Alfred Schröder
Kritische Rückschau auf weitere Publikationen (Teil 3)
Vorbemerkung: Kein neueres Thema als alte Revolutionen?
Von den letzten acht Nummern dieser Zeitschrift widmeten sich sieben Ausgaben schwerpunktmäßig der russischen bzw. der deutschen Revolution vor einem Jahrhundert. Und die entsprechenden Artikel beinhalten durchgängig eine kritische Auseinandersetzung mit linken – aber auch bürgerlichen – Publikationen. Anders die Mehrzahl der linken Autoren. Sie haben sich inzwischen von der Beschäftigung mit den Revolutionsereignissen der Vergangenheit abgewandt. Für sie sind „aktuellere Fragen“ wie die ökologische Krise, Elektromobilität oder Co²-Abgaben1 im gegebenen Moment bedeutsamer, als alte oder gescheiterte Revolution des vorherigen Jahrhunderts erneut zu hinterfragen. Sie gehen davon aus, mit einer oder zwei Veröffentlichungen, mit dem abzuarbeitenden „Nachruf“ auf die Revolutionen, ihrer Pflicht zur Aufarbeitung der historischen Ereignisse nachgekommen zu sein. Bis zum nächsten Jahrestag (aktuell 30. Jahrestag des Endes der DDR)2 muss das reichen.
Dies wird von einigen Autoren dieser Zeitschrift nicht so gesehen. Und das aus gutem Grund. Vor 20 Jahren – in der Nummer 67 der AzD – hieß es: „Theorie und Politik der Kommunisten im 20. Jahrhundert hatten ihren Ursprung in der russischen Oktoberrevolution. Die siegreiche Revolution von 1917 war die faktische Geburtsstunde der kommunistischen Bewegung im Westen Europas. Mit dem russischen Oktober wird der Leninismus, wird der russische Bolschewismus zu einer in ganz Europa wirksamen Theorie und Politik des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung; der russische Oktoberumsturz wird zum Katalysator der Gründung kommunistischer Parteien im Westen Europas. Diese Parteien blickten alle nach Osten, zur ersten siegreichen proletarischen Revolution im 20. Jahrhundert. Mit der Gründung der III. Internationale gewinnt diese auf der siegreichen Oktoberrevolution fußende theoretisch-politische Hegemonie der russischen Kommunisten über die europäische Arbeiterbewegung organisatorische Gestalt. Heute, nach den unübersehbaren Niederlagen, müssen wir deshalb den Blick ebenfalls nach Osten und erneut auf den russischen Oktober richten, um zu verstehen, auf welchen gesellschaftlichen, auf welchen theoretischen und politischen Positionen die Gründung der kommunistischen Bewegung erfolgte.
Ende 1997 jährte sich zum 80. Male der Jahrestag der Oktoberrevolution. Die Linke begleitete den Jahrestag mit Nachrufen, nicht mit Analysen. Die entscheidende Frage, warum der Marxismus-Leninismus und die kommunistischen Gruppierungen in ihrer heutigen theoretischen und politischen Gestalt keinen Bezugspunkt mehr für die Arbeiterklasse der industriell entwickelten Länder und die revolutionären Bewegungen der dritten Welt bilden, wurde gar nicht aufgeworfen.
Für Europa liegt die Antwort offen zutage: Der Marxismus-Leninismus war eine Theorie der Niederlagen der Arbeiterbewegung in Westeuropa. Alle Revolutionen des europäischen Proletariats in diesem Jahrhundert scheiterten – außer der russischen -, und mit ihnen scheiterten notwendig die politischen Bewegungen (die Kommunisten) und theoretischen Begründungen (der Marxismus-Leninismus der Komintern und des osteuropäischen Sozialismus). Der Zerfall der Sowjetunion und das Ende der DDR haben dieses Kapitel politisch abgeschlossen, theoretisch aufgearbeitet ist es noch nicht.
Die Geschichte der marxistischen Theorie und Politik des 20. Jahrhunderts muss neu geschrieben werden. Die Oktoberrevolution, ihre theoretische Begründung und die von ihr abgeleitete politische Orientierung bilden dabei einen zentralen Punkt. Die Aufgabe der Revolutionäre und speziell der deutschen Kommunisten muss darin bestehen, eine wissenschaftliche Erklärung der Niederlagen der europäischen Arbeiterbewegung herauszuarbeiten …“
I. Marxismusverständnis der Linken
Hat sich an dieser Aufgabenstellung für jene Kräfte, die sich Kommunisten nennen, die sich auf den russischen Oktober als Geburtsstunde einer neuen politischen Strömung berufen, etwas geändert? Kann der zitierte Satz: „Der Marxismus-Leninismus war eine Theorie der Niederlagen der Arbeiterbewegung in Westeuropa“ inzwischen näher erklärt oder muss er verworfen werden? Kann der Begriff des „Marxismus-Leninismus“ nach den inzwischen verstrichenen 20 Jahren genauer gefasst, politisch und theoretisch definiert werden? Und wie kann der Niedergang der kommunistischen Parteien aus den Bewegungen der Gesellschaftsschichten, aus den Klassenkämpfen des vergangenen Jahrhunderts erklärt werden? Bis auf die in der AzD veröffentlichten Positionen zu diesen Themen, gab es in der Linken weiterhin keine Fortschritte bei der Behandlung dieser Fragen.
Die mangelnde Konfliktfähigkeit der Linken …
Die Veröffentlichungen der Mehrzahl der linken Autoren zum Zentenarium der russischen und der deutschen Revolution – und hier insbesondere die der Zeitschrift Z und ihres publizistisches Umfelds – haben sich der oben genannten Aufgabenstellung erst gar nicht gestellt. Sie haben sich weder mit der bürgerlichen Publizistik und deren Kritik an der russischen wie auch der deutschen Revolution auseinandergesetzt noch die Debatte untereinander – in der Linken selbst – gesucht. Die einzelnen Veröffentlichungen und „Nachrufe“ auf die Revolutionen der Vergangenheit wurden höflich gegenseitig rezensiert, man versicherte sich „kenntnisreich, kritisch und ausgewogen“3 publiziert zu haben und dabei jede neue Interpretation der historischen Ereignisse tunlichst gemieden zu haben. Die Ausführungen des „Kurzen Lehrgangs“ (Geschichte der KPDSU/B) wurden – falls erwähnt – verdammt, als Interpretation der Ereignisgeschichte aber ebenso durchgängig übernommen, da man keine „neue Geschichte“ zu erzählen vermochte.4 Der Erkenntnisgewinn solcher Veröffentlichungen ist adäquat ihrer Diskussionsfreudigkeit gleich null.
Die Missachtung, die die bürgerliche Wissenschaft und Presse gegenüber der heutigen Gestalt des Marxismus an den Tag legt, ihr Desinteresse an der Behandlung historischer Fragen durch die deutsche Linke, ist in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Helmut Altrichter warf hierzu bereits in seinem 1997 erschienen Buch zur russischen Gesellschaft und Revolution die bezeichnende Frage auf, ob es „überzeugte Marxisten“ auf diesem Gebiet der Geschichtswissenschaft überhaupt noch gäbe („wenn es sie noch gibt“).5 Die Mut- und Argumentationslosigkeit der Linken gegenüber der bürgerlichen Kritik am russischen Oktober oder dem deutschen November ist Ausdruck der Unfähigkeit, dieser Kritik entgegenzutreten.6 Wir haben diesen Vorwurf in den letzten Nummern dieser Zeitschrift wiederholt thematisiert. Im Folgenden wollen wir diese Kritik weiterführen und das „Marxismusverständnis“ der heutigen Linken ins Zentrum stellen.
… und ihr Marxismusverständnis
Die mangelnde „theoretische Konfliktfähigkeit“ hat eine ihrer Ursachen – wie ich meine, sogar die zentrale Ursache – im Marxismusverständnis der Linken: Ihr Ansatz, die Geschichte nicht als eine Geschichte von konkreten Klassen und ihren Auseinandersetzungen in einem ebenso konkret zu bestimmenden gesellschaftlichen Umfeld zu untersuchen, sondern zu neuen Erkenntnissen aus einer anderen Interpretation der „Klassiker“ zu gelangen, ist ebenso albern wie der Versuch, die Entstehung der Welt aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel herzuleiten. Neue Erkenntnisse sind nur aus der Analyse der gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit der behandelten Zeitepoche zu gewinnen und nicht aus einer „Neuauslegung der Schrift“. Umgekehrt müssen die Schriften der „Klassiker“ vielmehr im Kontext ihres historischen Umfelds und des damals gegebenen Wissens- und Forschungsstandes der Autoren gelesen werden. Mit dem geschilderten Herantreten der Linken an Politik und Geschichte, mit ihren Versuchen, dieselbe aus den Schriften der „Klassiker“ neu zu interpretieren, anstatt sie neu zu untersuchen, kann man kaum einen tauglichen Gedanken entwickeln und ebenso wenig der bürgerlichen Kritik entgegentreten, die für Neuinterpretation von längst widerlegten Positionen – mit Recht – wenig Interesse zeigt.
Machen wir den Vorwurf konkret. Bei der Geschichtsschreibung der Linken haben wir es im Regelfall nicht mit einer konkreten Bourgeoisie – beispielsweise der russischen – zu tun, die in ihrer historischen Gestalt sowohl nach bürgerlicher wie nach leninistischer Sicht unfähig war, die politische Macht in Russland zu ergreifen oder zu behaupten7; sondern mit der Bourgeoisie als solcher, der Bourgeoisie sans phrase, die nach vorgegebener marxistischer Sicht unweigerlich in der „bürgerlichen Revolution“ von Februar 1917 die Macht ergreifen musste und diese Macht in fast allen Veröffentlichungen zum Thema auch erhält, mit einer – dafür aber entscheidenden – Ausnahme: in der Wirklichkeit der russischen Revolution reichte es nur zur Regierungsbildung bzw. -beteiligung, während die Macht in den Händen des Sowjets verblieb. Dies herauszuarbeiten war ein Thema der letzten Veröffentlichungen zur russischen Revolution in den AzD.
Nicht besser steht es um die Behandlung der Bauernschaft in Russland. Wir bekommen es bei dem gerade geschilderten Marxismusverständnis keineswegs mit dem historischen russischen Bauern zu tun, dessen Geschichte der Linken völlig unbekannt ist, sondern mit dem „kleinen Warenproduzenten“, den die Bauernschaft als gesellschaftliche Kategorie – wie im Marxschen Kapital dargestellt – sozusagen naturnotwendig ausbilden muss. So wird anstelle der Geschichte des russischen Bauern die Geschichte des Bauern oder der Bauernschaft aus dem „Kapital“ und dem historischen Materialismus – mehr oder weniger verfremdet – hergeleitet, die mit der tatsächlichen Geschichte der russischen Bauern wenig gemein hat. So hat man sich jegliche Möglichkeit zum Verständnis der russischen Revolution bereits methodisch verbaut.
Was bedeutet „historischer Materialismus?
Friedrich Engels hat obiges Herantreten an die Geschichte denunziert und deutlich gemacht, worin die wirkliche Aufgabe besteht: „Auch die materialistische Geschichtsauffassung hat deren heute eine Menge“ (gemeint sind „fatale Freunde“; A.S.), „denen sie als Vorwand dient, Geschichte nicht zu studieren. Ganz wie Marx von den französischen ‚Marxisten‘ der letzten 70er Jahre sagte: ‚Tout ce que je sais, c`est que je ne suis par Marxiste.‘ …
Überhaupt dient das Wort ‚materialistisch‘ in Deutschland vielen jüngeren Schriftstellern als eine einfache Phrase, womit man alles und jedes ohne weiteres Studium etikettiert, d.h. diese Etikette aufklebt und dann die Sache abgetan zu haben glaubt. Unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum. Die ganze Geschichte muss neu studiert werden, die Daseinsberechtigungen der verschiedenen Gesellschaftsformationen müssen im Einzelnen untersucht werden, ehe man versucht, die politischen, privatrechtlichen, ästhetischen, religiösen etc. Anschauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen abzuleiten. Darin ist bisher nur wenig geschehen, weil nur wenige sich ernstlich darangesetzt haben. Darin können wir Hilfe in Massen brauchen, das Gebiet ist unendlich groß, und wer ernstlich arbeiten will, kann viel leisten und sich auszeichnen. Statt dessen aber dient die Phrase des historischen Materialismus (man kann eben alles zur Phrase machen) nur zu vielen jüngeren Deutschen nur dazu, ihre eigenen relativ dürftigen historischen Kenntnisse – die ökonomische Geschichte liegt ja noch in den Windeln!) – schleunigst systematisch zurechtzukonstruieren und sich dann sehr gewaltig vorzukommen.“8 (Hervorhebungen von mir; A.S.)
Engels formuliert hier wenige Jahre vor seinem Tod die Aufgabenstellung „die ganze Geschichte muss neu studiert werden“, die „verschiedenen Gesellschaftsformen müssen im Einzelnen untersucht werden“ und resümiert zum Stand dieser Arbeit: „Darin ist bisher nur wenig geschehen“ und „die ökonomische Geschichte liegt ja noch in den Windeln“. Ist dieser von Engels herausgearbeiteter Mangel im 20. Jahrhundert behoben worden oder wurde nicht vielmehr umgekehrt ein vermeintlich ausgearbeiteter historischer Materialismus der tatsächlichen Menschheitsgeschichte übergestülpt, dieselbe, um Engels Worte zu nutzen, „systematisch zurechtkonstruiert“?
Zurück zu obigem Engelszitat aus dem Jahr 1890. Er konnte nicht ahnen, dass im 20. Jahrhundert das direkte Gegenteil dessen geschah, was er gefordert hatte; dass damit begonnen wurde, unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus keineswegs die wirkliche Geschichte der Menschheit zu untersuchen, sondern dieselbe aus den Werken von Marx, Engels, Lenin etc. herzuleiten.9 Genau diese Gestalt hatte der „historische Materialismus“ ab Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts angenommen, als die Abfolge bestimmter Gesellschaftsformationen zum wissenschaftlichen Standard des „Marxismus“, zum Fundament des „historischen Materialismus“ wurde, der vorgab, die Gesamtheit der Menschheitsgeschichte mit seinen Kategorien erfassen und erklären zu können.
War der ökonomische Determinismus bereits in der 2. Internationale zur Grundlage eines fehlerhaften Marxismusverständnisses in der deutschen Sozialdemokratie geworden10, so wurde mit der Theorie der Gesetzmäßigkeit der historischen Abfolge der gesellschaftlichen Formationen dem Ökonomismus der 2. Internationale noch ein revolutionärer Teleologismus beigefügt, der den Sieg des Sozialismus/Kommunismus als notwendiges Produkt der Menschheitsgeschichte darstellte und verkündete. Das war die Gestalt des „Histo-Mat“ im Sowjetmarxismus, in der DKP und den K-Gruppen in Westdeutschland, mit dem wir aufgewachsen und inzwischen alt geworden sind (und, dies sei hinzugefügt, den wir in der Vergangenheit ebenso geteilt hatten, bis uns die Fakten eines Besseren belehrten).
Vor bald 50 Jahren nahm diese Herleitung in der BRD eine weitere, spezifisch westdeutsche Gestalt, an. So haben in Deutschland Rudi Dutschke und Bernd Rabehl mit dem Ansatz begonnen, die Geschichte der russischen Revolution und ihrer weiteren Entwicklung aus der „Neuauslegung“ speziell einiger weniger bekannter11 oder von Marx gar nicht veröffentlichter Schriften12 erklären zu wollen. Dieser Ansatz hat unzählige Buchseiten gefüllt und die Debatte über den „asiatischen Charakter“ der russischen Despotie und des russischen Sozialismus beflügelt, ohne einen einzigen ernsthaften Erkenntnisgewinn zur Revolution und dem letztendlichen Scheitern der Sowjetunion ans Licht zu bringen.
Die Veröffentlichung des Genossen Thomas Kuczynski „Was bleibt von der Oktoberrevolution“13 – die im folgendem besprochen wird – ist ein Musterbeispiel dieses gerade kurz umrissenen Marxismusverständnisses. Kuczynski beschäftigt sich in dem genannten Artikel mit der Frage des russischen Oktobers und seines Scheiterns. Er versucht, eine oder mehrere Ursachen des Scheiterns ausfindig zu machen, ohne die Niederungen der gesellschaftlichen Verhältnisse des zaristischen und später revolutionären Russlands zu betreten bzw. dieselben zu analysieren. Er verbleibt in der Tradition von Dutschke und Rabehl, er sucht die Fehler des russischen Oktobers aus den abgehobenen Sphären der „Schrift“, vermittels eines Vergleichs der Marxschen Ausführungen zur russischen Dorfgemeinde und der Leninschen Politik im Oktober 1917 herzuleiten. Aber was, wenn beide „Klassiker“ falsch lagen?
