„Was ist jede Krankheit als
in seiner Freiheit gehemmtes Leben.“ (Karl Marx, 1842)
Fritz Gött
Anmerkungen zum amtlichen Bericht „Sicherheit und Gesundheit
am Arbeitsplatz“ 2018
Kann es einen Zusammenhang zwischen Lebenslage, Arbeit, Gesellschaftsordnung, psychischer Gesundheit und Krankheit geben? Können sich die Umstände gar in der Krankheitsstatistik oder in der Mortalität wiederfinden? Steigt die Rate psychischer Erkrankungen im Kapitalismus an? Oder stagniert sie in Deutschland? Solche Diskussionen fanden bereits in der Vergangenheit statt (1), sie werden auch heute geführt (2) – natürlich von unterschiedlichen Positionen aus und mit divergierenden Ergebnissen. Denn das wissenschaftliche Feld der Debatte ist politisch vermint und weltanschaulich bunt. Dem Einen mögen die Zahlen körperlicher und psychischer Gebrechen lediglich ein gesellschaftliches Ärgernis oder persönliches Ereignis sein oder eben schlicht Schicksal, den Anderen mutet ihre Häufung als Ausgeburt der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft an. Dazwischen steht der Arzt oder Therapeut mit seiner Zuwendung zum Kranken, zum Leidenden. Mal neutral, mal realistisch, mal parteiisch, und gegebenenfalls auch ideologisch.
Nicht jeder ist bereit, den gesellschaftlichen Realitäten ins Auge zu blicken
Ein Beispiel von gesellschaftlicher Realitätsverklärung fand ich in einem älteren Beitrag der Zeitschrift die „Zeit“ aus dem Jahre 2015 (3). Hier erklärten 2 Psychologen ihre Weltsicht auf die Datenlage bei Depression oder Burn-out. Nicht dass diese Autoren weltfremd wären …. Doch die steigende Anzahl ärztlicher oder therapeutischer Diagnosen zu Depression oder das Burn-out (welches sie gar als „Modediagnose“ titulieren) bereitete ihnen Bauchschmerzen und reizte sie zum politischen Widerspruch, ganz im Sinne des liberalen Mainstreams. Nein es sei ganz anders: „Wissenschaftliche Untersuchungen, mit denen die Verbreitung von Krankheiten ermittelt wird, sogenannte epidemiologische Studien, zeigen zwischen 1947 und 2012 keinen Anstieg von Depressionen und anderen psychischen Störungen. Es gibt keine konsistenten Belege dafür, dass diese Erkrankungen zugenommen hätten.“ Und die steigenden Diagnosen? „Die ärztliche Praxis hat sich … verändert, aber nicht die Gesundheit der Menschen.“ So ihr Tenor. Auch lehnten die Autoren die These „vom psychisch zunehmend überfordernden Kapitalismus“ ab.
Was die Autoren des Artikels störte, war die Zahl, Art und Begründung der psychiatrischen Diagnosen ihrer Kollegen und die linke Verkoppelung mit der kapitalistischen Wirklichkeit. Sie wünschten die Diagnosen und die Betrachtung zu individualisieren. Sozialpsychologie interessiert nicht; Kapitalismuskritik: um Gottes Willen. Bei ihnen scheitern einzelne Menschen vor den Herausforderungen des Lebens. Eben nicht alle – was ja auch stimmt. Differenzialdiagnose würde ich da fordern. Zudem wandele sich die Arbeitswelt in Technik und Produktions-Organisation ständig, da sei eben Flexibilität des Einzelnen gefordert und auch mit etwas Willen erwerbbar. Die Chancen des Wandels würden die Risiken überwiegen … – Um nun Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass meine nun folgenden kritischen Anmerkungen nicht behaupten, dass jede psychische Krankheit oder individuelle Erkrankung auf exogenen Faktoren fußt oder auf reaktive Art entsteht. Endogene Faktoren sowie die menschliche Psyche im Geschehen werden von mir nicht ausgeschlossen. Nur wenn ein Phänomen wie das Burn-out oder die Depression im Kontext der sich stetig verändernden Arbeits- und Lebenswelt massenhaft auftritt, sollte man da nicht wenigstens an die Möglichkeit gesellschaftlich bedingter oder vermittelter Erkrankungen denken und auf gesellschaftliche Lösungen sinnen? Dagegen aber sperren sich die angesprochenen Autoren eigentlich. Sie stehen für mich für eine verbreitete Denkweise im Bürgertum. Die Autoren werden nur deshalb hier angeführt.
