Alfred Schröder
Kritische Rückschau auf einige Publikationen (Teil 2)
1. Die Weigerung, sich mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung
auseinanderzusetzen
Der erste Teil der kritischen Rückschau (siehe AzD Nr. 88) begann mit einem Luxemburg-Zitat. Luxemburg erhob im unmittelbaren Kontext mit den Ereignissen in Russland die Forderung, „sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen“. Einhundert Jahre später haben wir als Einstieg zu dieser Auseinandersetzung die Vorstellung einer bürgerlichen Veröffentlichung gewählt, die in gewissem Umfang den Stand der bürgerlichen Forschung zu diesem Thema gut lesbar zusammenfasst.1 Warum?
Bereits vor anderthalb Jahren, bei einem ersten Versuch, bürgerliche und linke Positionen zum russischen Revolutionsjahr vorzustellen, schrieben wir in den AzD: „Den uns bisher bekannten linken Publikationen zum Thema ist augenfällig eines gemeinsam: Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Forschungsstand zu den russischen Revolutionen fehlt ebenso wie eine Kritik an der Popularisierung dieser Positionen.“2 Diese Einschätzung hat sich bestätigt. Eine Auseinandersetzung mit dem Stand der bürgerlichen Forschung findet in den linken Publikationen, die zu den russischen Revolutionen anlässlich des 100. Jahrestages erschienen sind, nicht statt.
Stefan Bollinger, Mitglied der Historikerkommission beim Parteivorstand der Linkspartei, benennt in seinem Buch („Oktoberrevolution – Aufstand gegen den Krieg 1917 -1922“) über vier Seiten Autoren und Veröffentlichungen, die „die russische Revolution vom Oktober 1917 zum Gegenstand einer kritischen Geschichtsbetrachtung (machten). Die klügsten Werke wischten die Stalinschen Vereinfachungen und Verfälschungen beiseite.“ (Oktober, S. 20) Eine Vorstellung oder gar eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen und Erkenntnissen dieser „klügsten Werke“ überwiegend bürgerlicher und z.T. dezidiert antikommunistischer Couleur (z.B. Richard Pipes) wird der Leser aber vergeblich in Bollingers 200 Seiten umfassenden Werk suchen.
Bei Frank Deppe („1917 / 2017 – Revolution und Gegenrevolution“) sind es bei genauerem Hinsehen zwei bürgerliche Quellen zu den sozialen und politischen Verhältnissen Russlands aus den 70er3 und eine aus den 90er Jahren4 des letzten Jahrhunderts, die er in seinem Abschnitt zur russischen Revolution heranzieht. Eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten Altrichters, Beyraus, Goehrkes, Hildermeiers etc. aus diesem Jahrhundert, die insbesondere die Agrarverhältnisse und die Klassen der russischen Gesellschaft in einem anderen Licht erscheinen lassen, findet nicht statt.
Bei Michael Brie („Lenin neu entdecken“ sowie „Was tun in Zeiten der Ohnmacht“)5 und Thomas Kuczynski („Was bleibt von der Oktoberrevolution“)6 wird auf die Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Russlands vollständig verzichtet, eine Auseinandersetzung mit bürgerlichen Historikern zu diesem Thema unterbleibt ebenso. Beide Autoren verweigern die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit des zaristischen und revolutionären Russlands und suchen die Ursachen für das letztendliche Scheitern der Zielsetzungen der russischen Revolutionen in einem fehlerhaften Verständnis der Schriften von Hegel, Marx und Lenin zu Fragen der Dialektik oder der Staatstheorie bei Brie; von Marx und Lenin zur Agrarfrage in Russland bei Kuczynski. Ihre Texte sind abgeleitete Theoriekonstrukte, deren einziger Bezug zur Wirklichkeit der russischen Revolution aus den Zitaten der „Klassiker“ besteht. Hier wird die Wahrheit nicht in den Tatsachen, im tatsächlichen Verlauf der russischen Revolution und ihrer Klassenkämpfe gesucht, sondern aus dem Abgleich der Schriften der Klassiker und ihrer vermeintlich richtigen oder fehlerhaften Interpretation durch Lenin hergeleitet.
Im weiteren Verlauf des Artikels werden wir auf diese Veröffentlichungen noch eingehen. Hier ging es darum zu erläutern, weshalb wir die „Rückschau“ mit einer neuen bürgerlichen Veröffentlichung begonnen haben und beginnen mussten, da die vorherrschende linke Publizistik zu diesem Thema keinen ernsthaften Beitrag geleistet hat und ganz offensichtlich auch gar nicht leisten wollte. Die Forderung Luxemburgs, „sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen“, erfüllen die genannten Veröffentlichungen allesamt nicht. Demgegenüber konnten wir aus der Besprechung von Smith‘ Buch in der letzten Nummer der AzD drei wichtige Erkenntnisse gewinnen, die es uns ermöglichen, die Ereignisse des Jahres 1917 in einem anderen Licht darzustellen.
2. Drei Erkenntnisse, die dem „kanonisierten Leninismus“ widersprechen
Beginnen wir mit einer Begriffsklärung. Ich benutze die Formulierung „kanonisierter Leninismus“, weil die Vielzahl von konkreten Aussagen und Veröffentlichungen Lenins zu den wechselnden politischen Situationen im Revolutionsjahr durchaus vielgestaltiger und widersprüchlicher waren, als die „kanonisierte“ Fassung des Leninismus sie darstellt. Man denke nur an die teils gegensätzlichen Einschätzungen Lenins zur Februarrevolution,7 seine Beurteilung der April-Krise (dazu weiter unten im Text), die Interpretation der Situation nach der Juli-Niederlage in Petrograd,8 seine Einschätzung des Klassenbündnisses des Oktoberumsturzes9 etc. Diese Fehlgriffe bei der Beurteilung aktueller Umbrüche im Revolutionsgeschehen waren für einen politischen Führer, der teilweise fernab des eigentlichen Geschehens und mit durchaus limitierten Informationsmaterial versehen war, geradezu unvermeidlich. Der „kanonisierte Leninismus“ bügelt diese Kanten und Falten aus der Parteifahne der Bolschewiki heraus und stellt uns einen stringenten, stets treffend die Klassenkräfte analysierenden Lenin vor, der von Irrtümern des menschlichen Handels frei ist. Im „Kurzen Lehrgang der KPDSU (B)“ findet er seine konkrete Gestalt und erzählt uns eine andere Geschichte der russischen Revolution als die, die tatsächlich stattgefunden hat.10
2.1 Die Februarrevolution zerschlägt den zaristischen Staatsapparat, ohne einen neuen bürgerlichen Staatsapparat zu schaffen
Diese „andere Geschichte“ beginnt mit der Frage der Staatsmacht. Ausgangspunkt für ein anderes Verständnis der russischen Revolution bildet die Einschätzung des zaristischen Staates. Dieser war, insbesondere was die Ausbildung des staatlichen Gewaltapparates betraf, kein „starker“, sondern ein schwacher Staat. Als agrarischen Flächenstaat kennzeichnete dies den Zarismus seit Jahrhunderten. Beamtenschaft und Polizeikräfte waren für ein autokratisches Herrschaftssystem und die Größe des Reiches unzureichend entwickelt. In allen Krisenzeiten des Zarismus musste die Armee die Schwäche der Staatsgewalt ausgleichen. Das Überlaufen der Armee im Februar 1917 bedeutete somit das Ende des Zarismus.
Dies war eine Situation, die sowohl die russischen Kriegsalliierten als auch die Armeeführung und die bürgerlichen Dumakreise unbedingt vermeiden wollten. Sie wollten den Zaren absetzen, der sich als unfähig erwiesen hatte, die Kriegskrisen zu meistern, im Volk (zusammen mit seiner Frau) verhasst war und dazu im Verdacht stand, einen Separatfrieden mit dem Kaiserreich abschließen zu wollen, um seine Herrschaft zu retten. Die Absetzung des Zaren sollte sowohl den Zarismus als konstitutionelle Monarchie sowie seinen Staatsapparat vor der Revolution retten und zugleich das Kriegsbündnis mit den Alliierten befestigen. An die Stelle Nikolaus‘ II sollte ein in der russischen Gesellschaft „beliebteres“ Mitglied des Hauses Romanow treten, um den zaristischen Staat zu retten und den Krieg effektiver führen zu können. Diese Pläne scheiterten und mit dem Sturz des Zaren und dem Sieg der Revolution wurde der alte zaristische Staatsapparat weitgehend zerschlagen, Polizei und Gendarmerie waren nicht mehr existent. Die noch verbliebenen Überreste des Zarismus in der Provinzverwaltung verschwanden in den Wochen nach der Februarrevolution ebenso von der Bildfläche.
Die Dumabourgeoisie, welche die 1. Provisorische Regierung auf Wunsch und in Absprache mit der Sowjetführung bildete, und die Armeeführung besaßen keine eigenständigen, von der bäuerlichen Armee unabhängigen bewaffneten Formationen, auf die sie sich hätten stützen können. Selbst die Kosakenverbände hatten in Petrograd mit der Revolution fraternisiert. Wie sollte eine bürgerliche Herrschaft ohne eigenständigen Staats- und Gewaltapparat, dazu noch unter den spezifischen Bedingungen des revolutionären Russlands und des durch den Krieg bewaffneten Volkes aufgerichtet werden? Die Versuche der verschiedenen Provisorischen Regierungen, 1917 einen neuen bürgerlichen Staatsapparat aufzubauen,11 scheiterten darum geradezu zwangsläufig, was die bürgerliche Geschichtsschreibung so gut wie einhellig konstatiert (und den Provisorischen Regierungen zum Vorwurf macht).
„Der Untergang des Zarismus war mehr als ein Machtwechsel an der Staatsspitze. Mit der Monarchie brachen so gut wie alle staatlichen und sozialen Autoritäten der alten Ordnung zusammen. Das neue Regime fand keinen effektiven Ersatz für die Gouverneure und Beamten, die Anfang März hatten gehen müssen. Zemstva (ländliche Selbstverwaltungsorgane, A.S.) und Stadträte vermochten höchstens ihre Amtsräume, nicht ihre Funktionen auszufüllen. Die verhasste Polizei zog sich mit ihren Dienstherren zurück … Die Justiz stellte ihre Tätigkeit weitgehend ein. … So verdient der Gedanke besondere Aufmerksamkeit, dass die demokratische Revolution des Februars auch das Fundament für die eigene Konsolidierung zerstörte, als sie das innerste Gerüst des alten Staates und seiner Gesellschaft zum Einsturz brachte.“12
Die Linke hat diesem Problem keineswegs die von Hildermeier geforderte „besondere Aufmerksamkeit“ gezollt, sondern diese Besonderheit der Februarrevolution, die der spezifischen Gestalt des zaristischen Staates geschuldet war, konsequent ignoriert. Ohne einen bürgerlichen Staats- und Gewaltapparat keine bürgerliche Herrschaft. Ohne dieses „Fundament“ auch keine Möglichkeit, „die eigene Konsolidierung“ einer bürgerlichen Macht in Russland zu betreiben. Diese Tatsache wirft auf die Ereignisse des Jahres 1917 ein völlig anderes Licht, sowohl auf den Inhalt wie den Ablauf der Klassenkämpfe im April (Machtprobe Miljukows), in der Juli(-Krise), Ende August/Anfang September (Kornilow) und beim Oktoberumsturz. Die Linke, die die Problematik dieser russischen Besonderheit gar nicht wahrnimmt, folgt hier unhinterfragt dem „kanonisierten Leninismus“, der dazu postuliert: „Die alte Zarenmacht … ist zerschlagen und beseitigt, aber nicht endgültig zur Strecke gebracht. Die Monarchie ist faktisch nicht vernichtet. … Die Staatsmacht ist in Russland in die Hände einer neuen Klasse übergegangen, und zwar in die der Bourgeoisie und der verbürgerlichten Gutsbesitzer.“13 Richtig formuliert hätte dieser Satz lauten müssen: ‚Die alte Zarenmacht ist zerschlagen und beseitigt. Die bürgerliche Regierung verfügt über keinerlei eigene Machtorgane. Sie ist vollständig abhängig von ihrer Duldung und Unterstützung durch den Sowjet.‘
So hat es auch der Verteidigungsminister der Provisorischen Regierung (Gutschkow) an den Chef des Generalstab geschrieben: „Bitte glauben Sie mir, dass die tatsächliche Lage der Dinge wie folgt ist: 1. Die Provisorische Regierung verfügt über keinerlei reale Macht, ihre Anordnungen werden nur in dem Maße befolgt, wie dies der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten zulässt, der die wichtigsten Elemente einer realen Macht besitzt, denn das Heer, die Eisenbahnen, die Post und das Telegraphenwesen sind in seiner Hand. Man kann direkt sagen, dass die Provisorische Regierung nur solange existiert, wie dies vom Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten geduldet wird.“14 Von März bis Oktober 1917 existierte weder ein bürgerlicher Staats- und Gewaltapparat noch eine bürgerliche Herrschaft. Die Sowjetführung „herrschte“, ohne es zu wollen.
2.2 Die russische Dorfgemeinde ist trotz sozialer Unterschiede nicht in Klassen gespalten
Die russische Bauernschaft hatte in ihrem bestimmenden Kern, der Obscina-Bauernschaft, ein völlig anderes Gesicht als die Bauernschaft im Westen des europäischen Kontinents. Ihr Ziel war nicht – wie Lenin es fortwährend unterstellte – ‚freier kapitalistischer Eigentümer‘ zu werden, sondern umgekehrt, die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft in Russland zu unterbinden und gesetzlich zu verbieten, was sie mit dem Landdekret im Oktober/November 1917 erreichte. „Das Privateigentum am Grund und Boden wird für immer aufgehoben. … Lohnarbeit wird verboten.“15 Dazu forderte sie die entschädigungslose Aufteilung des adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzes zugunsten der Dorfgemeinden, was ihr im Oktober im „Dekret über den Grund und Boden“ zugesichert wurde. Lenin interpretierte die Interessen und Wünsche der Bauernschaft ganz anders:
„Somit haben sich die Bauern klar und entschieden gegen die alte Dorfgemeinde, für freie Genossenschaften und für die Bodennutzung durch Einzelpersonen ausgesprochen. Dass dies tatsächlich die Stimme der Gesamtbauernschaft ist, kann nicht bezweifelt werden, denn auch der Entwurf der der Trudowikigruppe (rechte Sozialrevolutionäre, A.S.) erwähnt die Dorfgemeinde mit keiner Silbe. … Stolypin beseitigt die Dorfgemeinde gewaltsam im Interesse eines Häufleins Reicher. Die Bauernschaft will sie beseitigen, um sie durch freie Genossenschaften und durch die Bodennutzung von ‚Einzelpersonen‘ auf nationalisiertem Anteilland zu ersetzen.“16 Im Gegensatz zu Lenins Vorstellungen, wollte die Bauernschaft keineswegs die Dorfgemeinde „beseitigen“, und auch an einer „Nationalisierung“ des Bodens interessierte die Bauernschaft nur eins, nämlich die Übergabe des Bodens an die Dorfgemeinden zu ihrer Nutzung.
Politisch zielten diese Forderungen der Bauernschaft auf eine Stärkung der bäuerlichen Dorfgemeinde und Rücknahme der „Stolypinschen Reformen“, die den ökonomisch selbstständigen Einzelbauern aus einer untergehenden Dorfgemeinde entstehen lassen wollten. Die Revolution beerdigte diese Politik und die Bauernschaft beseitigte den individuellen Landbesitz des aus der Dorfgemeinde ausgeschiedenen Einzelbauern zugunsten der Dorfgemeinde. Ökonomisch führte diese Umverteilung zu einer bäuerlichen Subsistenzwirtschaft mit angegliederter kleiner Warenproduktion für den Austausch mit der Stadt. Für die Politik und Bündnisfrage bedeute dies, dass die Bauernschaft kein dauerhaftes Bündnis mit der Bourgeoisie schließen konnte, wie Lenin es 1917 fortwährend unterstellte, da die Bourgeoisie kein Interesse an der entschädigungslosen Enteignung des Großgrundbesitzes und an dem Verbot des privaten Landeigentums besaß.
Zugleich führte die andauernde Attraktivität der Dorfgemeinschaft für die Bauernschaft insgesamt dazu, dass eine Politik der Spaltung derselben in bündnisfähige Kleinbauern einerseits und verbrecherische Kulaken andererseits scheitern musste. Für die vom westeuropäischen Marxismus geprägte Theoretiker und Politiker war es nicht vorstellbar, „dass man es bei der sozialen Differenzierung auf dem russischen Dorf nicht mit einer linearen, sondern mit einer zyklischen Entwicklung zu tun hat, die ganz wesentlich durch das generative Verhalten gesteuert wurde (‚zyklische Mobilität‘). Weil die Landzuteilung an die Haushaltungen durch den Mir auf die Anzahl männlicher Personen abstellte, gerieten Ehepaare, denen nur Töchter beschert waren, bei der nächsten Landumteilung rasch auf den absteigenden Ast. Das Fehlen männlicher Arbeitskräfte, chronische Krankheiten, Start in den Haushalt ohne zureichende Betriebsmittel und Familienzwistigkeiten bildeten daher in dieser Reihenfolge die wichtigsten Ursachen dafür, dass ein Hof in das arme Drittel einer Dorfgemeinde absinken konnte. Umgekehrt sorgte das Landumteilungsverfahren aber auch wieder dafür, dass jedes junge Ehepaar, das seine eigene Wirtschaft eröffnete, zum Start in die Lebenslotterie mit relativ gleichen Chancen entlassen wurde – vorausgesetzt, es blieb von Krankheiten und Söhnelosigkeit verschont. In der Tat haben Längsschnittstudien aufgezeigt, dass über mehrere Generationen hinweg die meisten wohlsituierten Bauernfamilien ihren Status nicht halten konnten.“17
Durch die periodischen Umteilungen des Ackerlandes war die Dorfgemeinde zwar durchaus sozial geschichtet, aber nicht in antagonistische Klassen gespalten. Gegen die Forderungen der Klassen der modernen Gesellschaft wehrte sich die Bauernschaft ebenso geschlossen, wie sie den zaristischen Adel und den zaristischen Staat als ihren natürlichen Feind gesehen hatte.