II. Thomas Kuczynski „Was bleibt von der Oktoberrevolution“
In dem Agrardekret des russischen Oktobers findet Genosse Kuczynski dann die erste verhängnisvolle Abweichung Lenins von den Marxschen Positionen. „Mit der – ich wiederhole – von den Sozialrevolutionären verlangten und von Lenin sanktionierten Enteignung des Gemeindelandes wurde genau dieser Stützpunkt zerstört“ (gemeint ist das Gemeineigentum der russischen Dorfgemeinde, das nach Marx der ‚Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands‘ sein könnte; A.S.) und das Gemeineigentum in Privateigentum verwandelt.“14 Mit dieser von Kuczynski aufgedeckten Abwendung von der Marxschen Lehre bzw. ihrer Ignorierung – ob nun bedingt durch sozialrevolutionäre Einflussnahme, wie der Genosse nahelegt, oder nicht – hätte die russische Revolution ihren ersten agrar- und klassenpolitischen Sündenfall begangen, der dann in die „Zwangskollektivierung“ und den Niedergang der Sowjetunion mündete.
Was Genosse Kuczynski aus der Klassiker-Exegese herausgefiltert hat, ist schlichtweg Unsinn, denn mit dem Agrardekret wurde kein „Gemeineigentum in Privateigentum verwandelt“,15 doch dazu später mehr. Aber ein Unsinn, der leicht erklärbar ist, da Kuczynski sich mit der wirklichen Geschichte der russischen Dorfgemeinde gar nicht beschäftigt hat. Seine Erkenntnisse zur Dorfgemeinde entstammen den Schriften von Marx, Engels und Lenin. Was diese zur Dorfgemeinde publiziert haben und wie er, Kuczynski, die genannten Autoren verstanden bzw. missverstanden hat, das bildet die Grundlage seiner Veröffentlichung.
Passenderweise schrieb Marx selbst etwas zu einem solchen Herantreten an das Thema: „Was werfe ich dort“ (gemeint ist der Nachtrag zur deutschen Erstausgabe des Kapital Bd. 1, Hamburg, 1867, Seite 763; A.S.) „diesem Schriftsteller vor? Dass er die russische Dorfgemeinde nicht in Russland, sondern in dem Buch von Haxthausen, einem preußischen Regierungsrat, entdeckt hat und dass in seinen Händen die russische Dorfgemeinde nur als Argument dafür dient, dass das verfaulte alte Europa durch den Sieg des Panslawismus erneuert werden müsse.“16 (Hervorhebungen von mir; A.S.) Kuczynski ersetzt das Buch von Haxthausen durch die Schriften von Marx, Engels und Lenin und meint damit, auf der sicheren Seite zu sein, was für einen Materialisten und revolutionären Marxisten, als welcher er sich sicherlich begreift, ebensolcher Unsinn ist wie seine Interpretation des Agrardekrets vom Oktober 1917, das er genauso wenig analysiert hat wie die Geschichte der russischen Dorfgemeinde (wie wir weiter unten noch aufzeigen werden).
Seit den Ausführungen von Marx zur russischen Dorfgemeinde sind in der wirklichen Welt fast anderthalb Jahrhunderte vergangen und der Forschungsstand über diese Dorfgemeinde ist ein anderer als er es in den Jahren 1850 bis 1880 war, als Marx seine Hypothesen u. a. zur russischen Dorfgemeinde entwickelte. Das, was zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine geniale Hypothese auf dem gegebenen Stand der Wissenschaft war – und genau dem entsprach die Marxsche Position zu dieser Zeit -, ist heute eine Theorie, deren wissenschaftliche Grundlage nicht mehr aufrecht zu halten ist. 150 Jahre später und um eine Vielzahl von Entdeckungen über die menschliche Geschichte reicher ist dies ein vergeblicher Versuch, die Richtigkeit der „Schrift“ gegenüber wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verteidigen.
Marx und der Agrarkommunismus
Die Auffassungen von Marx und Engels zu aktuellen politischen Fragen und zu historischen Themen wie beispielsweise zur Entwicklung historischer Gesellschaftsformen in der Menschheitsgeschichte entsprachen dem Stand der bürgerlichen Wissenschaft zu ihrer Zeit. So sind ihre Aussagen nicht nur zur russischen, sondern ebenso zur indischen oder zur germanischen Dorfgemeinde einzuordnen. Nun zeichnet die bürgerliche Forschung samt Spatenarchäologie seit mehr als 100 Jahren ein weitgehend anderes Bild als Marx und Engels aus ihren Quellen folgern konnten.
Carsten Goehrkes gründliche und lesenswerte Arbeit zum Thema „Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des „MIR“ schreibt dazu: „Marx` Briefe17 zeigen also, dass seine These vom urgesellschaftlichen Gemeineigentum ursprünglich in Berichten über asiatische Bodenkollektive wurzelt; dass er sich ferner die Auffassungen der zeitgenössischen bürgerlichen Forschung, die die russische Umteilungsgemeinde als urzeitlich interpretierte, zu eigen gemacht hat und darin und in der Markgenossenschaftstheorie von Maurer eine Bestätigung seiner eigenen Auffassung sah. Im Grunde vertritt Marx also das gleiche – nur auf eine rein materialistische Basis und in den Zusammenhang eines dialektischen Geschichtsbildes gestellte – Entwicklungsschema wie Roscher, Maine und Laveleye; dass nämlich der Agrarkommunismus die ökonomisch-naturgesetzliche Ausgangsbasis der Grundbesitzentwicklung bei allen Völkern sei. Jedoch scheint er unabhängig von ihnen zu dieser Auffassung gelangt zu sein, wenn er sich auch auf genau die gleichen Quellen stützt. Diese kurzen Bemerkungen haben wohl gezeigt, in welchem Umfang Marx dem Forschungsstand seiner Zeit verhaftet war.“18 (Hervorhebung von mir; A.S.)
Gerade die im letzten Satz geäußerte Einschränkung ist Marx eben nicht zum Vorwurf zu machen. Welcher ernsthafte Forscher ist nicht „dem Forschungsstand seiner Zeit verhaftet“? Auf welch anderen Fundamenten kann ein Forscher zu neuen Erkenntnissen gelangen als auf den von der wissenschaftlichen Forschung zusammengetragen Fakten? Goehrke zielt in der angeführten Stelle auch mehr auf die russischen Forscher19 und die heutigen „Marxisten“, die sich weigern, die Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Forschungsergebnissen zu suchen, um in Kenntnis und Debatte mit diesen Positionen die Ausführungen von Marx entweder zu verteidigen oder zu verwerfen.
Eben nicht dem Forschungsstand ihrer Zeit verhaftet, sondern dem der Mitte des 19. Jahrhunderts, das war die sowjetische Forschung zu historischen Themen im 20. Jahrhundert, wie Goehrke es belegt. Und der Genosse Kuczynski behandelt die russische Dorfgemeinde ausgehend von demselben 150 Jahre alten wissenschaftlichen Fundament, ohne ein Wort zu den gegenteiligen und gut belegten Ergebnissen der bürgerlichen Forschung zu verlieren, die weiter unten kurz dargestellt werden.
Marx und die russische Dorfgemeinde
Zur Zeit Marxens war die russische Dorfgemeinde gerade erst „entdeckt“ worden, durch den bereits erwähnten preußischen Regierungsrat Haxthausen und seine viel beachteten Veröffentlichungen darüber. Für die Slawophilen in der russischen Intelligenz war diese Dorfgemeinde Ausdruck der sozialen Überlegenheit der slawischen Rasse und Angelpunkt einer künftigen sozialen Neugestaltung des zaristischen Russlands. Nicht der qualvolle kapitalistische Weg des Westens wäre das Schicksal Russlands, sondern dank der „sozialistischen“ Struktur des russischen Dorfes (Gemeineigentum der Dorfgemeinde) könne Russland ohne wesentliche ökonomische und soziale Umgestaltungen allein durch die politische Revolution (Bakunin) direkt zum Sozialismus gelangen. Der russische Bauer war für sie „der geborene Revolutionär“. Für diese Auffassungen bildete die „Entdeckung“ der Dorfgemeinde als Umteilungsgemeinde die theoretische und politische Grundlage. Bis Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts standen Marx und Engels in heftiger Auseinandersetzung mit dieser Strömung des Anarchismus (Bakunin) und den slawophilen „Revolutionären“ in Russland. Der Brief von Marx (an Engels), auf den sich Goehrke im obigen Zitat beruft, macht dies deutlich.
„Auf dem Museum … u.a. die neuesten Schriften von old Maurer (dem alten bayrischen Staatsrat, der schon Rolle gespielt als einer der Regenten Griechenlands und die Russen mit zuerst, lang vor Urquhart, denunziert) geochst über deutsche Mark-, Dorf- etc. Verfassung. Er zeigt ausführlich nach, dass das Privateigentum am Boden erst später entstand usw. Die blödsinnige westfälische Junkeransicht, dass die Deutschen sich jeder für sich niedergelassen und erst nachher Dörfer, Gaue etc. gebildet, vollständig widerlegt. Interessant gerade jetzt, dass die russische Manier der Wiederverteilung in bestimmten Terminen (in Deutschland erst jährlich) des Bodens sich in Deutschland stellenweis bis ins 18. und selbst 19. Jahrhundert erhielt. Die von mir aufgestellte Ansicht, dass überall die asiatischen resp. indischen Eigentumsformen in Europa den Anfang bilden, erhält hier (obgleich Mauerer nichts davon weiß) neuen Beweis. Für die Russen verschwindet aber auch die letzte Spur eines Anspruchs of originality, selbst in this line. Was ihnen bleibt, ist, noch heute in Formen zu stecken, welche ihre Nachbarn seit langem abgestreift. Die Bücher des old Maurer (von 1854 und 1856 etc.) sind mit echt deutscher Gelehrsamkeit geschrieben …“20 (Hervorhebung von mir; A.S.)
Dies schrieb Marx 1868. Die Spitze gegen die russischen Slawophilen ist nicht zu überlesen. Wenige Jahre später hat Marx neue Informationen über die russische Dorfgemeinde erhalten und bittet den russischen Übersetzer des Kapitals, Danielson, um Auskunft. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar für einige Informationen über Tschitscherin’s Auffassungen von der geschichtlichen Entwicklung des Gemeindeeigentums in Russland und über seine Polemik in dieser Angelegenheit mit Bjeljajew.21 Die Art, wie diese Form des Eigentums (geschichtlich) in Russland begründet wurde, ist natürlich eine Frage zweiten Ranges und hat überhaupt nichts mit der Bedeutung dieser Einrichtung zu tun. (Hervorhebung von mir, A. S.) … Zudem spricht alle historische Analogie gegen Tschitscherin. Wie soll es möglich sein, dass in Russland diese Institution als rein fiskalische Maßnahme, als Begleiterscheinung der Leibeigenschaft eingeführt worden sein soll, während sie überall natürlich entstanden ist und eine notwendige Phase der Entwicklung freier Völker bildete?“22
Die Nachfrage verdeutlicht, dass sich in Russland unterschiedliche Auffassungen zur Entstehungsgeschichte der russischen Dorfgemeinde herausbildeten. Marx – obwohl noch immer in offener Frontstellung zu den Slawophilen – hält die Entstehung der Dorfgemeinde aus „fiskalischen Maßnahmen“ für unwahrscheinlich, da für ihn weiterhin das Gemeineigentum am Boden „überall natürlich entstanden ist und eine notwendige Phase der Entwicklung freier Völker bildete“. Aber noch immer war die „Faktenlage“, der Forschungsstand der damaligen Zeit über die tatsächliche Entstehungsgeschichte, so spärlich, dass gesicherte Erkenntnisse nicht zu formulieren waren. Und so sprach nichts Ernsthaftes gegen die Hypothese von Marx und er konnte seinem Briefpartner (der Volkstümler war) das Zugeständnis machen, dass die Entstehung der Dorfgemeinschaft eine Frage „zweiten Ranges“ sei gegenüber der Bedeutung ihrer tatsächlichen Existenz. Wir werden sehen, dass auch diese Annahme falsch war.
Die wirkliche Geschichte der russischen Bauernschaft
„Einerseits lässt man den Ausländer nicht das Dorf besuchen, damit er nicht etwas erblickt und es der Welt erzählt; anderseits wird der Russe vom Dorf ferngehalten, damit er nicht überflüssiges Licht in dasselbe hineinträgt. Ist es da nicht verwunderlich, dass nicht nur Europa, sondern auch Russland das Dorf nicht kennt.“ Wie schwierig es im 19. Jahrhundert gewesen war, ein genaueres Bild von der russischen Dorfgemeinde zu gewinnen, macht das obige Zitat aus dem Jahr 1906 deutlich. Carsten Goehrke, der es in seiner dreibändigen Geschichte des russischen Alltags anführt, fügt noch hinzu: „Die bäuerliche Welt Russlands zeigte sich also auch am Anfang des 20. Jahrhunderts Außenstehenden immer noch als ein kaum zugänglicher eigener Kosmos, und der Autokratie war es nur recht so.“23
Von der „russischen Bauernschaft“ zu sprechen ist irreführend, da sie sowohl geographisch als auch sozial sehr unterschiedlich geprägt war. Stephen A. Smith umreißt die ungefähre zahlenmäßige und regionale Verteilung der unterschiedlichen Teile der russischen Bauernschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „1905 verfügten in den 46 Provinzen des europäischen Teils von Russland 8,68 Millionen Haushalte über Land, das formell der kommunalen Neuaufteilung unterstand, während 2,3 Millionen über Landbesitz auf erblicher Basis verfügten (das also vom Vater auf den Sohn überging). … Im Baltikum gab es keine derartigen Dorfgemeinschaften, und in der Ukraine herrschte die Erbfolge vor.“24 In den zwei Jahrzehnten vor der Revolution sind also etwas mehr als ein Viertel der russischen Bauern Landeigentümer und annähernd dreiviertel der Bauern sind keine Eigentümer ihrer Ackerflächen. Sie besitzen sie durch die Dorfgemeinde, die der Eigentümer des Bodens ist und über seine Verteilung in der Dorfgemeinde entscheidet. Diese unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse sind dazu regional deutlich geschieden. Die Ukraine, das Baltikum, teilweise Sibirien und verschiedene kosakische Siedlungsgebiete sind Regionen mit Privateigentum am Boden. Hier nimmt die Revolution einen anderen Verlauf als in den Gebieten der Umteilungsgemeinde.
So kann auf den folgenden Seiten nur ein ganz kursorischer Rückblick auf die Geschichte der russischen Bauernschaft, hauptsächlich jener Bauern in den zentralrussischen Gebieten gegeben werden, um den Umfang dieser Rezension nicht zu sprengen. Hier und weiter südlich in dem zentralen Schwarzerdegebiet dominierte im 19. und 20. Jahrhundert die Umteilungsgemeinde, die auch im Zentrum der weiteren Darstellung stehen wird, da sie die entscheidende Kraft der bäuerlichen Agrarevolution 1917/18 bildete. Der interessierte Leser wird allerding genug Quellenhinweise finden, um das Thema vertiefen zu können.
Sehr dünn ist diese Quellenlage wenn es um die Situation der Bauernschaft zur Zeit des Kiewer Rus geht. Gesicherte Hinweise aus Klosterakten gibt es erst ab dem 14. Jahrhundert. Dort ist von einer Umteilungsgemeinde noch keine Rede. Der Bauer sitzt auf einem durch Brandrodung (Schwendwirtschaft) geschaffenen Hof und ist im Regelfall auch Eigentümer des Hofes, wobei das „Eigentum“ an Land von geringer Bedeutung war, da er aufgrund seiner Wirtschaftsweise alle 20 bis 30 Jahre „umzog“. Geographisch bedingt ist er zumeist Waldbauer, der seinen Lebensunterhalt durch Jagd, Fischfang, Zeidlerei etc. aufbesserte.
„Den Wald zu roden brauchte einen Arbeitsaufwand, der die Kräfte eines einzelnen überstieg. Daher kann man annehmen, dass anfänglich die erwachsenen Söhne mithalfen, die neue Wirtschaft aufzubauen, bevor auch sie sich selbstständig machten. Gelegentlich wurde auch ein Fremder als ‚Nachbar‘ (sosed) in Haus und Wirtschaft aufgenommen, um eine zusätzliche Arbeitskraft zu gewinnen. …
Streusiedlung und Schwendwirtschaft bedingten einander anfänglich, denn da der Rotationszyklus der Schwendäcker zwanzig bis 30 Jahre betrug, benötigte schon ein einzelner Hof geeignete Waldreserven … Wegen des großen Arbeitsaufwandes und des Schrumpfens der Waldreserven dürften die Bauern sehr bald dazu übergegangen sein, die hofnahen Ackerländereien dauernd zu bewirtschaften.“25
Wie lässt sich der ökonomische, der soziale und rechtliche Status des russischen Bauern im Spätmittelalter fassen? „So entstand im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts der Typus des grossrussischen Waldbauern, der an Bewegungsfreiheit, wirtschaftliche Eigeninitiative und Selbstständigkeit gewöhnt war. Persönlich frei und an niemandes Weisungen gebunden entschied er selbst darüber, ob er an einem Ort bleiben wollte oder nicht. Das Spätmittelalter war eine Zeit ungebremster bäuerlicher Mobilität. Zeigte sich der Siedelplatz gegenüber Kriegszügen als zu exponiert, als zu anfällig für Missernten oder lagen die Abgaben zu hoch, suchte man sich einen anderen und nutzte die steuerfreien Jahre für Neusiedler. Diese Einstellung behielt der Bauer auch, wenn er sich auf dem Land eines Klosters oder weltlichen Grundherren niederließ. Zwar versuchten einzelne große Klöster bereits seit der Mitte des 15. Jahrhundert die Freizügigkeit ihrer Hintersassen einzuschränken, aber erst die Gerichtsordnung von 1497 schrieb generell vor, dass Bauern das von ihnen bewirtschaftete Land nur zu einem einzigen Termin im Jahr – jeweils eine Woche vor und nach dem St. Georgstag im Herbst (26. November) verlassen dürfen.“26
Der russische Bauer im 14. Jahrhundert ist in der Regel persönlich frei, von „ungebremster bäuerlicher Mobilität“, kennt zwar das „mir“ als unterste Verwaltungseinheit des zaristischen Staates, aber eben nicht als Umteilungsgemeinde. Die Steppe mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden war noch von den Tataren beherrscht und konnte noch nicht von den russischen Bauern besiedelt werden. In den nordrussischen Waldregionen war die Siedlungsdichte der Bauernschaft weiterhin gering.
