhiger Entwicklung durch eine Periode offener Klassenauseinandersetzungen abgelöst wurde, forderte Luxemburg die deutsche Sozialdemokratie zu einem Politikwechsel auf. Nachdem in Russland politische Massenstreiks der Arbeiter den Zarismus in die Defensive gedrängt und zum Versprechen von mehr demokratischen Rechten, einer neuen Duma (Parlament) sowie einer Amnestie für politische Häftlinge und Emigranten gezwungen hatten, machte sie sich daran, den Einsatz dieses Kampfmittels auch für Deutschland zu propagieren, u.a. um das preußische Dreiklassenwahlrecht zu Fall zu bringen. Diesem Ziel widmete sie sich in den folgenden Jahren in einer Vielzahl von Reden, Artikeln und Broschüren.

Das Eintreten für eine energischere Demokratiepolitik brachte sie in wachsenden Widerspruch zum sog. Parteizentrum und damit auch zum Parteivorsitzenden Bebel. Als Mitbegründer der SPD hatte dieser die Arbeiterpartei durch die Zeit des Sozialistengesetzes geführt und nahm in ihr eine unangefochtene Stellung ein. Doch von den großen strategischen Fragen hielt er sich fern und hatte dem Sog der Verhältnisse, der die Arbeiterpartei an den preußisch-deutschen Staat heran führte, weder theoretisch noch politisch etwas entgegenzusetzen, was über die Kladderadatsch-Theorie hinaus ging. Als klassischer Vertreter einer Politik des „Mittelwegs“ sah er seine Hauptaufgabe darin, die Partei zusammenzuhalten, um für den Tag X gerüstet zu sein. Bis dahin galt es, so sein stehender Ausspruch, das „Pulver trocken zu halten“, d.h. einen strikt legalen Kurs zu verfolgen und Partei und Gewerkschaften geduldig aufzubauen – was in der Realität eine zunehmende Annäherung an den gegebenen Staat bedeutete.

Die Stellung zu politischen Massenstreiks war beispielhaft für sein Vorgehen. Als immer mehr Anhänger der Sozialdemokratie, angespornt durch das russische Vorbild, Sympathien für politische Streiks äußerten, sprach er sich auf dem Jenaer Parteitag im September 1905 gegen den Protest der Gewerkschaften für derartige Streiks aus, allerdings nur zur Abwehr eines Angriffs auf das allgemeine Wahlrecht und ausdrücklich nicht zur Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts. Kurz darauf traf er eine Absprache mit der Gewerkschaftsführung, die politische Streiks an deren Zustimmung band, und ließ diese Vereinbarung auf dem Mannheimer Parteitag 1906 billigen. Damit hatte er sowohl den Schulterschluss mit den Gewerkschaften wieder hergestellt als auch das Streikproblem generell aus der Welt geschafft, denn die Gewerkschaftsführung ließ keinen Zweifel daran, dass sie politische Streiks grundsätzlich ablehnte.

Rechtsruck der SPD 1907

Bei der Reichstagswahl 1907 erlitt die SPD nach einem Wahlkampf, der von den konservativen und liberalen Parteien des „Bülow-Blocks“ unter aggressiv nationalistischen und imperialistischen Parolen geführt worden war, eine heftige Niederlage – zumindest wenn man die Zahl der Parlamentssitze als Maßstab anlegte. Sie gewann zwar Stimmen hinzu, doch zum ersten Mal ging die Zahl ihrer Reichstagsmandate aufgrund der Wahlkreisabsprachen zwischen den gegnerischen Parteien von 81 auf 43 zurück. Als Reaktion darauf vollzog die Parteiführung einen Rechtsruck.

Anlässlich der Beratung des Rüstungshaushalts 1907 plädierte Gustav Noske als militärpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Reichstag dafür, dass Deutschland „möglichst wehrhaft“ sein müsse und wurde dabei von der Mehrheit der Fraktion unterstützt. Er verlangte ein positives Interesse „an den militärischen Einrichtungen, die zur Verteidigung unseres Vaterlandes notwendig sind“, und bekräftigte als Aufgabe der deutschen Sozialdemokraten, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk von keinem anderen Volk „an die Wand gedrückt“ würde.25 Als es daraufhin vom linken Parteiflügel einen Proteststurm gab, stellte sich Bebel ohne Vorbehalt auf die Seite des Angegriffenen und erklärte, dass die Rede Noskes seine „Zustimmung und Anerkennung“ gefunden habe. Noskes Auftreten und seine Verteidigung durch Bebel dokumentierten, in welchem Ausmaß die preußisch-sozialpatriotische Entwicklung in der SPD mittlerweile vorangeschritten war, die 1914 in die Kriegsunterstützung durch die SPD und 1918/19 in die Zusammenarbeit mit dem Militäradel zur Niederschlagung der Novemberrevolution mündete.

Als Kritiker Noskes und Vertreter einer antimilitaristischen Politik tat sich insbesondere Karl Liebknecht hervor und geriet deswegen in heftige Auseinandersetzungen mit dem Parteivorstand, der sich weigerte, seine Antimilitarismusbroschüre für die Jugend zu verbreiten. Dagegen äußerte Luxemburg sich zu dieser Frage überhaupt nicht. Nur bei einer Gelegenheit im Jahre 1913 kritisierte sie nebenher Bebels Standardsatz, dass er bei einem Krieg mit Russland noch persönlich die Flinte auf den Buckel nehmen würde.26 Mehr ist zu dieser Frage bei ihr nicht zu finden.

Massenbewegung gegen das Dreiklassenwahlrecht

Nachdem die preußische Sozialdemokratie sich aufgrund der ungleichen Stimmenwertung lange geweigert hatte, an den Dreiklassen-Wahlen in Preußen überhaupt teilzunehmen, zog sie bei der Wahl 1908 zum ersten Mal in den Berliner Landtag ein und agitierte von dort aus gegen das reaktionäre Wahlgesetz, das die Arbeitermassen im wichtigsten Teilstaat des Reichs von der politischen Mitwirkung ausschloss.

Als der soeben ins Amt gekommene Reichskanzler Bethmann Hollweg Anfang 1910 eine Reformvorlage zur Auflockerung des Preußenwahlrechts einbrachte (die er nach vier Monaten unverrichteter Dinge wieder zurückziehen musste), kam es zu einer breiten Wahlrechtsbewegung, die von Protestversammlungen und Straßendemonstrationen bis hin zu politischen Halbtagesstreiks reichte. Der aufflammende demokratische Kampf brachte auch die Forderung nach einer Republik aufs Tapet, die das Erfurter Programm im Bemühen um Legalität peinlichst vermieden hatte. Deren Losung, so verlangte Luxemburg von der Parteiführung, sollte jetzt zu einem Hauptpunkt der Agitation werden.27 Sie unterstützte die demokratisch-politischen Aktivitäten sowohl publizistisch als auch durch Auftritte in einer Vielzahl von Veranstaltungen. Ohne das zu thematisieren, verabschiedete sie sich dabei von der Aussage in ihrer Bernstein-Kritik, dass der demokratische Kampf ein Hemmnis für den sozialistischen Kampf sei.

Nach außen befürwortete der Parteivorstand das Vorgehen gegen das Dreiklassenwahlrecht. Hinter den Kulissen vereinbarte er jedoch mit der Gewerkschaftsführung, politische Streiks für die Beseitigung des preußischen Wahlrechts zu verhindern und die Wahlrechtsbewegung auf Versammlungen, Denkschriften und die „bewährten Mittel“ des parlamentarischen Kampfs zu beschränken.28 Ebenso ging Karl Kautsky vor. Theoretisch sprach er sich für Massenstreiks und eine demokratische Republik aus (so in „Der Weg zur Macht“, 1910). Politisch-praktisch wandte er sich auf der Linie des Parteivorstands dagegen, derartige Forderungen aktiv zu propagieren, weil sie die Einheit der Partei und die notwendige Ruhe vor der nächsten Reichstagswahl gefährden würden; die SPD müsse die Macht der Gegner langfristig durch eine Ermattungsstrategie unterminieren. Deshalb verweigerte er auch den Abdruck von Artikeln Luxemburgs zu diesem Thema in der Neuen Zeit“.29

Dagegen plädierte Bernstein offensiv für Massenstreiks zur Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts und handelte sich deswegen die Feindschaft der Gewerkschaften ein. Doch Luxemburg ignorierte weiterhin, dass nicht das bürgerlich-reformistische Demokratisierungskonzept Bernsteins, sondern das Hineinwachsen der Sozialdemokratie in den preußisch-deutschen Militär- und Obrigkeitsstaat die entscheidende Herausforderung bildete.