Das Landdekret des Oktoberumsturzes, das diesen Wünschen der Bauernschaft Rechnung trug, „beschleunigte die weitere Umverteilung von Grund und Boden, es trieb aber auch die Zerrüttung der Beziehungen zwischen Stadt und Land weiter voran. Denn die im Winter 1917/18 einsetzende Flucht aus den Städten und die Heimkehr der Soldaten hatten negative Konsequenzen für die Versorgung der Städte. Unter Einbeziehung der marktorientierten Güter, aber auch vieler seit der Stolypin-Reform separierter Höfe kam es zu einer ’schwarzen Umteilung‘. Die Äcker wurden je nach Zahl der Esser oder Arbeitskräfte neu verteilt. Im Ergebnis kam es zu einer Nivellierung der bäuerlichen Besitzstruktur. … Rechtlich hatte jeder einen Anspruch auf Landzuteilung im Sinne der Nutzung, aber nicht des Eigentums am Land. Damit wurde die Stolypin-Reform rückgängig gemacht und die Feldgemeinschaft älteren Typs, also die obscina, wiederhergestellt. Insgesamt siegte ein revolutionär gewendeter Traditionalismus. … Die Bolschewiki mussten also einen Zustand sanktionieren, den sie schon Jahrzehnte zuvor für historisch überholt und durch den Kapitalismus für erledigt erklärt hatten. Eine Perspektive für eine sozialistische Gesellschaft im marxistischen Verständnis ließ sich daraus nicht ableiten.“18 Lenin hielt eine solche Entwicklung für unwahrscheinlich („unter ausgleichender Bodennutzung verstehen“ die Bauern, „dass den Gutsbesitzern das Land weggenommen wird, nicht aber den Ausgleich zwischen den einzelnen Landwirten.“)19 Die Umteilungsgemeinde bedeutete aber genau dies, eine Umteilung innerhalb der Gemeinde nach Arbeits- oder Verbrauchsnorm.
Lenins klassenpolitische Position gegenüber der Bauernschaft, wie er sie in den April-Thesen 1917 formuliert und danach immer deutlicher herausarbeitet, von einem Bündnis des Proletariats mit den Landarbeitern und armen Bauern („halbproletarischen Bauern“20, wie er selbst formuliert) gegen die Kulaken und die Bourgeoisie in Stadt und Land war konsequent dem westlichen marxistischen Denken entlehnt und spiegelte deshalb weder die russischen Agrarverhältnisse noch die Interessen der Bauernschaft wider.
„Die Agrarbewegung kann auf zweierlei Art verlaufen. Die Bauern nehmen den Grund und Boden, es kommt nicht zum Kampf zwischen dem Landproletariat und den wohlhabenden Bauern. Doch das ist wenig wahrscheinlich, denn der Klassenkampf wartet nicht. Jetzt … nicht vom Klassenkampf im Dorf (zu) sprechen ist Verrat an der Sache des Proletariats.“21 Dies ist Lenins Position, formuliert auf der Stadtkonferenz der SDAPR (B) Ende April 1917, und sie wird offizielle Grundlage der bolschewistischen Politik. Diese Orientierung ist unübersehbar falsch. Sie steht im offenen Gegensatz zur tatsächlichen Bewegung der Bauernschaft im Revolutionsjahr. Auch hier muss die Geschichte des Jahres 1917 (und auch der folgenden Jahre) anders geschrieben werden. Der „Leninismus“ irrte hier ebenso wie in der Frage der Staatsmacht.
2.3 Die russische Bourgeoisie war im Revolutionsjahr 1917 nicht im Besitz der politischen Macht
Die beiden bisher benannten Fehleinschätzungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit der russischen Gesellschaft und ihres Staates kulminieren in der These von der Herrschaft der Bourgeoisie in Russland 1917. ‘Von der Februarrevolution durch die opportunistischen Sowjetparteien an die Macht gebracht, aber noch eingeschränkt durch die „Doppelherrschaft“ von Sowjet und Regierung, übt die Bourgeoisie ab der Juli-Krise bis Oktober die Macht uneingeschränkt aus, bis sie im Oktober von den Bolschewiki gestürzt wird.‘ Dies ist die Geschichte des Revolutionsverlaufs in Russland, wie sie der „kanonisierte Leninismus“ erzählt. Diesem „kanonisierten Leninismus“ liegen eine Reihe fehlerhafter Einschätzungen des realen Lenin zugrunde, wie gerade aufgezeigt. Und die Behauptung von der Herrschaft der russischen Bourgeoisie ist die wesentlichste Fehleinschätzung, die Lenin entwickelt hat und die sich bis heute bei der Linken wie bei bürgerlichen Historikern größter Beliebtheit erfreut.
Dabei hatte derselbe Lenin 1908 aus dem Verlauf der ersten russischen Revolution folgende vollständig zutreffende Analyse der Rolle und der Möglichkeiten der russischen Bourgeoisie für die kommende Revolution gegeben: „Somit sehen wir, dass der Begriff der ‚bürgerlichen Revolution‘ noch nicht genügend die Kräfte bestimmt, die in einer solchen Revolution den Sieg davontragen können. Es sind bürgerliche Revolutionen möglich – und es hat tatsächlich solche gegeben -, in denen die Handels- oder die Handels- und Industriebourgeoisie die Haupttriebkraft bildete. … Anders verhält es sich in Russland. Bei uns ist der Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg der Bourgeoisie unmöglich. Eine scheinbar paradoxe Behauptung, aber trotzdem richtig. Das Überwiegen der bäuerlichen Bevölkerung, ihre furchtbare Unterdrückung durch den (halb-)feudalen Großgrundbesitz, die Kraft und das Bewusstsein des bereits in einer sozialistischen Partei organisierten Proletariats – alle diese Umstände verleihen unserer bürgerlichen Revolution einen besonderen Charakter. Diese Besonderheit hebt den bürgerlichen Charakter unserer Revolution nicht auf … Vielmehr bedingt diese Besonderheit nur den konterrevolutionären Charakter unserer Bourgeoisie und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft für den Sieg in einer solchen Revolution. Denn die ‚Koalition von Proletariat und Bauernschaft‘, die in einer bürgerlichen Revolution siegt, ist nichts anderes als die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.
Diese Lage der Dinge bildet den Ausgangspunkt der taktischen Meinungsverschiedenheiten in der Sozialdemokratie während der Revolution. … Nur in dieser grundlegenden taktischen Meinungsverschiedenheit … ist die Quelle der Differenzen zwischen Bolschewiki und Menschewiki in der ersten Periode der Revolution (1905-1907) zu suchen.“22
Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. „Bei uns ist der Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg der Bourgeoisie unmöglich.“ Diese Schlussfolgerung aus dem Revolutionsverlauf 1905-07 war völlig richtig. Sie wird im Februar/März 1917 bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt aber sieht Lenin die Bourgeoisie an der Macht. Wie das?
Auch dies kann aus dem obigen Zitat entnommen werden. „Denn die ‚Koalition von Proletariat und Bauernschaft‘, die in einer bürgerlichen Revolution siegt, ist nichts anderes als die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.“ Eine Vorherrschaft der Bauernschaft in diesem Bündnis war für Lenin unvorstellbar. Diese Einschätzung Lenins war gerade bezogen auf die dorfgemeinschaftlich geprägte Bauernschaft Russlands im Allgemeinen richtig, aber konkret, im Kontext des Weltkrieges und einer bewaffneten Bauernschaft, wurde sie falsch. Aus sich heraus war die in Dorfgemeinschaften zersplitterte und politisch weitgehend uninteressierte russische Bauernschaft nicht in der Lage, eine Revolution im nationalen Maßstab zu dominieren. Konkret aber, organisiert in der Armee, politisiert von der Revolution und der Mitarbeit in den Sowjets, stellte sie die Mehrheit in den Sowjets (durch die Soldatensowjets), und war zugleich der hauptsächliche Waffenträger der Nation, die eigentliche „Staatsmacht“. So wurde die russische Bauernschaft für acht Monate zur entscheidenden Kraft der Revolution. Tatsächlich war die Koalition von Proletariat und Bauernschaft, die sich im März 1917 herausbildete, eine Koalition, die der Bauernschaft (vertreten durch die Partei der Sozialrevolutionäre) im Bündnis mit den sozialpatriotischen Teilen der Arbeiterbewegung (vertreten durch die Menschewiki), unter der Führung des städtischen Kleinbürgertums, die Vorherrschaft über die Sowjets und die Revolution verschaffte. Lenin war es ebenso wenig wie anderen vom westeuropäischen Marxismus geprägten Politikern möglich, sich die bewaffnete Bauernschaft als letztlich bestimmende, den Revolutionsprozess dominierende Kraft dieses Klassenbündnisses im Frühjahr/Sommer 1917 vorzustellen.
Hinzu kommt noch, dass die führenden Köpfe dieser Koalition sowohl aus ideologischen Gründen („bürgerliche Revolution“ erfordert eine „bürgerliche Regierung“), als auch aus handfestem politischem Eigeninteresse die Installierung einer rein bürgerlichen Regierung betrieben. Dies brachte für Lenin und alle, die dieser Einschätzung bis heute folgen, die russische Bourgeoisie auf dem Papier der Geschichtsbücher in den Besitz der politischen Macht, die sie sich immer erhofft hatte. Das Absurde an dieser Geschichtsschreibung ist, dass sowohl die Marxisten als auch viele bürgerliche Historiker mit vollem Recht keinen Zweifel an der ökonomischen und politischen Schwäche der russischen Bourgeoise vor der russischen Revolution äußerten.23 Aber trotz dieser durchaus zutreffenden und mit Fakten belegbaren Erkenntnis leisten sie dem „kanonisierten Leninismus“ Gefolgschaft, der dieser „schmächtigen Kraft“ (Hildermeier) zutraut, acht Monate lang die gewaltigen Kräfte einer Volksrevolution zu bändigen.
3. Eine andere Geschichte des Revolutionsjahres
Bevor wir zu den Besprechungen der linken Neuveröffentlichungen zum Revolutionsjahr kommen, (die sich allesamt durchaus kritisch mit der russischen Revolution und mit Lenin auseinandersetzen, ohne auch nur ein einziges der drei gerade dargestellten Probleme überhaupt aufzuwerfen), möchte ich eine andere Interpretation der Ereignisse des Revolutionsjahres vorstellen.
In der Zeitschrift Z (Juni-Nummer 2018), faktisch im Nachgang zu den Publikationen des Jahres 2017, veröffentlichte Joachim Hösler einen Artikel, der „sechs Phasen der Revolutionsforschung (in Russland) … (davon) fünf sowjetische und eine postsowjetische“, vorstellt. „Für jede Phase sollen die Organisation der Revolutionsforschung und ihre Inhalte herausgearbeitet werden“.24 Das kann die AzD ihren Lesern natürlich nicht bieten, aber eine originelle und politisch höchst interessante Variante der sowjetischen Revolutionsforschung, die Hösler in seinem Z-Artikel nicht näher entwickelt, können wir hier vorstellen. Sie hat den Vorzug, dass sie von einem Bolschewiken stammt, der selbst aktiver Teilnehmer der Geschehnisse der russischen Revolution war und bis Anfang der 30er Jahre die Geschichtswissenschaft der Sowjetunion prägte. Zu einer Zeit also, als die meisten der führenden politischen Köpfe der Revolutionsjahre noch lebten und bevor der Leninismus seine kanonisierte Fassung erhielt. Wir sprechen von Michail Nikolajewitsch Pokrowski. Wer war Pokrowski?
M. Pokrowski war Mitglied der SDAPR seit 1903, nach einem Treffen mit Lenin 1905 schloss er sich den Bolschewiki an, im Jahr 1917 war er Vorsitzender des Moskauer Sowjets, 1918 war er Mitglied der sowjetischen Verhandlungsdelegation in Brest-Litowsk. Von Mai 1918 bis zu seinem Tode (1932) war er stellvertretender Volkskommissar für Bildung und leitete von 1921 bis 1932 das „Institut der roten Professur“. Im Jahr 1929 wurde er Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Nach einer langwierigen Krankheit verstarb er am 10. April 1932 in Moskau. Seine Urne wurde an der Kremlmauer in Moskau beigesetzt.
„An Pokrowski, dem wichtigsten sowjetischen Historiker der zwanziger Jahre, der unter Stalin als ‚Anti-Leninist‘ gegolten hatte, war in der historiographischen Diskussion nicht vorbeizukommen“, schreibt Joachim Hösler in seiner Dissertation zur sowjetischen Geschichtswissenschaft.25 Und weiter: „Mit dem Namen des Historikers (gemeint ist Pokrowski; A.S.), der ‚damals die gesamte geschichtswissenschaftliche Tätigkeit und die führenden Organe und Institutionen der Geschichtswissenschaft leitete‘, verband“ eine Kritikerin „alle Erfolge und Fehler jener Zeit von 1924 bis 1936. Der ‚Hauptfehler‘ Pokrowskis, der 1932 starb, sei dessen ungenügende Kenntnis der Werke Lenins gewesen.“26 Pokrowski schildert also die Ereignisse der russischen Revolution so wie er sie erlebt und verstanden hatte, ohne Kenntnis des „kanonisierten Leninismus“, der als ein Produkt der 30er Jahre nach Pokrowkis Tod entwickelt wurde. Er entstand sozusagen in Abgrenzung zu der von Pokrowski geprägten Geschichtsschreibung der 20er Jahre.
Folgende interessante Interpretation der Februarrevolution gibt Prokowski: Man sieht, „dass zu dieser Zeit (gemeint ist der 2. und 3. März 1917) die Masse die Macht in Petersburg besaß, vertreten durch die organisierte Spitze, durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten“ (dabei war der Petrograder Sowjet zu diesen Zeitpunkt bereits ein Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten; A.S.) … „Die Macht also war in den Händen der Sowjets der Arbeiterdeputierten. Die Frage, ob es in diesem Augenblick möglich gewesen wäre, in Petersburg eine Arbeiterregierung zu bilden, könnte man kategorisch mit ja beantworten, vorausgesetzt, dass die Revolution für die wenigen Bolschewiki, die in diesen Tagen in Petersburg waren, nicht ebenfalls unvorbereitet gekommen wäre. Das hätte die zweite Revolution … erübrigt und gleich jenes Regime eingeführt, das nach der Oktoberrevolution kam.
Das ist nicht geschehen, weil die Intellektuellen, die teils unvorbereitet, teils gegen ihren eigenen Willen auf den Posten der organisierenden Spitze des organisierten Proletariats – das heißt des Sowjets der Arbeiterdeputierten – gestellt worden waren, sich als Helfershelfer der Hofumwälzung27 entpuppten. Selbst das bolschewistische Petersburg war, nach Schljapnikow,28 für eine Koalitionsregierung aus Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionären. Haben sich also damals die in Petersburg tätigen Bolschewiki eine Revolutionsregierung als Koalitionsregierung vorgestellt, was war dann von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu erwarten? Jene haben offen erklärt, dass alles verloren sei, falls man die Kadetten nicht zur Koalition hinzuziehe. … Das war die Stimmung der Kreise, die damals die Arbeiterbewegung leiteten.“29
Für Pokrowski hat im Februar „die Masse die Macht in Petersburg, vertreten durch die organisierte Spitze, durch die Sowjets“. Dies ist eine völlig richtige Beurteilung der Situation, und diese „Masse“ behält die Macht durch die Sowjets auch die folgenden Monate bis zum Oktober, wo sie „de jure“ die „Diktatur des Proletariats“ aufrichtet. Was Pokrowski hier auslässt, ist die klassenmäßige Definition dieser „Masse“. Er setzt die Herrschaft der Sowjets mit der Herrschaft des Proletariats gleich: „Die Macht also war in den Händen der Sowjets der Arbeiterdeputierten.“ Nur waren die Sowjets durch den Zustrom der Soldaten und deren überproportionale Vertretung direkt nach der Februarrevolution nicht von den Deputierten der Arbeiter (die die Revolution ausgelöst hatten) dominiert, sondern über die Soldatendeputierten von der Bauernschaft und dem städtischen Kleinbürgertum. Insofern war eine „Diktatur des Proletariats“, gestützt auf diese „Masse“, im März 1917 nicht möglich. Hier liegt Pokrowski also grundfalsch.
Was er aber als Teilnehmer der Revolution und Mitglied des Sowjets klar erkennt und herausstellt, ist der Tatbestand, dass die Revolution die „Macht“ in die Hände der Sowjetführung und nicht in die der Bourgeoisie gelegt hat. Und diese Aussage finden wir ebenso bei Suchanow, Zereteli oder Gutschkow etc.. Die Rolle und der Handlungsspielraum der verschiedenen Provisorischen Regierungen des Jahres 1917 bestimmen sich nicht durch ein Mehr oder Weniger an Einfluss der Bourgeoisie oder der Anzahl ihrer Ministerposten, sondern hängen in allen entscheidenden Fragen von der Unterstützung durch die Sowjetführung ab. Die letzte Regierung Kerenski besaß diese Unterstützung nicht mehr. Sie wurde im Oktober von den Bolschewiki gestürzt und zeitweilig verhaftet. Diese Geschichtsschreibung des Revolutionsjahres kommt im Gegensatz zum „kanonisierten Leninismus“ ganz ohne einen „Sturm auf das Winterpalais“ aus und erklärt zugleich, warum der Oktoberaufstand weitgehend ohne Straßenkämpfe und Massendemonstrationen siegreich war. Die Macht lag beim Sowjet, und dessen Führung war inzwischen bolschewistisch geworden.