„Rodesiedlung aber war gestreute Kleinsiedlung. Repräsentativ lässt sich dies auf Grund der weitgehend erhaltenen Steuerkataster des ausgehenden 15. Jahrhunderts für das Nowgoroder Land ermitteln, wo über 89 Prozent aller Siedlungen nicht mehr als vier Höfe zählten, über 40 Prozent aus lediglich einem Hof und 40 Prozent aus zwei Höfen bestanden. … Auch in den zentraler gelegenen Regionen des Nordost-Rus um Moskau prägte die Kleinsiedlung das Landschaftsbild. Steuerkataster aus dem 15. Jahrhundert sind hier zwar nicht erhalten, doch lassen sich aus den Grundbesitzakten vor allem des Metropolitenhauses und der großen Klöster lokale Situationsbilder gewinnen. Selbst im Kreise Moskaus zählten von den 130 Siedlungen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Besitz des Troize-Sergijew-Klosters standen, mehr als 45 Prozent nur einen bis zwei Höfe, mehr als drei Viertel hatten höchstens fünf Höfe.“27 Unter diesen Bedingungen ist eine Umteilungsgemeinde in der bäuerlichen Praxis bereits wegen der Dorfgröße weder sinnvoll noch erklärbar, erst recht nicht aufgrund der Produktionsweise, die vielfach noch immer durch die Brandrodung geprägt ist.
III. Die Dorfgemeinde in der russischen Geschichte und Revolution
Die Entstehung der Umteilungsgemeinde und die „außerökonomische Gewalt“
Wie nun ist aus dieser persönlich freien und von erheblicher Mobilität geprägten Bauernschaft die Umteilungsgemeinde mit leibeigener Bauernschaft entstanden? Dies geschah keineswegs durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die sich bis weit in die Moderne im russischen Dorf kaum änderten. Die Änderung der Produktionsverhältnisse und der rechtlichen Lage der Bauernschaft geschah durch „außerökonomische Gewalt“, durch Eingriff des Staates, der Klöster und der großen Landbesitzer. Sie verwandelten den freien und örtlich nicht gebunden russischen Bauer in einen unfreien, leibeigenen und dauerhaft an die Dorfgemeinde gefesseltes Ausbeutungsobjekt. Dies begann im 18. Jahrhundert, und der Prozess dieser gewaltsamen Umwandlung dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Je nach Region und Rechtstellung der Bauernschaft geschah diese Umwandlung schneller oder langsamer. Im Zentrum der Schwarzerdegebiete geschah es deutlich schneller als in den Randregionen, bei den Staatsbauern langsamer als bei den Gutsbauern.
Aber dieser Eingriff der außerökonomischen Gewalt hatte auch eine bedeutende gesellschaftspolitische Auswirkung, die von den bürgerlichen Historikern wenig thematisiert wurde: Sie gab den landlosen und armen Bauern, also jenen Kategorien der Landbevölkerung, mit denen Lenin später das klassenpolitische Bündnis suchte, Land auf Kosten der wohlhabenden und landbesitzenden Bauernschaft. Die zwangsweise Erschaffung der Umteilungsgemeinde durch Staat, Kirche und Grundbesitz hatte neben der Steuereffizienz im Interesse der Herrschenden auch diese zweite Seite, dem landarmen Dorfbewohner Land zu verschafften und entsprechend der Entwicklung seiner Familiengröße auch weiterhin zu garantieren.
Die Annahme von Marx, dass „die Art, wie diese Form des Eigentums (geschichtlich) in Russland begründet wurde, … eine Frage zweiten Ranges“ sei, war darum unzutreffend. Für die Masse der armen Bauernschaft war die Schaffung der Umteilungsgemeinde gegen die landbesitzende, wohlhabende Bauernschaft ein wesentlicher Fortschritt bei der Verbesserung ihrer Lebenssituation. Dies erklärt, weshalb die große Mehrheit der russischen Bauernschaft die Umteilungsgemeinde auch im 20. Jahrhundert mit „Zähnen und Klauen“ verteidigt hat. Folgen wir nun den bürgerlichen Darstellungen aus verschiedenen Quellen, wie sie diesen Prozess der Entstehung der Umteilungsgemeinde schildern.
„Alle Reformen (gemeint sind die Verwaltungs-, Armee- und Steuerreformen von Peter I; A.S.) kosteten Geld … Um die Reform zu finanzieren, … wurde das gesamte Steuersystem von der bisherigen Steuer je Hof (auf dem sich ja eine große Familie versammeln ließ) auf eine Kopfsteuer umgestellt, die Bauern und Sklaven gleichsetzte und von ‚jeder männlichen Seele‘ erhoben wurde. … Um die erhöhte Belastung durchzusetzen, mussten Gutsbesitzer und Staat die Gesamthaftung der bäuerlichen Gemeinden ausbauen. Da Steuer und Rekrutenaushebung Reiche und Arme in gleicher Weise trafen, wirkten sich Flucht oder Armut einer Familie, die einmal im staatlichen Register aufgenommen war, für alle im Dorf verheerend aus. Gutsbesitzer und Bauern gingen deshalb immer mehr dazu über, den alten Dorfgemeinden eine neue Funktion zuzuweisen – das Land unter alle gleichmäßig zu verteilen. Daraus folgte, da die Familien unterschiedlich wuchsen, dass das Land nach gewissen Fristen wieder neu verteilt werden musste, wobei als Maß entweder jede (männliche) ‚Seele‘ oder das ‚Joch‘ eines Ehepaares galten. Wo diese Regelung durchgesetzt wurde, verloren die Bauern also das private Besitzrecht am Boden.“28
Aus der untersten Verwaltungseinheit des russischen Staates, dem ‚MIR‘, entstand nun zusätzlich die Umteilungsgemeinde mit gemeinschaftlichem Bodeneigentum. Dies geschah natürlich keineswegs so reibungslos und harmonisch, wie die Darstellung Noltes es nahelegt. Der Druck des Staates und der Grundbesitzer auf die Bauern nahm bei dieser Neuordnung erheblich zu, die Leibeigenschaft der Bauern und ihre Bindung an die Dorfgemeinde bildeten sich heraus, und die wohlhabenden Landeigentümer wehrten sich entsprechend ihren Möglichkeiten.
„Dies alles: die staatlichen (einheitlichen)29 wie die privaten (nach dem Grundherrn des zu bearbeitenden Landes differenzierten) Abgaben und Dienste organisierte und verteilte die Dorfgemeinde. Sie nahm nun in der Tat jene multifunktionale Form an, die ihr die Slawophilen um die Mitte des 19. Jahrhunderts zuschrieben. Gehäuse der Selbstverwaltung war sie schon lange; diese Funktion dürfte die älteste gewesen sein und bis ins Mittelalter zurückreichen. … Als Gesamteigentümer und Organ der Um- und Zuteilung sowohl des Grund und Bodens als auch der staatlichen wie der privaten Abgaben und Leistungen aber nahm sie erst in den frühen Dekaden des 18. Jahrhunderts Gestalt an.“30
„Die Einführung der Kopfsteuer samt der Regularisierung von bars̆c̆ina31 und obrok32 gab diesem Prozess einen weiteren endgültigen Schub. Denn nun bot es sich an, die erforderliche fiskalisch-ökonomische Leistungsfähigkeit durch eine entsprechende Landausstattung sicherzustellen. Die Verwaltungsgemeinde wurde über die Umteilungsgemeinde zur Solidarhaftungsgemeinde, der vor allem daran gelegen sein musste, nicht ‚steuerfähige‘ Armut zu vermeiden. Dass sie darüber hinaus die Ausbildung bestimmter Denk- und Handlungsmuster begünstigte und eine spezifische dörfliche Mentalität entstand, ergab sich mit erheblicher Zwangsläufigkeit. Und auch eine weitere, generelle Beschränkung der Freizügigkeit in Gestalt des 1719 verfügten Passzwangs gehört nicht nur in den Kontext der Konskription und des Problems der Desertion. Vielmehr half sie den Dorfgemeinden, … ihren Steuerpflichten nachzukommen. Da der Fiskus seine Forderungen auf der Grundlage der Revisionszählungen pauschal … an die obs̆c̆iny übermittelte, hatten diese ein lebhaftes Interesse daran, ihre Mitglieder am Ort zu halten. …
Wenn man daher auf die einst heftig diskutierte Frage nach der Entstehung der obs̆c̆ina, ihrem historischen Kontext und ihren Gründen, eine Antwort geben will, so lässt sich am ehesten auf den Zusammenhang mit der Herausbildung der Leibeigenschaft bis hin zu ihrer fiskalischen Festschreibung unter Peter und seinen Nachfolgern verweisen: Die Dorfgemeinde in ihrer entwickelten Form des 19. Jahrhunderts war ihr Geschöpf und ihre elementare, unverzichtbare Funktionseinheit. Endgültig wurde die obs̆c̆ina nun zur geschlossenen dörflichen Lebenswelt, zu jenem monadischen Kosmos, der wenig Kontakte nach außen hatte und den Staat nicht nur als fremd, sondern vor allem als ausbeuterisch und bedrohlich betrachtete.“33
Wie kurz dargestellt, ist es einer ganzen Reihe bürgerlicher Wissenschaftler gelungen, die inzwischen zugänglichen Quellen zu nutzen, um die wirkliche Geschichte der Dorfgemeinschaft zu erforschen. Sie sind heute in der Lage, eine komplett andere Geschichte der russischen Dorfgemeinde präsentieren können, als wir sie in den Schriften von Marx oder Lenin finden können. Und dazu konnten wir erkennen, dass die „uralte Institution“ der Umteilungsgemeinde gerade wenige Jahrzehnte vor ihrer „Entdeckung“ durch Haxthausen ihre endgültige Form gewonnen hatte.
Bei dieser Faktenlage ist es zweifelsfrei eine originelle Idee, das Scheitern des Sozialismus in der Sowjetunion aus den Abweichungen Lenins von der Marxschen Interpretation erklären zu wollen. Aber was interessiert die Linke die Fakten, wenn die „Schrift“ uns eine intellektuell viel reizvollere Darstellung liefern kann.
Der Sassulitsch-Brief
Nach diesem Exkurs über Marx und die russische Dorfgemeinde zurück zu Genossen Kuczynski und seinen Betrachtungen zum Thema „Was bleibt von der Oktoberrevolution?“. Ausgangspunkt seiner oben dargestellten Überlegungen von der Umwandlung des Gemeineigentums der Dorfgemeinde in das Privateigentum des einzelnen Bauern, bewerkstelligt durch Lenins fehlerhaftes Agrardekret, ist die teils präzise (für England), teils kryptische Aussage von Marx zur Zukunft der russischen Dorfgemeinde in seinem Antwortschreiben an Vera Sassulitsch.
„Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist …, wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit anderer, auf Lohnarbeit begründet ist.“ So zitiert Marx sich selbst aus dem Kapital, um dann auf Russland bezogen fortzufahren: „Bei dieser Bewegung im Westen handelt es sich um die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Bei den russischen Bauern würde man im Gegenteil ihr Gemeineigentum in Privateigentum umwandeln.“34
Genau hier hat unser Genosse den Gedanken gefunden, dass mit dem Landdekret des russischen Oktobers das „Gemeineigentum“ des russischen Bauern in „Privateigentum“ umgewandelt würde. Marx schrieb obige Zeilen an Sassulitsch im März 1881, wie dargestellt, in Unkenntnis der tatsächlichen Geschichte der russischen Bauernschaft. Das Gemeineigentum der Umteilungsgemeinde entstand historisch im 18. und 19. Jahrhundert vermittels der gewaltsamen Aufhebung des Privateigentums der landbesitzenden und wohlhabenderen Bauernschaft am Boden. Es entstand, um dem Staat ein höheres Steueraufkommen zu sichern und sicherte dem Besitzlosen die Landnutzung entsprechend seiner Familiengröße, um diese Steuern zahlen zu können. Das individuelle bäuerliche Privateigentum am Boden wird zugunsten eines individuellen Bodenbesitzes, der von der Gemeinde periodisch zugeteilt wird, abgeschafft.
Dieser Prozess hat nichts zu tun mit dem, was Marx am englischen Beispiel im Sassulitsch-Brief entwickelt („Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums“). In den Regionen Russlands, wo sich die Umteilungsgemeinde herausbildete, genauer gesagt durch außerökonomischen Zwang von Staat, Kirche und Grundbesitz geschaffen wurde, geschieht dies durch die Expropriation des bäuerlichen Privateigentums am Boden. Dieser Boden wird allen, auch den landarmen und landlosen Gemeindemitgliedern, zur Nutzung übergeben. Die im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert deutlich hervortretende soziale Schichtung der Bauernschaft in wohlhabende, arme und landlose Dorfbewohner wird nivelliert und durch einheitliche Ackerflächen entsprechend der jeweiligen Familiengrößen ersetzt.
Eine Agrarreform also, sowohl im Interesse der Herrschenden (höhere Einkünfte) und der armen und landlosen Dorfbewohner, die nun durch den von der Gemeinde periodisch neu zugeteilten Landbesitz als individuelle Bodenbesitzer agieren und Steuern zahlen können. Politisch wird dieser Prozess von der Ausdehnung und Befestigung der Leibeigenschaft begleitet, da der adlige Grundbesitz auf die bäuerliche Arbeitskraft angewiesen bleibt. Dies ist eine völlig andere Entwicklung, als sie Marx im „Kapital“ am englischen Beispiel entwickelt, und ihre Bedeutung ist nur erkennbar, wenn man sich mit der konkreten Geschichte der russischen Bauernschaft beschäftigt.
Die „kleine Warenproduktion“ und die „kapitalistischen Tendenzen“ im russischen Dorf
Bekanntlich entschied sich die russische Bauernschaft – in Unkenntnis der Marxschen Prognose im Sassulitsch-Brief – in ihrer großen Mehrheit 1917, das Privateigentum an Grund und Boden „für immer aufzuheben“. Marx irrte zur Geschichte der russischen Dorfgemeinde, aber er irrte entsprechend dem Wissen seiner Zeit. Was man Marx nicht vorwerfen kann, ist, verantwortlich für die Theorie des Genossen Kuczynski zu sein, der es sich auch anderthalb Jahrhunderte später nicht vorzustellen wagt, dass der russische Bauer in seiner Revolution anders handeln könnte, als Marx es vorhergesagt hatte. Da lässt Kuczynski lieber den gesamten 1. Punkt des „Wählerauftrags“35, der dem Bodendekret beigefügt wurde, weg, wo es heißt: „Das Privateigentum am Grund und Boden wird für immer aufgehoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch verpfändet, noch auf irgendeine andere Weise veräußert werden.“36 Und das, obwohl Kuczynski genau diesen Text ab Punkt 2 sehr ausführlich zitiert. Hier hat die Ideologie sogar über den Wortlaut der „Schrift“ (LW, Bd. 26) gesiegt.
In dem Text des „Wählerauftrags“, der dem Agrardekret als „Richtschnur“ beigegeben wurde, bleibt kein Platz für Privateigentum am Boden, der Bauer wird zeitweiliger Besitzer – nicht Eigentümer – der ihm von der Dorfgemeinde zugeteilten Parzelle. Damit wird er – genauer bleibt er –, was der landbesitzende Bauer auch schon zuvor in der Dorfgemeinde war: individueller „kleiner Warenproduzent“, der ökonomisch den „freien Getreidehandel“ fordert und mit dem Sozialismus nicht „viel am Hut hat“. Dies ist es, was Kuczynski uns eigentlich sagen möchte und auf Seite 138 seines Textes auch ausführlich mit Plechanow als Kronzeugen entwickelt. „Die wirtschaftliche Tätigkeit der Bauern … wird nicht auf den Sozialismus, sondern auf den Kapitalismus gerichtet sein“, zitiert er Plechanow.
So richtig die erste Hälfte des zitierten Satzes ist, so falsch ist die zweite Hälfte. Der russische Bauer ist im Gegensatz zur Auffassung der Volkstümler kein Anhänger des Sozialismus, soweit völlig richtig. Völlig falsch aber ist die Annahme, der Bauer strebe eine Auflösung der Dorfgemeinde in Richtung auf eine Existenz als „freier kapitalistische Farmer“ (Lenin) an. Der russische Bauer ist kein Anhänger des Kapitalismus, und seine wirtschaftliche Tätigkeit zielt weder subjektiv noch objektiv auf die Aufrichtung des Kapitalismus, auch wenn Plechanow, Lenin37, Luxemburg und auch Kuczynski selbst dies als unvermeidliche, gesetzmäßige Entwicklung unterstellen.