Schonung des Parteivorstands und Spontaneitätsdenken

Sie begann nun, die Führung der Sozialdemokratie offen zu attackieren.30 Sie griff den „bürokratischen Konservatismus der führenden Gewerkschaftskreise“ an, kritisierte die Unterwerfung des Parteivorstands unter die Forderungen der Gewerkschaften und bezeichnete das sog. marxistische Zentrum als „Sumpf“, gegen dessen „geistigen Konservatismus“ man vorgehen müsse.31 Weiter ging sie jedoch nicht. Im Vorgehen der Parteiführung erkannte sie keine politische Linie, mit der man sich prinzipiell auseinandersetzen musste, sondern betrachtete es als bloße Bremserei, als ärgerlichen Fehler, den die Parteimassen rechtzeitig von sich aus korrigieren würden. Sobald die revolutionäre Periode sich entfaltete, so ihre Meinung, würde „kein Bremsen der Parteiführer viel auszurichten imstande sein, dann schiebt die Masse ihre Führer, die sich dem Sturm der Bewegung widersetzen, einfach auf die Seite.“32

Hinter dieser Hoffnung auf das intuitiv richtige Handeln der Massen steckte eine Spontaneitätstheorie, die sie „das historische Wesen des proletarischen Klassenkampfes“ darin erblicken ließ, “dass die proletarische Masse keine ‚Führer‘ im bürgerlichen Sinne braucht, dass sie sich selbst Führer ist“.33 Unausgesprochen war die Voraussetzung dieses Spontaneitätsdenkens ihre Überzeugung, dass die Sozialdemokratie unter Führung Bebels und Kautskys nach wie vor eine revolutionäre Partei war. Demzufolge würde der „Sumpf“, der sich in der Führung und leider auch im Parteileben ausbreitete, mit der Verschärfung des Klassenkampfs von selbst abgestoßen werden, weil er dem Proletariat wesensfremd war. Deshalb zügelte sie im Vertrauen auf die proletarischen Selbstheilungskräfte ihre Kritik an der Parteiführung und harrte bis zuletzt in der SPD aus.

Doch wie sollten die Arbeiter „spontan“ zu den richtigen Überzeugungen gelangen, wenn die Revolutionäre die maßgeblichen Fragen nicht schon vorher aufgeworfen und die anstehenden Alternativen vorgezeichnet hatten? Ihrer praktischen Zurückhaltung haftete ein seltsam unpolitischer, abstrakter Optimismus an, der dazu führte, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung im entscheidenden Moment ohne Organisation da stand.

4. Der Weg in den Krieg

Nach der russischen Revolution von 1905 hatte sie das Herannahen einer neuen revolutionären Epoche konstatiert, die neben Russland insbesondere das Deutsche Kaiserreich erfasste.

Im Jahr 1909 sprengte ein Steuerstreit über die Finanzierung der (bürgerlichen) Schlachtflotte das langjährige Reichstagsbündnis von Konservativen und Nationalliberalen und ließ den Klassenkompromiss von Bourgeoisie und Junkertum zerbrechen, der die innere Stabilität des Kaiserreichs bis dahin gesichert hatte.34 Die Erschütterung des staatspolitischen Gefüges des Kaiserreichs hatte zur Folge, dass der Staat unregierbar wurde; die neue Regierung Bethmann Hollweg war auf den wichtigsten Politikfeldern handlungsunfähig. Zugleich führte das Auseinanderfallen des „Bülow-Blocks“ aus konservativen und bürgerlichen Parteien dazu, dass die SPD nach ihrer Niederlage 1907 nunmehr bei der Wahl 1912 fast ein Drittel der Reichstagssitze erobern und sich der Illusion hingeben konnte, bald auf friedlich-parlamentarischem Weg an die Macht zu gelangen. Vor allem aber geriet infolge der Staatskrise die bisherige Vorherrschaftsstellung der Junker immer mehr ins Wanken, bis diese keinen anderen Ausweg mehr als die Flucht in einen Krieg sahen, der wie die Reichseinigungskriege ihre Macht durch einen großen militärischen Sieg auf unabsehbare Zeit sichern sollte.

In den Schriften Luxemburgs findet sich zu dem Hegemoniebruch und der folgenden Staatskrise nichts. Weder analysierte sie den Bruch zwischen Konservativen und Nationalliberalen noch bewertete sie den Kanzlerwechsel von Bülow zu Bethmann, obwohl Bethmann eine grundlegend andere Außenpolitik verfolgte als sein Vorgänger (er war ein Gegner der Welt- und Schlachtflottenpolitik und bemühte sich um einen Ausgleich mit Großbritannien). Ebenso wenig äußerte sie sich zu der zunehmenden Isolierung der Junkerpartei im Reichstag. Wie sollte sie die Tragweite der Ereignisse auch nachvollziehen, wenn sie von bürgerlichen Herrschaftsverhältnissen im Kaiserreich überzeugt war und die Parteien der Konservativen und Liberalen nicht als politische Vertretungen unterschiedlicher Klassen begriff, sondern als unterschiedliche Fraktionen derselben bürgerlichen Klasse? Daher konnte sie weder erkennen, wie sich die im Innern unlösbaren Widersprüche einen Weg nach außen bahnten, noch war sie in der Lage, den Arbeitermassen ein tieferes Verständnis der politischen Entwicklung und der zunehmenden inneren und äußeren Spannungen nahezubringen.

Sie war wie die gesamte 2. Internationale fixiert auf „imperialistische“ Kriege, womit Kriege um Kolonialbesitz zwischen den ökonomisch entwickelten Staaten gemeint waren. Nach der Faschoda-Krise 1898 war die Marokkokrise 1911, in der Deutschland, Frankreich und Großbritannien an den Rand eines Kriegs gerieten, ein klassischer Fall dieses Imperialismus, wodurch die Warnungen der Sozialisten offenbar eine glänzende Bestätigung erfuhren. Die Konkurrenz um Kolonien bildete auch den Hauptanlass für die Beschlüsse der Internationale, in denen die Arbeiterparteien sich gegenseitig versicherten, einen Krieg gemeinsam zu verhindern.

In dieses Imperialismus-Bild passte ein Krieg zwischen Deutschland und Russland nicht hinein, denn zwischen beiden Staaten gab es keine Konflikte um koloniale Absatzmärkte – es gab überhaupt keine ernsthaften ökonomischen Konflikte. Deshalb konnte die SPD den Antikriegs-Resolutionen der 2. Internationale problemlos zustimmen und gleichzeitig den stillschweigenden Vorbehalt pflegen, dass diese Resolutionen für den Fall eines russisch-deutschen Kriegs keine Geltung besitzen würden.

Luxemburg teilte die Imperialismusvorstellungen der 2. Internationale und versuchte nur, in ihrem ökonomischen Hauptwerk über die Kapitalakkumulation eine eigene Erklärung dieses Imperialismus zu geben.35 Auf dem Boden dieser Theorie war kein Raum für die Erkenntnis, dass die entscheidende Kriegsgefahr, die in Deutschland heran reifte, aus dem Hegemoniebruch von 1909 resultierte, der das Junkertum sein Heil in einem Machtsicherungskrieg suchen ließ.

Bebel als Vaterlandsverteidiger

Nach dem Wahlsieg der SPD 1912 sowie einem fehlgeschlagenen Staatsstreichversuch schwenkte der Militäradel endgültig auf einen Kriegskurs ein, um seine Vorherrschaft zu sichern. Bis dato waren die Rüstungsausgaben für das Heer nur moderat gestiegen, weil jeder größere Ausbau die vermehrte Einberufung städtisch-proletarischer Rekruten notwendig gemacht hätte, wodurch die Zuverlässigkeit des Heeres bei einem Einsatz im Inneren in Gefahr geraten wäre. Doch jetzt musste das Heer im Hinblick auf einen Landkrieg aufgestockt werden, und deshalb brachte die Regierung 1913 einen Nachtragshaushalt für eine große Heeresvermehrung ein, die mit der Aufrüstung Russlands und Frankreichs begründet wurde.