Ende der 20er Jahre begann die Kritik an Pokrowskis „Schule“. Im Zentrum der Kritik standen dabei seine Positionen, die im Gegensatz zu der Leninschen Einschätzung des Revolutionsjahres standen.30 Sein „Hauptfehler“ sei die „ungenügende Kenntnis der Werke Lenins gewesen“, so zitiert Hösler in seiner Dissertation die Kritiker. Die fünf sowjetischen „Phasen der Revolutionsforschung“, die Hösler dann in der Z vorstellt, beruhen bereits auf der kanonisierten Erzählung des Revolutionsgeschehens „nach Lenin“. Wie schreibt Hösler treffend: „Das eingangs erwähnte dreibändige Werk von Minc (führender russischer Historiker, der aus der ‚Schule‘ von Pokrowski kam und sich seine Position durch die Kritik an seinem Lehrer erarbeitete; A.S.) präsentierte das nun dominante Narrativ. Charakteristisch war die Konzeption des Werkes: Minc erläutert für jede Phase zuerst Strategie und Taktik Lenins und der Bolschewiki, danach das Geschehen: alle revolutionäre Entwicklung scheint nach Lenins genialem Plan abzulaufen.“31 Eine Geschichtsschreibung also, die nicht von der wirklichen Revolution ausging, sondern den Verlauf der Revolution aus der Interpretation der Schriften Lenins nacherzählte. Höslers Verdienst besteht darin, in seinem Z-Artikel darauf als Problem der sowjetischen Geschichtsschreibung aufmerksam gemacht zu haben; mit dem „kanonisierten Leninismus“, wie wir ihn für das Revolutionsjahr 1917 vorgestellt haben, bricht Hösler nicht.32
4. Hundert Jahre später – Die deutsche Linke zur russischen Revolution
Schauen wir im folgenden, was die linken Publikationen zur Revolutionsforschung und kritischen Auseinandersetzung mit der russischen Revolution – wie Luxemburg es forderte – hervorgebracht haben. Verschiedene Autoren haben dazu im vergangen Jahr veröffentlicht. Im folgenden werden wir die Publikationen von (hier alphabetisch geordnet) Stefan Bollinger, Michael Brie, Frank Deppe, Wladislaw Hedeler und Thomas Kuczynski besprechen und dabei versuchen, ihre Interpretationsversuche der russischen Revolutionen und der bolschewistischen Politik (soweit behandelt) dem Leser vorzustellen (Joachim Hösler und seinen Artikel „Russlands Revolutionen 1917 in der Geschichtsschreibung“ haben wir bereits oben kurz vorgestellt).33 Alle diese Autoren veröffentlichen mehr oder weniger regelmäßig in der Zeitschrift Z, die sich selbst als „Zeitschrift Marxistische Erneuerung“ bezeichnet und im gewissen Sinn das publizistische Gesicht dieser Richtung darstellt und den theoretisch-politischen Standort von Teilen der Linken widerspiegelt. Beginnen wollen wie die Vorstellung mit dem Buch und der Broschüre von Stefan Bollinger.
S. Bollinger: „Oktoberrevolution – Aufstand gegen den Krieg 1917 -1922“
sowie ders.: „Lenin, Theoretiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker“
Das Buch zur Oktoberrevolution erschien 2017 bei der „edition ost“ in der Eulenspiegel Verlagsgruppe, zu einem Preis von 14,99 Euro und mit einen Umfang von ca. 220 Seiten; die Lenin-Broschüre im selben Jahr bei PapyRossa mit ca. 150 Seiten zum Preis von 9,90 Euro.
Beide Publikationen wurden durchgängig positiv rezensiert und dies in dem breiten Spektrum von A wie Amazon34 bis Z wie Marxistische Erneuerung. Selbst die „Marxistischen Blätter“ sind voll des Lobes: Bollinger liefert „den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Oktoberrevolution. Dies kann nicht oft genug wiederholt werden.“35 Und die entsprechende Rezension dieses Buches träg den bezeichnenden Titel: „Solide historische Aufklärung mit Ausblick“. Bei so viel Lorbeer verwundert es nicht, dass die Besprechung mit den Worten schließt: Bollingers Schrift „klärt historisch solide und fundiert auf, gleichzeitig gibt sie eine hilfreiche Orientierung für die vor uns stehenden Debatten über Revolution und Sozialismus.“36
Auch die Z lobt Bollingers Publikation zu Lenin mit den Worten: „Wer das jüngste Buch des Berliner Historikers und Politikwissenschaftlers Stefan Bollinger zur Hand nimmt, erhält Klarheit, ein ausgewogenes und differenziertes Bild über den so umstrittenen Lenin.“ Und eine Seite weiter in der Rezension ist die zum Buch avancierte Broschüre „kenntnisreich, kritisch und ausgewogen“.37 Bollingers Publikationen genießen also breite Anerkennung im Spektrum der deutschen Linken.
Dies verwundert nicht, wenn man einen Blick auf die vermeintlichen wissenschaftlichen Grundlagen von Bollingers Publikationen wirft, die der Autor dankenswerter Weise selbst auf etwas mehr als vier Seiten seines Buches vorstellt (Oktoberrevolution, S. 20-24). Hier werden u. a. die Veröffentlichungen von Roy Medwedew genannt, des US-Historikers Alexander Rabinowitsch, von Orlando Figes, der in der Z kritisch besprochen wurde38 und, man lese und staune, auch die Arbeiten Richard Pipes‘, eines gestandenen Reaktionärs und Antikommunisten, dessen „Geschichte der russischen Revolution“ von Bollinger als „herausragend“ (Oktoberrevolution, S. 209) bezeichnet wird. „Aus dem deutschsprachigen Raum ist besonders auf die soliden und aussagefähigen Schriften von Manfred Hildermeier, Dietrich Beyrau … zu verweisen.“ Bollinger verspricht: „In diesem Buch greifen wir auf die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Diskussion zurück, wohl wissend, dass jede Geschichtserzählung interessengeleitet ist und unter dem Einfluss der politischen wie ideologischen Kämpfe und Wegweisungen ihrer Zeit steht.“ (Oktoberrevolution, S. 24) Nach so vielen Vorschusslorbeeren, Auflistung von Namen renommierter bürgerlicher Historiker (einschließlich gestandener Reaktionäre), sowie den freundlichen Worten über die zeitliche Bedingtheit historischer Wertungen nun zurück zum eigentlichen Thema, den russischen Revolutionen 1917. Beginnen wir mit der Februarrevolution, weil in ihrem Verlauf und erst recht in ihrem Ergebnis der tatsächliche Schlüssel zum Oktober zu finden ist. Folgen wir Stefan Bollinger wie er „kenntnisreich, kritisch und ausgewogen“ ein neues Blatt der Geschichtsschreibung aufschlägt und freuen uns an den neuen Erkenntnissen, die er der „wissenschaftlichen Diskussion“ abgerungen hat, um den „Stalinschen Vereinfachungen und Verfälschungen“ (Oktoberrevolution, S. 20) entgegen zu treten.
4.1 Februarrevolution 1917 – „Solide historische Aufklärung“ (Raimund Ernst)39
„Verhängnisvoll im Jahre 1917“ war, dass „die ’neuen‘ politischen Akteure nicht verstanden, warum es zu den Unruhen kam, in deren Ergebnis eine ‚Palastrevolution‘ der bestehenden bürgerlichen Duma-Parteien möglich wurde. Von den Massen wurde diese mit riesigen demokratischen und Anti-Kriegserwartungen aufgeladen. Wer konnte sich den Erfolg des Umsturzes ans Revers heften? Für Lenin war klar: ‚Die Arbeiter und Soldaten haben die Revolution gemacht. Aber die Macht hat zunächst, wie das auch in anderen Revolutionen der Fall war, die Bourgeoisie an sich gerissen (…). Nicht die Reichsduma – die Duma der Gutsbesitzer und der Reichen -, sondern die aufständischen Arbeiter und Soldaten haben den Zaren gestürzt. Aber die neue, die Provisorische Regierung wurde von der Reichsduma ernannt.‘40
(…) All dies änderte nichts an der Tatsache, dass es die ewig gestrigen Kreise waren, die in der Revolution die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“ (Oktoberrevolution, S. 10/11)
Diese Darstellung ist in ihren einzelnen Aussagen verwirrend und widersprüchlich. Da haben wir „Unruhen, in deren Ergebnis eine ‚Palastrevolution‘ der bestehenden Duma-Parteien möglich wurde“, und wir haben eine richtige Revolution, die von den Arbeitern und Soldaten – so der zitierte Lenin – gemacht wurde. Wir haben die „neuen politischen Akteure“, die „nicht verstanden, warum es zu Unruhen kam“, und die „ewig gestrigen Kreise, die in der Revolution die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“ Versuchen wir, die so merkwürdig unbestimmt umschriebenen Akteure politisch kenntlich zu machen.41
Wer sind die „ewig gestrigen Kreise“ die im russischen Februar „die Macht an sich rissen“? Hier sind offensichtlich nicht – wie der Begriff eigentlich nahelegt – die Kreise gemeint, die bisher die zaristische Regierung gestützt und gebildet hatten, also der „alte Adel“, die Hofpartei und die Schwarzhunderter. Gemeint ist vielmehr der sog. „Progressive Block“ der Duma, der in Opposition zum Zaren und seiner Regierung stand und dessen Führer nach dem Sieg der Februarrevolution die neue bürgerliche Regierung stellten, die auf Wunsch der Sowjetführung als rein bürgerliche Regierung (mit Ausnahme Kerenskis) gebildet wurde. Die „ewig Gestrigen“ sind also die „Neuen“ an der Regierung,42 wenn die Aussagen des Autors irgendeinen Sinn machen sollen.
Mit den „neuen politischen Akteuren“ die Bollinger anführt, kann dann nur die Sowjetführung gemeint sein. Weshalb dieselbe „nicht verstand, warum es zu Unruhen kam“ (mit den Unruhen ist vermutlich die Februarrevolution gemeint), „in deren Ergebnis eine ‚Palastrevolution‘ der bestehenden Duma-Parteien möglich wurde“, heißt, der Sowjetführung die Naivität eines deutschen Historikers zu unterstellen. Der russische Historiker Miljukow,43 der zugleich Führer der Kadettenpartei war, wusste sehr wohl, aus wessen Hand er die Möglichkeit zur Regierungsbildung erhalten hatte und akzeptierte die politischen Forderungen der Sowjetführung als Grundlage des Regierungsprogramms.44 Suchanow beschreibt diesen Vorgang sehr anschaulich in seinem „Tagebuch der russischen Revolution“ ab Seite 155 ff.
Schafft dieser oben vorgestellte, schwer zu entwirrende Begriffssalat, den Bollinger dem Leser vorsetzt, schafft die vom Autor bewusst gewählte sprachliche Unbestimmtheit wirklich „solide historische Aufklärung“ (wie Raimund Ernst es in den Marxistischen Blättern behauptete), oder haben wir es doch mehr mit einer Geschichtserzählung im launigen Feuilletonstil zu tun?
4.2 Revolution oder Palastrevolution?
Und damit kommen wir zur dritten Aussage, die Bollinger hier zur Februarrevolution macht. „All dies ändert nichts an der Tatsache, dass es die ewig gestrigen Kreise waren, die in der Revolution die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“ Dies steht im Gegensatz zu den gesicherten Tatsachen der ersten Tage der Revolution. Der bereits erwähnte Suchanow schildert recht ausführlich (S. 64 ff.), wie „begierig“ die führenden Dumakreise „die Macht an sich rissen“. Und ebenso klar Bonwetsch: „Wohin dieser Sieg (der Februarrevolution) führen würde, stand am 28. Februar noch nicht im Geringsten fest. Die Massenbewegung hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Führung, die sie in eine revolutionäre Kraft verwandelt hätte. Dort, wo sie sie zunächst instinktiv suchte, bei der Duma im Taurischen Palast, war sie nicht zu holen. Dort fanden sich nur ‚widerwillige Revolutionäre‘. Die Duma wartete ab und hatte mit der Straße ohnehin nichts im Sinn. Bei den revolutionären Parteien war ebenfalls die Führung für den Aufstand nicht zu finden.“45
Die Dumakreise wollten die Macht aus den Händen der Zarismus erhalten und nicht von der Revolution zur Regierungsbildung „gezwungen“ werden. „Ferner haben wir als verantwortungsvolle Opposition zweifellos die Macht angestrebt und sind den Weg zur Macht gegangen, aber wir strebten nicht auf dem Weg über die Revolution zur Macht. Wir haben diesen Weg abgelehnt, es war nicht unser Weg“, so zitiert Suchanow den Kadetttenführer Miljukow zum Zeitpunkt des Sieges der Februarrevolution. Und warum dies so war, hat Lenin schon von Zürich aus erkannt, bevor er nach Petrograd zurückkehrte.
„Die Bourgeoisie oktobristisch-kadettischen Typs braucht die Monarchie als Haupt der Bürokratie und der Armee zum Schutz der Privilegien des Kapitals gegen die Werktätigen. … Denn in Wirklichkeit ist gerade diese neue Regierung bereits an Händen und Füßen durch das imperialistische Kapital … gebunden, hat sie bereits begonnen, Übereinkommen mit der Dynastie zu schließen (ohne das Volk zu fragen!), arbeitet sie bereits an der Restaurierung der Zarenmonarchie, heißt sie bereits Michael Romanow, den neuen Zarenkandidaten willkommen, bemüht sie sich bereits um die Festigung seines Thrones, um die Ablösung der legitimen (gesetzlichen, nach altem Gesetz bestehenden Monarchie) durch eine bonapartistische … Monarchie.“46
Aus genau diesem Grund wollten Gutschkow, Miljukow und Schulgin den Zarismus retten, um gestützt auf den zaristischen Gewaltapparat eine bürgerliche Herrschaft begründen zu können. Dies war das Ziel der von der Armeeführung, den westlichen Alliierten und den Dumakreisen angestrebten „Palastrevolution“. Man war bereit, den Zaren Nikolaus II. zu opfern, um den Zarismus und seinen Staatsapparat für die Bourgeoisie zu retten. Denn ohne diesen Rückhalt ist die Herrschaft der Bourgeoisie in Russland 1917 nicht möglich. Dieser Plan geht nicht auf. An die Stelle der Palastrevolution tritt die wirkliche Revolution, die den zaristischen Staatsapparat zerschlägt und den Zarismus als Herrschaftssystem beseitigt.47 Der Sieg der Volksrevolution war zugleich das Ende aller Pläne einer Palastrevolution. Und damit sind wir wieder bei dem Problem, das wir bereits unter Punkt 2.1 behandelt haben. Genau diesen Punkt gilt es als wesentliche Leistung der Februarrevolution herauszuarbeiten. Und eben dieses Faktum verdunkelt der überwiegende Teil der bürgerlichen Geschichtsschreibung ebenso wie die von Bollinger so angeprangerten „Stalinschen Vereinfachungen und Verfälschungen“. Aber genau dies ist die entscheidende Voraussetzung, um das Revolutionsgeschehen im Jahr 1917 zu verstehen.
Die in Absprache mit dem Sowjet gebildete rein bürgerliche Regierung hatte keine andere Machtgrundlage als den Sowjet, anders ausgedrückt: Die tatsächliche Macht lag beim Sowjet. „So entstand das Paradoxon der Februarrevolution: die Macht in Händen demokratischer Sozialisten. Sie hatten sie keinesfalls zufällig, durch einen blanquistischen Anschlag erobert; nein, sie war ihnen von den siegreichen Volksmassen öffentlich übertragen worden. Diese Massen verweigern der Bourgeoisie nicht nur Vertrauen und Unterstützung, sondern unterscheiden sie auch nicht von Adel und Bürokratie. Ihre Waffen stellen sie ausschließlich den Sowjets zur Verfügung. Indessen bildet die einzige Sorge der so leicht an die Spitze der Sowjets gelangten Sozialisten die Frage: wird die politisch isolierte, den Massen verhasste, der Revolution durch und durch feindliche Bourgeoisie bereit sein, aus unseren Händen die Macht zu übernehmen? Ihre Zustimmung muss um jeden Preis gewonnen werden; … Unsere ‚Sozialisten‘ aber sind nicht darum besorgt, die Macht dem sogenannten Klassenfeind zu entreißen, der sie nicht besitzt und sie aus eigener Kraft nicht erobern kann – sondern darum, ihm die Macht um jeden Preis auszuhändigen. Ist das etwa kein Paradoxon?“48
So schildert Leo Trotzki den Vorgang, und wenn wir im vorletzten Satz den Begriff „Macht“ durch den Begriff „Regierung“ ersetzen, ist dies eine völlig zutreffende Darstellung der Ereignisse. Der zaristische Staatsapparat war zerschlagen und die bewaffnete Macht in Gestalt der Gewehre der Bauernarmee stand hinter den jeweiligen Sowjetmehrheiten, und dies sowohl im April (Miljukow-Note), im Juli (bewaffnete Unruhen in Petrograd gegen die Sowjetführung), im August (Zerschlagung der Kornilowiade) also auch im Oktober/November (Oktoberumsturz). Bei Bollinger wird die Revolution mit der Palastrevolution vermengt und aus der Niederlage der Bourgeoisie ihre Machtergreifung konstruiert.
Im „kanonisierten Leninismus“ geschieht diese Machtergreifung mit Hilfe der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. In beiden Interpretationen ist die Bourgeoisie an der „Macht“. In der Wirklichkeit des Revolutionsjahres war ihre Palastrevolution gescheitert, der Sieg der Volksrevolution über den Zarismus und seinen Staatsapparat vollständig, darum war die bürgerliche Regierung in allen wesentlichen Entscheidungen abhängig vom Sowjet. Das ist der erste „Schlüssel“ zum Verständnis der russischen Revolutionen 1917, der Schlüssel, der die Februarrevolution mit dem Oktoberumsturz verbindet. Der aber ist bei Bollinger nicht zu finden.
4.3 – Lenin „auf die Füße gestellt“
Bleibt noch, das von Bollinger angeführte Leninzitat zu erklären und zu den „nicht einhaltbaren Versprechungen“ Stellung zu nehmen. Wie wir bereits sahen, hat Lenin im Exil eine Reihe z.T. widersprüchlicher Einschätzungen über die Februarrevolution getroffen: sowohl scharfsinnige und zutreffende, von denen wir gerade einige angeführt haben, als auch fehlerhafte, die zumeist seiner mangelhaften Information geschuldet waren. Die Presse der Entente hatte kein Interesse, die Ergebnisse der Februarrevolution richtig dazustellen. Erst recht nicht, als ihr Coup mit der Palastrevolution gescheitert war. Die preußisch-deutsche Presse denunzierte die neue Regierung in Russland sofort als Kriegsvasall der Entente. Die Leninsche Interpretation der Februarrevolution ist darum in seinen „Briefen aus der Ferne“ durch kriegsbedingte Pressezensur und systematische Desinformation geprägt. So interpretierte Lenin die Ereignisse in Petrograd als eine von den russischen Bündnispartnern inszenierte Palastrevolution, die sich der Straßenkämpfe der Arbeiter nur bedient habe, um den Krieg effizienter führen zu können. Hier seine Sicht der Ereignisse aus dem Züricher Exil zusammenhängend dargestellt:
„Der ganze Ablauf der Ereignisse während der Februar-März-Revolution zeigt deutlich, dass die englische und die französische Botschaft mit ihren Agenten und ‚Verbindungen‘, die seit langem die verzweifelten Anstrengungen machten, ’separate‘ Übereinkünfte und einen Separatfrieden zwischen Nikolaus dem Zweiten (und dem letzten, wie wir hoffen und erstreben) und Wilhelm dem Zweiten zu verhindern, zusammen mit einem Teil der Generalität und des Offizierskorps der Armee sowie der Petersburger Garnison eine direkte Verschwörung organisierten, und zwar besonders mit dem Ziel der Absetzung Nikolaus Romanows.