So schrieb Lenin nach der Revolution von 1905 zum Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie: „Die Quelle dieses letzteren Fehlers (Behandlung der Agrarfrage im alten Parteiprogramm, A.S.) war die, dass wir wohl die Richtung der Entwicklung, nicht aber den Moment der Entwicklung richtig erkannten. Wir nahmen an, die Elemente der kapitalistischen Landwirtschaft seien in Russland bereits vollkommen ausgebildet – sowohl in der Gutswirtschaft … als auch in der bäuerlichen Wirtschaft, von der es schien, als habe sie bereits eine starke Dorfbourgeoisie hervorgebracht und sei deshalb zu einer ‚bäuerlichen Agrarrevolution‘ nicht mehr fähig. Nicht der ‚Furcht‘ vor der bäuerlichen Agrarrevolution entsprang das fehlerhafte Programm, sondern der Überschätzung des Grades der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft.“38 (Kursiv im Original)
Hier ist die Leninsche Fehleinschätzung über die russische Dorfgemeinde – die er mit Kautsky, Plechanow etc. teilte – auf den Punkt gebracht. Das Problem war nicht die Über- oder Unterschätzung der durchgängig unterstellten „kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft“, sondern die Annahme, dass die Umteilungsgemeinde sich unweigerlich kapitalistisch entwickeln werde, nur weil ihre Mitglieder „kleine Warenproduzenten“ waren und sich deshalb unvermeidlich – weil es im Kapital von Marx „bewiesen wird“ – die soziale Differenzierung und kapitalistische Elemente in der Dorfgemeinde entwickeln müssten. Wie Marx das sah, kann man im Sassulitsch-Brief nachlesen. „Die ‚historische Unvermeidlichkeit‘ ist also ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt.“39 (Anführungszeichen und Hervorhebungen im Original)
Die Unterstellung, dass die „kleine Warenproduktion“ aus sich selbst heraus unausweichlich zum Kapitalismus führt, ist ökonomisch und historisch falsch. Sie existierte in den verschiedensten Gesellschaftsformationen, ohne zum Kapitalismus zu führen. Und ebenso falsch ist die politische Annahme, dass die Auflösung der Dorfgemeinde hin zum „freien kapitalistischen Farmer“ ein Wunsch der russischen Bauernschaft gewesen wäre. Ihr Ziel war vielmehr die Aufrechterhaltung der Umteilungsgemeinde, bereichert um das Land der Gutsbesitzer und der stolypinschen Privatbauern. Selbst die stolypinsche Reform der Agrarverhältnisse, nach dem Ende der Revolution von 1905, die die Zerschlagung bzw. Schwächung der Umteilungsgemeinde beabsichtigte, lieferte in der Praxis völlig andere Ergebnisse, als sie von der politischen Reaktion und den Marxisten erwartet worden waren.
„Obgleich man dies kaum erwarten würde, haben die Stolypin-Reformen daran nichts geändert. Dafür sind zwei Ursachen verantwortlich: Zum einen haben nicht wenige Großbauern die Gemeinde verlassen und sich als Chutorwirte40 selbstständig gemacht; zum anderen nutzen mehr und mehr der ärmsten Gemeindegenossen, die mit ihren Wirtschaften auf keinen grünen Zweig mehr kamen oder ganz in die Stadt abwanderten, die neuen gesetzlichen Möglichkeiten, um ihren Hof zu verkaufen. Dadurch begannen innerhalb der Dorfgesellschaft nun aber nicht antagonistische Klassen zu sprießen, sondern es kam umgekehrt zu gewissen Ausgleichsprozessen, welche eine eher leicht abwärts gerichtete Nivellierung der Betriebsgrößen bewirkten. Damit dominierte auch am Vorabend des Ersten Weltkrieges im europäischen Russland – wenngleich in etwas modernisierter Gestalt – immer noch der uns aus den vorhergehenden Zeitbildern vertraute Kleinbauer, der ein einziges Zugpferd und ein bis zwei Kühe sein Eigen nennen konnte. Diese Entwicklung hat aber dazu beigetragen, dass selbst unter den wachsenden Einflüssen der Außen- und Marktbeziehungen die Stellung des Mir nicht weiter geschwächt worden ist.“41 (Hervorhebungen von mir; A.S.)
Die Mehrheit der russischen Bauernschaft wollte – trotz „aller ökonomischen Gesetzmäßigkeiten“ – weder den Kapitalismus, noch wollte sie „freier Farmer“ (Lenin) werden. „Nicht in einer Auflösung des Mir und in einem privatwirtschaftlichen Farmertum sah man (die Dorfgemeinde, A.S.) den Weg in die Zukunft, sondern in einer Ausweitung des Bodenfonds der Gemeinde, insbesondere durch Aneignung der restlichen Gutsländereien.“42 Dies wurde dann auch das Programm der bäuerlichen Agrarrevolution.
Die „Achillesferse“ des Bodendekrets
„Allerdings“ – schreibt Genosse Kuczynski – enthielt das Dekret einen Punkt, der die Bestimmung des Wählerauftrags in einem wesentlichen Punkt modifizierte. Sollte gemäß Wählerauftrag ‚der gesamte Boden … entschädigungslos enteignet‘ werden, so bestimmte Punkt 5 des Dekrets: ‚Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation‘. … Aber anderseits ist zu konstatieren, dass sich genau dieses Dekret als die Achillesferse der Revolution erweisen sollte.“43 Beschäftigen wir uns darum mit dem Dekret und dem „Wählerauftrag“ etwas näher, um zu verstehen, worum es in den beiden Dokumenten geht. Hierzu ist es nötig, zwischen dem eigentlichen „Dekret“ des Sowjetkongresses und dem ihm beigefügten „Wählerauftrag“ zu unterscheiden, was sehr selten geschieht, für das Verständnis der Texte und ihren politischen und sozialen Inhalt aber unerlässlich ist.
Das Bodendekret
Lenins Rede über das Bodendekret des russischen Oktobers ist – wie das Dekret selbst – sehr kurz gefasst. In seinen einleitenden Worten erläutert er die Notwendigkeit, Klarheit in der Bodenfrage‘ zu schaffen. „Der Ausbruch des bewaffneten Aufstandes … beweist ganz klar, dass der Grund und Boden den Bauern übergeben werden muss. … Die Regierung der Arbeiter- und Bauernrevolution muss vor allem die Bodenfrage lösen, jene Frage, die die gewaltigen Massen der armen Bauern beruhigen und zufriedenstellen kann.“44
In der Praxis der bäuerlichen Revolution von 1917-1918 verwirklichte das Agrardekret allerdings nicht nur die Wünsche der ‚armen Bauern‘ – wie Lenin es in seiner Rede formulierte – sondern ebenso die Wünsche der gewaltigen Mehrheit der russischen Bauernschaft einschließlich der von den Bolschewiki im Revolutionsjahr so erfolglos umworbenen Landarbeiter. Denn die „Bauernrevolution“ gab ihnen allen Land auf Kosten der privaten Landeigentümer. Aber dazu später mehr.
Im zweiten Teil der Rede Lenin stellt das „Dekret über den Grund und Boden“ vor. Auf noch nicht einmal einer Seite werden die vier Punkte des Dekrets vorgestellt.
Punkt eins konstatiert die entschädigungslose Enteignung der Gutsbesitzer.
Punkt zwei regelt die Verfügung über dieses Eigentum. Die Verfügungsgewalt wird in die Hände der Amtsbezirks-Bodenkomitees und der Kreissowjets der Bauerndeputierten übergeben, also in die Hände Bauernschaft selbst.
Punkt drei verbietet jegliche Beschädigung des konfiszierten Eigentums und setzt dabei wiederum die „Kreissowjets der Bauerndeputierten“ in die Verantwortung.
Punkt vier definiert die „Richtschnur“, nach der diese Maßnahmen organsiert werden sollen. Diese Richtschnur soll der – auch von Kuczynski in seinem Artikel angeführte – „Wählerauftrag von 242 örtlichen Gemeinden“ sein, der auf dem Bauernkongress übergeben worden war und im Nachgang des Kongresses Mitte August 1917 veröffentlicht wurde.
Der Bauernkongress45 selbst tagte im Mai 1917 und stand völlig unter der Vorherrschaft der rechten Sozialrevolutionäre. Der Kongress unterstützte die Koalitionsregierung mit den bürgerlichen Kräften (Kadetten), billigte die Kerenski-Offensive und eine Verschiebung der Agrarreform bis zur Konstituierenden Versammlung. Er spiegelte in seinen Beschlüssen somit die bäuerliche Befindlichkeit des Frühsommers 1917 – vor der Kerenski-Offensive und vor dem Kornilow-Putsch – wider. Das einzige, was der Kongress von der sozialrevolutionären Sowjetführung an Zusagen abtrotzen konnte, war das Versprechen, ein Verbot des Kaufs und Verkaufs von Grundbesitz bis zur Konstituierenden Versammlung zu erlassen.
Auffallend – wie bereits erwähnt – ist die Kürze des Agrardekrets mit seinen nur vier Punkten. Weiterhin auffallend: die Nationalisierung des Grund und Bodens wird im Dekret ebenso wenig erwähnt wie die regelmäßige Umteilung des Bodens oder die Nichtzulassung der Lohnarbeit auf dem Land, von jener durch Kuczynski entdeckten „Privatisierung des Gemeineigentums“ erst gar nicht zu reden. Bis auf den letzten Punkt wird dies alles nicht im Dekret selbst, sondern in der „Richtschnur“ zur Umsetzung des Dekrets entwickelt; dem im Punkt vier des Dekrets benannten „Wählerauftrag“ der russischen Bauernschaft. Somit enthielt das Dekret viel weniger an Bestimmungen als ihm gewöhnlich unterstellt wird, dafür aber so viel mehr an revolutionärem Inhalt als gemeinhin verstanden wird.
Durch das Dekret wird eigentlich nur eines geregelt, nämlich dass „das Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Boden unverzüglich und ohne jede Entschädigung aufgehoben (wird)“ (Punkt 1). Dies ist alles an Eigentumsfragen, was durch das Dekret festgelegt wird. Hier in diesem Punkt ist das Weniger an Festlegungen ein deutliches Mehr an revolutionärer Aufgabenstellung für die Bauernschaft. Denn wie diese eine Bestimmung umgesetzt wird, entscheidet die Bauernschaft selbst, was in den Punkten 2-4 des Dekretes geregelt und von Lenin in seiner Rede auch ausführlich begründet wird.
Indem die Bauernschaft selbst zur Durchführung aller Maßnahmen der Agrarumwälzung aufgerufen wird, erkennt Lenin den eigenständigen Charakter der bäuerlichen Revolution auf dem Land an und hütet sich, dieser Revolution andere Vorgaben als die „unverzügliche“ und „entschädigungslose“ Enteignung des Gutsbesitzes vorzuschreiben. Dieser eine Punkt reicht bereits, um die gesamte Bauernschaft in einen unauflöslichen Gegensatz zu den rechten Sozialrevolutionären zu bringen, die auch noch im Oktober 1917 die Führung des Bauernsowjets in ihrer Hand haben. Hier zeigt sich die politische Genialität Lenins.46 Hier haben wir ein Dekret, das in wenigen Worten die Sprache der Revolution spricht, das die bäuerliche Agrarevolution entschieden anfacht und letztlich unumkehrbar macht.
Im Schlussteil seiner Rede entwickelt Lenin diesen Gedanken in aller Deutlichkeit: „Die alte, durch den bewaffneten Aufstand gestürzte Regierung wollte die Bodenfrage mit Hilfe der nicht abgesetzten alten zaristischen Bürokratie lösen. Aber anstatt die Frage zu lösen, führte die Bürokratie lediglich einen Kampf gegen die Bauern. Die Bauern haben in den acht Monaten unserer Revolution manches gelernt, sie wollen selber alle Bodenfragen lösen. Deshalb sind wir gegen jede Abänderung dieses Gesetzentwurfes, wir wollen keine Detaillierung, weil wir ein Dekret und kein Aktionsprogramm schreiben. Russland ist groß, und die örtlichen Verhältnisse sind mannigfaltig. Wir glauben, dass die Bauernschaft selbst es besser verstehen wird, die Frage richtig, so wie es notwendig ist, zu lösen.“47
Auch der Genosse Kuczynski zitiert aus dem Schlussteil der Leninschen Rede. Bezeichnenderweise endet sein Zitat direkt an jener Stelle, an der ich mein Zitat beginnen lasse. Offenkundig lesen und interpretieren wir die „Schriften“ doch sehr unterschiedlich.48 Die Betonung des eigenständigen Charakters der Bauernrevolution, die Abwendung von den programmatischen Inhalten der sozialdemokratischen Programme zur Agrarfrage49, die allesamt der Bauernbewegung eine – durch ‚die ökonomische Entwicklung vorgegebene Richtung‘ verordneten wollten – das ist das Geniale und Revolutionäre an Lenins Vorgehen. Damit gewann die Bauernbewegung ein Maximum an revolutionärem Schwung.
Der „Wählerauftrag“
Schauen wir uns nun diesen Wählerauftrag genauer an, der den von Genossen Kuczynski angeführten Punkt 5 enthält, diese Achillesferse der Revolution. Der „Wählerauftrag“ wird von Lenin direkt nach den vier Punkten des Dekrets in seiner Rede vorgestellt; in Punkt vier des Dekrets wird er als „Richtschnur“ der Agrarumwälzung empfohlen.
Der „Wählerauftrag“ spiegelte zeitlich (und damit auch politisch – da die Bauernschaft 1917 sich von Monat zu Monat weiter radikalisierte) die Stimmungslage der Bauernschaft im Frühsommer 1917 wider. Sozial stellt er einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Kräften der russischen Bauernschaft dar. Er listet die Gesamtheit der Forderungen der regional und sozial durchaus unterschiedlichen Interessen innerhalb der russischen Bauernschaft auf. Konkret vertritt er sowohl die Interessen der Bauern in den Umteilungsgemeinden wie die der stolypinschen Einzelbauern oder der Kosaken. Lenin war dies sogleich nach der Veröffentlichung des „Wählerauftrags“ aufgefallen. Er schrieb dazu im August 1917:
„Es wäre höchst wünschenswert, wenn der Sowjet der Bauerndeputierten möglichst ausführliche Angaben über alle diese Wähleraufträge veröffentlichte. Besonders notwendig wäre zum Beispiel eine vollständige Liste der Gouvernements, der Kreise und Amtsbezirke, aus der die Zahl der in einzelnen Orten abgefassten Wähleraufträge hervorgeht sowie der Zeitpunkt, an dem sie abgefasst oder überreicht wurden, ferner eine Analyse wenigsten der in ihnen enthaltenen Hauptforderungen, damit man sehen kann, ob sich in den Gebieten Unterschiede in diesen oder jenen Punkten feststellen lassen. Zum Beispiel die Gebiete mit Einzelhof-Landbesitz und die mit Dorfgemeinde-Landbesitz, die großrussischen Gebiete und die anderer Nationalitäten, die zentral gelegenen und die Randgebiete, die Gebiete, wo es keine Leibeigenschaft gegeben hat usw. – unterscheiden sich die Gebiete in ihrer Stellung zur Aufhebung des Privateigentums am gesamten Bauernland, zu den periodischen Neuaufteilungen des Bodens, zur Nichtzulassung der Lohnarbeit, zur Beschlagnahme des lebenden und toten Inventars der Gutsbesitzer usw. usw.? Eine wissenschaftliche Untersuchung des ungemein wertvollen Materials dieser bäuerlichen Wähleraufträge ist ohne solche ausführlichen Angaben nicht möglich.“50 (Hervorhebung im Original A.S.)
Da Lenin erkannte, dass dieser „Muster-Wählerauftrag“, der „von den örtlichen Deputierten dem 1. Gesamtrussischen Kongress der Bauerndeputierten überreicht wurde“51, die Interessen sehr unterschiedlicher sozialer Gruppierungen der russischen Bauernschaft bündelte, formulierte er seine Fragen an die dem „Wählerauftrag“ zugrundeliegenden Eingaben. Ihn interessierte, welche Gruppierungen der Bauernschaft, die er konkret benennt (Einzelhof-Landbesitz, Dorfgemeinde-Landbesitz, Großrussische Gebiete, Randgebiete etc.), in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt ihre Forderungen eingebracht haben, um so ihr Gewicht und ihr Interesse an der Umsetzung der verschiedenen Forderungen gewichten und beurteilen zu können. Zu der von ihm geforderten „wissenschaftlichen Untersuchung“ des „ungemein wertvollen Materials“ ist es – unseres Wissens nach – nicht mehr gekommen. So musste das Agrardekret des Oktobers ohne diese Analyse verfasst werden.