Der nachgereichte Etatvorschlag wies eine augenfällige Besonderheit auf. Bis dahin hatten die Rüstungshaushalte immer sowohl das junkerliche Heer als auch die bürgerliche Flotte berücksichtigt – eine Folge des Reichsgründungskompromisses zwischen Landadel und Bourgeoisie. Doch jetzt sollte zur Bestürzung der bürgerlichen Liberalen lediglich das Landheer die zusätzlichen Mittel bekommen.

Als Mitglied des Haushaltsausschusses des Reichstags nahm Bebel noch wenige Monate vor seinem Tod an den Etatberatungen im März/April 1913 teil und konnte dabei das Auftreten der Klassenkräfte aus erster Hand verfolgen. So registrierte er voller Genugtuung, dass Großadmiral Tirpitz, ein Hauptvertreter des maritimen Imperialismus und Schöpfer der Schlachtflotte, die Niederlage der Marine „mit der größten Erregung“ hinnehmen musste. Für den sozialdemokratischen Parteivorsitzenden stand damit fest, dass die imperialistische Kriegsgefahr, d.h. die Gefahr eines deutsch-britisch-französischen Seekriegs um Kolonien, vorüber war, weil das Reich seine Rüstung zur See nicht weitertreiben konnte. Dementsprechend erleichtert war seine Reaktion.36

Eine ganz andere Stellung nahm er zu der geplanten Heeresverstärkung ein. Nach den Haushaltsberatungen verfasste er eine Stellungnahme für den Parteivorstand, die dieser unter der Überschrift „Ein ernstes Wort in ernster Zeit. Militärvorlage und internationale Rüstungsindustrie“ als Flugschrift verbreiten ließ.37 Die Hauptaussage darin war die Warnung vor der Gefahr eines Angriffskriegs „von Osten her“, der „unser Vaterland vielleicht vor die Frage von Sein oder Nichtsein stellen“ würde. Im Hinblick darauf bekundete die Flugschrift Verständnis für die „Vorbereitung einer starken Schutzwehr“ und signalisierte die Bereitschaft zur Vaterlandsverteidigung, die sie im darauf folgenden Jahr umsetzte.

Von Luxemburg gab es keine öffentliche Reaktion darauf. Aufgrund ihrer Imperialismustheorie musste sie ebenso wie Bebel die Niederlage der liberal-imperialistischen Schlachtflottenanhänger als Rückgang der Kriegsgefahr bewerten. Die Gefahr eines deutsch-russischen Landkriegs schien dagegen aufgrund derselben Imperialismustheorie fernliegend, und deshalb maß sie der Flugschrift offenkundig so wenig Tragweite bei wie Bebels regelmäßigen Flintenreden im Reichstag. Sie konzentrierte ihre Kritik auf die Steuerfrage, weil die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zur Finanzierung des Rüstungs-Nachtragshaushalts der erstmaligen Einführung einer direkten Steuer (auf Einkommen und Vermögen) zugestimmt hatte.38

Krieg und Imperialismustheorie

Ein Jahr später wurde die von ihr negierte Kriegsvariante Realität. Um die Unterstützung der Arbeiterpartei sicherzustellen, taktierte der deutsche Reichskanzler in der europäischen Julikrise 1914 so lange, bis Russland die Generalmobilmachung seiner Truppen verkündete und somit scheinbar ein russischer Angriff (gemeinsam mit dem verbündeten Frankreich) unmittelbar bevorstand. Das ließ in den Augen der Sozialdemokraten den Fall der Vaterlandsverteidigung gegen den Zarismus eintreten, so dass die SPD-Reichstagsfraktion die beantragten Kriegskredite mit nur wenigen internen Gegenstimmen bewilligen konnte.

Luxemburg wurde von der Entwicklung vollkommen überrascht, denn aufgrund ihrer Imperialismustheorie hatte sie die Gefahr eines Kriegs zwischen Russland und Deutschland für ebenso unrealistisch gehalten wie die für diesen Fall lange angekündigte Vaterlandsverteidigung durch die SPD. Spätestens jetzt wäre es zwingend gewesen, mit der SPD zu brechen. Aber obwohl sie sich sofort gegen den Krieg und die Politik der Vaterlandsverteidigung wandte, sah sie ihren Platz weiterhin innerhalb der Partei, weil sie glaubte, nur so dazu beitragen zu können, die irregeführten Mitgliedermassen vom falschen Kurs der Parteiführung abzubringen.

Mit dem Beginn des Kriegs stellte sich u.a. die Aufgabe, dessen Charakter zu beurteilen. Im Prinzip war er ein Landkrieg Deutschlands gegen die beiden Nachbarmächte im Osten und im Westen, der mit der vorherrschenden Imperialismustheorie nicht zu erklären war. Aber nachdem Großbritannien auf Seiten Frankreichs und Russlands in den Krieg eingetreten war, lag scheinbar dieselbe „imperialistische“ Konstellation vor wie in der Marokko-Krise drei Jahre zuvor, nämlich eine Auseinandersetzung zwischen der aufstrebenden Kolonialmacht Deutschland und den etablierten Kolonialmächten England und Frankreich. Daher definierte Luxemburg den Weltkrieg gemäß ihrer Imperialismustheorie als „Konkurrenzkampf des bereits zur vollen Blüte entfalteten Kapitalismus um die Weltherrschaft, um die Ausbeutung der letzten Reste der nichtkapitalistischen Weltzonen.“39 Für die Kriegsteilnahme Russlands, die in dieses Bild nicht hinein passte, fand sie eine Lösung in dem mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reich, das von Russland bekriegt wurde, um in den Besitz der Dardanellen zu gelangen. So konnte sie „die deutsche Beherrschung der Türkei als das eigentliche Ziel des imperialistischen Angriffskrieges“ behaupten und dahinter als Triebkraft das Interesse der Deutschen Bank an den Eisenbahnen des Nahen Ostens, vor allem der Bagdad-Bahn unterstellen.40 Auf diese Weise hatte sie die Inbesitznahme nichtkapitalistischer Territorien als maßgeblichen Kriegsgrund ins Spiel gebracht und so ihre Imperialismustheorie gerettet. Nur hatte diese Konstruktion mit dem realen Krieg wenig gemein.

Die Kriegsziele der Bourgeoisie als Mit-Trägerin des Kriegs resultierten aus der Weltpolitik, die seit Ende der 90er Jahre den außen- wie innenpolitischen Angelpunkt der bürgerlichen Politik bildete, und richteten sich keineswegs auf die Türkei, sondern über ein deutsches Mittelafrika hinaus auf die Inbesitznahme der Atlantikhäfen Belgiens und Nordfrankreichs, um von dort aus den Kampf um eine Weltmachtstellung gegen Großbritannien führen zu können.41 Gustav Stresemann, als Vorsitzender der Nationalliberalen der führende Kopf der Bourgeoisie und Hauptvertreter der Imperialismuspolitik, vertrat noch kurz vor Kriegsende, dass der Krieg verloren sei, wenn Belgien nicht in deutscher Hand bliebe.

Krieg zur Stärkung der Militärmonarchie

Allerdings bestimmte nicht die Bourgeoisie den Krieg. Die als Instrument der Weltpolitik gebaute Schlachtflotte spielte im Kriegsverlauf kaum eine Rolle, denn sie war nicht in der Lage, es mit der britischen Navy aufzunehmen und die von London verhängte Seeblockade aufzubrechen. Herrscher des Kriegs war das Junkertum, und der Krieg war das Mittel, seine Vorherrschaft über das Kaiserreich zu befestigen. Das von den Kleinadeligen befehligte Heer war der maßgebliche Träger der Kriegshandlungen, und während in Frankreich und Großbritannien die Parlamente die Herrschaft über den Krieg behielten, übte in Deutschland die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff ab 1917 eine Militärdiktatur aus, während der Reichstag so schwach und politisch wirkungslos blieb wie zuvor.

Aus dem Vorhaben der Machtsicherung leiteten sich auch die Kriegsziele des Militäradels ab. Sie richteten sich in erster Linie auf die Erweiterung seiner Herrschaftsbasis in Preußen, um dessen Stellung als deutscher Hegemonialstaat zu stärken. Umgesetzt wurden sie im Friedensvertrag von Brest-Litowsk, den die OHL diktierte und der u.a. vorsah, aus den baltischen Staaten Fürstentümer in Personalunion mit der preußischen Krone zu machen.