Lassen wir es also bei der Vorstellung solcher Ansichten bewenden. – Zudem: Die momentane Datenlage lässt die Klärung der Frage eh nicht zu, ob der Kapitalismus in Deutschland die psychischen Probleme seiner Unterworfenen ständig verschärft oder die Formen seiner Lasten entsprechend seiner Bewegung nur beständig umschichtet. Für eine Beurteilung solcher Fragen ist der beobachtete Zeitraum nach 1945 zu kurz und die statistischen/methodischen Probleme bei der Erfassung der Wirklichkeit einstweilen zu gravierend (worauf auch die oben zitierten Autoren selber hinweisen). Dass der Kapitalismus jedoch ruinös auf die Gesundheit der arbeitenden Klassen einwirkt, steht für mich fest.
Begnügen wir uns im Weiteren mit Betrachtungen zur Jetztzeit, anhand öffentlicher Zahlen und Berichte.
Die aktuellen Rapporte 2018/19
2018 veröffentlichte die Bundeanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ihren Bericht „Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz“, den das Bundeskabinett billigte. Zu den Ergebnissen heißt es in der FAZ: „Psychische Erkrankungen wie ein Burn-out oder eine Depression sind inzwischen der zweithäufigste Grund, warum Arbeitnehmer von einem Arzt krankgeschrieben werden. Die Statistiker errechnen daraus Produktionsausfälle im Wert von 12,2 Milliarden Euro im Jahr. Auf dem unrühmlichen ersten Platz der arbeitsbedingten Erkrankungen stehen unverändert Probleme an den Muskeln oder am Skelett (vor allem Rückenleiden). Geht es nicht nur um vorübergehende Fehltage, sondern um die Erwerbsfähigkeit insgesamt, fallen die Zahlen noch alarmierender aus. Dem Bericht zufolge mussten sich im vergangenen Jahr 71.300 Menschen wegen psychischer Probleme erwerbsunfähig melden und in Rente gehen. Seelische Leiden sind damit mit Abstand die häufigste Ursache für eine verminderte oder verlorene Erwerbsfähigkeit. Sie kommen deutlich öfter vor als Renteneintritte wegen eines Tumors (21 600 Fälle) oder einer Erkrankung des Muskel-Skelett-Systems (21 400). /
„Mittlerweile ist unstrittig, dass psychische Belastungen mit dem Wandel der Arbeitswelt zunehmen“, heißt es in der Studie. Die Ursachen für eine psychische Erkrankung seien vielfältig, mit teils komplexen Wechselwirkungen. Jenseits der arbeitsbedingten psychischen Belastungen spielten auch die persönliche Veranlagung und private Schwierigkeiten eine Rolle. Unzweifelhaft aber würden auch die steigenden arbeitsbedingten Belastungen „zur Zunahme psychischer Störungen, aber auch zu Muskel-Skelett-Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit teilweise langer Krankheitsdauer beitragen“. / Die Gründe für die häufigen Krankschreibungen sind kaum überraschend. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin nennt unter anderem zu viel Arbeit, die in zu kurzer Zeit erledigt werden soll. Zu den belastenden Faktoren zählen ferner lange Arbeitszeiten, Schichtarbeit, flexible bis nicht-vorhersehbare Arbeitszeiten, unzureichende Möglichkeiten zur Erholung und eine „inadäquate Pausengestaltung“. Hinzu kommen jene Faktoren, die so gut wie allen Arbeitnehmern bekannt sein dürften: Termindruck, Multitasking und häufige Unterbrechungen. Negativ aufs Gemüt schlagen vielen Menschen auch dienstliche Mails und Anrufe in der Freizeit. Konkret gibt jeder vierte Beschäftigte an, dass von ihm erwartet werde, auch in der Freizeit für die Arbeit erreichbar zu sein. Zumindest die Studienautoren können sich vorstellen, dies radikal zu unterbinden: „Jede Inanspruchnahme nach Feierabend stellt eine Unterbrechung der täglichen Ruhezeit dar und muss zu einer erneuten Gewährung der vollständigen Ruhezeit von elf Stunden bis zum nächsten Arbeitseinsatz führen.“ Mit konkreten Empfehlungen hält sich die Studie ansonsten zurück oder rettet sich in Allgemeinplätze. So raten die Autoren zu einer vorausschauenden Personalplanung und einer systematischen Förderung der Mitarbeiter. Empfohlen wird auch, den Arbeitsplatz ergonomisch zu gestalten.“ (4)
Zeitlich nachfolgende eigenständige Untersuchungen der Krankenkassen TK (5) und der DAK (6a/b) haben zur obigen Erhebung keine wirklich abweichenden Befunde erbracht. Zwar variieren die Krankheitszahlen leicht je nach Erfassungsjahr oder der jeweiligen Klientel der Kassen. In der Tendenz stimmen die Prognosen jedoch mit den amtlichen Befunden überein.