Lenins Analyse des Wählerauftrags im August 1917
Welche Positionen dieses Wählerauftrags teilte Lenin, welche hielt er für „naiv“ und wie interpretierte er die gesamte Richtung dieser Forderungen? „Der Zusammenfassung der Wähleraufträge zufolge bestehen die Bodenforderungen der Bauernschaft vor allem in der entschädigungslosen Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden jeder Art einschließlich des Bauernlandes; in der Übergabe von Ländereien mit hochentwickelten Wirtschaften an den Staat oder die Gemeinden, … in der ausgleichenden Verteilung des Grund und Bodens an die Werktätigen mit periodisch vorzunehmenden Neuaufteilungen usw.“52 Obwohl diese Forderungen der Programmatik der Sozialrevolutionären Partei entsprachen, war diese Partei – als Regierungspartei des Revolutionsjahres 1917 – nicht bereit, irgendwelche ernstzunehmenden Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Da die rechten Sozialrevolutionäre – auch nach dem Oktober 1917 – an einem Bündnis mit den bürgerlichen Kräften der kaum noch vorhandenen Kadettenpartei festhielten, favorisierten sie eine Lösung der Agrarfrage, bei der die Bauern zwar das Land der Gutsbesitzer erhalten sollten, die Besitzer aber dafür entschädigt werden sollten. Wer anders als die Bauern hätte diese Entschädigung zahlen sollen? Vordenker dieser „Interpretation“ – besser gesagt der grundlegenden Abkehr von dem alten Programm der Sozialrevolutionäre – war Kautskys „alter Freund“ und Briefpartner Maslow.
„Der in aller Eile unter Federführung von Maslow ‚zusammengezimmerte‘ Entwurf (zur Agrarpolitik der SR; A.S.) wies beträchtliche Mängel auf. So fehlte beispielsweise bei den Ausführungsbestimmungen zur Enteignung (des Grundbesitzes; A.S.) das Adjektiv ‚entschädigungslos‘. Was wie ein Versehen wirkte, könnte als bewusster Versuch Maslows gewertet werden, alte Parteibeschlüsse zu unterlaufen. Im weiteren Verlauf des Jahres 1917 sollte sich nur zu deutlich zeigen, dass Maslow Kompensationen befürwortete, wie sie vor allem sein Agrargesetzentwurf von Oktober unterstrich.“53 Damit wurde die „entschädigungslose Enteignung“ zunehmend ein politisches Alleinstellungsmerkmal der Bolschewiki. In dem Maße wie die Bauernschaft erkannte, dass die den Bauernsowjet und die Regierung dominierenden Sozialrevolutionäre gar nicht beabsichtigten, den Grundbesitz entschädigungslos zu enteignen, entzogen sie beiden Institutionen ihre Unterstützung.
Das ist der Grund, weshalb Lenin sich so intensiv mit diesem Wählerauftrag beschäftigt. Er ist – trotz der unterschiedlichen Interessen von Teilen der russischen Bauernschaft – ein Kompromiss, den die Bauernschaft nicht mit den Sozialrevolutionären umsetzen kann, ein Kompromiss, der die Differenzen der gesamten Bauernschaft mit ihrer politischen Vertretung dokumentiert. Die entschädigungslose Enteignung konnte die Bauernschaft nur im Bündnis mit der Arbeiterklasse durchsetzen, parteipolitisch damit nur mit den Bolschewiki und nicht mit den Sozialrevolutionären. Deshalb enden Lenins Betrachtungen zu diesem Thema damit, die Bauernschaft gerade darauf hinzuweisen: „Wenn ihr aber im Bunde mit den Arbeitern in der Stadt, im schonungslosen Kampf gegen das Kapital, beginnen werdet, das Programm der 242 Wähleraufträge zu verwirklichen, … dann wird der Erfolg dieses Programms – nicht in seiner vorliegenden Formulierung, sondern seinem Wesen nach – gesichert sein.“54
Lenins Kritik am Wählerauftrag im August 1917
Was hatte Lenin an dem Programm zu kritisieren, denn Kritik daran hatte er, wie der letzte Satz des obigen Zitats belegt? „Die Konfiskation der Gestüte usw. sowie des gesamten lebenden und toten Inventars – das sind nicht nur weitere wuchtige Schritte gegen das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das sind Schritte zum Sozialismus hin, denn der Übergang des Inventars in die ausschließliche Nutzung durch den Staat und die Dorfgemeinde bedeutet die Notwendigkeit der Bildung einer sozialistischen Großlandwirtschaft oder wenigstens einer sozialistischen Kontrolle über die vereinigten Kleinwirtschaften, einer sozialistischen Regulierung ihrer Wirtschaftsführung.“ Und einige Seiten später im selben Artikel: „Der Krieg hat Russland jetzt praktisch vor eine Frage eben dieser Art gestellt. Es mangelt an Inventar. Man muss es beschlagnahmen und darf hochentwickelte Wirtschaften ‚nicht aufteilen‘. Die Bauern haben angefangen, das zu begreifen. Die Not hat sie dazu gezwungen.“55
Das ist ein Teil der Leninschen Kritik an dem Wählerauftrag, und diese Kritik ist wenig überzeugend. Die Konfiskation des gesamten lebenden und toten Inventars der großen Güter und ihre „ausschließliche Nutzung durch den Staat“ stellen in der Tat einen Schritt in Richtung sozialistischer Landwirtschaft dar. Aber der Wählerauftrag ist Ergebnis eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Kräften innerhalb der russischen Bauernschaft. Und so sorgt die Umteilungsgemeinde dafür, dass dieser Text auch einen ganz anderen Inhalt haben kann, nämlich den Übergang des Grund und Bodens einschließlich allen Inventars in die Hände der Dorfgemeinde.
Der Text lässt beide Möglichkeiten offen, was Lenin durchaus sieht, weshalb er für diesen zweiten Fall die Forderung nach der „sozialistischen Kontrolle über die vereinigten Kleinwirtschaften“ aufstellt. Diese theoretische „Rückzugslinie“, (denn eigentlich will Lenin ja die staatliche Kontrolle und keine Aufteilung der großen Güter, wie das zweite Zitat deutlich ausdrückt) findet dann ihre praktisch-politische Schranke im Punkt zwei des Agrardekrets: „Die Verfügungsgewalt wird in die Hände der Amtsbezirks-Bodenkomitees und der Kreissowjets der Bauerndeputierten übergeben.“ Und wie die darüber befinden werden, kann der Leser sich vermutlich denken, soll aber weiter unten bei der Darstellung der Bauernrevolution nochmals aufgegriffen werden.
Noch einen zweiten Punkt greift Lenin in seiner Kritik an den Inhalten des Wählerauftrags auf, den „naiven Wunsch der niedergedrückten kleinen Landwirte“, die eine Nichtzulassung der Lohnarbeit in den Wählerauftrag geschrieben hätten. Dass diese Forderung hauptseitig von den „niedergedrückten kleinen Landwirte(n)“ erhoben wurde, ist Lenins Interpretation. Wir erinnern uns, dass das veröffentlichte Material – genauer gesagt das nicht veröffentlichte Material –, das eine solche Zuordnung ermöglichen würde, nicht vorlag, wie Lenin selbst sehr richtig beklagte. Für ihn war diese Forderung nach „Nichtzulassung der Lohnarbeit“ auf dem Land „eine leere Phrase, ein hilfloser naiver Versuch“ der genannten „kleinen Landwirte“,56 der kapitalistischen Entwicklung im russischen Dorf entgegenzutreten.
Der „nichtkapitalistische Charakter“ der Dorfgemeinde oder die „Naivität“ der Marxisten
In dieser Kritik Lenins tritt sein Unverständnis über den nichtkapitalistischen Charakter der russischen Dorfgemeinde erneut deutlich zu Tage. Innerhalb der Dorfgemeinde regelt sich ein zu viel oder zu wenig an Arbeitskraft in den einzelnen Bauernfamilien anders als in Wirtschaftsformen, die vom Kapitalverhältnis dominiert sind. Ein Bauer, der aus individuellen Gründen (krankheitsbedingt; zeitweilige Abwesenheit, Tod eines Zugtieres etc.) nicht in der Lage ist, die ihm zugeteilte Ackerfläche ausreichend zu bearbeiten, findet innerhalb der Dorfgemeinde ausreichend Verwandte, Vertraute oder Freunde, die z.B. durch heranwachsende Kinder, besseres Zugvieh etc. mehr Ackerboden bestellen können, als ihnen im gegebenen Moment zugewiesen ist. Diese Dorfgenossen übernehmen die Arbeit des ersteren, aber nicht als „Lohnarbeiter“ gegen Geld, sondern gegen Naturalleistungen (beispielsweise vom Ertrag des Ackers) des erstgenannten Bauern. Dies alles geschieht, ohne dass bei diesem Arrangement „freie Lohnarbeit“ und „Kapital“ dazwischentreten müssen.
Denn genau diese Erscheinungen der „Moderne“ will der Bauer der Dorfgemeinde verbieten, weil er erkennt, dass sie Elemente der Zersetzung der Dorfgemeinde darstellen. Diese Dorfgemeinde in all ihrer Rückständigkeit ist seine Welt, sein „Mir“, die er erhalten und verteidigen will, sowohl gegen das Kapital als auch gegen den Staat, der ihn nur mit Lasten und Abgaben bedrückt. Und deshalb formuliert die Umteilungsgemeinde in ihrer Gesamtheit den Wunsch nach dem Verbot der Lohnarbeit auf dem Land und nicht nur der ‚kleine Landwirt‘, den Lenin auf seiner dauernden Suche nach sozialen Gegensätzen in der Umteilungsgemeinde anführt. Dies alles ist zwar unübersehbar rückwärtsgewandt, steht dem „historischen Entwicklungsschema“ und der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivität entgegen, ist mit der „Brille des Marxschen Kapitals“ kaum erkennbar, aber „naiv“ war dies keineswegs. Das hat die Revolution auf dem Land, die Bauernrevolution von 1917/18 bewiesen.
„Naiv“ waren die Marxisten, zu denen der Genosse Karuscheit und ich ebenso gehörten, die sich bis heute weigerten, die tatsächliche Geschichte der russischen Bauernschaft zu studieren und sich stattdessen mit der von Marx, Engels und Lenin vermuteten Geschichte derselbigen begnügten. Die – hier von Engels und Lenin animiert – eifrigst die Kulaken als kapitalistische Elemente innerhalb der Dorfgemeinschaft „ausfindig“ machten und so aus der bäuerlichen Revolution in Russland eine bürgerliche Revolution (mit dem Triumph der Kulaken in der Dorfgemeinde) machten.
Erst der Zugang über die tatsächliche Geschichte der russischen Bauernschaft macht es möglich, die Geschichte des Oktobers als die Geschichte zweier sozialer Bewegungen mit völlig gegensätzlichen Inhalten zu begreifen: einer proletarisch-sozialistischen in den Städten und Industriegebieten und einer rückwärtsgewandten bäuerlichen Agrarrevolution. Beide waren zwar machtpolitisch auf das engste miteinander verwoben, aber sozial und politisch völlig gegensätzlichen Inhalts. Und keine dieser beiden Revolutionen hatte einen bürgerlichen Charakter.
Die Bauernrevolution
Ausgangspunkt unserer Betrachtungen waren die Ausführungen des Genossen Kuczynski zum Agrardekret des Oktobers. Er vermutete, in „Punkt 5 des Dekrets“ die „Achillesferse der Revolution“ entdeckt zu haben. Ignorieren wir die begriffliche Ungenauigkeit (es handelt es sich um den Punkt 5 des Wählerauftrags), so hat Kuczynski ironischerweise mit dem Punkt 5 genau jene Bestimmung des Wählerauftrags gefunden, die von der bäuerlichen Revolution weitestgehend ignoriert wurde.
Erinnern wir uns, was wir über den Wählerauftrag erfahren haben. Er war ein Kompromiss der verschiedenen sozialen Kräfte innerhalb der Bauernschaft, der im Frühsommer dem von rechten Sozialrevolutionären dominierten Bauernkongress vorgelegt wurde. Er widerspiegelte die Stimmung der Bauernschaft vor der Kerenski-Offensive und vor dem Kornilow-Putsch. Dazu glaubte die Bauernschaft zu diesem Zeitpunkt noch daran, dass die von den Sozialrevolutionären (Kerenski) geführte Regierung und ein ebensolcher Sowjet ihnen das Land der Grundbesitzer entschädigungslos übereignen würden. Der angesprochene Punkt 5 des Wählerauftrags enthielt deshalb einen – von der Umteilungsgemeinde mitgetragenen – Kompromiss, an den sie sich im Oktober keineswegs mehr gebunden fühlte: „Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation“. Worum geht es hier?
Die russische Bauernschaft hatte je nach Region und Rechtsstatus unterschiedliche Besitz- und Eigentumsverhältnisse an dem von ihr bearbeiteten Boden. War der Bauer Mitglied einer Dorfgemeinde in den Zentralrussischen Gebieten, so war der Besitz seiner Ackerflächen garantiert durch das Gemeineigentum der Dorfgemeinde am Boden. Hatte er im Zuge der stolypischen Reformen die Dorfgemeinde verlassen, war er einer der sog. Chutorwirte, (wohlgemerkt mit seinem ehemals von der Dorfgemeinde zugeteilten Land, wie es die stolypinsche Gesetzgebung auf Kosten der Dorfgemeinde erlaubte,)57 war er Neusiedler mit vom Staat zugewiesen Land in Sibirien geworden oder freier Kosake, so war dieser Bauer Eigentümer seines Landes. Diese unterschiedliche Rechtsform des Bodenbesitzes, einmal nur als Nutzer und damit zeitweiliger Besitzer (Dorfgemeinde), das andere Mal als Eigentümer des Bodens, dürfte die Grundlage des von Kuczynski zur „Achillesferse der Revolution“ ausgemachten Punkt 5 des Wählerauftrags sein. Mit diesem Punkt wurden die „einfachen Bauern und einfachen Kosaken“ – die Eigentümer ihres Bodens waren – von der Konfiskation des gesamten Grund und Bodens ausgenommen, ihr Eigentumsrecht am Boden sollte nicht aufgehoben werden.
Revolutionen haben die Eigenschaft, sich nicht an schriftliche Vorgaben zu halten. Weder, wenn sie von Marx oder Lenin kommen, noch wenn sie im Auftrag eines sozialrevolutionären Bauernkongress veröffentlicht werden. Der Bauer der Umteilungsgemeinde hatte 1917 keineswegs vergessen, wer in den Jahren von 1906 bis 1914 mit dem von der Dorfgemeinde „gestohlenem Land“ sein bäuerliches Eigentum auf Kosten der Gemeinschaft erworben hatte und holte sich dieses Land, sobald dies ungestraft möglich war, zumeist als erstes zurück. Helmut Altrichter schildert dies in seiner Dissertation über die Bauern von Tver, einer Region die von der Dorfgemeinschaft geprägt war.
„Exzesse, wie an der mittleren Wolga, wo die Auseinandersetzungen bereits vor dem Oktober Bürgerkriegscharakter angenommen hatten, blieben Tver erspart. Vor allem fehlten, so scheint es, die dort erbittert ausgetragenen Kämpfe mit Einzelbauern. Eben erst (durch die Stolypin-Gesetzgebung; A.S.) gegen den Willen der Obscina aus dem Dorfverband ausgeschieden, wurden sie nun in Strafaktionen zurückgeholt. Häufig ging es ihnen dabei nicht besser als den Gutsbesitzern: Sie verloren das in den Augen der Bauern widerrechtlich entwendete Obscina-Land, aber auch Vieh und Inventar, und die Besitzungen wurden zerstört.“58 So löste sich in der tatsächlichen Bauernrevolution die von Thomas Kuczynski entwickelte Theorie von einer „Achillesferse der Revolution“ mit dem Rauch der abgebrannten Bauernhöfe der Privateigentümer im wahren Sinne des Wortes „in Luft auf“.
Der weitere Verlauf der bäuerlichen Agrarrevolution
Vor 22 Jahren gaben die Autoren Hedeler, Schützler und Striegnitz einen Sammelband mit dem Titel „Die Russische Revolution 1917 – Wegweiser oder Sackgasse“ heraus. Darin veröffentlichten zwei russische Autoren (Wolobujew und Buldakow) einen Artikel, der sowohl auf die Bedeutung der Februarrevolution bei der Beurteilung des Revolutionsgeschehens 1917 hinwies als auch die wichtige Feststellung beinhaltete: „Die Bauernbewegung gehört zu den am wenigsten untersuchten Aspekten der Massenaktivitäten. Den Inhalt dieser Bewegung kann man als ‚Revolution der Obschtschina‘ kennzeichnen.“ (S. 53; Hervorhebung von mir, A.S.) Zwanzig Jahre später, zum hundertsten Jahrestag des russischen Oktobers, gibt W. Hedeler erneut einen Sammelband heraus, diesmal mit dem Thema: „Die russische Linke zwischen März und November 1917“, und stellt in seinem Einleitungsartikel fest: „Die Geschichtsschreibung hat es in den zurückliegenden fünf Jahren nicht vermocht, den Rückstand gegenüber den Quelleneditionen aufzuholen.“ (S. 11) Was Hedeler hier speziell auf die Forschung zur Geschichte der SDAPR bezieht, trifft auf die Untersuchung der bäuerlichen Agrarrevolution offensichtlich in einem noch größeren Umfang zu. In dem neuen Sammelband von 2017 wird dieses Thema deshalb gar nicht mehr ernsthaft aufgeworfen.59
Somit sind wir bei der Darstellung des weiteren Verlauf der bäuerlichen Agrarrevolution wiederum auf die Quellen und Studien der bürgerlichen Wissenschaft angewiesen. Beginnen wir erneut mit Altrichter und seiner gut dokumentierten Darstellung über die Bauern in der Region Tver. Hier ist hinzuzufügen, dass die von Altrichter untersuchte Region typisch für die Landumteilungsgemeinde, die Obscina ist. Dass die Agrarrevolution in anderen, nicht von der Obscina geprägten Regionen wie der Ukraine, dem Baltikum oder Sibirien einen anderen Verlauf genommen hat, ist anzunehmen und bedarf deshalb einer näheren Untersuchung. Weiter oben im Text hatten wir bereits auf diese regionale und soziale Scheidung innerhalb der Bauernschaft hingewiesen. Da aber die Obscina-Bauernschaft die große Mehrheit der russischen Bauernschaft darstellte, haben wir uns darauf beschränkt, den Verlauf und Inhalt der Agrarrevolutionen an diesem Beispiel darzustellen.