An einer Stelle der Junius-Broschüre schrieb Luxemburg, dass der Krieg „die Stärkung der preußischen Militärmonarchie zum Zweck hat“.42 Das beschrieb das Wesen des Kriegs völlig richtig – und stand im diametralen Gegensatz zu ihrer oben zitierten imperialismustheoretischen Erklärung. Aber wie bei ihren Vorkriegseinschätzungen der Herrschaftsverhältnisse im Kaiserreich war dies nur eine Variante, denn letztlich kam sie doch wieder auf das Mantra der „kapitalistischen Entwicklung“ und einer bürgerlichen Herrschaft zurück. So bezeichnete sie in ihrem „Dezemberprogramm“ von 1918 die Hohenzollern als „Geschäftsträger der imperialistischen Bourgeoisie und des Junkertums“, nur um fortzufahren: „Die bürgerliche Klassenherrschaft, das ist der wahre Schuldige des Weltkrieges“.43 Auf dieser Grundlage konnte sie weder das Wesen des Kriegs und der Sozialdemokratie noch den Charakter der anlaufenden Revolution erfassen.

Die sozialdemokratische Kriegspolitik

Wie die anderen politisch-gesellschaftlichen Kräfte führte auch die sozialdemokratische Führung mit dem Krieg ihre Vorkriegspolitik mit anderen Mitteln fort. Auf Basis ihrer Annäherung an den preußisch-deutschen Staat nahm die Parteiführung gleich zu Kriegsbeginn regelmäßige Kontakte zur OHL auf, die im Kriegsverlauf immer enger wurden und ihr Novemberbündnis von 1918 mit dem Militäradel vorbereiteten. Zur Marineführung und zu den Bürgerlichen insgesamt gab es keine entsprechenden Verbindungen.

Ein Meilenstein auf diesem Weg war das Vaterländische Hilfsdienstgesetz von 1916, das die Zusammenarbeit der Militärführung mit Industrie und Gewerkschaften zur Organisierung der Kriegswirtschaft einschließlich der dazu erforderlichen Verteilung der Arbeitskräfte regelte. Dabei handelte die sozialdemokratische Gewerkschaftsführung mit der Staatsführung gegen den erbitterten Widerstand der Schwerindustrie aus, dass die Großbetriebe sich für die Gewerkschaften öffnen mussten und dort Arbeiter- und Angestelltenausschüsse eingerichtet wurden.

Die Integration in den kriegswirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsapparat institutionalisierte die Zusammenarbeit zwischen der Arbeiterpartei und dem Militäradel und ließ sozialdemokratische Gewerkschaftsführer durch die Mitarbeit im neu geschaffenen Obersten Kriegsamt und den nachgeordneten Ämtern auf die staatlichen Kommandohöhen der Wirtschaftslenkung gelangen. In keinem anderen europäischen Land war die Einbeziehung in den Staatsapparat so weitgehend, dass „die Arbeiterorganisationen sozusagen Bestandteil der Kriegsmaschinerie selbst wurden“.44 Erster Leiter des Obersten Kriegsamts wurde General Groener, der im November 1918 mit dem SPD-Vorsitzenden den sog. „Ebert-Groener-Pakt“ zur Zusammenarbeit gegen die Novemberrevolution vereinbarte.45 Von der sozialdemokratischen Presse wurde das Hilfsdienstgesetz in Fortsetzung von Bebels positiver Bewertung des „Junkerstaats“ als Sieg des Organisationsgedankens über den anarchischen Kapitalismus, als Abkehr von der Privatwirtschaft, Übergang zur organisierten Wirtschaft und Schritt zum Sozialismus bzw. zu einem deutschen Sozialismus gefeiert.

Luxemburg befand sich während des Kriegs die meiste Zeit über in Haft, bezog jedoch Zeitungen, bekam Besuche und hatte die Möglichkeit zu schreiben, konnte also weiter am politischen Leben teilnehmen. Aber zu den innenpolitischen Entwicklungen schwieg sie weitestgehend, und zum Hilfsdienstgesetz und zur sozialdemokratischen Debatte darüber als Schritt zum Sozialismus äußerte sie sich überhaupt nicht. Wie sollte sie das Geschehen auch einordnen, wenn sie von einer bürgerlichen Klassenherrschaft ausging, während das Hilfsdienstgesetz eine schmerzliche Niederlage für die große Bourgeoisie bedeutete?

Besonders auffällig ist ihr Schweigen angesichts der innenpolitischen Krise, die das Kaiserreich nach der russischen Februarrevolution 1917 erfasste. Im Sommer dieses Jahres versuchte der Reichskanzler Bethmann Hollweg, wegen der zunehmenden Kriegsmüdigkeit des Volkes und der befürchteten Revolutionsgefahr einen Remisfrieden mit den Kriegsgegnern abzuschließen. Zu diesem Zweck brachte er Wilhelm II dazu, der Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts zuzustimmen, um den erwarteten Widerstand des Junkertums zu brechen und die Unterstützung der SPD für einen solchen Friedensschluss zu erhalten.

Als Antwort darauf organisierte die OHL seinen Sturz, stellte den Kaiser kalt und etablierte einen neuen Kriegskanzler (Michaelis), der die entschiedene Fortsetzung des Kriegs garantierte. Die SPD-Führung, die nach der russischen Februarrevolution einen deutschen Endsieg erwartete, beteiligte sich hinter den Kulissen an den Manövern zum Kanzlersturz. Sie verweigerte Bethmann die Unterstützung, war mit dem neuen Kanzler einverstanden und nahm es hin, dass die zugesagte Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts im preußischen Landtag sabotiert wurde, um ihr Kriegsbündnis mit dem Militäradel nicht zu gefährden.46

Auch wenn Luxemburg die Hintergründe des Geschehens nicht wissen konnte, war Bethmanns Kriegsmüdigkeit ein offenes Geheimnis und bedeutete das zugesagte Ende des Dreiklassenwahlrechts eine öffentliche Kriegserklärung an den Militäradel. Obwohl die Julikrise 1917 also eine enorme klassenpolitische Sprengkraft offenbarte, war ihr der Regierungswechsel nicht eine Zeile wert. Bis auf einen nichtssagenden Satz erwähnte sie nicht einmal das angekündigte Ende des Dreiklassenwahlrechts und sagte auch nichts dazu, dass die SPD dessen Aushebelung stillschweigend tolerierte.

Verrat“ als Erklärung

Die fortdauernde Politik der Vaterlandsverteidigung durch die SPD-Führung konnte sie nur so erklären, dass an der Spitze der Arbeiterpartei ein „Klüngel von Verrätern“ stand, der seit August 1914 „Verrat am Sozialismus“ beging.47

Mit der Verrats-These korrespondierte, dass es für sie unbegreiflich war, wieso die Massen den Krieg bis zuletzt mittrugen, so dass sie dem Volk noch im Dezember 1918 vorwarf, dass es vier Jahre lang „Kulturpflicht, Ehrgefühl und Menschlichkeit vergessen“ hätte und „sich zu jeder Schandtat missbrauchen ließ“.48 Vor dem Krieg hatte sie aufgrund ihrer Spontaneitätstheorie die Überzeugung vertreten, dass die Arbeitermassen irgendwann von sich aus die Fehler des SPD-Parteivorstands korrigieren würden. Jetzt konnte sie nicht nachvollziehen, wie es der Parteiführung immer wieder gelungen war, den sich im Kriegsverlauf aufbauenden Arbeiterwiderstand auszumanövrieren.