Machen wir uns keine Illusionen. Begehen wir nicht den Fehler … einen Schleier über die Verschwörung der englisch-französischen Imperialisten mit den Gutschkow und Miljukow (zu werfen), die das Ziel hatte, den ‚Oberkrieger‘ Nikolaus Romanow abzusetzen und ihn durch energischere, frischere und fähigere Krieger zu ersetzen. …
Die Petrograder Arbeiter und die Arbeiter ganz Russlands haben aufopferungsvoll gegen die Zarenmonarchie, für die Freiheit, für die Übergabe des Bodens an die Bauern, für den Frieden, gegen das imperialistische Gemetzel gekämpft. Das englisch-französische imperialistische Kapital hat, um dieses Gemetzel fortsetzen und verstärken zu können, Palastintrigen gesponnen, hat eine Verschwörung der Gardeoffiziere angezettelt, hat die Gutschkow und Miljukow angestachelt und ermutigt und insgeheim eine fix und fertige neue Regierung zusammengestellt, die denn auch sofort nach den ersten Schlägen, die der Kampf des Proletariats dem Zarismus versetzte, die Macht an sich gerissen hat.“49
Zu diesem Zeitpunkt besaß er noch keine Informationen über den tatsächlichen Sieg der Februarrevolution und das vollständige Scheitern der Palastrevolution. Die veröffentlichten Namen der Regierungsmitglieder der Ersten Provisorischen Regierung mussten ihn in seiner Einschätzung bestärken, dass die geplante ‚Palastrevolution‘ über die Volksrevolution gesiegt hätte. Nach seiner Rückkehr nach Russland wurde ihm klar, dass der Verlauf der Ereignisse ein anderer war. „Im Ausland, wohin keine Zeitung gelangt, die links von der ‚Retsch‘ (Zentralorgan der Kadettenpartei, A.S.) steht und wo die englisch-französischen bürgerlichen Zeitungen von der unumschränkten Macht der Provisorischen Regierung sprechen und von dem ‚Chaos‘, das der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten darstelle, hat niemand eine klare Vorstellung von der Doppelherrschaft. Erst hier vor Ort und Stelle erfuhren wir, dass der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Macht an die Provisorische Regierung abgetreten hat.“50 Was Bollinger uns als Leninsche Interpretation der Februarrevolution zitiert, ist eine von Lenin selbst korrigierte Fehleinschätzung, die seinem damaligem Mangel an zutreffenden Informationen geschuldet war. Ist das eine redliche Art, sich mit Lenin und seinen Positionen auseinanderzusetzen?
Allerdings spiegelt auch diese Korrektur Lenins an seinen früheren Stellungnahmen nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit der Revolution und die durch sie hervorgerufene Machtverteilung zutreffend wider. Der Sowjet hat nicht seine „Macht“ an die Provisorische Regierung „abgetreten“, was ihm der Sache nach gar nicht möglich war, weil die bewaffnete Bauernschaft gar nicht daran dachte, ihre Macht über den weiteren Verlauf der Revolution abzugeben. Was tatsächlich geschah, war die Aufforderung der Sowjetführung an die Bourgeoisie, die Regierung zu bilden auf dem Boden eines Programms, welches die programmatischen Gemeinsamkeiten der Sowjetführung widerspiegelte. Die Führung des Sowjets sicherte der bewaffneten Bauernschaft zu, die Umsetzung dieses Programms zu kontrollieren.51
Und zum Abschluss von Bollingers Februarrevolution noch einmal die „ewig Gestrigen“ und ihre nicht einhaltbare(n) Versprechungen: Suchanow schildert in seinem „Tagebuch der russischen Revolution“ sehr anschaulich, wie die Erste und damit noch rein bürgerliche Provisorische Regierung zu ihrem politischen Programm kam: „Miljukow erbat sich das Blatt, auf dem unser Programm52 niedergeschrieben war, und während er es abschrieb, gab er dazu seine Kommentare … Die Amnestie verstand sich von selbst. Miljukow, der selbst keinen aktiven Schritt machte und nur nachgab, hielt es nicht für gehörig, gegen die Amnestie zu sprechen; er duldete sie bis zum Schluss, während er, zwar nicht gerade gern, aber doch durchaus gehorsam, niederschrieb: ‚alle Kategorien von Verbrechen: die agrarischen, militärischen, terroristischen‘. Das gleiche geschah mit dem zweiten Punkt, der von den politischen Freiheiten, der Aufhebung der religiösen und Standesbeschränkungen handelte usw…. Von Miljukow wurde gefordert, und er gab nach.“53 Die Erste Provisorische Regierung hat alle ihre „Versprechungen“, die im Abkommen mit der Sowjetführung festgeschrieben waren, eingehalten und die geforderten bürgerlichen Freiheitsrechte verkündet. So wurde Russland das freieste von allen kriegführenden Ländern.
Dass diese Regierung keinen Frieden geschlossen hat, den Bauern kein Land gegeben hat und die zukünftige Staatsform Russlands bis zur Konstituierenden Versammlung offen lassen wollte, all dies war Bestandteil des Abkommens mit der Sowjetführung. Die Frage von Krieg und Frieden, die Agrarfrage und die Staatsform wurden von beiden Seiten letztendlich bewusst offen gelassen.54 Warum dies geschah, ist die viel interessantere Frage, die von Bollinger gar nicht aufgeworfen wird. Der Ersten Provisorischen Regierung stattdessen haltlose Versprechungen vorzuwerfen, ist wenig zielführend. Was man allerdings Bollinger vorwerfen kann ist, mit populistische Phrasen von „ewig Gestrigen“, von haltlosen Versprechungen derselben, von einer Bourgeoisie, die die „Macht … an sich gerissen“ hat, Meinungsmache an die Stelle von Tatsachen zu setzen und so die ohnehin nicht einfache Geschichte der Februarrevolution weiter zu verwirren.
4.4 „Die Charakterisierung der russischen Revolutionen von 1917 fällt schwer“ (Bollinger)55
Die Februarrevolution war und ist in der Geschichtsschreibung wie in der politischen Bewertung ein noch schwierigeres Thema als der Oktoberumsturz. Stephen A. Smith hat darauf hingewiesen („Doch war von Anbeginn der Charakter der Revolution umstritten“ – S. 124), und wir haben ihn im ersten Teil aus gutem Grund zitiert. Warum das so war und bis heute weiterwirkt, hat zwei wesentliche Gründe.
Zum ersten haben alle an der Februarrevolution beteiligten gesellschaftlichen Kräfte und politischen Parteien rückblickend – ihrer eigenen Sicht nach – keine besonders rühmliche Rolle gespielt. Sie hadern mit ihren politischen Aktivitäten im Umfeld der Februarrevolution, versuchen sie nachträglich zu rechtfertigen, zu beschönigen oder zu vertuschen. Da die Februarrevolution eine spontan ausgebrochene Volksrevolution war, da sie von keiner politischen Partei angeführt oder dominiert wurde, mussten die politischen Parteien nach dem Sieg der Volksrevolution ihre Positionen zu diesem historischen Ereignis bestimmen. Dies macht es für die Geschichtsschreibung nicht einfacher, den Kern der Februarrevolution und ihr tatsächliches Ergebnis herauszuarbeiten.
Der „Progressive Block“ der Duma und die militärische Führung der zaristischen Armee wollten die Monarchie retten, indem sie mit einer „Palastrevolution“ Nikolaus den II. und Letzten (wie Lenin formulierte) ohne Einmischung des Volkes durch ein weniger unbeliebtes Mitglied des Hauses Romanow ersetzen. Miljukow von der Kadettenpartei und Gutschkow, Führer der Oktobristen, verfolgten hier dasselbe Programm wie die deutsche Sozialdemokratie ein Jahr später, nämlich die Monarchie durch Opferung des aktuellen Monarchen zu retten und selbst die Regierung in einer konstitutionellen Monarchie zu bilden. Der Sieg der Februar-Revolution machte diesen Plänen ein Ende.
Für das bürgerliche Lager und die militärische Führung in Russland war damit die „Palastrevolution“ gescheitert. Als Folge dieses Scheiterns war die Bildung der Ersten Provisorischen Regierung sowie ihr politisches Programm nach dem Sieg der Volksrevolution nur mit der Billigung und Unterstützung des Sowjets möglich. Dass sie eine rein bürgerliche Regierung sein sollte (in die sich Kerenski mit einem theatralischen Auftritt im Sowjet als „sowjetisches Feigenblatt“ selbst hinein beförderte), war ausdrücklicher Wunsch des Sowjets und kein Sieg der Duma über die Revolution. Die Herausarbeitung dieser Niederlage der bürgerlichen Kräfte im Februar bildet deshalb kein gern aufgegriffenes Thema in der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Stattdessen fabuliert man in bürgerlichen Kreisen über die Möglichkeit einer bürgerlich-demokratischen Entwicklung, die durch die realen Machtverhältnisse nach der Februarrevolution gar nicht mehr gegeben war und von den führenden politischen Vertretern der russischen Bourgeoisie auch ab Mai 1917 nicht mehr verfolgt wurde.56
Auch das Lager der „revolutionären Demokratie“, wie sich das Bündnis von Menschewiki und Sozialrevolutionären 1917 selbst bezeichnete, hatte kein Interesse daran, seine Rolle und politische Konzeption nach der Februarrevolution herauszuarbeiten. Die Revolution gab ihnen mit ihrer eindeutigen Mehrheit in den Sowjets die politische und militärische Macht in die Hände. Und was haben sie daraus gemacht? Sie haben versucht, mit aller Kraft die Bourgeoisie an die Regierung zu bringen oder zumindest deren Regierungsbeteiligung zu sichern, um sich selbst aus der politischen Verantwortung zu nehmen. Mit dieser Politik sind sie innerhalb weniger Monate mehrfach gescheitert, da die tatsächliche Macht beim Sowjet verblieb und die Bourgeoisie – zumindest ihre führenden Köpfe – seit Mai bereits auf die Militärdiktatur orientierte. Trotz allem hielt aber die Führung des Sowjets an ihrem Kurs fest, die Bourgeoisie in die Regierung zu bringen bzw. einzubinden. Hierfür muss es also einen gewichtigen Grund geben, den man allerdings ungern in der Öffentlichkeit formulierte: Sozialrevolutionäre und Menschewiki hatten kein politisches Programm zur Lösung der von der Februarrevolution offen gelassenen Fragen nach Krieg und Landreform. Jeder Versuch, eine Regierung der Sowjetmehrheit zu bilden, würde den 1917 sowieso stark anwachsenden zentrifugalen Tendenzen in diesen Parteien weiteren Auftrieb geben, sie in kürzester Zeit zerreißen und ihre rechten, in der Sowjetführung sitzenden Führer vollständig von den Massen und im Sowjet isolieren.
Den Bolschewiki als revolutionärer Flügel der Arbeiterbewegung ist Ausbruch und Verlauf der Februarrevolution ein noch unangenehmeres Thema. Trotz ihres nicht unerheblichen Einflusses auf die Arbeiterbewegung gerade in Petrograd, kam die Revolution für sie völlig unerwartet und der Einfluss der Partei auf die Ereignisse im Februar/März 1917 war entsprechend gering, was sich in ihrer marginalen Vertretung in den Sowjets im Frühjahr 1917 widerspiegelte. Dazu war die Partei in den ersten Wochen nach der siegreichen Revolution in verschiedene Richtungen gespalten und lief Gefahr, ihre politische Eigenständigkeit zu verlieren (Bestrebungen zum Zusammenschluss mit den Menschewiki, Übernahme der Position der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“).
4.5 Die Paradoxien der Februarrevolution
Ein weiteres Problem, welches ein Verständnis der Februarrevolution erschwert, sind die „Paradoxien“, die die Revolution an der politischen Oberfläche entstehen lässt.
Die erste dieser Paradoxien ist die bürgerliche Regierungsbildung, obwohl die Bourgeoisie mit ihren Plänen zu einer „Palastrevolution“ zur Beibehaltung des Zarismus gescheitert war.
Das zweite Paradoxon, das Trotzki in seiner „Geschichte der russischen Revolutionen“ gut beschrieben hat, lag im Verhalten der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die, im Besitz der tatsächlichen Macht, dieselbe fortwährend der Bourgeoisie andienten und dies mit stetig abnehmendem Erfolg.
Das dritte Paradoxon findet sich in der Politik der bolschewistischen Partei, die die russische Bourgeoisie seit dem Februar 1917 im Besitz der politischen Macht wähnt, obwohl es bei jeder politischen Krise im Revolutionsjahr deutlich wird, dass die tatsächliche Macht beim Sowjet und seiner kleinbürgerlichen Mehrheit lag. Dieses Paradoxon wird bis heute von der Linken geteilt. So siegen die Bolschewiki an der Spitze des Proletariats im Oktober trotz einer offensichtlichen Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Klassenkräfte. Dies ist zweifelsohne ein Paradoxon und dazu eines, das seinen Ursprung in der Fehleinschätzung des Charakters der Februarrevolution hat: dem Nichtbegreifen, dass nach der Februarrevolution die „Masse die Macht besaß“ (Pokrowski) und sie vermittels der Sowjets ausübte.
4.6 Das Wesen der Februarrevolution
Was war das Wesen der Februarrevolution? War sie eine siegreiche bürgerliche Revolution, oder eine eventuell unvollendet gebliebene bürgerliche Revolution (ein Thema, über das Lenin mit Kamenew im April 1917 stritt)? Oder doch etwas völlig anderes, bedingt durch die Besonderheiten Russlands? Mit letzterem dürfte man richtiger liegen.
Die russische Februarrevolution passt nicht in die Schemata des sog. „historischen Materialismus“. Die Bourgeoisie wollte diese Revolution nicht, da sie zu schwach für die Aufrichtung einer bürgerlichen Herrschaft war. Die Februarrevolution schuf auch keine „bürgerliche Republik“, sondern die Herrschaft der Sowjets, in denen die Bourgeoisie gar nicht vertreten war. Die Arbeiter wollten den Sturz des Zarismus, die Aufrichtung der Sowjetherrschaft, um den Weg zum Sozialismus beschreiten zu können. Die russische Bauernschaft, mehr altertümlicher Stand als moderne Klasse, wollte das Land der Gutsbesitzer und kapitalistisch wirtschaftenden Bauern, um es unter sich „umzuteilen“ und so seine altväterliche Produktionsweise zu befestigen. Nichts von alldem ist „bürgerlich“, nichts davon zielt auf die Aufrichtung einer bürgerlichen Gesellschaft bzw. kapitalistischen Produktionsweise. Deshalb macht es auch keinen Sinn, mit der Begrifflichkeit der „bürgerlichen Revolution“ an die russische Februarrevolution heranzutreten.
David Anin macht sich in seinem lesenswerten, aber stramm antikommunistischen Buch „Die Russische Revolution“ über Lenin lustig, speziell über den Begriff der „demokratischen Diktatur“ und schreibt: „Lenin war bereits damals ein Meister für sinnlose Wortverbindungen.“57 Diese „sinnlose Wortverbindung“ beschreibt die Februarrevolution und die Ereignisse des Revolutionsjahres allerdings treffender als alles, was Anin auf den ersten 120 Seiten seines Buches zur russischen Revolution und ihrer Geschichtsschreibung herausarbeiten kann.
Die Februarrevolution war der vollständige Sieg des Proletariats und des Kleinbürgertums (der Masse des Volkes) über den Zarismus. Dieser Sieg schuf eine neue revolutionäre Macht in Form der Sowjets, die an die Stelle der zerschlagenen Staatsmacht des Zarismus trat. Ihrem Wesen nach war diese Macht eine revolutionär-demokratische Diktatur des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums im Bündnis mit den sozialpatriotischen Kräften der Arbeiterbewegung (als Juniorpartner), der es an einem gemeinsamen Programm zur Lösung der entscheidenden Fragen von Krieg und Frieden sowie zur Agrarumwälzung fehlte. Sie war revolutionär, weil sie den Zarismus gestürzt und seine Staatsmacht im Volksaufstand zerschlagen hatte, sie war demokratisch, weil sie bis September 1917 die Mehrheit der Bevölkerung verkörperte, sie war diktatorisch, weil sie ihre Herrschaft mit Waffengewalt (Juli-Krise, Kornilow) durchsetzte. Parteipolitisch wurde sie durch das Bündnis der Sozialrevolutionäre mit den Menschewiki in den Sowjets verkörpert.
Unter solchen Vorzeichen ist es nicht verwunderlich, dass die Februarrevolution kein „Glück mit der Geschichtsschreibung“ (Anin) hatte und auch der wortgewandte Stefan Bollinger schließlich zugeben muss: „Die Charakterisierung der russischen Revolutionen von 1917 fällt schwer.“
4.7 Die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Wissenschaft
Ehe wir das schwierige Thema der Februarrevolution gänzlich verlassen, nochmals zurück zu den neuen „wissenschaftlichen Erkenntnissen“, die Bollinger gegen die stalinschen Verfälschungen herausarbeiten wollte. An zwei Beispielen wollen wir Bollingers Auseinandersetzung mit den von ihm selbst angeführten bürgerlichen Quellen darstellen. Er versprach uns ja, „in diesem Buch greifen wir auf die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Diskussion zurück“.