„Die gesetzlichen Bestimmungen des Oktober-Dekrets legten nur einen allgemeinen Rahmen fest. Sie ließen den Bauern im Übrigen freie Hand und vermieden Fixierungen und Normierungen, die vor Ort nicht durchzusetzen waren. Selbst die Entscheidung, von welcher Größe an Güter konfisziert werden sollten und nach welchem Modus das konfiszierte Land an die Bauern verteilt wurde, blieb den örtlichen Organen überlassen. … Die Bauern entschieden selbst, und es ist nicht ersichtlich, dass sie sich stillschweigend an eine einheitliche Norm gehalten hätten.“ … (Es) „wurden … Güter zwischen 12 ha und 1.000 ha enteignet. Manchmal verloren die früheren Besitzer alles, manchmal behielten sie, den örtlichen Verhältnissen und der Familiengröße entsprechend, einen Restacker zur Eigenbewirtschaftung.“60
Diese Darstellung verdeutlicht einerseits den selbständigen, von der Revolution in den Städten weitgehend unabhängigen Charakter der bäuerlichen Agrarrevolution, der sich faktisch jeglicher landesweiten, ja sogar regionalen Normierung entzog, obwohl er das ganze Land betraf. Zugleich dokumentiert sie die entscheidende Rolle des einzelnen Dorfes und seiner Umteilungsgemeinde, denn dort wurde entschieden, welche Gestalt die Agrarrevolution vor Ort annahm. Landumteilungen zwischen den Dörfern unterblieben durchgängig.
„Das Ergebnis der Agrarevolution im Tverer Gouvernement war: Bis 1920 hatten über 2.000 adelige und private Grund- und Gutsbesitzer ihre Ländereien völlig oder zum Großteil verloren. Meist hatten die Bauern Vieh und Inventar unter sich verteilt oder ungeteilt in Gemeinschaftsbesitz übernommen. Manchmal – und offenbar gar nicht so selten – wurden Vieh und Gerätschaften auch den früheren Besitzern belassen. Die Felder gingen in den Besitz der ortsansässigen Bevölkerung über, ein Ausgleich über die Dorf-, Volost- und Kreisgrenzen unterblieb. Die Zuteilung der Bodenanteile an die einzelnen Höfe richtete sich nach der Zahl der Esser oder der Arbeitskräfte, wie es den örtlichen Gepflogenheiten gerade entsprach, und häufig folgte der Aufteilung des Gutslandes eine Neuverteilung des obscina-Landes auf den Fuß. 1920 waren wieder 96 % der Tverer Bauernhöfe in der obscina, und der Anteil der Gemeinden an der gesamten Anbaufläche war kaum geringer.“61
Noch deutlicher wird der von uns betonte selbständige und vom einzelnen Dorf geprägte Charakter dieser Bauernrevolution, wenn wir die staatlichen Möglichkeiten der Einflussnahme näher betrachten. War schon der zaristische Staatsapparat auf dem Land so gut wie nicht vorhanden, so hatte die Februarrevolution 1917 seine letzten Bastionen beseitigt. Dies wurde der Bauernschaft im Sommer/Herbst des Revolutionsjahres zunehmend bewusster und ihre Angriffe auf den Grundbesitz außerhalb der Dorfgemeinde nahmen zu. Versuchte Militäreinsätze der Provisorischen Regierung gegen die sich entwickelte Bauernrevolution waren weitgehend erfolglos, schmälerten den ohnehin rapide abnehmenden politischen Einfluss der Sozialrevolutionäre auf die Bauernschaft weiter und ermutigten die Bauern, nach Abzug der Regierungstruppen mit ihren Aktionen fortzufahren.
Der Charakter der bäuerlichen Agrarrevolution erklärt sich aus der Geschichte der Dorfgemeinde. Rekapitulieren wir diese oben dargestellte Geschichte noch einmal in Kürze. Die Dorfgemeinde entstand historisch aus der Konfiskation des Landes der bäuerlichen Bodeneigentümer, einer Umwandlung von Privateigentum in Gemeineigentum der Umteilungsgemeinde, also durchaus anders als Marx es annahm und Kuczynski es mit dem Sassulitsch-Brief zitierte. Der Umfang des Landeigentums dieser Gemeinde wurde durch die Reform von 1861 beschnitten und nach der Revolution von 1905 durch die stolypinsche Reform weiter geschmälert, weil es nun möglich war, die Umteilungsgemeinde mit dem Land der Gemeinde als Privateigentum zu verlassen. Für die Dorfgemeinde waren beide Ereignisse „Diebstahl“ an ihrem Land. Die Bauernschaft forderte deshalb im Verlauf des Revolutionsjahres immer deutlicher das gesamte Land für die Umteilungsgemeinde zurück. Es wäre falsch, diese Radikalisierung der Bauernschaft der Agitation der Bolschewiki und der Partei der Linken Sozialrevolutionäre zuzuschreiben. Beide politischen Kräfte artikulierten einerseits nur Teile dieser Forderungen in den Sowjetorganen und waren im russischen Dorf so gut wie nicht vertreten,
„Die Obschtschiny umfassten, besonders in Kernrussland, nur kleine Siedlungen mit zehn, 12 Höfen. Auf dieser Ebene fällte die Dorfversammlung, der Schod, die zum Leben wichtigen Entscheidungen über Umverteilung und Flurzwang. Hier war jeder Nachbar, ja oft Verwandter. Aus der Umverteilung des Landes folgte, dass Armut und Reichtum weithin zyklischen Charakter hatten; wer viele Kinder hatte, bekam viel Land und sammelte ‚Produktionsmittel‘ an – ein Pferd, einen modernen Pflug. Dies galt nur, wenn Mann und Frau gesund blieben – lange Krankheit brachte einer Familie den Ruin. …
Acht oder neun, ja bis über fünfzehn solcher Dorfgemeinden waren in einem ländlichen Sowjet zusammengefasst. Erst auf dieser Ebene trat ‚der Staat‘ auf – erst hier gab es Kommunisten, die meisten unter den Verwaltungsbeamten oder Lehrern. … mit anderen Worten, dass die Partei auf der Ebene der Dörfer gar nicht auftauchte.“62 (Hervorhebungen von mir, A.S.) Zu derselben Bewertung kommt Altrichter durch die Auswertung sowjetischer Statistiken: „Wenn die Statistiken sowjetischer Historiker zutreffen, bildete sich noch im Verlauf des Jahres 1918 in jedem größeren Ort“ (wohlgemerkt nicht in den Dörfern, A.S.) „des Gouvernements ein wie auch immer gearteter ‚Rat‘. Genauere Richtlinien für seine Wahl, seine Größe und seine Kompetenzen gab es zunächst nicht … Über 95 % der Mitglieder bezeichneten sich selbst als parteilos, und der bolschewistische Anteil – von höchstens 3 bis 4 % – ging 1919 und 1920 noch weiter zurück. Neben dem Rat blieb allem Anschein nach die Dorfversammlung als unabhängige, letzte Entscheidungsinstanz bestehen, was zeigt, dass die Räte die alten dörflichen Entscheidungsstrukturen nicht beseitigten, sondern bestätigten.“63
Warum betonen wir den eigenständigen und vom einzelnen Dorf geprägten Charakter der Agrarumwälzung, die sich damit weitgehend der staatlichen Einflussnahme entzog? Nicht nur weil es den politischen und sozialen Inhalt der Umwälzung am treffendsten beschreibt und damit deutlich macht, dass kein Brief von Marx und kein Gesetz von Lenin in der Lage gewesen wären, etwas Grundsätzliches an dem Inhalt der Bauernrevolution zu ändern. Weiterhin um aufzuzeigen, dass der russische Bauer, vornehmlich der Bauer der Umteilungsgemeinde, eine eigene Geschichte und ein eigenes soziales Gesicht hat, das sich nicht aus dem Studium des „Kapitals“ erklären lässt, sondern das „Abtauchen“ in die Niederungen der profanen Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte erfordert, was wir mit den obigen Zitaten nur äußerst kursorisch gemacht haben. Viel wichtiger aber ist es, zu verstehen, dass der russische Oktober nicht eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse beinhaltet, sondern zwei: eine proletarische Minoritätenrevolution in den Städten und eine bäuerliche Agrarrevolution auf dem Land.
Zwei Revolutionen, die es zu unterscheiden gilt
Der Genosse Kuczynski stellt die Frage „Was bleibt von der Oktoberrevolution?“ Richtiger wäre es gewesen zu fragen „Was war die Oktoberrevolution?“ Und dass diese Frage nicht so einfach zu beantworten ist, wie es im Lichte des „Kurzen Lehrgangs“ scheint, haben der Genosse Karuscheit und ich in unseren früheren Publikationen zu diesem Thema dokumentiert. In unseren beiden gemeinsamen Büchern zur russischen Revolution64 haben wir diese Frage teils fehlerhaft65, teils unbefriedigend66 beantwortet. Richtig erkannten wir, dass die proletarische Machtergreifung im Oktober eine „Minoritätenrevolution“ war und dass die entscheidende Rolle der Bauernschaft in der Revolution einen direkten Weg zum Aufbau des Sozialismus ausschloss. Was wir nicht verstanden hatten war, dass der russische Oktober zwei gesellschaftlich und politisch entgegengesetzte Revolutionen beinhaltete, dass die Bauernrevolution eine eigenständige und nicht, wie es der „Kurze Lehrgang“ lehrt, ein Anhängsel der proletarischen Revolution war.
„Unter Führung der Partei der Bolschewiki stürzt die Arbeiterklasse im Bündnis mit der armen Bauernschaft, mit Unterstützung der Soldaten und Matrosen die Macht der Bourgeoisie, errichtet die Macht der Sowjets, … übergibt den Boden der Bauernschaft zur Nutzung …“67 Hier ist fast jeder Halbsatz falsch, aber noch immer prägt diese Darstellung das Bild von der Ereignisgeschichte der russischen Revolution. Es war nicht die Partei der Bolschewiki, die der Bauernschaft den Boden zur Nutzung gab. Es war die Bauernschaft selbst, die sich den Boden auf ihre eigene Art nahm und umteilte. Die Bolschewiki unterstützten diese eigenständige Bauernrevolution, befeuerten sie mit dem Dekret über die entschädigungslose Aufhebung des Grundbesitzes, gaben der Bauernschaft die Möglichkeit, die Agrarfrage in ihrem Sinne zu lösen, ohne Einmischung des Staates, der Partei oder der Arbeiterklasse. „Man wird in keinem Fall den Einfluss der Bolschewiki (und) der von ihnen eingesetzten Organe … überschätzen dürfen“, schreibt Altrichter und ergänzt: „Über die Modalitäten der Neuverteilung des Landes entschieden die Dorfbewohner selbst; ebenso eigenständig setzten sie ihre Entscheidungen um. Hierzu brauchten sie keine Landkomitees und Vorgaben der Regierung über Konsum- und Arbeitsnormen. Einmal mehr bestätigte sich dabei – zumindest in Zentralrussland – die Stärke der Landgemeinde … Innerhalb der Gemeinde, auf Dorfversammlungen oder in den von ihnen bestellten Komitees fielen die wichtigsten Entscheidungen, selbst wenn sich das eine oder andere Komitee jetzt ‚Sowjet‘ nannte.“68
Durch den oben dargestellten eigenständigen Verlauf der bäuerlichen Agrarumwälzung liegt es auf der Hand, dass diese Umwälzung einen anderen sozialen und politischen Inhalt hatte als die proletarische Minoritätenrevolution in den Städten. Zielte das Proletariat der Städte ökonomisch auf die Aufrichtung einer vergesellschaften Produktion und politisch auf die Diktatur des Proletariats, hoffte es auf den baldigen Ausbruch der Weltrevolution, um seine exponierte Stellung durch den Sieg der Revolution im Westen stärken zu können, so hatte die bäuerliche Agrarumwälzung mit diesen Zielen keine Gemeinsamkeiten. Die Bauern wollten das ihnen „gestohlene“ Land zurück und in „altväterlicher Weise“ – als bäuerlicher Familienbetrieb innerhalb der Umteilungsgemeinde – die kapitalistische Moderne verhindern und den Staat aus dem Dorf fernhalten. Deshalb „Verbot der Lohnarbeit“, deshalb „Verbot des Privateigentums am Boden“ und deshalb ebenso kein anderes Verwaltungsorgan als den „Dorfrat“, der die Interessen der Gemeinde nach innen regelt und nach außen vertritt.
„Das Landdekret (der Oktoberrevolution, A.S.) beschleunigte die weitere Umverteilung von Grund und Boden, es trieb aber auch die Zerrüttung der Beziehungen zwischen Stadt und Land weiter voran. Denn die im Winter 1917/18 einsetzende Flucht aus den Städten und die Heimkehr der Soldaten hatten negative Konsequenzen für die Versorgung der Städte. Unter Einbeziehung der marktorientierten Güter, aber auch vieler seit der Stolypin-Reform separierter Höfe kam es zu einer ’schwarzen Umteilung‘. Die Äcker wurden je nach Zahl der Esser oder Arbeitskräfte neu verteilt. Im Ergebnis kam es zu einer Nivellierung der bäuerlichen Besitzstruktur. … Rechtlich hatte jeder einen Anspruch auf Landzuteilung im Sinne der Nutzung, aber nicht des Eigentums am Land. Damit wurde die Stolypin-Reform rückgängig gemacht und die Feldgemeinschaft älteren Typs, also die obtschina, wiederhergestellt. Insgesamt siegte ein revolutionär gewendeter Traditionalismus. … Eine Perspektive für eine sozialistische Gesellschaft im marxistischen Verständnis ließ sich daraus nicht ableiten.“69
Was war der russische Oktober?
Die proletarische Revolution in den Städten bringt die bolschewistische Partei als legitime Vertretung der revolutionären Arbeiterklasse an die politische Macht. Ihre Zielsetzung: die Auslösung der sozialistischen Weltrevolution. Die Agrarrevolution auf dem Land orientiert dagegen auf die Vergangenheit, auf die Stärkung der Umteilungsgemeinde und die Sicherung des bäuerlichen Familienhofs innerhalb dieser Gemeinde. Der Sieg der bäuerlichen Revolution auf dem Land – und dieses Paradoxon gilt es zu verstehen – führt zur politischen Entmachtung der Bauernschaft in den Sowjets durch die faktische Auflösung der Armee (Soldatensowjets). Dieser Sieg bricht in den Monaten Oktober 1917 bis Januar 1918 die Vorherrschaft der kleinbürgerlich-bäuerlichen Kräfte im Sowjet, die seit dem Februar/März 1917 in wechselnden Koalitionen die russische Revolution dominierten. Dieses scheinbare Paradoxon, dass der Sieg der bäuerlichen Agrarrevolution die politische Vorherrschaft des Kleinbürgertums (einschließlich der Bauernschaft als seine zahlenmäßig bedeutendste Schicht) über die proletarische Revolution in Russland beendet, ist nicht einfach zu erkennen und noch schwerer zu verstehen.
Beyrau beschreibt diesen Vorgang durchaus treffend, ohne ihn richtig politisch interpretieren zu können. Als bürgerlicher Historiker und überzeugter Antikommunist kann er dort, wo Klassenkräfte wirken, nur bolschewistische Manipulationen entdecken. Trotzdem ist seine Schilderung hilfreich, um das komplexe Thema zu verstehen. „Man hat parallel zu den Vorgängen in den Städten die Situation auf dem Lande seit dem Sommer 1917 als ‚Diktatur der Bauern‘ bezeichnet, eine zugleich zutreffende und doch wieder falsche Zustandsbeschreibung. Einerseits charakterisiert sie die bemerkenswerte Hilflosigkeit der staatlichen Organe und der Gutsbesitzer vor Ort. Trotz punktuellen Einsatzes von Militär und Kosaken war die Zerstörung der alten Ordnung nicht aufzuhalten, ein Beleg dafür, wie schwach sie auf dem Land verankert war, wenn die Bauern den Gehorsam verweigerten. Der Begriff geht aber an der Realität insofern vorbei, als sich aus den Aktionen der zahllosen Bauerngemeinschaften … keine auch nur halbwegs stabile Organisation formierte. … Bäuerliche Interessenvertretungen wie der allrussische Sowjet der Bauerndeputierten ließen sich daher ohne große Schwierigkeiten von den Bolschewiki ausmanövrieren, nachdem sie die wichtigsten Forderungen der Bauern übernommen hatten.“70 (Hervorhebungen von mir; A.S.)