Aber wie wollte sie selber die sozialdemokratischen Arbeiter aufklären, von der Parteiführung abspalten und gegen den Krieg mobilisieren, wenn sie ein schiefes Verständnis von der Klassenkonstellation des Kaiserreichs besaß, nicht erkannte, dass der Krieg seinem innersten Kern nach ein Machtsicherungskrieg des Junkertums war, und deshalb den Kriegsverlauf klassenpolitisch nicht aufschlüsseln konnte? Vor allem verkannte sie, in welchem Ausmaß die Bebel-SPD in den preußisch-deutschen Staat hineingewachsen war und auf dieser Basis nicht einfach nur die Vaterlandsverteidigung propagierte, sondern unter der Führung des Parteivorstands zu einer aktiven Kriegspartei wurde, die im Bündnis mit dem Militäradel für einen deutschen Endsieg kämpfte. So erklärt es sich, dass sie der Parteiführung jenseits einer grundsätzlichen Kritik der Vaterlandsverteidigung nichts entgegen zu setzen hatte. Am Ende konnte sie deren Politik nur als „Verrat“ geißeln, d.h. moralisch statt politisch kritisieren.

Mit dieser Einschätzung der Klassen, des Kriegs und der SPD-Führung ging sie in die Novemberrevolution.

5. Luxemburgs Revolutionskonzept

Noch in der Haft verfasste sie im Oktober 1918 einen Revolutionsaufruf, der von Spartakus und den Bremer Linksradikalen als sog. Oktoberprogramm übernommen wurde. Wenig später durch die Ausrufung der Republik überholt, schrieb sie nun für die Spartakusgruppe ein Dezemberprogramm („Was will der Spartakusbund?“), das den Sozialismus und die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum nächsten Ziel erklärte und das der Gründungsparteitag der KPD bald darauf ohne offizielle Verabschiedung als Parteiprogramm übernahm.49

Äußerlich kam dieses Programm völlig anders daher als das Erfurter Programm, war aber in jeder Hinsicht dessen Kind. Nachdem der lange erwartete „Kladderadatsch“ der bürgerlichen Gesellschaft jetzt eingetreten war, enthielt es keinen ökonomischen Grundsatzteil mehr, sondern setzte die Orientierung des Erfurter Programms im Stil einer Agitationsbroschüre in einen flammenden Aufruf zur Erkämpfung des Sozialismus um, endend mit dem Schlusssatz „dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!“

Da der Sozialismus die Vergesellschaftung der maßgeblichen Produktionsmittel voraussetzte und ohne Landwirtschaft nicht aufgebaut werden konnte, forderte es u.a. die „Enteignung des Grund und Bodens aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe“. Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Bauern in Deutschland Mittelbauern waren, erklärte es damit der Bauernschaft den Krieg. Anstatt sie als Bündnispartner für die anstehende Revolution zu gewinnen oder wenigstens zu neutralisieren, trieb es sie an die Seite des Junkertums als Schutzmacht gegen ihre drohende Enteignung und machte sie zu einer Reserve der Konterrevolution. Die nach dem Kriegsende in aller Eile aufgestellten Freikorps rekrutierten sich zum großen Teil aus Bauernsöhnen.

Gegen das Kleinbürgertum

Der mit ihrer Sozialismuspolitik einher gehenden Schwierigkeiten war Luxemburg sich durchaus bewusst. In ihrer Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD bezeichnete sie die Bauern als die „fanatischsten Anhänger des Privateigentums“ und forderte, um „diese drohende konterrevolutionäre Macht“ zu bekämpfen, „den Klassenkampf aufs Land hinauszutragen, gegen das Bauerntum das landlose Proletariat und das Kleinbauerntum mobil zu machen.“50 Indes bildeten Kleinbauern in der sozialen Realität der meisten deutschen Dörfer nur eine Minderheit und waren zudem durch vielfache persönliche Beziehungen mit der Dorfgemeinschaft verwoben. Der Aufruf zur Mobilisierung des Kleinbauerntums gegen den Rest des Dorfs war realitätsfern.

Etwas anders als mit den Bauern sah es mit dem „landlosen Proletariat“ aus, das sich in Gestalt von Millionen von Gutsarbeitern auf den junkerlichen Latifundien östlich der Elbe konzentrierte. Diese Gutsarbeiter hatten in den Schützengräben des Weltkriegs vier Jahre lang engen Kontakt mit Kameraden aus anderen sozialen Schichten und mit anderen politischen Ideen gehabt und waren aus generationenlanger Untertänigkeit herausgerissen worden. Sie waren für den Kampf gegen ihre „Herren“ und die Enteignung des Gutsbesitzes zu gewinnen, hatten aber wenig Neigung, statt auf Junkergütern künftig auf sozialistischen Staatsgütern zu arbeiten. Sie wollten eigenen Grund und Boden, und den erhielten sie gemäß den Sozialismusvorstellungen der Linken nicht. Das Konzept, Kleinbauern und das Landproletariat mit dem Versprechen der Errichtung sozialistischer Agrargüter gegen die Massen der Bauernschaft zu mobilisieren, war von Anfang bis Ende verfehlt.

Das städtische Kleinbürgertum aus Handwerkern und Kleinhändlern wurde im Programm nicht erwähnt. In der Tradition von 1848 befürworteten große Teile davon eine revolutionär-demokratische Politik. So trat etwa die linksliberale DDP, die bei den Wahlen zur Nationalversammlung fast 20% der Stimmen erhielt, für die Zerschlagung des Großgrundbesitzes und seine Verteilung an Bauern und Landarbeiter sowie für die Verstaatlichung von Monopolen ein, und viele liberale Demokraten engagierten sich in den Räten. “Die Revolution 1918/19 war nicht nur ein herausragendes Kapitel in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, sondern zugleich die bis dahin größte Volksbewegung in der deutschen Geschichte. Zwar waren Arbeiter in Uniform und Zivil ihre treibende Kraft und ihre Hauptträger. Doch die Revolution erfasste große Teile des Volkes, die nicht in der sozialdemokratischen und freigewerkschaftlichen Arbeiterbewegung sozialisiert worden sind.“51

Das heißt, große Teile des Kleinbürgertums waren im Rahmen einer demokratischen Revolution als Bündnispartner zu gewinnen. Doch angesichts der geforderten Enteignungspolitik gegenüber den Bauern und der angekündigten proletarischen Alleinherrschaft war das unmöglich. Das Sozialismuskonzept Luxemburgs ignorierte das „in der russischen Oktoberrevolution zugespitzt gestellte Problem, dass im 20.Jahrhundert das Proletariat Träger und Führer einer Revolution wird, die nicht seine ‚eigene‘ ist, die den bürgerlichen Rahmen der sozialökonomischen Verhältnisse nicht sprengen kann, in der das Proletariat aber nur siegen kann, wenn es die Massen des Kleinbürgertums in Stadt und Land gegen Kapital und Großgrundbesitz zusammenschließt“.52 Es war das Konzept einer proletarischen Minderheitenrevolution ohne und gegen die kleinbürgerlichen Massen in Stadt und Land und hatte keine Aussicht auf Erfolg.

Eine demokratisch-revolutionäre Bewegung

Von der verfehlten Bündnispolitik abgesehen fand das Revolutionskonzept Luxemburgs auch im Proletariat keine Mehrheit. Sie wies mehrfach darauf hin, dass die Revolution mit dem Ende der Monarchie gerade erst begonnen habe. Damit meinte sie die sozialistische Revolution – doch es war die demokratische Revolution, die gerade erst begonnen hatte. Wie ihre Vorgängerin, die Märzrevolution von 1848, warf die Novemberrevolution die alte Macht im ersten Anlauf über den Haufen, aber um deren Wiederkehr zu verhindern, musste sie ihren Sieg befestigen.

Dazu bemerkte Luxemburg, dass die revolutionäre Situation „alle Probleme neu entrollt, die die deutsche Bourgeoisie in der Revolution von 1848 nicht zu lösen fähig war.“53 Genau so war es, denn um die Revolution zum Erfolg zu führen, musste das Proletariat an erster Stelle die Probleme lösen, an denen die Bourgeoisie 1848 gescheitert war. Zu diesem Zweck mussten Armee und Staatsapparat aufgelöst und auf demokratischen Grundlagen neu aufgebaut werden. Der Großgrundbesitz als soziale Basis des Junkertums war zu enteignen, Kirche und Staat zu trennen sowie Justiz, Schule und Universität zu demokratisieren. Über diese Maßnahmen hinaus, die seit 1848 auf der Tagesordnung standen, war die Schwerindustrie zu sozialisieren, um so den bürgerlichen Mit-Träger der alten Ordnung zu entmachten.