Weitere Daten lassen sich auch aus einer Abfrage der „Linken“ bei der Bundesregierung ziehen (7). Hier heißt es: „Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich in den vergangenen 10 Jahren mehr als verdoppelt. Sie stieg von rund 48 Millionen im Jahr 2007 auf 107 Millionen im Jahr 2017, … Die daraus entstehenden wirtschaftlichen Ausfallkosten stiegen demnach im selben Zeitraum von 12,4 auf 33,9 Milliarden Euro. … Laut (Bundesarbeits-) Ministerium stieg zwischen 2007 und 2017 auch die Zahl der Renteneintritte wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Störungen von rund 53.900 auf mehr als 71.300. Dies bedeutet ein Plus von 32,3 Prozent. Während der Anteil der Rentenzugänge aufgrund psychischer Störung an allen Rentenzugängen im Jahre 2007 noch bei 33,4 Prozent lag, stieg er 2017 auf 43 Prozent. Im Vergleich zu 1997 mit einem Anteil von 20,7 Prozent ist dem Arbeitsministerium zufolge bis 2017 sogar mehr als eine Verdoppelung zu verzeichnen.“ Über das Leid hinter den Zahlen erfahren wir nichts.
Eigentlich müssten an dieser Stelle weitere Kapitel zum Thema „Psychische Erkrankungen“ folgen. So zur Frage: wie vollständig ist der „Anteil der Beschäftigten, für die bis 2015 eine Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung“ durch den Staat erhoben wurde? Wie ist das mit der regionalen Verteilung der Fallzahlen, wie mit den Unterschieden bei den Geschlechtern, welche Gewerke sind dabei besonders betroffen? Oder welche Kontroversen werden zur Interpretation der Daten zwischen den Interessensgruppen ausgetragen usw.? Doch ist dies im Rahmen eines Kurzartikels nicht machbar.
„Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.“ (Volksweisheit)
In den oben zitierten Berichten und in ihrer Reflexion gibt es auch einzelne ‚Schlussfolgerungen‘ aus der Politik. Ihre Intentionen und ausgesprochenen Dürftigkeiten lassen nichts wirklich Bewegendes erwarten:
* Beunruhigt durch den gestiegenen Arbeitsstress und wuchernde prekäre Arbeitsverhältnisse fordern die deutschen Gewerkschaften seit Längerem eine gesetzliche „Anti-Stress-Verordnung“. Dazu haben z.B. IG. Metall oder ver. di lesenswerte Studien zur „Guten Arbeit“ geliefert. Öffentlichkeitswirksam ist auch der jährlich erhobene „Gute Arbeit Index“, der auf einer Befragung kleiner Arbeitnehmer-Gruppen zur Lebenssituation fußt. Doch vermisst man in der gewerkschaftlichen Arbeit die Aufklärung der Bevölkerung und eine politische Mobilisierung ihrer eigenen Basis zur Durchsetzung gesunder Lebens- und Arbeitsverhältnisse.
* „Die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte im Bundestag, Beate Müller-Gemmeke, forderte, dass die Regierung etwas gegen die psychischen Belastungen tun müsse. Sie verlangte eine Verordnung, die konkretisiert, wie Arbeitgeber und Betriebsräte gemeinsame Lösungen gegen ‚jede Form von Stress‘ entwickeln können. Zudem muss endlich Schluss sein mit prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen“, forderte sie.“ Und weiter: „Die Beschäftigten brauchen soziale Sicherheit und Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen.“ (8) Warme Worte. Nur, wo sind die entsprechenden Gesetzesinitiativen ihrer Grünen Partei? Unverbindliche Worte helfen nicht.