Beyrau hat hier – wie viele andere auch – etwas Grundlegendes nicht verstanden. Die politische Bedeutung und Macht der Bauernschaft beruhte nicht auf dem „allrussische(n) Sowjet der Bauerndeputierten“, der von den Bolschewiki dann 1918 heimtückisch „ausmanövriert“ wurde, sondern auf dem „Arbeiter- und Soldatensowjet“. In diesem Sowjet, der von den Bauernsoldaten zahlenmäßig und damit auch politisch dominiert wurde, wie Suchanow dies in seinen Erinnerungen anschaulich darstellt, lag die Macht der Bauern über die russische Revolution begründet. Mit der Agrarrevolution und der unweigerlich folgenden Auflösung der zaristischen Armee71, war es vorbei mit der bäuerlichen Vorherrschaft über den Arbeitersowjet und über die russische Revolution. Dies geschah, wie bereits weiter oben dargestellt, in den Monaten von Oktober 1917 bis Januar 1918. Und auf dem Land herrschte zu dieser Zeit in der Tat die „Diktatur der Bauern“, die endlich ihre eigene Revolution, die „schwarze Umteilung“ verwirklichen konnten, ohne vom Staat eingeschränkt oder von der Stadt bevormundet zu werden. Und so ist der Begriff von der „Diktatur der Bauern eine zutreffende … Zustandsbeschreibung“ für die russischen Agrargebiete ab Oktober 1917. „Die Bauern dagegen retteten die wichtigste Trophäe ihres Aufstandes, das hinzugewonnene Land, durch alle Wirren.“72
In diesem Doppelcharakter, einer proletarisch-sozialistischen Minoritätenrevolution in den Städten und einer rückwärtsgewandten, antikapitalistischen (auch deshalb nicht bürgerlichen) Bauernrevolution auf dem Land, liegt das Wesen des russischen Oktobers verborgen.
IV. Der russische Oktober – Umsturz oder Revolution?
Die bürgerliche Publizistik zum 100. Jahrestag des russischen Oktobers – und allen voran Manfred Hildermeier mit seinen zahlreichen Artikeln zu diesem Thema – hat hier eine weitgehend einheitliche Position. „Wenn es 1917 in Russland eine Revolution im üblichen Sinne gab, dann fand sie nicht im Oktober, sondern Ende Februar statt. Nur im Februar gingen Massen auf die Straße, deren Protest eine jahrhundertealte Herrschaft ins Wanken brachte. Dagegen entsprach der ‚Rote Oktober‘ eher dem Drehbuch eines Militärputsches. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss ihn. Ein gefügiges Komitee des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats bereitete ihn sorgfältig vor, und eine parteitreue Miliz half bei der Besetzung strategisch wichtiger Einrichtungen.“ (FAZ, 07.11.2017) Soweit Hildermeier, der hier nur die altbekannten Positionen des Richard Pipes mit eigenen Worten aufbereitet. Wie bereits eingangs dargestellt (siehe Fußnote 5), steht die Linke einer solchen Kritik am russischen Oktober hilflos gegenüber.
Der Genosse Kuczynski macht hier keine Ausnahme. Er ist empört über eine solche Aussage, distanziert sich mit deutlichen Worten von einer derartigen Bewertung des Oktobers und kann sie doch trotz aller Gramsci-Zitate, die er in diesem Zusammenhang anführt, nicht widerlegen. Schauen wir seine Ausführungen genauer an, finden wir dort noch nicht einmal den ernsthaften Versuch, auf die Beweisführung Hildermeiers einzugehen. Stattdessen beruft er sich auf Gramsci. „Die Revolution der Bolschewiki (,,,) ist die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx“ zitiert er einen Artikel von Gramsci aus dem Avanti vom 24. November 1917 um dann weiter auszuführen:
„Diese Aussage wird vor allem von jenen gern zitiert, die mit Kautsky und Plechanow und gegen Lenin meinen, Russland sei ‚noch nicht reif für die sozialistische Revolution‘ gewesen. Aber genau dies war nicht seiner Rede Sinn, denn Gramsci stellte in seinem Zeitungsartikel fest: ‚Die Tatsachen haben die kritischen Schemata zersprengt, innerhalb derer die Geschichte Russlands nach den Grundprinzipien des historischen Materialismus hätte ablaufen müssen. Die Bolschewiki ignorierten Karl Marx, sie bestätigten mit der vollendeten Aktion (…), dass die Grundprinzipien des historischen Materialismus nicht so ehern sind, wie man denken könnte und gedacht hat. … Die Bolschewiki … haben auf dem Werk des Meisters (gemeint ist „Das Kapital“ von Marx, A.S.) keine oberflächliche Lehre aus dogmatischen und undiskutierbaren Behauptungen errichtet. Sie leben das marxistische Denken.‘ Das ist das glatte Gegenteil der Gramsci Interpretation derer, für die es 1917 in Russland nur eine Revolution gab, die Februarrevolution und die Oktoberrevolution zum ‚Oktoberumsturz‘ oder gar zu einer putschistischen Aktion Lenins degradieren.“ (S. 134)
Wir haben den Genossen aus mehreren Gründen so ausführlich zitiert. Zum ersten ist es unübersehbar, dass er den Argumenten der Kritiker nicht Tatsachen, sondern Gramsci gegenüberstellt. Obwohl seine revolutionäre Interpretation der Auflassungen Gramscis völlig richtig ist, liefert sie keine Erklärungen zu den offensichtlichen Unterschieden zwischen der Februarrevolution und dem Oktober. Die Februarrevolution war eine spontan entstandene Volksrevolution in der Stadt Petrograd, jener Stadt, in der der Umsturz – sowohl im Februar als auch im Oktober – entschieden wurde. Der Februarumsturz begann mit Hungerprotesten, Streiks und Demonstrationen der Arbeiterschaft. Diese Proteste der Arbeiter weiteten sich in wenigen Tagen zu einer von breiten Teilen der städtischen Bevölkerung unterstützten Revolution aus, der sich schließlich bedeutende Teile der Garnison anschlossen. Gestützt auf diese Kräfte wurde die zaristische Regierung und ihr Staatapparat mit Waffengewalt gestürzt (und nicht nur – wie Hildermeier oben beschönigend formulierte – „ins Wanken gebracht“).
Der Oktober war all‘ dies nicht. Er war eine geplante und entsprechend vorbereitete bewaffnete Machtergreifung, getragen von Teilen der Garnison und den Roten Garden der Arbeiter. Große Teile der städtischen Bevölkerung erfuhren von dieser Machtergreifung erst in den folgenden Tagen aus der Zeitung. Diesen deutlich sichtbaren Unterschied in der Form der Erhebung zu ignorieren oder zu leugnen, ist keine wissenschaftlich haltbare Position. Das weiß Hildermeier nur zu Genau und insistiert darum in allen seinen Veröffentlichungen im Jahr 2017 auf diese augenscheinlichen Unterschiede, um den Oktoberumsturz als „Militärputsch“ zu diskreditieren. Um dieser Argumentation entgegentreten zu können, gilt es vom Augenschein zu den tatsächlichen sozialen und politischen Inhalten der beiden Erhebungen fortzuschreiten.
Im Februar haben wir in Petrograd (wohlgemerkt nicht auf dem Land, da die Bauernschaft im Februar noch „ruhig“ war) eine von breiten Schichten der städtischen Bevölkerung getragene Volksrevolution. Im Oktober haben wir in derselben Stadt eine proletarische Minoritätenrevolution, die diesmal durch eine bäuerliche Massenbewegung auf dem Land begleitet wird. Im Februar bestand die Aufgabe die zaristische Staatsmacht zu stürzen und zu zerschlagen, was eine Volksrevolution samt Garnisonsunterstützung erforderte. Im Oktober galt es nur eine Regierung zu verhaften, die weder Legitimation noch Rückhalt in der Bevölkerung besaß, aber – was mindestens ebenso wichtig ist – die über keine eigenständige Staatsmacht und ernstzunehmende bewaffnete Kräfte verfügte.
Was macht es so schwierig, diese Unterschiede zu verstehen? Es wird – entsprechend der bolschewistischen Geschichtsschreibung – ignoriert, dass die alte Staatsmacht bereits in der Februarrevolution zerschlagen wurde und die wechselnden Provisorischen Regierungen des Jahres 1917 es nicht vermochten, eine neue Staatsmacht auszubilden. Spätestens nach der Machtprobe im April 1917 (Miljukow-Note) war klar, dass die Macht nicht bei den wechselnden Regierungen, sondern in den Händen des Sowjets lag. Mit dem Wechsel der Sowjetmehrheit von den sozialrevolutionär-menschewistischen Kräften zu den Bolschewiki, war die Möglichkeit und im gewissen Sinn auch die Notwendigkeit73 der bolschewistischen Machteroberung gegeben. Und diese Machteroberung musste deshalb auch ein völlig anderes Erscheinungsbild haben als die Februarrevolution: Das Militärrevolutionäre Komitee des Petrograder Sowjet ließ durch seine „Machtorgane“ die Verkehrsknotenpunkte und Kommunikationszentren besetzten sowie die inzwischen durch nichts mehr legitimierte Provisorische Regierung74 im Winterpalais verhaften.
Lassen wir dies alles durch einen bürgerlichen Historiker beschreiben: „Was zu tun war, lag auf der Hand. Die Strategen des VRK (Revolutionäres Militärkomitee) kannten die wenigen zentralen Punkte, die im Handstreich genommen werden mussten. Wohl fehlte ihnen eine wirkliche militärische Streitmacht … Aber angesichts des Mangels an Gegenwehr reichten die bolschewistischen Garnisonsregimenter und die Roten Garden, in Petrograd etwa 15.000 bis 20.000, aus. … Als um 8 Uhr Soldaten des VRK auch im Warschauer Bahnhof patrouillierten, war der Machtwechsel in Petrograd faktisch bereits vollzogen – kampflos und ohne Blutvergießen, eher eine ‚Wachablösung‘ (Suchanow) als ein Umsturz. Drei Stunden später floh Kerenski …“ Und wenige Seiten weiter: „Kaum ein Soldat ergriff für die Provisorische Regierung Partei.“75 Hier wird anschaulich herausgearbeitet, warum der Oktober ein völlig anderes Gesicht haben musste als die Februarrevolution, die den Zarismus stürzte: Es war keine Staatsmacht mehr zu stürzen, sondern „nur“ eine unlegitimierte Regierung, die keine Verteidiger fand, zu verhaften.
Nochmals „Historischer Materialismus“ und Revolution
Zurück zum Genossen Kuczynski und dem angeführten Gramsci-Zitat. Hier ist interessant, was Gramsci dem „Kapital“ und dem „Historischen Materialismus“ anlastet. Diese Kritik gilt es zu kommentieren und richtig zu stellen, was der Genosse Kuczynski bedauerlicherweise unterlässt. Der Satz „die Bolschewiki ignorierten Karl Marx“ ist ebenso falsch wie die These, sie hätten „einige Sätze des Kapitals (ge)leugnet“. Gerade bei ihren agrarpolitischen Vorstellungen – wie weiter vorne dargestellt – folgten sie den Ausführungen des Kapitals deutlich mehr als es für russische Verhältnisse angebracht war. Nicht an Marx und erst recht nicht an seinem Werk „Das Kapital“ ist die Kritik zu führen, sondern an der Gestalt, die der historische Materialismus in der 2. Internationale angenommen hat. Klassisch wird dies an der Position, die Kautsky zur Frage der Revolution bezieht:
„Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebenso wenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen.“76
Dieses vollständig passive und ebenso vollständig falsche Verhältnis zur Revolution ist kennzeichnend für das Marxismusverständnis der 2. Internationale. Marx hatte – so verstanden Theoretiker wie Kautsky und Plechanow ihn – nachgewiesen, dass die Entwicklung des Kapitalismus notwendig zur Entwicklung des Proletariats und seiner letztendlichen Machtergreifung führen müsse. Diese Machtergreifung sei möglich, sobald das Proletariat eine Mehrheit der Bevölkerung bilde – so Kautsky und Plechanow etc. – und damit unmöglich, wo dies nicht der Fall sei. Rosa Luxemburg hat darauf trefflich geantwortet: „Damit haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der „Mehrheit des Volkes“ gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir eine ‚Mehrheit‘. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg.“77
Damit zurück zum Kautsky-Zitat. „Wir wissen aber auch, dass es ebenso wenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen.“ Dies ist erkennbar Unsinn. Wie will man eine Revolution – die der Gegner nicht verhindern kann – wie Kautsky ausführt, durchführen, wenn man sie nicht vorbereitet oder anstiftet, wenn man sie nicht macht? Die Revolution kommt hier zur Sozialdemokratie wie die Jungfrau zum Kinde. Und dies geschieht durch das Wunder des Historischen Materialismus, das im Marxschen Kapital angekündigt wurde. An einem solchen „Marxismus“ ist Marx völlig unschuldig und genau diesen „Marxismus“ kritisiert Gramsci.
Ist ein geplanter Umsturz unvermeidlich nur ein „Militärputsch“ und keine Revolution mehr?
Revolutionen können nicht auf Wunsch „gemacht“ werden. Sie bedürfen gesellschaftlicher und politischer Voraussetzungen. Dies ist unbestreitbar. Sind diese Voraussetzungen aber gegeben, so erkennt man die revolutionäre Partei daran, dass sie die Revolution macht. Und genau dies war die Aufgabenstellung im russischen Oktober. Und die Bolschewiki haben sich dieser Aufgabe gestellt und sie in der im Oktober einzig möglichen Form, der „plebiszitär gestützten Militäraktion“, durchgeführt. Ist sie deshalb keine „Revolution“ mehr, sondern ein „Militärputsch“, wie Hildermeier weiter oben argumentierte?
Antworten wir dem Hildermeier von 2017 mit dem Hildermeier von 1989: „Wenn die Oktoberwende in der Essenz eine plebiszitär gestützte Militäraktion war, summierten sich die folgenden Maßnahmen und spontanen Prozesse zur zweiten Revolution.“78 Und einige Seiten später begründet er diesen Gedanken ausführlich: „Dabei geht es nicht darum, die Umwälzung als solche in Frage zu stellen. Auf der Hand liegt, dass sich die Vorgänge des Jahres 1917 zu einer Revolution im genaueren Sinne des Begriffs summierten. Schon der Februarumsturz beseitigte nicht nur die Monarchie, sondern griff auch tief in das soziale Machtgefüge ein. Erst recht brach die Oktoberrevolution mit der Vergangenheit. Die Absage an Parlamentarismus und Parteienpluralität … und die Enteignung der großen Besitzer in Stadt und Land sanktionierte wohl die rascheste und radikalste Sozialrevolution, die in der Geschichte bis dahin zu verzeichnen war.“79 (Hervorhebungen von mir; A.S.) Das ist doch eine überzeugende Beweisführung dafür, dass der Oktober sowohl „eine plebiszitär gestützte Militäraktion war“, als auch eine „Revolution im genaueren Sinne des Begriffs“.
Bleibt die interessante Frage, wieso Hildermeier 2017 mit seiner – wie wir gesehen haben – relativ platten Denunziation der Oktoberrevolution die bürgerliche Publizistik zum 100. Jahrestag füllen konnte, ohne dass die „marxistische Linke“ dem entgegentrat? Und das, obwohl derselbe Hildermeier 30 Jahre zuvor seine heutige Position treffend und faktenreich widerlegt hatte? Die Antwort ist bedrückend einfach. Hildermeier konnte sich sicher ein, dass die „marxistische Linke“, erst recht ihr akademischer Flügel um die Zeitschrift Z, ihn weder kritisieren konnte noch wollte, so dass seine Wandlung vom ernsthaften bürgerlichen Wissenschaftler zum Apologeten des Antikommunismus unkommentiert bleiben würde.
Diese „marxistische Linke“ hat an einer ernsthaften Aufarbeitung der historischen Ereignisse, die das vergangene Jahrhundert und die revolutionäre Bewegung prägten, keinerlei ernsthaftes Interesse. Engels Aufforderung kurz vor seinem Tod „unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum. Die ganze Geschichte muss neu studiert werden …“ stößt hier auf taube Ohren. Da „interpretiert“ man lieber Lenins Schriften zum Imperialismus oder zu Staat und Revolution neu, als in die Niederungen der wirklichen Geschichte hinabzusteigen.
Offene Fragen
Mit den obigen Ausführungen sind die vom Genossen Kuczynski in seinem Artikel aufgeworfenen Fragen keineswegs vollständig behandelt. Folgende Fragen sind m. E. noch offen:
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Warum änderten Marx und Engels in der zweiten Hälfte der 70 Jahre des 19. Jahrhunderts ihre politische Position zu den russischen Volkstümlern? Finden wir hier Erklärungen für die von mir als „kryptisch“ beschriebenen Ausführungen zur russischen Dorfgemeinschaft?