Die hier umrissenen Maßnahmen stimmten weitgehend mit den Zielen überein, die von der Rätebewegung vertreten wurden: „Spontan, ungeordnet, nicht völlig zu Ende gedacht, wird in den Räten der Wunsch großer Teile des Volkes sichtbar, nicht mehr länger kommandiert zu werden, sondern die Dinge irgendwie selber in die Hand zu nehmen. Es geht der Revolutionsbewegung neben der schnellen Beendigung des Krieges auch um eine umfassende ‚Demokratisierung‘ der Gesellschaft. Der alte Obrigkeitsstaat soll von Grund auf verändert werden. Demokratischer Geist soll in die Armee, die Verwaltung, die Justiz, die Schulen und Fabriken, schlicht in die ganze Gesellschaft einziehen. Der Untertan und der Untertanengeist haben ausgedient.“54

Die zitierten Sätze stellen so etwas wie eine Zusammenfassung der Revolutionsforschung dar, die seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Rätebewegung in Deutschland in einer Reihe gründlicher Studien untersucht hat.55 Das Ergebnis dieser Studien ist eindeutig: Es gab je nach Maßgabe der in Wellen verlaufenden revolutionären Nachkriegskrise bis 1920 mehr oder minder starke Kräfte im Proletariat, die für eine vollständige Vergesellschaftung der Produktionsmittel und eine sozialistische Räteherrschaft eintraten. Aber diese Kräfte repräsentierten zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit oder kamen auch nur in die Nähe davon. Die Mehrheit der Rätebewegung verfolgte revolutionär-demokratische Ziele.

Dieses Ergebnis deckt sich mit der Feststellung, die bereits der erste Historiker der Novemberrevolution, Arthur Rosenberg, selber ein Zeitgenosse der Ereignisse und zeitweise KPD-Mitglied, getroffen hatte: „Ein ernster Wille, sozialistische Maßregeln durchzuführen, zeigte sich im Reich bei den revolutionären Massen eigentlich nirgends. Solche Absichten wären schon durch die Haltung der Soldaten verhindert worden, deren Mehrheit nicht sozialistisch war, entsprechend der politischen Zusammensetzung des deutschen Volkes.“56 Anders als in Russland kam es in Deutschland zu keinen spontanen Betriebsenteignungen durch revolutionäre Arbeiter, die durchgängig erhobenen Enteignungsforderungen beschränkten sich auf die große Industrie. Ein anderes Bild konnte lediglich dadurch entstehen, dass der Begriff des Sozialismus in dieser Zeit inflationär gebraucht wurde, um alles Mögliche damit zu bezeichnen. Real hatten Spartakus/KPD mit ihrem Sozialismusprogramm zu keinem Zeitpunkt nennenswerten Einfluss auf die Revolutionsbewegung.

Im größeren Zusammenhang betrachtet, stellte sich die spontane Massenbewegung die Aufgabe, die der gegebenen Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung entsprach, und das war die Durchführung einer bürgerlich-demokratischen Revolution, deren Hauptinhalt die Beseitigung des preußisch-deutschen Militär-und Obrigkeitsstaats mitsamt seinen gesellschaftlichen Wurzeln war, um ihn durch eine revolutionäre Demokratie zu ersetzen. Luxemburg war das zu wenig. Sie sorgte sich, dass „die proletarische Revolution um ihre sozialistischen Ziele“ betrogen und „zu einer bürgerlich-demokratischen Revolution“ gemacht werden könnte.57 Sie begriff nicht, dass das Proletariat nur unter Respektierung der demokratisch-revolutionären Primärziele der Revolution gegen die sich formierende Konterrevolution siegen konnte.

Die Konterrevolution

Zur Politik der (M)SPD-Führung bemerkte sie, dass diese mit Volldampf „die Restauration der früheren, vorrevolutionären Verhältnisse“ betreiben würde.58 Davon abgesehen, dass sie die vorrevolutionären Verhältnisse als bürgerlich verstand, traf ihre Feststellung zu. Die Sozialdemokratie hatte bereits unter Bebel davon Abstand genommen, bei einem künftigen Sieg die alte, preußisch-obrigkeitliche Staatsmaschinerie zu zerschlagen und eine neue aufzubauen. Ihre Führung zielte auf die Übernahme des vorhandenen Staats und dessen Weiterführung unter eigener Herrschaft. Letzteres sollte der Übergang zum Parlamentarismus sicherstellen, da aufgrund der Wahlergebnisse der Vorkriegszeit anzunehmen war, dass die SPD dauerhaft eine Mehrheit oder zumindest eine beherrschende Position im Reichstag erreichen würde.

Durch die Kriegsniederlage in den Besitz der Staatsmacht gelangt, ging die SPD-Spitze sofort daran, dieses Ziel umzusetzen, d.h. die Rätebewegung zu entmachten, alle Ansätze zur Errichtung einer neuen Staatsordnung rückgängig zu machen und den Beamtenapparat des Obrigkeitsstaats wieder in seine alten Rechte einzusetzen. In Fortsetzung des 1914-1918 eingegangenen Kriegsbündnisses vereinbarte der Parteivorsitzende Ebert so am 10. November mit der Obersten Heeresleitung die Zusammenarbeit zwecks „Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände“ (Ebert-Groener-Abkommen).

Wenige Tage später traf die Gewerkschaftsführung mit der Montanbourgeoisie eine Abmachung, die gegen einige soziale Zugeständnisse die Verstaatlichung der Schwerindustrie abwendete (Stinnes-Legien-Abkommen). Auf diese Weise bildete sich eine konterrevolutionäre Allianz des rechten Flügels der Arbeiterbewegung mit den bisherigen Hauptträgern der vorrevolutionären Verhältnisse, deren gemeinsames Ziel es war, hinter der Fassade der Republik die alte Ordnung wiederherzustellen, jetzt allerdings mit Sozialdemokraten an der Spitze (was von Junkern und Schwerindustrie von Beginn an nur als vorübergehende Notlösung betrachtet wurde).

Der Rätekongress und das Ende Luxemburgs

Vom 16.-21. Dezember 1918 tagte in Berlin der „Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands“, um über den weiteren Weg der Revolution zu beschließen. Da Polizei und Verwaltung paralysiert waren und das in der Demobilisierung begriffene Heer von Soldatenräten beherrscht wurde, stellte er zu dieser Zeit das unbestrittene Machtzentrum im Reich dar. Gemäß der Zahlenverhältnisse in den örtlichen Räten war die Mehrheit der gewählten Delegierten der MSPD zuzurechnen und eine starke Minderheit der USPD, dagegen war die Spartakusgruppe nur mit einer Handvoll Delegierter vertreten. Das Angebot, auf dem Kongress zu einem Nebenpunkt zu referieren, schlugen Liebknecht und Luxemburg aus und erhielten von der Versammlung kein gesondertes Rederecht.

Der Antrag, das Rätesystem zur Grundlage der künftigen Staatsordnung zu machen, bekam von den versammelten Rätevertretern weniger als ein Viertel der Stimmen, die große Mehrheit beschloss, am 19.Januar 1919 Wahlen zur Nationalversammlung abzuhalten und ein parlamentarisches System zu errichten. Aus diesem Grund feindete Luxemburg den Kongress als „williges Werkzeug der Gegenrevolution“ an.59 Sie wollte nicht wahrhaben, dass die von ihr als „Gefolgsleute Eberts“ abgetanen Räte jenseits des Eintretens für eine Nationalversammlung an zwei entscheidenden Punkten mit ihrer Parteiführung gebrochen hatten: sie hatten die sofortige Sozialisierung der Schwerindustrie und die vollständige Zertrümmerung des Militarismus beschlossen – beides gegen den Widerstand Eberts und seiner Gefolgsleute.

Die Durchsetzung des verabschiedeten Militärprogramms (Hamburger Punkte) hätte das Ende des junkerlich-preußischen Heeres bedeutet, das 70 Jahre zuvor die Märzrevolution niedergeschlagen hatte und jetzt daran ging, im Auftrag der (M)SPD-Führung dasselbe mit der Novemberrevolution zu tun. Griff man die Forderungen des Rätekongresses im Rahmen einer revolutionär-demokratischen Strategie auf, konnten sie als Hebel dienen, um die Anhänger der Sozialdemokratie von ihrer Führung zu lösen und die allerorten spontan entstandenen Arbeiterwehren zu bewaffneten Trägern der demokratischen Revolution gegen die sich formierende Konterrevolution zu machen.60 Doch im Rahmen einer Sozialismusstrategie gegen die Rätemehrheit bestand dafür keine Chance. Ob die Novemberrevolution unter anderen Bedingungen gesiegt hätte, steht in den Sternen. Ohne revolutionäre Partei und ein taugliches politisches Konzept war sie jedenfalls zum Scheitern verurteilt, und das hieß zugleich, dass die russische Oktoberrevolution auf sich alleine gestellt blieb und das russische Proletariat unter schwersten Bedingungen einen Weg zum Sozialismus finden musste.