Beginnen wir mit dem „herausragenden“ Antikommunisten R. Pipes und seiner Deutung der Februarrevolution. Für ihn war die Februarrevolution „zuerst und vor allem eine Meuterei von Bauern im Soldatenrock.“ Dies ist eine grundsätzlich andere Bewertung der Februarrevolution als Bollinger sie uns gegeben hat. Bei Bollinger sind es – einem Lenin-Zitat folgend – „die Arbeiter und Soldaten, die die Revolution gemacht (haben).“ Was war es denn nun im Februar 1917: ein Arbeiteraufstand oder eine Meuterei der bäuerlichen Soldaten? Dass sowohl Arbeiter wie Soldaten in der Februarrevolution eine entscheidende Rolle spielten, ist unbestritten. Hier geht es um die Frage, wer die Revolution ausgelöst und ermöglicht hatte.
Pipes formuliert in wünschenswerter Klarheit seine Sicht der Dinge: „Angesichts der Tatsache, dass die Februarrevolution häufig als ein Aufstand der Arbeiter dargestellt wird, muss betont werden, dass sie zuerst und vor allem eine Meuterei von Bauern im Soldatenrock war, die von den Behörden aus Sparsamkeitsgründen in völlig überbelegten Kasernen in der Hauptstadt des Landes untergebracht worden waren – in den Worten eines Augenzeugen wie ‚Zunder neben einem Pulverfass‘.“58 Bei Pipes wird der Arbeiteraufstand zu einer Marginalie gegenüber der Meuterei der Soldaten. „Zuerst und vor allem“ war die Februarrevolution „eine Meuterei“ der „Bauern im Soldatenrock“, so definiert er seine Einschätzung der Revolution. Pipes bezieht eine eindeutige Position, die den Arbeiteraufstand als Randerscheinung der bäuerlichen Soldatenmeuterei erscheinen lässt. Nicht die Arbeiter, sondern die bäuerlichen Soldaten haben bei Pipes die Februarrevolution „gemacht“. Diese Position entspricht seiner politischen Gesinnung, die einen erfolgreichen Arbeiteraufstand aus der Geschichtsschreibung „herausargumentieren“ will. Nur setzt ihm hier, wie bei fast allen Beurteilungen der Ereignisse des Revolutionsjahres, seine Gesinnung so enge Grenzen, dass Pipes die Wirklichkeit falsch darstellt.59
Der russische Februar „war zuerst und vor allem“ ein Aufstand des Petrograder Proletariats. Dies hat u.a. Trotzki in seiner Geschichte der Februarrevolution eindrucksvoll dargestellt. Das Überlaufen der bäuerlichen Regimenter war eine Folge des Kontakts der Soldaten mit der vom Proletariat angeführten Bevölkerung Petrograds. „Bislang hatte der bäuerliche Soldat auf die Unbillen des zaristischen Regimes mit individueller Desertion aus der Armee reagiert. Jetzt war er über mehrere Tage hinweg mit den revolutionären Arbeitern konfrontiert, und im direkten Kontakt mit der Arbeiterbewegung eröffnete sich ihm eine neue, organisierte Form des Protestes gegen das zaristische Regime, um seiner rechtlosen Lage und dem mörderischen Krieg zu entkommen. Die fortwährende Einflussnahme der Arbeiter auf die Bauernsoldaten führte zum Umschwung in den Regimentern und verhalf der Revolution zum Durchbruch.“60
Die Februarrevolution war deshalb „zuerst und vor allem“ keine Meuterei der Bauern im Soldatenrock, wie Pipes meint, sondern eine proletarische Revolution, deren Sieg an das Überlaufen der bäuerlichen Armee (nicht der Generale des Hauptquartiers) geknüpft war. Anders gesagt, wurde die Revolution von den Arbeitern „gemacht“, aber sicherte erst das Überlaufen der bäuerlichen Soldaten ihren Erfolg. Dieses Wechselspiel zwischen beiden Bewegungen kennzeichnete mit unterschiedlichen Verlaufsformen und Gewichten auch den Fortgang der kommenden Monate. Ohne diese Rolle der Arbeiterklasse richtig herauszuarbeiten, kann man die späteren Ereignisse von April bis Oktober nicht verstehen.61
Und wie argumentiert Bollinger gegen Pipes? Welche Argumente setzt Bollinger der von Pipes betriebenen Uminterpretation der Geschichte entgegen? Gar keine. Er zitiert den „herausragenden“ Pipes weder zu diesem Thema noch zu anderen Wendepunkten des Revolutionsjahres. Die Aussagen Pipes zur Februarrevolution sind keineswegs „herausragend“, sondern schlichtweg falsch. Und da unser linker Historiker sie offensichtlich nicht widerlegen kann, bedeckt er sie mit dem Mantel des Schweigens.
Nicht anders verfährt Bollinger mit Orlando Figes und dessen Ausführungen zur Februarrevolution. „Ohne Beistand des Rates (gemeint ist der Sowjet, A.S.), der alleine über reale Autorität verfügte, war die Provisorische Regierung machtlos.“ Hier, bei Figes finden wir eine eindeutige Aussage zum Verhältnis von Sowjet und Provisorischer Regierung, die wir bei Bollinger vergeblich suchen. Und an anderer Stelle: „Die Monarchie war tot. Ihr gesamter institutioneller Unterbau – Bürokratie, Polizei, Heeresleitung und Kirche – brach fast über Nacht zusammen. Niemand versuchte ernstlich, sie wiederzubeleben.“62 O. Figes definiert in diesen wenigen Sätzen die entscheidenden Voraussetzungen zum Verständnis des Revolutionsjahres: Der Sowjet besaß die „reale Autorität“ und der zaristische Staatsapparat war vollständig zusammengebrochen. Und die „reale Autorität“ des Sowjets, gilt es hinzuzufügen, stützte sich auf die bewaffnete Macht der bäuerlichen Armee. Auch hier wieder bei Bollinger dasselbe Verfahren: die freundliche Erwähnung der Veröffentlichung von Figes, aber kein Wort zu den inhaltlichen Positionen dieses Autors.
Dies, an zwei Beispielen zur Februarrevolution dargestellt, beschreibt Bollingers Umgang mit den bei ihm auf über vier Seiten aufgelisteten und zumeist positiv bewerteten bürgerlichen und linken Veröffentlichungen zur russischen Revolution. Statt dem Leser die Positionen von Hildermeier, Beyrau, Pipes oder Figes und anderen zur Februarrevolution vorzustellen und sich dann mit diesen auseinanderzusetzen, liefert uns Bollinger nur das oben angeführte Lenin-Zitat (von den Arbeitern und Soldaten, die die Revolution gemacht haben und der Bourgeoisie oder den „ewig Gestrigen“, die darauf hin die Macht an sich gerissen haben). Dies sollte den Leser zumindest nachdenklich stimmen. Denn mit dieser Interpretation des Februars sind wir wieder bei den „Stalinschen Vereinfachungen und Verfälschungen“ angelangt,63 und nach der Lektüre von Bollingers Buch weiß der Leser noch nicht einmal, warum sie falsch sind.
4.8 Eine „bolschewistische Geheimformel“
„Frieden, Brot, Freiheit und Land – die bolschewistische Geheimformel“ (Bollinger: Oktoberrevolution, S. 36)
Diese Kapitelüberschrift kommt für den geschichtlich interessierten Leser etwas überraschend. Sprachlich erlaubt sich Bollinger mit dieser Überschrift einen Ausflug in das Milieu der Boulevard-Presse und des logisch Unerlaubten. Die Bolschewiki hätten ihren politischen Einfluss, ihre Hegemonie über die Arbeiterklasse mit einer „Geheimformel“ (bei Bollinger ohne Anführungszeichen) errungen? Wie soll das möglich sein? Darüber verliert der Autor in dem entsprechenden Kapitel seines Buches – immerhin von Seite 36 bis 51) kein einziges Wort. Die zitierte Formel erscheint das nächste Mal im darauf folgenden Kapitel mit dem Titel:“Warum und wie es begann – eine Vorgeschichte“ auf Seite 54. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Formel wird der Leser deshalb vergeblich suchen.
Zum historischen Ursprung dieser Formulierung hier die Erklärung, die wir bei Bollinger vergeblich suchen. Diese oben zitierte Fassung der „bolschewistischen Geheimformel“ (mit der Forderung nach Freiheit) nutzte Lenin in seinen Briefen und Artikeln aus Zürich,64 also zu einer Zeit, als er den Sieg der Palastrevolution über die Volksrevolution unterstellte. Nachdem er zutreffendere Informationen über die Februarrevolution erhalten hatte, benutzte er diese Forderung nicht mehr. Russland war nach dem Sieg der Februarrevolution von allen kriegführenden Ländern dass „freieste“ Land geworden. Auf Seite 49 seines Buches gesteht Bollinger diesen Tatbestand mit einem Lenin-Zitat ein („Russland ist zur Zeit von allen kriegsführenden Ländern das freieste Land der Welt“), führt somit seine eigene Überschrift ad absurdum und bemerkt dies nicht einmal.
4.8.1 „Verschwörungstheoretiker“ (Oktoberrevolution, S. 36)
In dem Buchkapitel über die „Geheimformel“ behandelt Bollinger ganz andere Themen,65 so z. B. die „Verschwörungstheoretiker“. Auf diesen Punkt lohnt es sich näher einzugehen. Bollinger beginnt das Kapitel mit den Ausführungen: „Bis zum heutigen Tag hält sich hartnäckig die illusionäre Vorstellung von den kommunistischen Putschisten, die in aller Seelenruhe mit deutschem Eisenbahnzug und deutschen Millionen in das ach so demokratische gewordene Russland reisten“ (auf Seite 49 seines Buches hat Bollinger diesen Tatbestand zugestanden; A.S.), „haufenweise Flugblätter druckten, bestachen, an allen Ecken Agitatoren auftreten ließen und Militäreinheiten auf ihre Seite zogen. So konnten sie – das die gebetsmühlenartig wiederholte Mär – ganz überraschend und mit einem Putsch im Oktober 1917 einer eher hilflosen und harmlosen Provisorischen Regierung die Macht aus den Händen reißen. Die historische Wahrheit ist wie meist etwas komplizierter und nicht so, wie Verschwörungstheoretiker sie sich zusammenreimen.“ (Oktoberrevolution, S. 36)
Der launige Feuilletonstil, mit dem Bollinger hier Teile der bürgerlichen Geschichtsschreibung „abbürstet“, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bollinger selbst von dieser Sicht der Dinge nicht weit entfernt ist, und dem aufmerksamen Leser von seinem Oktober-Buch kommt an dieser Passage etwas bekannt vor. Richtig! Sechs Seiten vor der zitierten Stelle schreibt Bollinger im Zusammenhang mit dem alliierten Druck auf Kerenski zu verstärkten Kriegsanstrengungen: „Vor allem erinnert diese Situation … daran, dass die ‚Fremdsteuerung‘ Russlands einerseits kein besonderes Privileg der Deutschen war, die die bolschewistischen Führer mit plombierten Waggon und Gold versorgt in Feindesland entsandt hatten.“ (Oktoberrevolution, S. 32) Da haben wir zumindest die Hälfte der „illusionären Vorstellung“ der „Verschwörungstheoretiker“ als Position Bollingers selbst.
Die andere Hälfte finden wir bei Richard Pipes. Nur sollte Bollinger zumindest seinen Lesern gegenüber so ehrlich sein, die „herausragende“ Arbeit von Richard Pipes (hier: Band 2, Die Macht der Bolschewiki) als eine der wichtigsten Quellen seiner angeführten „Verschwörungstheorien“ in der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu benennen. Pipes vertritt diese „Verschwörungstheorien“ in allen wesentlichen von Bollinger angesprochenen Punkten; vom deutschen Geld bis zu den von ihm unterstellten fortgesetzten Umsturzversuchen (April und Juli 1917), um Russland im Interesse der Mittelmächte aus dem Krieg zu nehmen.66 Die genannten Umsturzversuche Lenins im deutschen Interesse scheiterten noch im Frühjahr und Sommer, weil Lenin – nach Pipes – eine fehlerhafte Taktik verfolgte (Umsturz durch Radikalisierung von Straßendemonstrationen). Erst nach Lenins erneutem Exil infolge der Juli-Krise gelang es Trotzki, so Pipes, mit geänderter Taktik (verdeckter Staatsstreich), den Umsturz im Oktober erfolgreich zu organisieren und damit Russland in deutschem Interesse aus dem Krieg zu nehmen. R. Pipes ist mit seinem zweiten Band zur Russischen Revolution einer der bekanntesten und ältesten bürgerlichen Historiker, der über „deutsches Geld“ und Leninsche Umsturzversuche im deutschen Interesse schreibt.67
Schlussendlich weiß der Leser dieses Kapitels nicht, was der Autor ihm mitteilen wollte. War es nun eine mit deutschem Geld finanzierte „Verschwörung“ mit abschließendem Putsch oder doch „etwas komplizierter und nicht so, wie Verschwörungstheoretiker (es sich) zusammenreimen“? Bei strittigen Fragen entzieht sich Bollinger der simplen Positionsbestimmung, er favorisiert das vieldeutige, aber feuilletonistisch besser passendere „sowohl als auch“.
4.8.2 Die „Geheimformel“ – Frieden
Gehen wir im Folgenden auf die Probleme der „Bolschewistischen Geheimformel“ etwas näher ein. Auch ohne die unsinnig gewordene Forderung nach Freiheit war der Rest der bolschewistischen Forderungen ab April/Mai 1917 problematisch genug und natürlich keineswegs geheim. Russland befand sich im Krieg mit den Mittelmächten und dem Osmanischen Reich. Der bedeutendste Kriegsgegner war das preußisch-militaristisch geprägte deutsche Kaiserreich. Da die Alliierten nach dem angekündigten Kriegseintritt der USA in den 1. Weltkrieg (April 1917) kein Interesse an einem zeitnahen Friedensschluss hatten und dies auch durch ihre Botschafter verkünden ließen, bedeutete die Forderung nach einem baldigen Frieden im Frühjahr/Sommer 1917, den Abschluss eines Separatfrieden mit dem deutschen Kaiserreich zu fordern. Dies lag in der Logik der Verhältnisse. So verstand auch die politische Führung des deutschen Kaiserreichs die bolschewistische Forderung nach sofortigem Frieden und war bereit, den „plombierten Zug“ zur Verfügung zu stellen. So wurde die Forderung nach einem sofortigen Frieden auch von den anderen politischen Parteien in Russland interpretiert. Und die Bolschewiki wurden für ihre Forderung nach einem baldigen Frieden – aus den genannten politischen Gründen und auch ganz ohne deutsches Geld zu unterstellen – verdächtigt, deutsche Interessen zu vertreten. Wer 1917 in Russland einen sofortigen Frieden verlangte, konnte ihn nur mit dem deutschen Kaiserreich schließen.
Genau so diskutierten auch die Linken Sozialrevolutionäre (LSR) die Friedensfrage im Frühjahr 1917. „Als einzige Perspektive zur Beendigung des Krieges zeigte Kamkow (einer der führenden Köpfe der linken Sozialrevolutionäre; A.S.) die Weltrevolution auf. Diese Schlussfolgerung war zweifelsohne der Schwachpunkt der internationalistischen Anschauung. So überzeugend die linkssozialrevolutionäre Begründung der Kriegsursachen und ihre Forderung nach einer sofortigen Beendigung des Krieges auch waren, die Lösungsmöglichkeit, die die LSR (Linken Sozialrevolutionäre) parat hielten, war kaum mehr als eine Fiktion und entsprang eher dem Wunschdenken als der europäischen Realität. Einzig V.E. Trutowvskij bot eine realistische Lösung der Kriegsfrage an, nämlich den Separatfrieden. Mit seiner Sichtweise blieb er jedoch weitgehend isoliert. … Trutowvskij zog sich damit gleichermaßen die Kritik der Vaterlandsverteidiger und der Internationalisten zu. Die letzteren lehnten den Vorschlag mit dem Hinweis ab, dass es sich um eine einseitige Hilfe für eine der kriegführenden imperialistischen Gruppierungen handele.“68 Und in der Auseinandersetzung mit dieser Position wurden deshalb auch die Linken Sozialrevolutionäre von der rechten Mehrheitsfraktion als Bolschewiki, Anarcho-Bolschewiki und als Agenten des deutschen Generalstabes denunziert.69
Die bolschewistische Partei hatte mit der Forderung nach einem schnellen Frieden eine im Frühjahr/Sommer 1917 durchaus unpopuläre Forderung aufgestellt – die Massen teilten zu diesem Zeitpunkt die Position der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ – und musste sich fortwährend gegen obige Verdächtigung verteidigen. „Die Konferenz protestiert erneut mit allem Nachdruck gegen die niederträchtige Verleumdung, die die Kapitalisten über unsere Partei verbreiten, gegen die Behauptung, wir sympathisieren mit einem Separatfrieden (Sonderfrieden) mit Deutschland.“70 Da aber der Separatfrieden mit Deutschland zu diesem Zeitpunkt der einzig mögliche Frieden war, lag die von Lenin gegeißelte „niederträchtige Verleumdung“ politisch sehr nahe.