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Wenn man die revolutionäre Tat der Bolschewiki verteidigen will, warum rückt man fortwährend ihr faktisches Zusammengehen mit der Bauernrevolution ins Zentrum der Kritik, obwohl ohne die Anerkennung des selbstständigen Charakters der Bauernrevolution ein Sieg der Arbeiterklasse im Oktober nicht möglich gewesen wäre?
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Wer die Theorie des Aufbaus des Sozialismus in einem Land kritisiert – wie Genosse Kuczynski – sollte die Alternativen aufzeigen, die nach dem Scheitern der Revolutionen im Westen sonst möglich gewesen wären.
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Und abschließend eine (vielleicht) vordergründige Parallele: Auf dem Sowjetkongress im Sommer 1917 in Russland und dem Rätekongress im Dezember 1918 in Deutschland waren in beiden Fällen die Revolutionäre in einer klaren Minderheit; beide Kongresse sprachen sich mit überwältigender Mehrheit für eine parlamentarische Republik und gegen die Sowjetmacht aus. Vier Monate später können die Bolschewiki eine proletarische Minoritätenrevolution siegreich anführen, während die deutsche Revolution in den folgenden Jahren wiederholt scheiterte.
Gibt es hier nicht doch noch einiges zu untersuchen? Sind die „alten Revolutionen“ – gerade nach den in diesem Artikel behandelten Fragen – nicht weiterhin ein „aktuelles Thema“?
Literatur
Altrichter, Helmut: Die Bauern von Tver, Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, R. Oldenburg Verlag München 1984
Altrichter, Helmut: Russland 1917 – Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997
Aufsätze zur Diskussion; Nummern 67, 86, 89
Berliner Debatte Initial Nr. 28
Beyrau, Dietrich: Petrograd, 25. Oktober 1917. München 2001
Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Kurzer Lehrgang, Stuttgart 1974.
Goehrke, Carsten: Die Theorien über die Entstehung und Entwicklung des „MIR“, Wiesbaden 1964
Goehrke, Carsten: Russischer Alltag, Bd. 1; Die Vormoderne, Bd. 2; Auf dem Weg in die Moderne, Bd. 3, Sowjetische Moderne und Umbruch, Zürich 2003.
Häfner, Lutz: Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre in der russischen Revolution 1917/18, Köln 1994
Hedeler, Wladislaw; Schützler, Horst; Striegnitz, Sonja: Die Russische Revolution 1917 – Wegweiser oder Sackgasse; Dietz Verlag Berlin 1997
Hedeler, Wladislaw: Die russische Linke zwischen März und November 1917; Dietz Verlag Berlin 2017
Hildermeier, Manfred: Geschichte Russlands, München 2013
Hildermeier, Manfred: Die russische Revolution 1905-1921, Frankfurt 1989.
Karuscheit/Schröder: Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus, VTK-Verlag 1993
Kautsky, Karl: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, hrs. und eingeleitet von G.Fülberth, Frankfurt/M 1972
Lenin Gesammelte Werke: LW Bd. 13, 25, 26
Marx, Karl: „Grundrisse der politischen Ökonomie“, Erstveröffentlichung 1939 und 1941 in Moskau
Marx, Karl: „Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“, Berlin 1977
Marx, Engels Werke; MEW Bd. 19, 32, 35, 37
Marx, Karl: Die Briefe von Karl Marx und Friederich Engels an Danielson, Leipzig 1929
Nolte, Hans-Heinrich: Kleine Geschichte Russlands, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006
Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, VSA-Verlag, 2017
Smith, Stephen A.: Revolution in Russland, Darmstadt 2017
Z Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 113
1 Siehe aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Z Nr. 119. Wie man mit diesem Thema den Marxismus „erneuert“ (die Zeitschrift erhebt im Titel den Anspruch, eine Publikation zur „Marxistische(n) Erneuerung“ zu präsentieren), ohne eine eigenständige, über die Aussagen aus dem Kapital von Marx hinausgehende Analyse der Ursachen der Klimaerwärmung vorlegen zu können, kann der Leser in der genannten Ausgabe nachlesen, natürlich ohne eine andere „Erneuerung“ als reformistisches Gedankengut finden zu können.
2 Siehe dazu ebenso die Nr. 119 der Z, Seite 102-137
3 Z Nr. 113, S. 183-184
4 Siehe dazu u.a AzD Nr. 86, S. 28-38.
5 Altrichter 1997, S. 87
6 Bezeichnend hierzu, dass bis auf diese Zeitschrift niemand in der Linken der wohlberechneten und fortwährend wiederholten Kritik Hildermeiers (APuZ, FAZ etc.) am russischen Oktober inhaltlich entgegengetreten ist. Man hat sich noch nicht einmal gewagt, Hildermeiers Kritik zu zitieren, obwohl sie durch ihre weite Verbreitung in der bürgerlichen Publizistik unübersehbar war. Siehe auch hierzu AzD Nr. 86, S. 28-38
7 Siehe AzD Nr.89, S. 12
8 F. Engels, August 1890, Brief an Conrad Schmidt, MEW Bd. 37, S. 436-437
9 Der „historische Materialismus“ des „Kurzen Lehrgangs“ liefert eine der Vorgaben für ein solches Verfahren.
10 Die Theorie vom „großen Kladeradatsch“ (Bebel), die die Revolution sozusagen direkt aus der ökonomischen Krise entstehen lässt.
11 Hier sei auf die Veröffentlichung „Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ von Marx verwiesen, erschienen bei Olle und Walter, die bezeichnenderweise den Untertitel erhielt „Über den asiatischen Ursprung der russischen Despotie“.
12 Karl Marx: „Grundrisse der politischen Ökonomie“, Erstveröffentlichung 1939 und 1941 in zwei Teilen in Moskau. Dem Titel wurde in Klammern der Untertitel „Rohentwurf“ zugefügt.
13 Abgedruckt in der Zeitschrift „Berliner Debatte Initial“ Nr. 28, S. 133-141. Der Text hat seinen Ursprung in einem Vortrag des Genossen in der „Hellen Panke“ in Berlin vom 17. Oktober 2017.
14 Berliner Debatte Initial Nr. 28, S. 139
15 „Das Privateigentum am Grund und Boden wird für immer aufgehoben“, so heißt es gleich im ersten Satz des „Wählerauftrags“, der als „Richtschnur“ (Lenin) für die Umsetzung des Bodendekrets gelten sollte (LW Bd. 26, S. 250). Warum Kuczynski den ersten Absatz des „Wählerauftrags“ gar nicht zitiert und den gesamten Inhalt sowohl des Dekrets als auch des „Wählerauftrags“ nicht versteht, siehe weiter unten im Artikel.
16 Karl Marx, November 1877, MEW Bd. 19, S. 107. Dieser Brief wurde von Marx nicht abgeschickt und erst nach seinem Tod von Engels und V. Sassulitsch veröffentlicht.
17 MEW Bd. 32, S. 42-43
18 Goehrke: „MIR“, S. 170
19 Er zitiert ausgiebig die Forschungsmethode eines Autors der Großen Sowjetenzyklopädie: „Am Anfang seiner Untersuchungen stellt Grekov (sowjetischer Forscher zum Thema) stets – entsprechendes haben wir schon anhand der ‚Großen Sowjet Enzyklopädie‘ festgestellt – das von Friedrich Engels übernommene Geschichtsthema. Nach diesem Schema hat sich die Auflösung der kommunistischen Urgesellschaft in folgenden Etappen vollzogen: Die Sippe (rod) als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung bei allen Völkern der Urgesellschaft gipfelt auf der Höhe ihrer Entwicklung in einer ‚patriarchalischen Familiengemeinschaft‘, die mehrere Generationen umfasst und deren Glieder das Land und alle Habe gemeinsam besitzen und eine gemeinsame Wirtschaft führen. Beim Zerfall des Sippenverbandes entsteht als Übergang zur politischen Organisation die Landgemeinde, in der jedoch anfänglich noch die Prinzipien des Gemeineigentums zusammen mit der Großfamilie erhalten bleiben.
An die Darlegung dieses abstrakten Schemas schließt sich stets eine typische Formulierung an, in der der Sowjethistoriker anhand des Schemas sein Forschungsziel umreißt, wie etwa diese: ‚Meine Aufgabe besteht darin, auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Verallgemeinerung diesem Gegenstand angemessen gegebene Quellen zu benutzen und nach Möglichkeit den Entwicklungsprozess der russischen Gemeinde zu skizzieren.‘ Die Forschungsmethode des Sowjethistorikers hat also einen der Methode des kritisch-offenen Forschens diametral entgegengesetzten Gang: statt aus den Quellen eine Entwicklung zu erschließen, trägt sie eine dogmatisch-fixe These an die Quellen heran; statt induktiv zu arbeiten, arbeitet sie deduktiv; statt ein überkommenes Lehrgebäude immer wieder kritisch an den Quellen auf seine Richtigkeit zu überprüfen, hält sie starr an der naturgesetzlichen Richtigkeit eines 100 Jahre alten Schemas fest, das selbst nicht in Frage gestellt werden darf und dem die Quellen untergeordnet werden müssen.“ (Goehrke, ebd S.166, Hervorhebungen von mir; A.S.) Nicht anders formuliert Minc (sowjetischer Geschichts- und Revolutionsforscher) seine Vorgehensweise bei der Darstellung der russischen Revolution (siehe AzD 89, S.16).
20 MEW Bd. 32, S. 42-43
21 Der Herausgeber des Briefwechsels verweist darauf, dass diese Auseinandersetzung im Jahr 1856 in verschiedenen russischen Zeitschriften geführt wurde. „Während Tschitscherin … in der Agrarkommune eine staatliche Verwaltungseinrichtung jüngeren Datums sah, betrachtete Bjeljajew … sie als uralte slawische Volkseinrichtung.“
22 Marx, 22.03.1873: Die Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Danielson, Leipzig 1929, S. 14
23 Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 2, S. 178
24 Smith, S. 37-38.
25 Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 1, S. 181
26 Ebd, S. 179
27 Ebd, S.178
28 Nolte, S. 97
29 Gemeint sind die Kopfsteuer und die Rekrutensteuer (Abstellung von Rekruten in bestimmter Anzahl für die Armee).
30 Hildermeier 2013, S. 596
31 Fronleistungen.
32 Bäuerlicher Zins
33 Hildermeier 2013, S. 596-597
34 MEW Bd. 35, S. 166
35 Siehe zu den Unterschieden zwischen Dekret und Wählerauftrag weiter unten im Artikel.
36 LW Bd. 26, S. 250
37„Freier Getreidehandel bedeutet Rückkehr zum Kapitalismus, zur Allmacht der Gutsbesitzer und Kapitalisten … Wenn man einen beliebigen Werktätigen, Arbeiter, Bauern, selbst einen Intellektuellen fragt, ob er eine solche ‚Ordnung‘ wünscht, so wird jeder antworten: Nein. Doch das Unglück besteht gerade darin, die Gefahr besteht gerade darin, dass sehr viele Werktätige, besonders viele Bauern (Hervorhebung von mir, A.S.) den Zusammenhang zwischen dem freien Getreidehandel und der Allmacht der Gutsbesitzer und Kapitalisten nicht begreifen.“ (LW Bd. 29, S. 563, August 1919; letzte Hervorhebung im Original). Der „freie Getreidehandel“ kann nicht zur „Allmacht der Gutsbesitzer und Kapitalisten“ führen, (die, nebenbei bemerkt, zu dieser Zeit in Russland gar nicht mehr existierten) und kann dies umso weniger, wenn der Staat Eigentümer der Produktionsmittel ist.
38 LW Bd. 13, S. 289-290
39 MEW Bd. 35, S. 166
40 Chutorwirte sind Bauern, die im Zuge der Stolypinschen Gesetze die Dorfgemeinde mit ihrem Besitz verlassen hatten.
41 Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 2, S. 243
42 Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 2, S. 252
43 Kuczynski, S.136-137
44 LW Bd. 26, S. 248
45 „Ihr erster Allrussischer Kongreß, der vom 04. bis 28 Mai tagte, war deshalb auch in geringerem Maße als der Allrussische Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte die Spitze einer Pyramide. Seine Mitglieder leiteten ihr Mandat nicht aus der Wahl der jeweils untergeordneten Sowjets ab, sondern wurden von allen volljährigen Bauern in einem zweistufigen Verfahren in der Relation von einem Delegierten auf 150.000 Stimmberechtigte gewählt. … Die Bauernsowjets entstanden von oben nach unten, nicht umgekehrt. Zu keiner Zeit vermochten sie die mangelnde Verwurzelung zu überwinden: Gerade sie mussten sich dem Vorrang der obs̆c̆ina beugen.“ (Hildermeier 1989, S. 201) Hier findet sich auch die Ursache für die andauernde Vorherrschaft der rechten Sozialrevolutionäre, die die tatsächliche bäuerliche Bewegung bereits seit dem Sommer 1917 nicht mehr repräsentierten.
46 Sie zeigt sich auch darin, dass das Dekret selbst außer der Enteignung – was die Bolschewiki ebenso forderten – nicht einen einzigen sozialrevolutionären Gedanken enthält. Diese – speziell sozialrevolutionären – Positionen spiegeln sich in dem beigefügten Wählerauftrag als dokumentierter Wunsch der Bauernschaft wider, sind aber nicht Bestandteil der vier Punkte des Dekrets. Laut Dekret soll der Wählerauftrag nur als „Richtschnur“ dienen für „die Durchführung der großen Agrarumgestaltung … bis zur endgültigen Entscheidung dieser Frage durch die Konstituierende Versammlung“ (ebd, S. 249).
47 Ebd, S. 252
48 Die von Kuczynski zitierte Stelle behandelt die Frage, ob Dekret und Wählerauftrag von der sozialrevolutionären Programmatik geprägt seien. „Sei’s drum“, antwortet Lenin. „Wenn die Bauern das Dekret in der Praxis anwenden, so werden sie in der lebendigen Wirklichkeit selbst erkennen wo die Wahrheit liegt.“ Er weiß sehr genau, dass das Dekret selbst nur von den linken Sozialrevolutionären – mit denen er koalieren will und wird – unterstützt wird. Und dass der dem Dekret beigegebene Wählerauftrag die Stimmung der Bauernschaft vom Frühsommer 1917 und nicht vom Herbst/Winter 1917/18 widerspiegelt. Gerade der vom Genossen Kuczynski so negativ beurteilte Punkt fünf des Wählerauftrags wird ein Opfer dieses Stimmungswandels, wie der Leser gleich sehen wird.
49 Gemeint sind die unterschiedlichen Agrarprogramme der Menschewiki und Bolschewiki.
50 LW Bd. 25, S. 281-282
51 Ebd
52 Ebd, S. 283
53 Häfner 1994, S. 43-44
54 LW Bd. 25, S. 289
55 Ebd S. 284 und S. 288
56 Alle Zitate ebd, S. 284
57 „Es blieb jedoch Stolypin vorbehalten, die entscheidende Maßnahme zu treffen. Sie verbriefte den Bauern das Recht, auch ohne Zustimmung der Dorfgenossen samt ihrem Land aus der Umteilungsgemeinde auszuscheiden und dabei die Zusammenlegung der von ihnen genutzten Ackerstreifen zu verlangen.“ (Hildermeier 2013, S.1045)
58 Altrichter 1984, S. 34
59 Stattdessen enthält dieser Sammelband einen politisch höchst oberflächlichen Artikel zur Partei der Sozialrevolutionäre, ohne auf die Agrarfrage näher einzugehen, und eine Kurzfassung von Michels Brie „Was tun in Zeiten der Ohnmacht“. Beide genannten Beiträge behandeln „Ideengeschichte“, nicht wirkliche Geschichte. Ein weiterer Aufsatz zu den linken Sozialrevolutionären (ab S. 98) schafft es sogar, die Agrarfrage völlig auszublenden. Informativ an diesem Sammelband sind nur die abgedruckten Dokumente ab Seite 189.
60 Altrichter 1984, S. 34
61 Altrichter 1984, S. 35
62 Nolte, S. 186-187
63 Altrichter 1984, S. 36
64 Karuscheit/Schröder: Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus, VTK-Verlag 1993, sowie Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, VSA-Verlag, 2017
65 Karuscheit/Schröder 1993, S.120
66 Schröder/Karuscheit 2017, S. 140
67 Kurzer Lehrgang, S. 270
68 Altrichter 1997, S.361
69 Beyrau, S. 46-47
70 Beyrau, S. 46
71 Siehe dazu AzD Nr. 89, S. 36 ff
72 Hildermeier 1989, S. 303
73 Dass die Oktoberrevolution auch eine „notwendige Erhebung“ war, wird an anderer Stelle noch zu entwickeln sein. Hier würde es den sowieso bereits zu umfangreichen Rahmen der Artikelrezension sprengen.
74 Es wird leicht übersehen, dass die einzige demokratische Legitimation der Provisorischen Regierungen in ihrer Duldung und Stützung durch den Sowjet bestand.
75 Hildermeier 1989, S. 238-243
76 Kautsky, S. 52
77 Luxemburg: Zur russischen Revolution; GW Band 4, Dietz-Verlag Berlin 1974, S.341; »http://www.mlwerke.de/lu/lu3_106.htm« zuletzt geändert am 17.10.2014
78 Hildermeier 1989, S. 248
79 ebd, S. 302 f