Am 15. Januar 1919 zusammen mit Karl Liebknecht durch eine Freikorps-Soldateska unter Befehl der SPD-Führung ermordet, hatte Luxemburg keine Gelegenheit mehr, aus den in der Novemberrevolution gemachten Fehlern zu lernen. Deren Kern bestand darin, dass sie im Gefolge der 2. Internationale und der Bebel-SPD den ökonomischen Siegeszug des Kapitals mit der politischen Machteroberung durch die Bourgeoisie gleichsetzte und daher nicht erkannte, dass die anstehende Revolution demokratisch-bürgerlich sein würde, vom Proletariat angeführt werden musste und nur darüber der Weg zum Sozialismus frei wurde.

Die gemachten Fehler nicht einsehen, aus ihnen nicht lernen können“ – das war für Rosa Luxemburg der schlimmste aller Fehler. Wenn wir ihr Vermächtnis ernst nehmen wollen, müssen wir sie beim Wort nehmen und die Niederlagen der Vergangenheit von Grund an aufarbeiten.

Ein Nachtrag zur Luxemburg-Publizistik

Neben einer Fülle von Artikeln sind zum 100. Todestag Rosa Luxemburgs zwei Bücher erschienen, die aus unterschiedlichen Gründen erwähnenswert sind: eine Biographie von Ernst Piper: „Rosa Luxemburg. Ein Leben“ sowie von Michael Brie: „Rosa Luxemburg neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu ‚Freiheit für den Feind!‘ Demokratie und Sozialismus“.

Die Biographie von Piper gesellt sich zu den früher erschienenen Biographien von Nettl, Laschitza sowie Laschitza/ Radczun. Bemerkenswert an diesen Biographien, gleich ob sie von Marxisten oder Bürgerlichen verfasst sind, ist eine übergreifende Gemeinsamkeit: keine von ihnen beleuchtet Luxemburgs Wirken vor dem Hintergrund der Realgeschichte des Kaiserreichs. Von der gesellschaftlichen Entwicklung in Preußen-Deutschland, den großen politischen Konflikten und Brüchen erfahren wir in ihnen nichts bzw. nur das, was Luxemburg selber dazu geäußert hat. Ihre Imperialismustheorie wird dargestellt, ohne auf den Übergang des bürgerlichen Lagers zur Weltpolitik einzugehen und die Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen um Schlachtflottenbau, Zollpolitik und Steuerfragen aufzudecken. Wenn es um ihre Kritik an der Rolle des Militärs geht, lesen wir weder etwas über das grundbesitzende Junkertum noch über die Machtstellung des Militäradels gegenüber den bürgerlich-zivilen Kräften im Staat. Die Auseinandersetzung mit Bernsteins Revisionismus wird wiedergegeben, ohne die Schwäche und den beschränkten Einfluss dieses (bürgerlichen) SPD-Flügels zu benennen, so wenig wie umgekehrt Bebels Affinität zum „Junkerstaat“ benannt wird.

Auch Luxemburgs auffällige Zurückhaltung bei den Kanzlerwechseln von Bülow zu Bethmann Hollweg und von Bethmann zu Michaelis wird nicht aufgegriffen, um ihr politisches Denken näher zu beleuchten. Ebenso verhält es sich mit dem Weg in den Krieg, dem Krieg selber und Luxemburgs widerspruchsvollem Ringen um dessen Erklärung. Die genannten Publikationen verharren innerhalb der Schranken, in denen ihre Protagonistin selber gefangen war. Anstatt Luxemburgs Wirken einzubetten in den Fluss der Geschichte, werden ihre Grenzen zum Ghetto der biographischen Erzählung gemacht.

Anderen Charakter trägt das 2019 erschienene „hellblaue Bändchen“ von Michael Brie. Es ist von einem Marxisten mit dem Anspruch geschrieben, „ihr Wirken unter dem Gesichtspunkt der Strategiefindung und politischen Haltung“ zu behandeln (Vorwort), stellt sich also dieselbe Aufgabe wie der vorliegende Text. Aber was erwartet uns bei der Lektüre? Wir erfahren einiges über Luxemburgs Briefkorrespondenz und ihre menschliche Seite, über ihre Verbundenheit mit der Natur und ihr Leiden im Gefängnis. Doch zur Klassenstruktur des Kaiserreichs, auf die jede „Strategiefindung und politische Haltung“ eine Antwort finden musste, enthält das Werk nicht einen Satz. Der Autor philosophiert über das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus im allgemeinen, doch über das grundlegende strategische Problem einer Revolution im preußisch-deutschen Reich, sprich das Verhältnis von bürgerlicher zu sozialistischer Revolution, verliert er kein Wort.

Zu ihrem Revolutionsprogramm von Ende 1918 vermerkt er lobend: „Sprachliche Brillanz, analytische Schärfe, Radikalität des Denkens und ein großer Hoffnungshorizont bilden eine Einheit“.61 Nur welchen politischen Inhalt hatte dieses Programm? Davon erfahren wir nicht das Geringste. Dass die darin vertretene Sozialismusstrategie eine proletarische Minderheitenrevolution vorsah und keine Bündnisfrage kannte, sondern die Enteignung der Bauernschaft forderte, hält der Autor nicht für erwähnenswert. Was uns als Aufklärung über Luxemburgs „Wirken unter dem Gesichtspunkt der Strategiefindung und politischen Haltung“ versprochen wird, entpuppt sich Seite um Seite als schöngeistige Dampfplauderei über die „untrennbare Einheit von Freiheit und Gleichheit, von Selbstbestimmung und Solidarität, von Mitgefühl und eingreifender Tat“, als deren Höhepunkt der Autor als Luxemburgs angebliches Erbe die pastorale Aufgabenstellung verkündet, „auf menschliche Weise die Welt menschlicher zu machen.“62

Das Büchlein ist symptomatisch für einen rechten Flügel des Marxismus, der eine Luxemburg-Konferenz nach der anderen veranstaltet, aber zu ihren realen Irrtümern und Fehlern nichts zu sagen hat, sondern seine Aufgabe darin sieht, sie als überzeugte Revolutionärin, die sich der Sache des Proletariats mit Leib und Seele verschrieben hat, zu entsorgen, um sie als Menschheitsbeglückerin wiederauferstehen zu lassen.

Literatur:

Baden, Max von: Erinnerungen und Dokumente; DVA: Stuttgart-Berlin-Leipzig 1928
Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie; rororo: Reinbek b.Hamburg 1969
Bley, Helmut: Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904-1913; Offizin-Verlag: Hannover 2014
Brie, Michael: Rosa Luxemburg neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu „Freiheit für den Feind! Demokratie und Sozialismus“, VSA, Hamburg 2019
Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs; Ullstein: Frankfurt/M-Berlin-Wien 1973
Karuscheit, Heiner: Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg; VSA: Hamburg 2014
Karuscheit, Heiner: Die verlorene Demokratie. Der Krieg und die Republik von Weimar; VSA: Hamburg 2017
Karuscheit, Heiner / Sauer, Bernhard / Wernecke, Klaus: Vom Kriegssozialismus zur Novemberrevolution; VSA: Hamburg 2018
Klönne, Arno: Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte, Ziele, Wirkungen; dtv: München 1989
Kolb, Eberhard und Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundrisse der Geschichte, Band 16): München 2013
Laschitza, Annelies: Im Lebensrausch, trotz alledem. Eine Biographie; Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 2000
Laschitza, Annelies und Radczun, Günter: Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung; Dietz-Verlag; Berlin (Ost) 1971
Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke Verlag: Berlin(Ost) 1972 ff; im Internet: www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg; oder: www.mlwerke.de/lu/default.htm
Nettl, Peter: Rosa Luxemburg; Büchergilde Gutenberg: Ffm-Wien-Zürich 1970
Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie; Europa-Verlag: München 2017
Piper, Ernst: Rosa Luxemburg. Ein Leben; Blessing Verlag, München 2018
Revolutionäre deutsche Parteiprogramme. Vom Kommunistischen Manifest bis zum Programm des Sozialismus, hrsg. und eingeleitet von Lothar Berthold und Ernst Diehl; Dietz-Verlag: Berlin (Ost) 1967
Rosenberg, Arthur: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik (Teil 1 und 2 in einem Band), Frankfurt/M.1983
Wette, Wolfram: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur; Fischer: Frankfurt/M 2008
Zilkenat, Reiner (Hrsg): „… alle Macht den Räten!“ Die deutsche Revolution 1918/19 und ihre Räte; edition bodoni, 2018