Dazu war die Forderung nach einem baldigen Friedensschluss im Frühjahr/Sommer 1917, wie erwähnt, höchst unpopulär. Mit einem Blick in den ersten Band des „herausragenden“ Pipes hätte auch Bollinger dieses Problem erkennen können. „Theoretisch befürworteten mit Ausnahme der Bolschewiki alle führenden Parteien, die in der Regierung und im Sowjet vertreten waren, die Fortsetzung des Krieges … In dieser Haltung spiegelte sich die Stimmung der Bevölkerung.“71 Und anschließend zitiert Pipes als Beleg für diese Haltung noch den linken Internationalisten Suchanow: „In den allerersten Wochen (der Februarrevolution) war die bäuerliche Armee noch völlig unter dem Bann der alten ‚kriegerischen‘ Begriffe. Die Soldatenmassen in Petersburg waren nicht nur nicht bereit, darüber (gemeint ist ein baldiger Friedensschluss; A.S.) mit sich reden zu lassen, und hätten jeden unvorsichtigen ‚Verräter ‚ und ‚Frontausreißer‘ auf ihre Bajonette gespießt.“72
Die Bolschewiki waren deshalb gezwungen, alle ihre politischen Aussagen gegen den Krieg und für einen baldigen Friedensschluss mit der strikten Ablehnung eines jeden Separatfrieden mit Deutschland zu koppeln. Theoretisch ließ sich dieser Spagat mit der Imperialismus-Theorie begründen (wie es die LSR auch taten), politisch war dieser Spagat aber wenig überzeugend. „Wie aus den Petitionen der Soldaten hervorgeht, sah es bei ihnen so aus, als betrachteten sie die Befürworter eines schnellen Friedens als Anhänger des (deutschen) Kaisers. Das Problem war so heikel, dass die Bolschewiki, die als einzige für einen sofortigen Frieden eintraten, sich sorgfältig vor entsprechenden öffentlichen Verlautbarungen hüteten. Es ist bezeichnend für den Groll, den die Petrograder Garnison deshalb gegen sie hegte, dass bei den Wahlen innerhalb der Soldatensektion des Sowjets … kein Bolschewik einen Sitz errang.“73 Welche Schwierigkeiten selbst Lenin mit dieser Aporie hatte, kann der interessierte Leser in seinen Ausführungen auf der April-Konferenz der Bolschewiki nachlesen.74 Die „Geheimformel“ des baldigen Friedens war im Frühjahr/Sommer 1917 ein Bleigewicht an den Füßen der Partei, da diese Losung im Gegensatz zu der politischen Stimmung der Massen stand.
4.8.3 Die „Geheimformel“ – Land
Die Entwicklung der Leninschen Position in der Agrarfrage 1917 detailliert herauszuarbeiten, wäre eine nützliche Arbeit gewesen. Bedauerlicherweise haben unsere linken Publizisten sich diese Aufgabe gar nicht gestellt, obwohl sie keineswegs daran zweifeln, dass die Agrarfrage zu den Kernproblemen des Revolutionsjahres gehört. Was sie ebenso wenig ansprechen, ist der Zusammenhang zwischen der Lösung der Agrarfrage und der Frage des Friedens, obwohl dieser Zusammenhang eigentlich unübersehbar war und durchaus offen diskutiert wurde.
Die russische Armee war in ihrer großen Mehrzahl eine Armee von Bauern. Und drei Viertel dieser Bauern lebten in einer Umteilungsgemeinde, der Obschina, wie wir es im ersten Teil dargestellt hatten. Die Umteilung des Landes erfolgte in der Regel entsprechend der Anzahl der Arbeitskräfte einer bäuerlichen Familie. Dies bedeutete, dass keine gerechte Umteilung des Landes erfolgen konnte, solange die entscheidenden Arbeitskräfte des Dorfes an der Front waren. Umgekehrt bedeutete dies aber auch, dass sich die russische Armee mit ihrer bäuerlichen Grundlage auflösen würde, sobald das Dorf mit der Landumteilung begann, erst recht mit der Umteilung der Ländereien der Gutsbesitzer auf die Bauernfamilien des Dorfes. Insofern besaß die bolschewistische „Geheimformel“ der Landaufteilung („Die Partei verficht entschieden den sofortigen Übergang aller Ländereien in die Hände der Bauernschaft“75 – April 1917) auch direkte Auswirkungen auf die Kriegsfähigkeit der russischen Armee. Zugespitzt ausgedrückt, wer zur sofortigen Aufteilung der Landgüter durch die Bauernschaft aufruft, löst den Zusammenhalt der Armee auf und wird gezwungen sein, einen Separatfrieden mit Deutschland zu schließen. Genau dies geschieht nach dem Oktoberumsturz.
Den verschiedenen Flügeln der Sowjetparteien war diese Problematik wohl bekannt. „Folgende Gründe veranlassten die Partei der Sozialrevolutionäre ganz im Gegensatz zu ihrem im Parteiprogramm fixierten Forderungen, die Agrarfrage im Jahr 1917 überaus dilatorisch zu behandeln. Sie befürchtete … – und dies war am gewichtigsten – massenhafte Desertionen der Frontsoldaten und damit eine Gefährdung der Verteidigungsfähigkeit Russlands. Alle verantwortlichen Politiker von den Menschewiki und Sozialrevolutionären … vertraten in dieser Zeit die Auffassung, dass die vordringlichste Aufgabe die Gewährleistung der Kampfkraft der russischen Armeen sowie die Versorgung der russischen Bevölkerung sei. Daher sprachen sie sich gegen eine sofortige Landreform aus, weil diese den Bestand der Front ebenso gefährdet hätte.“76
Aus menschewistischer Sicht stellt Theodor Dan den inneren Zusammenhang zwischen der Aufrechterhaltung einer „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ und der Unmöglichkeit einer baldigen und grundlegenden Agrarreform dar: „Die Verteidigung des Landes in Erwartung eines allgemeinen demokratischen Friedens machte es notwendig, dass eine viel millionenköpfige Armee in kampffähigem Zustande erhalten und dass sorgfältig alles vermieden wurde, was diese Armee desorganisieren konnte. Hieraus ergab sich zunächst die Schlussfolgerung, dass die Agrarreform bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung vertagt wurde, da eine revolutionäre Bodenenteignung und die Aufteilung der Gutsländereien unvermeidlich die Desertion von Millionen Bauernsoldaten von der Front nach sich gezogen hätte, die bei der Aufteilung des Grund und Bodens dabei sein wollten.“77
Hier wird das von Trotzki beschriebene „Paradoxon der Februarrevolution“ politisch auf den Punkt gebracht. Es bestand eine unauflösliche Verbindung zwischen der Kriegführung und der Agrarumwälzung, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht aufheben konnten, ohne ihre Massenbasis im Sowjet zu verlieren. Deshalb befürworteten diese Parteien im Februar/März die Bildung einer bürgerliche Regierung und versuchten nach deren Scheitern im April immer wieder Koalitionsregierungen mit den bürgerlichen Kräften zu bilden, um der Bourgeoisie die Verantwortung für ihr eigenes Dilemma zuzuschieben. Letztlich verloren sie mit dieser Politik sowohl ihre bourgeoisen Koalitionspartner (Moskauer Staatskonferenz, Kornilow-Putsch) als auch die Mehrheit in den Sowjets. Die Billigung der bäuerlichen Agrarumwälzung im Oktober durch die neue Sowjetmehrheit leitete die damit unweigerlich einhergehende Auflösung der Armee ein und schuf damit 1918 erstmalig die Möglichkeit, Sowjetmehrheiten für einen Separatfrieden mit Deutschland zu bekommen.
Von diesen Klassenkräften, den politischen Konzeptionen der handelten Parteien, den Problemen, die die Bolschewiki mit ihrer allseits bekannten „Geheimformel“ im Revolutionsgeschehen unweigerlich haben mussten, davon erfahren wir in Bollingers Buch rein gar nichts.
4.9 Von Miljukow zu Kornilow
Auf die weiteren Ereignisse des Revolutionsjahres und ihre Interpretation durch Bollinger gehen wir im Folgenden nur kurz ein. Wer hier mehr wissen möchte, sei auf das gemeinsame Buch mit Heiner Karuscheit78 sowie auf die Ausgaben Nr. 85 (Die Oktoberrevolution) mit dem gekürzten und kommentierten Nachdruck der Bucharin-Broschüre zum Revolutionsjahr und die Nr. 86 der AzD zur Geschichtsschreibung über die russischen Revolutionen verwiesen.
4.9.1 April-Krise
„Als die Miljukow-Note bekannt wurde, stürzte sie die Lwow-Regierung in die Krise. (…) Lenins Rückkehr aus dem Exil … sorgte dafür, dass Antikriegspropaganda und die Fragen nach den handfesten Resultaten der Revolution – die Heimkehr der Männer von der Front, wieder gefüllte Kochtöpfe, Boden, der denjenigen gehören sollte, die ihn bestellen – auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Noch einmal gelang es allerdings der herrschenden bürgerlichen Gruppierung, ihre Macht zu behaupten.“ (Oktoberrevolution, S. 33)
Wie es im April/Mai mit der Antikriegspropaganda tatsächlich bestellt war, haben wir dargestellt. Bollinger besitzt keine Kenntnis über die tatsächliche Stimmung der Massen zu diesem Zeitpunkt („revolutionäre Vaterlandsverteidigung“). Er unterstellt den Massen einfach jene Stimmung, die ihm genehm ist: der „volle Kochtopf“ und „die Heimkehr der Männer von der Front“. So kann man über die April-Krise fabulieren, ohne etwas Ernsthaftes zu sagen, ohne ihr Wesen zu verstehen. Dabei bildet die April-Krise einen wichtigen Wendepunkt im Revolutionsjahr und zeigt für alle sichtbar das Verhältnis der Klassenkräfte im revolutionären Russland auf.
Miljukow und Gutschkow sowie weitere Rechte innerhalb der Partei der Kadetten und Oktobristen79 suchten zusammen mit dem regionalen Militärkommandanten (damals bereits ihr späterer Putschpartner Kornilow) eine Machtprobe mit dem Sowjet in der Frage der Außen- und Militärpolitik.80 Diese Machtprobe scheiterte und die Verantwortlichen aus bürgerlichen Kreisen mussten gehen. Sie favorisierten ab diesem Zeitpunkt die Vorbereitung eines Militärputsches, den u.a. ihr Freund aus den April-Tagen dann im August versuchte.81 Im Gegensatz zu Suchanow hat Lenin die Bedeutung der April-Ereignisse nicht erkannt. Für ihn hatte der Austausch einiger Minister nichts an der Regierung geändert. „Die Kapitalistenregierung hat mit ihrer Note vom 18. April eigentlich nur ihre früheren Noten wiederholt, in denen der imperialistische Krieg durch diplomatische Floskeln verhüllt wurde. Die Soldatenmassen gerieten in Empörung, denn sie hatten an die Aufrichtigkeit und Friedensliebe der Kapitalisten ehrlich geglaubt. Die Demonstrationen begannen als Soldatendemonstrationen mit der widerspruchsvollen, nicht durchdachten, zu nichts führenden Losung ‚Nieder mit Miljukow‘ (als ob ein Wechsel von Personen oder Gruppen etwas am Wesen der Politik ändern könnte!).“82
Die April-Krise war eine vom rechten Flügel der Regierung herbeigeführte Machtprobe. Sie sollte die vermeintliche Doppelherrschaft (ein Begriff Miljukows) beenden, die Macht des Sowjets brechen und die bürgerliche Regierung als einzige Quelle der Staatsmacht etablieren. In der Praxis, bei der Machtprobe auf den Straßen Petrograds, führte sie zum Gegenteil. Sie bestätigte die Macht des Sowjets über die Revolution und die bürgerliche Regierung. „Ja, die Armee war der Plutokratie entrissen. Die Diktatur des Kapitals im revolutionären Russland war an der Wurzel angeschlagen. Die politische Macht der besitzenden Klassen war gebrochen. Die reale Macht war mit der Eroberung der Armee voll und ganz in die Hände der sowjetischen Demokratie, der Demokratie der Arbeiter und Bauern, übergegangen.“83
Miljukow und Gutschkow mussten gehen und der entscheidende Flügel der russischen Bourgeoisie orientierte von nun an auf einen Staatsstreich oder Militärputsch gegen den Sowjet. Die April-Krise bestätigte die Schwäche der russischen Bourgeoisie, die Abhängigkeit ihrer Regierungsbeteiligung von den Sowjetentscheidungen. Also das Gegenteil von Bollingers Schlussfolgerung: „Noch einmal gelang es allerdings der herrschenden bürgerlichen Gruppierung, ihre Macht zu behaupten.“
4.9.2 Die Juli-Ereignisse
„Während die anderen linken Parteien noch diskutierten und Bedenken ob der Reife der russischen Verhältnisse hatten, konnten die Bolschewiki mit ihrer Kompromisslosigkeit bei den Massen punkten. Sie mussten diese Bewegung ’nur‘ in Bahnen lenken, sie organisieren. Im Juli waren sie dazu noch nicht in der Lage, hinkten dem spontanen Aufbegehren hinterher. Noch saß die Provisorische Regierung fest im Sattel.“ (Oktoberrevolution, S. 35) Wenige Zeilen später, aber noch auf derselben Seite, wird aus den Juli-Ereignissen ein „bolschewistisch inspirierter Aufstand“. Da haben wir es wieder, das feuilletonistische „sowohl als auch“, das von Teilen der Linken als „solide historische Aufklärung“ (so der Rezensent in den Marxistischen Blättern) interpretiert wird.
Fest im Sattel – wie Bollinger es formuliert – saß zu diesem Zeitpunkt nur die Sowjetführung und nicht die Regierung. Die Provisorische Regierung hatte mal wieder eine ihrer Krisen84 und Kerenski versuchte, eine neue Koalitionsregierung zu bilden. Die Arbeiter, die Matrosen und die revolutionären Regimenter in Petrograd verlangten von dem zu diesem Zeitpunkt tagenden Sowjetkongress die Übernahme der Macht und ein Ende der Koalitionsregierungen mit der Bourgeoisie. Die Front aber, die Mehrheit der Bauernarmee und das städtische Kleinbürgertum, stand noch hinter der Sowjetführung und beteiligte sich an der Niederschlagung der bewaffneten Demonstrationen. Nicht die Bolschewiki „hinkten dem spontanen Aufbegehren hinterher“ (Bollinger), sondern die Arbeiter und Matrosen Petrograds standen deutlich links von den Massen der bäuerlichen Armee, die noch „ihre“ Sowjetführung stützten. Das ist der Kern der Juli-Ereignisse, der Bollinger gänzlich unbekannt ist.
Zum „bolschewistisch inspirierten Aufstand“ – auch hier folgt Bollinger wieder Pipes, ohne ihn zu zitieren – hat Rabinowitsch gründlich geforscht und ist zu einem gänzlich anderen Ergebnis als Bollinger und Pipes gekommen: „Was die Juli-Ereignisse angeht, so war der Vorwurf, der Aufstand sei durch Lenin in Zusammenarbeit mit den Deutschen angestiftet worden, offensichtlich unbegründet. Von Mitte Juni an hatte Lenin … sich energisch dafür eingesetzt, den Ausbruch eines Aufstandes zu verhindern.“85
4.9.3 Kornilow-Putsch
„Ende August (sorgte) der von der Provisorischen Regierung bestellte Oberbefehlshaber … dafür, dass auch seinen politischen Chefs der Atem stockte. Er versuchte einen konterrevolutionären Umsturz gegen die Regierung und gegen die linke Opposition. Dabei bleibt offen, ob sein beabsichtigter Schlag gegen die Sowjets und die Linke nicht doch nur die Absichten der Regierung auf den blutigen Punkt bringen sollte. Nur durch Glück und Geschick Kerenskis, … gelang es diesen Putsch zu stoppen.“ (Oktoberrevolution, S. 35) Bei einer solchen Geschichtsschreibung stockt einem wirklich der Atem. Kerenski sei es gewesen, dem es durch sein „Glück und Geschick“ („Hand in Hand mit dem Widerstand der Bevölkerung“) gelang, diesen Putsch zu stoppen. Dieser Faktensalat, den Bollinger hier anrichtet, hat nur einen Zweck, nämlich Kerenski (der zu diesem Zeitpunkt Regierungschef war und Kornilow erneut wie im April dazu nutzten wollte, „die Absichten der Regierung auf den blutigen Punkt zu bringen“) von seiner Beteiligung an dieser Verschwörung reinzuwaschen.
Lesen wir, was der englische Botschafter, der ebenso wie Kerenski in diese Verschwörung verstrickt war, dazu geschrieben hat. „Obwohl alle meine Sympathien auf Seite Kornilows waren, hatte ich immer von einem militärischen Handstreich nachdrücklich abgeraten, denn Russlands einzige Hoffnung auf Rettung lag in einer engen Arbeitsgemeinschaft zwischen ihm und Kerenski. … Erst auf Kerenskis Aufforderung zur Niederlegung des Kommandos hat sich Kornilow zum Handeln entschlossen, und zwar nur aus patriotischen Beweggründen. Er persönlich wäre wohl bereit gewesen, mit Kerenski zu arbeiten, doch hinter ihm standen Männer, die die Regierung seit Wochen stürzen wollten. Das Geheimnis dieser Gegenrevolution kannten so viele Menschen, dass es schon lange kein Geheimnis mehr war. Auch Kerenski wusste davon …“86
Kerenski stockte also weder der Atem, als Kornilow putschte, noch war er überrascht von der Verschwörung, an der er selbst beteiligt gewesen war. Warum er mit einer theatralischen Inszenierung von dieser Verschwörung Abstand nahm, wird von Bollinger naturgemäß nicht behandelt. Bei ihm „bleibt (es) offen“, ob Kornilow nur die Absichten Kerenskis auf den „blutigen Punkt“ bringen wollte. Auch hier wieder das uns bereits bekannte feuilletonistische „sowohl als auch“.
4.10 Der Oktoberumsturz und seine Bedeutung
Der Leser wird nach dem bisher Dargestellten nicht verwundert sein, dass Bollinger zum russischen Oktober ebenso wenig die Auseinandersetzung mit den von ihm selbst gelobten bürgerlichen Quellen sucht wie bei den anderen angesprochen Themen. So hat Manfred Hildermeier das ganze Jahr 2017 über in einer Vielzahl von Publikationen die Grundthese von Pipes variiert, dass es 1917 nur eine Revolution in Russland gegeben hätte. „Dagegen entsprach der ‚Rote Oktober‘ eher dem Drehbuch eines Militärputsches.“87 Dieser Anschauung kann die Linke nicht ernsthaft entgegentreten und meidet dieses Thema wie der sprichwörtliche „Teufel das Weihwasser“.