* Trotz der hohen Zahlen an psychischen Erkrankungen (2019) sieht das Arbeitsministerium erklärtermaßen keinen Handlungsbedarf. So schreibt die Presse: „Die Bundesregierung sieht bei der Bekämpfung der Stressfaktoren in erster Linie die Arbeitgeber in der Pflicht: Gegen psychische Belastungen würden keine neuen Arbeitsschutzregeln helfen, erklärte das (Arbeits- d.V.) Ministerium. Ziel müsse es vielmehr sein, Betriebe und Beschäftigte zu befähigen, das vorhandene Arbeitsschutzinstrumentarium zu nutzen, um Gesundheitsrisiken durch psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen und zu verhindern.“ (9) Also fast alles in Butter. Zudem, den Bock, das Kapital, zum Gärtner zu küren, ist eine reife ideologische Leistung. Hat das Kapital nicht den ‚Acker des Lebens‘ seit altersher bearbeitet (siehe oben) und die Verwüstungen selber angerichtet? Es kennt doch nur den Profit als Lebensziel. Rücksicht gegen das Leben muss man ihm abtrotzen, auch durch scharfe Zwangsgesetze des Staates. Das Heil vom Kapital zu erwarten, ist ein Schmarren.
* Und was tut sich nun bei der Partei die „Linke“? Man ist fleißig mit Abfragen zur Lage bei der Bundesregierung. Und natürlich muss alles besser werden. Doch, was nun?
Letztlich, so meine Meinung, muss man das Aufbegehren der „Mühseligen und Beladenen“ gegen die kapitalistische Wirklichkeit erst noch vorbereiten und munitionieren. Ohne Aufklärung und politische Propaganda für die Tat (auch durch uns) geht es nicht.
Quellen, Anmerkungen und Literaturangaben
1 ) Zu denken ist hier z.B. an klassische Arbeiten wie „Die Lage der Arbeitenden Klassen in England“ von Friedrich Engels, 1845; das „Kapital“ von Karl Marx; oder die medizinsoziologischen Arbeiten: Alfred Grotjahn: Soziale Pathologie. Berlin,1923; Christian Astrup: Nervöse Erkrankungen und soziale Verhältnisse. Berlin, 1956; Manfred Pflanz: Sozialer Wandel und Krankheit. Stuttgart, 1962; usw.
2 ) Siehe z.B.: B.Wiebel/A.Pilenko/G.Nintemann (Hrsg.): Mechanismen psychosozialer Zerstörung. Neoliberales Herrschaftsdenken, Stressfaktoren der Prekarität, Widerstand. Hamburg: VSA, 2011. / W. Storz: Mode oder Aufschrei. Viele belächeln das Ausgebranntsein als Managerkrankheit. Doch die Erschöpfung bedroht die Demokratie. in: taz, 5. Dez. 2013, S. 22
3 ) M. Dornes u. M. Altmeyer: Macht der Kapitalismus depressiv? Nein. Die gängige Sozialkritik ignoriert die empirischen Befunde. in: Die Zeit, Nr. 2, 8. Jan. 2015, S. 27
4 ) schä.: 100 Millionen Fehltage wegen psychischer Leiden. Immer mehr Arbeitnehmer erkranken an Depression / Mediziner warnen vor zu viel Druck und Multitasking. in: FAZ, 13. Dez. 2018, S. 17
5 ) ami.: Krankenstand 2018 auf neuem Rekordhoch. in: FAZ, 20. April 2018, S. 22
6 ) a/ dpa-AFX.: Weniger Fehltage durch psychische Krankheiten. In: FAZ, 29.Jan. 2019, S. 17. – b/ bee.: Viel mehr Fehltage wegen psychischer Erkrankungen. Psychotherapeuten: Wartezeiten für einen Termin zu lang. In: FAZ, 26. Juli 2019, S. 19
7 ) epd.: Immer mehr Fehltage wegen psychischer Erkrankungen. Vor allem Männer zwischen 60 und 65 Jahren sind betroffen / Bundesregierung sieht Unternehmer in der Pflicht. In: GN, 27. März 2019, S. 7
8 ) Beate Müller-Gemmeke, zitiert bei Konstantin Stumpe: Zahl der Fehltage wegen kranker Psyche verdoppelt. Analyse So könnte der wirtschaftliche Schaden von 12,2 Milliarden Euro verhindert werden. in: GN, 13. Dez. 2018, S.2
9 ) ebd.: S. 7