Anmerkungen

1 Sozialdemokratie und Parlamentarismus, 1904; GW 1/2, S.449
2 Der preußische Wahlrechtskampf, 1910; GW 2, S.317; s.a. GW 3, S.147
3 Die künftige Revanche, Januar 1914; GW 3, S.376
4 Sozialreform oder Revolution, 1899;GW I/1, S. 392, 395
5 Die künftige Revanche; GW 3, S.379
6 Sozialdemokratie und Parlamentarismus, 1904; GW 1/2,S.450, sowie Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906; GW Bd 2, S.152
7 hierzu Groh 1973
8 Karuscheit 2014, S.53ff; Zitat S.60
9 Sozialreform oder Revolution; GW 1/1, S. 424)
10 Karuscheit 2014, S.24-40, 90-121
11 Sozialreform oder Revolution; GW 1/1, S. 424
12 Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906; GW 2, S.153; Hervorhebung im Original
13 Bernstein: Probleme des Sozialismus, zitiert in: Brie, S. 62 = www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1896/xx/utopismus.html
14 Bernstein 1969, S. 11
15 Bernstein 1969, S.196
16 GW 1/1, S.400
17 Karuscheit: Die SPD und der „Junkerstaat“, in: Karuscheit u.a. 2018; www.kommunistische-debatte.de, Rubrik „Novemberrevolution und Weimarer Republik“
18 Protokoll des SPD-Parteitags 1910, S. 250
19 Die russische Revolution, 1906; GW 2, S.9
20 Die Theorie und die Praxis, 1909/10; GW 2, S.401
21 Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906; GW 2, S.147
22 Die 1884 verabschiedete „Heidelberger Erklärung“ der Nationalliberalen dokumentierte diesen Umschwung. Darin erklärte die Führungspartei der Bourgeoisie den Verzicht auf weitere Schritte zur Parlamentarisierung und den Willen zur unbedingten Zusammenarbeit mit Bismarck, um „den Gefahren der Revolution“ zu begegnen (Karuscheit 2014, S.113f).
23 Lenin: Zur Einschätzung der russischen Revolution, April 1908; LW 15, S.45ff
24 Alfred Schröder: Der russische Oktober – die Geburtsstunde der kommunistischen Bewegung; in: AzD 67/1999, S.8f
25 Zitate in: Wette 2008, S.80
26 Die weltpolitische Lage, 27.Mai 1913; GW 3, S.214
27 Zeit der Aussaat, März 1910; GW 2, S.300ff
28 Laschitza / Radczun, S.214ff
29 Laschitza, S.334ff
30 Die Theorie und die Praxis, 1910; GW 2, S.378ff; Die totgeschwiegene Wahlrechtsdebatte, 1910; GW 2, S.437ff
31 Nach dem Jenaer Parteitag, 1913; GW 3, S. 345, 351ff
32 Die Theorie und die Praxis, 1910; GW 2, S.419
33 Wieder Masse und Führer, 1911; GW 3, S.42
34 Karuscheit 2014, S.179ff
35 Luxemburg meinte – gegen Marx, dass der zur Akkumulation erforderliche Teil des Mehrwerts nur im Austausch mit nichtkapitalistischen Formationen realisiert werden könne. Weil der nichtkapitalistische Teil der Erde jedoch immer kleiner wurde, schlussfolgerte sie, dass wegen der Konkurrenz der kapitalistischen Länder die Wahrscheinlichkeit imperialistischer Kriege um „die Reste des … nichtkapitalistischen Weltmilieus“ immer größer werden würde (GW 5, S.364, 391).
36 hierzu Karuscheit: Bebel als Vaterlandsverteidiger; in: AzD 88/2018, S.23-33; www.kommunistische debatte.de, Rubrik „Beiträge zum ersten Weltkrieg“
37 abgedruckt in: Bley S.272f
38 Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage, Juli 1913; GW 3, S.267ff
39 Die Krise der Sozialdemokratie = Junius-Broschüre, verfasst April 1915 und erstmals veröffentlicht im Januar 1916; GW 4, S.153
40 Junius-Broschüre; GW 4, S.51, 83
41 Karuscheit 2014, S.25ff
42 GW 4, S.135; Hervorhebung von mir, HK
43 Was will der Spartakusbund, Dezember 1918; GW 4, S.442
44 Klönne, S.136
45 Die Erinnerungen des vorletzten Kanzlers des Kaiserreichs (Prinz Max von Baden) enthalten den Bericht über ein Zusammentreffen zwischen den Spitzen von SPD und Gewerkschaften mit Groener am 6.November 1918. Gegenstand war die Frage, wie die beginnende Revolution durch eine Abdankung des Kaisers noch verhindert und die Monarchie gerettet werden könne: „Gegen Mittag kamen, wie verabredet, die sozialdemokratischen Parteiführer und Gewerkschaftler in die Reichskanzlei, um sich mit dem General Groener auszusprechen: Scheidemann, Bauer, Legien, Robert Schmidt, David, Südekum, Ebert waren erschienen (…) Vom ersten Augenblick … war das alte Vertrauen da. Es war, als wollten die Herren sagen: Wir, die Arbeiterführer und der General, haben schon einmal im Interesse unseres Landes unsere Bundesgenossenschaft bewährt. Wir sind gekommen, um sie in dieser Stunde zu erneuern.“ (Baden, S.591)
Der Begriff der „Bundesgenossenschaft“ beschreibt treffend das Kriegsbündnis zwischen Sozialdemokratie und Militäradel, das zwecks gemeinsamer Abwehr der Revolution durch den Ebert-Groener-Pakt vom 10.November seine Fortsetzung fand.

46 Hierzu Karuscheit 2017, S. 50ff
47 Die Lehre des 24.März, April 1916; GW 4, S.184f
48 Was will der Spartakusbund? GW 4, S.442
49 GW 4, S.442ff = Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, S.107ff
50 GW 4, S.510
51 Gerhard Engel: Linksliberalismus in der deutschen Rätebewegung 1918/19; in: Zilkenat, S.96
52 A.Schröder: Der russische Oktober – die Geburtsstunde der kommunistischen Bewegung; in AzD 67/1999, S.9
53 Oktoberprogramm der Spartakusgruppe; in: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, S.101
54 Niess, S. 166
55 Überblick in: Kolb/Schumann, S.170ff
56 Rosenberg 1, S. 239
57 Die Nationalversammlung, 20.November 1918; GW 4, S.409
58 Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD; GW 4, S.502
59 Eberts Mamelucken, Rote Fahne vom 20.12.1918; GW 4, S.467
60 In Russland legte das Zentrale Exekutivkomitee des Sowjets der soeben gewählten Konstituierenden Versammlung bei deren Zusammentreten im Januar 1918 die entscheidenden Beschlüsse des II. Sowjetkongresses zur Abstimmung vor. Als die Versammlung sich weigerte, diese Beschlüsse als Grundlage ihrer Arbeit anzuerkennen, unterbanden Truppen des Sowjets das weitere Zusammentreten der Konstituante. Nachdem sie sich durch ihre eigene Entscheidung von den Massen der Bauern und Arbeiter isoliert hatte, rief ihre Auflösung keine nennenswerten Proteste hervor.
In Deutschland konnte die KPD die Nationalversammlung nicht einmal als Propagandatribüne nutzen, um für die Sache der Revolution einzutreten, weil sie aufgrund des vom Gründungsparteitag beschlossenen Wahlboykotts über keinen einzigen Abgeordneten verfügte.

61 Brie, S.142
62 Ebd S 17, 12