Wo liegt das Problem? Es liegt im Unverständnis der tatsächlichen Resultate der Februarrevolution. Wir hatten (im Abschnitt 4.2) entwickelt, dass im Februar das Volk über den Zarismus siegte, seinen Staatsapparat zerschlug und damit die politische Macht beim Sowjet und nicht bei den Provisorischen Regierungen lag. Dies ist der erste Schlüssel zum Verständnis des russischen Oktober. Denn im Oktober wird diese Interpretation der Februarrevolution nun relevant. Wenn die Bourgeoisie 1917 in Russland im Besitz der politischen Macht gewesen wäre, so hätte sie in einem bewaffneten Aufstand von den Massen gestürzt werden müssen, wie es der „kodifizierte Leninismus“ im „Kurzen Lehrgang“ lehrt und wie es auch tatsächlich Lenins Auffassung war, der entschieden zum bewaffneten Aufstand drängte. Nur war die Bourgeoisie nicht im Besitz der politischen Macht, besaß keinen Staatsapparat, den es zu stürzen und zu zerschlagen galt. Diese Macht lag beim Sowjet. Sobald der Sowjet nicht mehr bereit war, Kerenskis Regierungsversuche mit der „Zensus-Bourgeoisie“88 zu stützen, reichte es völlig aus, diese nun machtlos dastehende Regierung zu verhaften und die Herrschaft des Sowjet offiziell zu erklären. Dies geschah im Oktober 1917 in Petrograd, anschließend in Moskau und allen anderen bedeutenden Industriestädten Russlands.89 Dieser „Machtwechsel“ benötigte keine Volksrevolution wie im Februar 1917. Im Oktober konnte er die Form eines „bewaffneten Staatsstreiches“ in Petrograd annehmen, weil die tatsächliche Macht seit Februar beim Sowjet lag und – um dies in aller Deutlichkeit herauszustellen – weil alle Provisorischen Regierungen des Jahres 1917 keine andere Legitimität besaßen als ihre Unterstützung bzw. Duldung durch den Sowjet. Der nun bolschewistisch geprägte Sowjet hat nur genommen, was ihm seit Februar von den Menschewiki und Sozialrevolutionären vorenthalten worden war, die Leitung der Staatsgeschäfte. Hier wird deutlich: Ohne mit der Geschichtsschreibung des „kanonisierten Leninismus“ zum Revolutionsjahr 1917 zu brechen, kann man der bürgerlichen Kritik am ‚Roten Oktober‘ nicht entgegentreten.
Revolutionär war diese Tat trotz alledem, weil das Proletariat, eine Minorität der russischen Gesellschaft, diese Machteroberung bewusst anstrebte und im Oktober unter der Führung der Bolschewistischen Partei politisch und militärisch erkämpfte. Diese „siegreiche proletarische Minoritätenrevolution“ konnte die Form eines bewaffneten Staatsstreiches annehmen, weil der Sowjet der letzten Kerenski-Regierung keine Unterstützung mehr gewährte und stattdessen eine Sowjetregierung befürwortete. Darum zeigte der siegreiche Oktoberumsturz auch ein völlig anderes Gesicht als die Volksrevolution vom Februar, die noch den zaristischen Staatsapparat zu zerschlagen hatte. Aber bereits im Februar war das russische Proletariat die auslösende Kraft der Volksrevolution. Der Oktoberumsturz, und darin liegt seine weltgeschichtliche Bedeutung, zeigte dem europäischen Proletariat die Möglichkeit einer Machteroberung auf, ohne darauf zu warten, bis es auch zahlenmäßig die Mehrheit der Bevölkerung bildete, eine Perspektive, die vom gesamten Marxismus der II. Internationale, von Kautsky bis Plechanow, grundsätzlich bestritten wurde.
4.11 Der Oktoberumsturz bei Bollinger
Bollingers Darstellung des Oktobers ist völlig anderer Art: „Der Kampf gegen den Krieg und für eine sozial gerechte und demokratische Gesellschaft erforderte nicht Moralisieren oder Beten, sondern Handeln mit allen Konsequenzen. Gerade die Russischen Revolutionen bestätigen: Geschichte vollzieht sich nicht als Realisierung irgendwelcher Verschwörungstheorien, sondern aus dem Handeln politischer Subjekte. Politiker und Intellektuelle sind wichtig, aber entscheidend sind handelnde Massen. Die wiederum werden nur längerfristig Erfolg haben, wenn sie in der Gesellschaft, zumindest in deren aktiven Teil verankert sind und von diesem getragen werden. Die Oktoberrevolution ist die Konsequenz aus den sozialen Widersprüchen und dem Unvermögen der herrschenden Klasse, trotz ihrer vielfältigen Machtinstrumente und ihrer diversen politischen Erscheinungsformen und Spielarten ihre Macht zu bewahren.“ (Oktoberrevolution, S. 60/61)
Das hier Zitierte stellt ein Musterbeispiel feuilletonistischer Geschwätzigkeit dar. Dass Beten und Moralisieren nicht weiterhilft, ist ein Hinweis, der in marxistischen Publikationen eher selten zu finden ist. Dass der Oktoberumsturz eine „Konsequenz aus den sozialen Widersprüchen“ war, ist so allgemein wie nichtssagend, das direkte Gegenteil von „solider“ und „fundierter“ Aufklärung. Interessanter wird es da schon bei „der herrschenden Klasse“ mit „ihren vielfältigen Machtinstrumenten und ihrer diversen politischen Erscheinungsformen“, welche immer das im russischen Oktober waren. Bollinger verrät sie uns nicht, erzählt wiederum – wie bei der Februarrevolution – mit unbestimmten Begriffen.
Unterstellen wir, Bollinger sieht die Bourgeoisie als „herrschende Klasse“, wie es die „Vereinfacher“ vom „Kurzen Lehrgang“ auch tun – wo waren ihre „vielfältigen Machtinstrumente“ im Oktober 1917? „Es ist bemerkenswert, dass nur wenige Offiziere bereit waren, der Regierung zur Hilfe zu kommen“, zitierten wir Stephen Smith im ersten Teil dieses Artikels, und dies trifft den Kern der Sache: Die Kerenski-Regierung hatte im Oktober weder „vielfältige“ noch überhaupt „Machtinstrumente“, es gab keine ernstzunehmenden gesellschaftlichen Kräfte, die bereit gewesen wären, sie zu verteidigen.
Nach ausschweifend vielen Worten, ohne sich festzulegen, bezieht Bollinger letztendlich eine für ihn ungewohnt klare Position. In seinem nächsten Versuch – sieben Seiten weiter hinten im Buch – stellt Bollinger uns endlich seine spezifische Interpretation des russischen Oktobers vor: „Der Streit um den Charakter der Oktoberrevolution – als Reihe einer Folge, einer Einheit von Russischen Revolutionen zwischen Februar 1917 und dem Frühjahr 1921 oder dem Dezember 192290 – liegt auf der Hand: Es war eine Revolution für den Frieden, für die Beendigung des völkermordenden Krieges in den Schützengräben Russlands, Italiens, Flanderns und Frankreichs. Allein die russischen Bolschewiki hatten vom ersten Tag des Krieges an begriffen, dass dieser Krieg nicht durch schöne Worte und Gebete zu beenden war, nicht durch das staatstragende Eintreten linker Politiker in die bürgerliche Regierung, sondern nur durch Widerstand und Aufstand gegen die eigene Regierung. Ihre Konsequenz und die Schwäche des russischen Zarismus machten sie dafür zum Wegbereiter, dem andere Völker folgen sollten, von dem aber alle kämpfenden Völker profitieren würden.“ (Oktoberrevolution, S. 68)
Hier kommt Bollinger endlich auf den Punkt. Der Schlüssel zum Verständnis des Oktoberumsturzes „liegt auf der Hand: Es war eine Revolution für den Frieden“. Dabei beendete der Oktoberumsturz weder den Weltkrieg noch den Krieg in Russland. Wie jeder weiß, ging der Weltkrieg zwischen den Mittelmächten und der restlichen Entente mit ungebrochener Intensität noch ein ganzes Jahr weiter. Und auch in Russland selbst führte die Revolution nicht zum Frieden. „Formal war am 03. März 1918 ein Frieden unterzeichnet worden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Kriegshandlungen eingestellt wurden. Tatsächlich rückten die deutschen und österreichisch-ungarischen Verbände weiter vor, überschritten die Grenzen der Ukraine, besetzten die Krim und drangen auf russischem Territorium bis nach Rostov am Don vor. Der Frieden stand also zu einem guten Teil nur auf dem Papier.“91 Im Frühsommer 1918 ging dieser „Frieden“ dann direkt in den beginnenden russischen Bürgerkrieg über. Wenn der russische Oktober eine „Revolution für den Frieden (war)“, wie Bollinger es konstatiert, war er in Anbetracht der angeführten Fakten eine der erfolglosesten Revolutionen der Weltgeschichte.
Der Oktoberumsturz schuf die Voraussetzung für einen russischen Separatfrieden mit dem deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn, der zusammen mit dem Agrardekret des Sowjetkongresses die Macht der bäuerlichen Armee über die russische Revolution brach. Die faktische Auflösung der Armee durch das Agrardekret ermöglichte es im Frühjahr 1918 – nach noch immer heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Bolschewiki –, eine Mehrheit für den Separatfrieden im Sowjet zu gewinnen. Die Brechung der Macht des Kleinbürgertums und der Bauernschaft über die russische Revolution, der Sieg der proletarischen „Minorität“ in Petrograd, das ist der zweite Schlüssel zum Verständnis der russischen Revolutionen, hier konkret des Oktobers.
Und die Bolschewiki? Nach Bollinger hatten „allein die russischen Bolschewiki … vom ersten Tag des Krieges an begriffen … (dass er) nur durch Widerstand und Aufstand gegen die eigene Regierung“ zu beenden war. Das ist eine Märchengeschichte, die noch nicht einmal der „Kurze Lehrgang“ erzählt. In der wirklichen Geschichte stand die Mehrheit der Bolschewiki im Februar/März 1917, also im vierten Kriegsjahr, auf der Position der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“, was der „Vereinfacher“ und „Verfälscher“ Stalin unumwunden zugibt.92
Zurück zum russischen Oktober, der nach Bollinger seinem Wesen nach keine bürgerliche, keine proletarische, keine sozialistische, sondern eine Friedensrevolution war. Das ist die eigentliche Quintessenz und das Anliegen seiner Veröffentlichung, dokumentiert auch durch den Untertitel „Aufstand gegen den Krieg“. Aus der siegreichen proletarischen Erhebung in Petrograd, die auf den „Aufstand des Weltproletariats“ (Bucharin) zielte, die sich als Ouvertüre der proletarischen Revolution im Westen Europas verstand und in Russland die Türen zum sozialistischen Aufbau öffnen sollte, wird – nicht durch „schöne Worte“, sondern durch verwirrend viele Worte – ein Ereignis, das auch ein evangelischer Pastor beim Friedensgottesdienst preisen kann.
In Bollingers Buch findet sich nicht ein einziger „Schlüssel zum Verständnis der Oktoberrevolution“. Die durchweg positive Aufnahme dieser feuilletonistisch fabulierenden Veröffentlichung durch die Linke zeichnet ein trauriges Bild von ihrer wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit und politischen Zielsetzung.
(Wird fortgesetzt)
1 Nur in gewissem Umfang deshalb, weil eine einzelne Veröffentlichung – noch dazu, wenn sie gut lesbar und übersichtlich das Thema behandelt – natürlich nicht die Gesamtheit der Forschung mit allen ihren einzelnen Feldern und unterschiedlichen Positionen abbilden kann.
2 AzD Nr, 84, S. 7
3 Fischer Weltgeschichte Bd. 31 und Theda Skocpols Studie: „States and Social Revolutions“ von 1979
4 Fred Halliday: „Revolution and World Politics“
5 Michael Brie: Lenin neu entdecken; VSA, Hamburg 2017 = www.rosalux.de/publikation/id/14769/lenin-neu-entdecken/ sowie ders.: „Was tun in Zeiten der Ohnmacht“; in „Die Russische Linke zwischen März und November 1917“, Hrsg. W. Hedeler, Berlin 2017
6 Berliner Debatte Initial 28 (2017) 4, S. 133 ff.
7 Siehe dazu die Lenin-Zitate in den AzD 85, S. 13 ff bzw. die Bollinger-Rezension in diesem Artikel
8 „Tatsächlich übt in Russland jetzt eine Militärdiktatur die eigentliche Staatsmacht aus; diese Tatsache wird noch verschleiert durch eine Reihe von Institutionen, die den Worten nach revolutionär, in Wirklichkeit aber ohnmächtig sind. Diese Tatsache steht unzweifelhaft fest und hat eine grundlegende Bedeutung, dass man, ohne sie begriffen zu haben, die politische Lage nicht verstehen kann.“ (LW, Bd. 25, S. 174)
Apodiktischer kann man es kaum formulieren. Da nimmt es nicht Wunder, dass derselbe Autor von dem tatsächlichen Militärputsch Kornilows nur wenige Wochen später völlig überrascht wird: „Der Aufstand Kornilows ist eine ganz und gar unerwartete (zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form unerwartete) und geradezu unwahrscheinlich schroffe Wendung der Ereignisse.“ (LW Bd. 25, S. 292)
9 Den Herausgebern des „Kurzen Lehrgangs“ war durchaus klar, dass der Oktoberumsturz im Bündnis mit der großen Masse der Bauernschaft geschehen war – und nicht nur mit den Landarbeitern und armen Bauern, wie Lenin das seit April 1917 verfochten hatte. Da aber der Leninismus nicht irren kann und darf, muss sich die Realität bewegen. Das geschieht mit folgenden Einschub: „Was die Mittelbauern betrifft, deren Schwankungen die Entwicklung der Revolution in der Periode von April bis August 1917 gehemmt hatten, so begannen sie sich nach der Niederschlagung Kornilows entschieden der bolschewistischen Partei zuzuwenden, indem sie sich der Masse der armen Bauernschaft anschlossen.“ (Kurzer Lehrgang, S. 244)
10 Die „kanonisierte“ Fassung des Leninismus reduziert sich natürlich nicht auf die Umschreibung des Revolutionsjahres. Da aber der Oktoberumsturz durch die von den Bolschewiki geführte Arbeiterklasse erfolgreich war, bildet die „richtige“ Interpretation des Revolutionsjahres sozusagen den Angelpunkt der Legitimität des Bolschewismus. Ohne siegreichen Oktoberumsturz gäbe es wahrscheinlich keinen „Leninismus“ und erst recht keine kanonisierte Fassung desselben.
11 Kerenski, A.: Die Kerenski Memoiren, Hamburg 1989, S. 249 ff.
12 Hildermeier, M.: Die russische Revolution, Frankfurt am Main 1989, S. 300
13 Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, April 1917, LW Bd. 24, S. 41; Hervorhebungen von mir, A.S.
14 Hedeler, W. (Hrsg.): „Die russische Revolution 1917 – Wegweiser oder Sackgasse“, Berlin 1997, S. 204
15 LW Bd. 26, S. 250, Bäuerlicher Wählerauftrag zur Bodenfrage
16 LW Bd. 13, S. 285
17 Goehrke, Carsten: Russischer Alltag, Bd. 2. Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003, S. 242-243; „mir“ ist ein anderer Begriff für „obscina“.
18 Beyrau, D.: „Petrograd, 25. Oktober 1917“, München 2001, S. 46-47; Hervorhebung von mir, A.S.
19 LW Bd. 24, S. 276
20 LW Bd. 24, S. 57
21 LW Bd. 24, S. 129; Hervorhebung von mir, A.S.
22 Zur Einschätzung der russischen Revolution, April 1908, LW Bd. 15, S. 45ff; Hervorhebung von mir, A.S.
23 „Was im Zarenreich Bourgeoisie heißen konnte, war sozial wie politisch schmächtig“ (Hildermeier: Revolution, S. 294)
24 Z Nr. 114, S. 155
25 Hösler, Joachim: Die sowjetische Geschichtswissenschaft 1953 bis 1991, München 1995, S. 64. In seiner Dissertation werden die inhaltlichen Positionen Pokrowskis ebenso wenig dargestellt wie in dem Z-Artikel.
26 ebd, S. 65
27 Gemeint sind die Duma-Vertreter, die auf eine Palastrevolution/Staatsstreich gegen den Zaren zur Rettung des Zarismus gesetzt hatten und dann die Erste Provisorische Regierung gebildet haben.
28 Während der Februarrevolution 1917 führender Kopf der Bolschewiki in Petrograd
29 Pokrowski, M.: Geschichte Russlands – Von seiner Entstehung bis zur Neusten Zeit, Leipzig 1929, S. 559-560
30 Anin, David: Die russische Revolution von 1917, München 1976. David Anin beurteilt Prokowski grundsätzlich kritisch: „Eine traurige Rolle spielte in dieser Epoche der dogmatisch stumpfsinnige, jedoch sehr schöpferische Prokowski“, um aber seiner Schule einige Zeilen später zu attestieren: „in den Arbeiten dieser Autoren konnte man immerhin in einem gewissen Grade einen Forscher erkennen, vielleicht einen einseitigen, der bisweilen die Tatsachen überzieht, aber immerhin einen Forscher.“ (Anin, S. 33) „Pokrowski … wurde nicht müde, die menschewistisch-trotzkistischen Ketzereien zu enthüllen, stellte aber eine Konzeption auf, nach welcher bereits die Februarrevolution eine sozialistische gewesen sei. Pokrowski behauptete ferner, dass die Diktatur des Proletariats in Russland de facto bereits im März 1917 errichtet wurde, dass die Bedeutung der Oktoberrevolution nur darin besteht, dass sie dieser Diktatur die Anerkennung de jure verschafft hätte … Pokrowski erklärte kategorisch, dass, wenn die bolschewistische Partei in den Februartagen zumindest in Petersburg stärker gewesen wäre, bereits im Laufe der Februarrevolution eine Arbeiterregierung hätte gebildet werden können. Pokrowski und besonders einige seiner Nachfolger entwickelten außerdem eine ‚wirre‘ Theorie über zwei Revolutionen im Oktober 1917, nämlich eine proletarisch-sozialistische in den Städten und eine bäuerlich-bürgerliche auf dem Lande. Das war eine unverzeihliche Ketzerei für einen sowjetischen Historiker, der doch die Hauptschriften Lenins aus dem Jahre 1917 hätte kennen müssen, besonders seine Theorie vom ‚Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine sozialistische‘.“ (Anin, S. 55)
Die „wirre Theorie“ über den (im gewissen Rahmen) eigenständigen Charakter der Agrarrevolution in Russland bricht sich inzwischen auch in der bürgerlichen Forschung Bahn (Beyrau, Altrichter). Der Autor dieser Zeilen teilt diese „wirre Theorie“ von zwei gesellschaftlichen Umbrüchen unterschiedlichen Charakters im russischen Oktober.
31 Z Nr. 114, S. 162/163
32 Dafür hätte Hösler sich mit dem tatsächlichen revolutionärem Geschehen, mit der Ereignisgeschichte der Revolution auseinandersetzen müssen. Dies aber war weder der Anspruch seiner Dissertation (Untertitel: „Studien zur Methodologie- und Organisationsgeschichte“ der russischen Geschichtswissenschaft), noch der des Artikels in der Z. Die von ihm favorisierte Form der sowjetischen Geschichtsschreibung ist nichts anderes als eine mit soziologischen Begrifflichkeiten „modernisierte“ Fassung des „kanonisierten Leninismus“ (Z Nr. 114, S.168-169)
33 Anzumerken wäre, dass die von Hösler herausgearbeiteten Besonderheiten der „Stalinisierung“ der Geschichtsschreibung – wo die Revolution hinter Stalin verschwinden soll (siehe Z-Artikel S. 158) – nicht mit Zitaten aus dem Standardwerk dieser Periode, dem „Kurzen Lehrgang“, belegt wurden und nach meiner Auffassung auch nicht belegt werden können.
34 „Bollingers Buch ist eine sehr erhellende Lektüre, die hilft, das 20. Jahrhundert zu verstehen“, so der Amazon-Rezensent.
35 Eine Rezension von Raimund Ernst in: Marxistische Blätter 5-2017, S. 141
36 Ebda, S. 143. Zugleich reduziert der Rezensent den Buchpreis von „soliden“ 14,99 auf günstige 11,99 Euro (Kindle-Preis)
37 Eine Rezension von Karl-Heinz Gräfe in Z Nr. 113, S. 183-184
38 O. Figes Buch: Hundert Jahre Revolution, Berlin 2014, wird in der Z als einzige Publikation zum Thema kritisch besprochen. Dies im Gegensatz zu den Veröffentlichungen der Z-Autoren, die durchgängig positiv rezensiert werden (siehe Z Nr. 113). Figes soll, so der Rezensent Holger Czitrich-Stahl in der Z, „als anonymer Rezensent Eigenlob und Kollegenverriss betrieben haben“ (Z Nr. 110, S. 189) Zumindest letzteres wird im Umfeld der Z offenkundig nicht gern gesehen. Da der Autor dieser Zeilen kein „Kollege“ des Z-Rezensenten ist, mag es erlaubt sein festzustellen, dass A. Kerenski kein Menschewik war, wie der Rezensent von Figes‘ Buch in der Z unterstellt (ebenda S. 191) und damit sein grundlegendes Unverständnis der Klassenkräfte in der russischen Revolution dokumentiert. Kerenskis Rolle im Revolutionsjahr konnte nur von einem Vertreter des Kleinbürgertums und der Bauernschaft besetzt werden, also einem Vertreter der Sozialrevolutionären Partei oder deren engstem Umfeld. Ein solcher Fehler unterlief O. Figes in seinem genannten Buch nicht (siehe dazu Figes, S. 90), wo Kerenski erstmalig bei ihm die Bühne betritt.
39 Raimund Ernst in: Marxistische Blätter 5-2017
40 Wir werden weiter unten im Text sehen, dass Lenin mit dieser Aussage falsch lag, und erklären, warum er die Ereignisse falsch interpretierte.
41 „Versuchen“ deshalb, weil die zitierte Passage keine eindeutige Interpretation ermöglicht, die politisch Handelnden nicht benannt, sondern unter unpolitischen Begrifflichkeiten (die ‚Neuen‘, die ‚ewig gestrigen Kreise‘) verborgen werden, Unruhen, Palastrevolutionen und tatsächliche Revolutionen miteinander verwoben werden und uns der Autor vielleicht etwas ganz anderes sagen wollte. Wie heißt es so treffend in der Z: „Wer das jüngste Buch des Berliner Historikers und Politikwissenschaftlers Stefan Bollinger zur Hand nimmt, erhält Klarheit …“
42 Einige Seiten später (Oktoberrevolution, S. 29) heißt es dann auch: „Die neuen starken Männer der Provisorischen Regierung …“ „Stark“ waren sie allerdings nicht, da sie in allen entscheidenden Fragen vom Sowjet abhängig waren.
43 Miljukow war kein „konservativer Jurist“ (Oktober, S. 12), wie es Bollinger unkommentiert dem englischen Kriegspremier Lloyd George glaubt, sondern ein durchaus renommierter Historiker, was seine politischen Fehleinschätzungen umso schwerwiegender macht. Der Jurist in der 1. Provisorischen Regierung wurde passenderweise Justizminister – es war „der sicher sozial veranlagte“ und „auch pazifistisch agierende“, aber als „historische Randfigur (eher) verkannt(e)“ (Oktober, S. 33) Alexander Kerenski. Wie sehr Bollinger ihn ins Herz geschlossen hat, machen nicht nur die gerade zitierten Passagen deutlich, sondern die wiederholten Versuche des Autors, Kerenski in ein besseres Licht zu stellen als es die historischen Tatsachen hergeben (siehe Kerenski-Offensive, Kornilow-Putsch, Oktoberumsturz).
44 Selbst M. Hildermeier mit seinen „soliden und aussagefähigen Schriften“ (Bollinger) nähert sich dieser Interpretation des Zusammenhangs von Februar- und Oktoberrevolution: „Am Ende des Februaraufstandes stand eine Regierung, der fast ausschließlich Kadetten und Oktobristen angehörten. Insofern hatten die Liberalen die Ziele der konstitutionalistischen Opposition gegen die Autokratie endlich durchgesetzt. Aber der Februar enthielt bereits den Keim des Oktobers. Das Dumakomitee nahm den Sieg gleichsam aus der Hand der aufständischen Arbeiter entgegen“. (Hildermeier, M: Geschichte Russlands, 2016, S. 1082). Dies hindert Hildermeier allerdings nicht daran, die Rolle von Bourgeoisie und Militärführung in der Februarrevolution – höflich ausgedrückt – zu überzeichnen (siehe ApuZ Nr. 34-36, August 2017, S. 11). Zur Kritik an dieser Position siehe AzD Nr. 85, S. 14 ff. Obwohl Bollinger Hildermeiers Veröffentlichungen lobt, findet sich in seinem Buch weder eine Darstellung noch eine Auseinandersetzung mit dessen Positionen zur Februarrevolution.
45 Bonwetsch, Bernd: Die russische Revolution 1917, Darmstadt 1991, S. 129
46 LW Bd. 23, S. 319-320; alle Hervorhebungen im Original
47 „Ich habe gesagt, dass die Arbeiter die alte Staatsmaschine zerbrochen haben. Genauer gesagt, sie haben begonnen sie zu zerbrechen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Die Polizei ist in Petrograd und an vielen Orten teils niedergemacht, teils abgesetzt worden. Die Regierung Gutschkow-Miljukow wird nicht die Monarchie wiederherstellen noch sich überhaupt an der Macht halten können, wenn sie nicht die Polizei wiederherstellt als eine besondere, vom Volk losgelöste und ihm entgegengestellte Organisation von bewaffneten Menschen, die dem Kommando der Bourgeoisie unterstellt sind. Das ist sonnenklar.“ (LW, Bd. 23, S. 341. Briefe aus der Ferne, Zürich 11.03.1917; Alle Hervorhebungen im Original. Interessant ist hier die Frage, warum Lenin diese „sonnenklare“ Erkenntnis einen Monat später überhaupt nicht mehr klar war.
48 Trotzki, Leo, Geschichte der russischen Revolution, Band 1: Februarrevolution, Berlin 1960, S. 152; Hervorhebungen von mir; A.S.
49 LW, Bd. 23 S. 316-317, Briefe aus der Ferne, März 1917
50 LW, Bd. 24, S. 128 oder im Zusammenhang dargestellt in AzD 85, S. 12 ff.
51 „Die berühmte Formel der bedingten Unterstützung (insoweit, als) hatte dort ihren Ursprung. Dem Sowjet sollte nach dieser Resolution die Aufgabe zufallen, die Regierung unter ständigen Reformdruck zu setzen und sie – mit Hilfe eines gesonderten Komitees – zu kontrollieren.
Erst dieser unter dem Eindruck der Massenstimmung radikalisierte Resolutionsentwurf konnte die überwältigende Stimmenmehrheit der Sowjetdeputierten gewinnen, während ein bolschewistischer Gegenentwurf , der jede Verständigung mit der Provisorischen Regierung ablehnte, nur 14 der ungefähr 400 Stimmen erhielt. Das waren nicht einmal die Stimmen aller ca. 40 anwesenden bolschewistischen Deputierten. … Das Zögern der Bolschewiki, eine wirkliche Alternative im Sinne revolutionärer Machtübernahme durch den Sowjet zu formulieren, ist an sich erstaunlich. Denn die Stimmung in den Fabriken und auf der Straße war eher noch radikaler als die des Sowjet.“
(Bernd Bonwetsch, Die russische Revolution 1917, Darmstadt 1991, S. 135)
52 Gemeint sind die programmatischen Gemeinsamkeiten der Sowjetführung
53 Zitiert aus AzD Nr. 84, S. 64. Hier wurden Suchanows Ausführungen zur Februarrevolution in Auszügen vorgestellt.
54 Miljukow, Gutschkow, Schulgin und andere Vertreter der Kadetten und Oktobristen hätten sie gerne als „konstitutionelle Monarchie“ mit einem Vertreter der Romanow-Dynastie definiert. Dafür gab es keine Übereinkunft mit dem Sowjet.
55 Oktoberrevolution, S. 74
56 Nach dem letztendlich erzwungenen Ausscheiden von Miljukow und Gutschkow setzten die entscheidenden Teile der russischen Bourgeoisie auf einen Militärumsturz (Kornilow eventuell mit „Direktorium“) und nicht auf eine demokratische Republik. Die Moskauer Staatskonferenz ist dafür ebenso ein Beleg, wie die Absprachen mit den Militärs und die Finanzierung des Kornilowaufstandes.
57 Anin, David: „Die Russische Revolution“; München 1976, S. 74
58 Pipes, Richard: Die russische Revolution Bd. 1, Der Zerfall des Zarenreiches, Berlin 1992, S. 483
59 Zur Auseinandersetzung mit der Position von Pipes s.a.Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, S. 43 ff.
60 Ebenda
61 Bei Pipes sind fast alle politische Krisen und Wendepunkten im Revolutionsjahr „bolschewistische Aufstandsversuche“. Für ihn beginnen diese bereits im April 1917. „Die Bolschewiki griffen erstmals am 21. April nach der Macht, als sie versuchten, sich eine politische Krise zunutze zu machen, bei der es um die russischen Kriegsziele ging. … Die Straßenunruhen vom 20./21. April begannen spontan, wurden jedoch nach kurzer Zeit von den Bolschewiki für ihre Zwecke genutzt.“ (Pipes, Die Russische Revolution, Band 2: „Die Macht der Bolschewiki“, Berlin 1992, S. 113/115)
62 Figes,Orlando: Hundert Jahre Revolution, Berlin 2014, S. 93-95
63 „Aber die übergroße Vertrauensseligkeit spielte den Arbeitern und Soldaten einen schlimmen Streich. … Die sozialrevolutionär-menschewistische Leitung des Petrograder Sowjets (traf) alle ihr zu Gebote stehenden Maßnahmen, um … der Bourgeoisie die Macht auszuliefern.“ (Kurzer Lehrgang, S. 214)
64 Dort hat auch Bollinger diese Fassung der Losung gefunden – siehe seine Fußnote 98, die auf Lenin „Briefe aus der Ferne“, Bd. 23. S. 321-322 verweist. Bollinger bemerkt gar nicht, dass die Fassung nur auf dem Boden der Leninschen Fehleinschätzung des Revolutionsverlaufs Sinn machte. Eine Fehleinschätzung, die Lenin nach seiner Ankunft in Russland, wie weiter vorn dargestellt, sogleich korrigierte.
65 Hier geht er nochmals auf die „unerfüllten Forderungen des Februars“ ein (S. 38), um jene Punkte zu benennen, deren Lösung Sowjetführung und Provisorische Regierung entweder auf die Konstituierende Versammlung verschoben hatten (Staatsform, Agrarfrage), oder benennt andere sozialpolitische und arbeitsrechtliche Fragen, wie z.B. den Acht-Stunden-Tag, die kurz nach der Februarrevolution am (10./11. März) in einem Abkommen zwischen dem Sowjet und dem Petrograder Verein der Fabrikanten geklärt wurden.
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels folgen einige aus ihrem Zusammenhang gerissene Zitate aus Suchanows Tagebuch mit anti-bolschewistischer Spitze (S. 39/40), Statistiken zur Partei- und Bevölkerungsentwicklung, zu Nationaleinkommen und Lohnarbeitern in Russland, ein Auszug aus dem „Zimmerwalder Manifest“ von September 1915 über fast zwei Seiten (S. 46-48), sowie Bollingers Interpretation der Leninschen Aprilthesen (S. 49/50), deren Ungenauigkeiten und Fehlinterpretationen herauszuarbeiten mehr als ein Kapitel füllen würden. Was Bollinger in den 15 Seiten dieses Kapitels an Themen „behandelt“, die nichts mit der gewählten Überschrift zu tun haben, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man mit Geschichtsschreibung im Feuilletonstil ein ganzes Buch füllen kann.
66 Richard Pipes: Die Russische Revolution, Band 2: „Die Macht der Bolschewiki“, Berlin 1992, S. 81, 90, 99, 113-115
67 Pipes‘ 3-bändige „Geschichte der russischen Revolution“ liefert in ihrem 1. Band interessantes Material zur russischen Gesellschaft und zum zaristischen Staat. Hier hätte es sich für Bollinger gelohnt, Pipes zu zitieren, der die Schwäche des zaristischen Staates richtig herausarbeitet. Diese Passagen finden wir allerdings bei Bollinger nicht. Bei der Behandlung der russischen Revolution nach dem Februar 1917 verhindert der ideologische Antikommunismus des Autors jede Annäherung an die Realität des Jahres 1917. Im Jahr 2017 ist an dieser Veröffentlichung allerdings nichts mehr „herausragend“.
68 Häfner, Lutz: „Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre in der russischen Revolution von 1917/18“, Köln 1994, S. 34
69 Ebenda, S. 36/37
70 LW, Bd. 24, S. 264, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B), 29. April 1917
71 R. Pipes, Bd. 1, S. 562
72 Ebenda, S. 563
73 Ebenda
74 LW, Bd. 24, S. 213-306
75 LW. Bd. 24, S. 284
76 Häfner, S. 42
77 Martow, Julius/Dan, Theodor (1973): Geschichte der russischen Sozialdemokratie, Berlin 1926 (unveränderter Nachdruck Erlangen), S. 298
78 Das Revolutionsjahr 1917. Hier die Kapitel 5 (Die Juliereignisse) und Kapitel 6 (Von Kerenski zur Oktoberrevolution), S. 109-140.
79 Hier sind zwei Dinge interessant: Zum ersten, dass dieser rechte Flügel bereits in der Ersten Provisorischen Regierung, die rein bürgerlich war, über keine Mehrheit verfügte, worauf der englische Botschafter Buchanan durchaus richtig hinweist. Zweitens sehen wir hier die politische Gespaltenheit der russischen Bourgeoisie, die der Linken in ihrer Bedeutung gar nicht bewusst ist. Diese Gespaltenheit erklärt, warum Kerenski immer wieder Vertreter der Kadettenpartei für seine Koalitionsregierungen finden konnte, während Miljukow und seine Freunde bereits auf den Militärputsch setzten.
80 siehe dazu Hildermeier, 1989, S. 162 ff.
81 Suchanow, N.N.: „Kurze Zeit nach dem Märzumsturz hatte sich die russische Plutokratie in der Partei der Kadetten konsolidiert. Während der Periode, da Miljukow als Minister fungierte, waren die Kadetten durchaus eine Regierungspartei gewesen. Aber mit der Liquidierung Miljukows und der Bildung der Koalitionsregierung in den Apriltagen änderte sich die Situation. Die Koalition war gegen den Willen der führenden Kreise der Kadetten zustande gekommen, und die Kadetten konnten nun nicht mehr im bisherigen Sinne Regierungspartei bleiben. Sie wurden die Rechtsopposition.“ (Tagebuch, S. 356)
82 LW Bd. 24, S. 201-202
83 Suchanow, Tagebuch, S. 313
84 Das Zentralkomitee der Kadettenpartei lehnte ein von der Provisorischen Regierung ausgehandeltes Abkommen zur Frage der Souveränität der Ukraine ab und zwang die Kadettischen Minister zum Regierungsaustritt, um so eine Regierungskrise herbeizuführen. Unter anderem wollte man sich so aus der Verantwortung für die Niederlage der Kerenski-Offensive herausstehlen und die Verantwortung allein dem Lager der „Demokratie“ zuweisen.
85 Rabinowitsch, Alexander: Die Sowjetmacht, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Essen 2012, S. 20-21
86 Buchanan, S. 229-230
87 Manfred Hildermeier in der FAZ vom 07.11.2017. Zur Kritik daran siehe AzD Nr. 86 (S. 28 ff.)
88 Die Duma war nach einem Zensus Wahlrecht gewählt worden. Gemeint sind also die bürgerlichen Duma-Vertreter.
89 Wir sprechen hier nur von dem proletarischen Umsturz in den Städten. Zeitgleich und befeuert von den Beschüssen des Sowjetkongresses entfaltet sich auf dem Land eine eigenständige gesellschaftliche Umwälzung völlig anderen Inhalts (siehe Zitat von Beyrau in Abschnitt 2.2). Dies wird später detaillierter darzustellen sein.
90 Hier erfindet Bollinger gleich zwei zusätzliche „Revolutionen“ in den Jahren 1921 und 1922. Tatsächlich änderte sich im Frühjahr 1921 die Politik der Bolschewistischen Partei vom „Kriegskommunismus“ zur „Neuen ökonomischen Politik“, und im Dezember 1922 wurde die Sowjetunion offiziell gegründet.
91 Häfner, S. 338
92 „Diese irrige Auffassung teilte ich damals mit anderen Parteigenossen und habe mich von ihr erst Mitte April vollständig losgelöst“. (Stalin Werke Bd. 6, S. 298)