Eine sozialdemokratische Märchenstunde

Stefan Bollingers Darstellung der Novemberrevolution

(Der Beitrag ist in einer gekürzten Fassung als Rezension unter dem Titel „Bollingers Darstellung der Novemberrevolution – eine Kritik“ zuerst erschienen in den Marxistischen Blättern 1-2019)

von Heiner Karuscheit

Dr. Bollinger, Mitglied der Historikerkommission beim Parteivorstand der Linkspartei, hat nach Veröffentlichungen u.a. zum Ersten Weltkrieg und zur Oktoberrevolution ein 2018 erschienenes Buch zur Novemberrevolution verfasst: „November ‘18. Als die Revolution nach Deutschland kam“ (edition ost, Preis 14,99 €). Begleitend dazu ist von ihm ein Artikel in der Zeitschrift Marxistische Erneuerung „Z“ Nr. 115 (2018) erschienen: „Vom Schicksal der ‘wunderlichsten aller Revolutionen‘“. Sein Anliegen ist, „die zentralen Fragen der damaligen Zeit und ihrer heutigen Reflexion zu verstehen“.1 Hierin können wir ihm nur beipflichten, denn wenn der Marxismus in Deutschland eine Zukunft haben will, muss er die bisherigen Niederlagen der Arbeiterbewegung erklären können. Umso mehr interessiert es, wie der Autor die selbst gestellte Aufgabe gelöst hat.

Bei seiner Beurteilung der Novemberereignisse geht Bollinger von einer grundsätzlich positiven Einstellung zur Republik von Weimar aus. Er erklärt sie für „ein gutes, ein großes Stück Demokratie mit klaren bürgerlichen, aber auch sozialen Rechten“ und ist überzeugt, dass sich in diesem Punkt „Linke aller Parteien und bürgerliche Demokraten einig sein“ können.2 Maßgeblich für diese lobende Bewertung ist seine Stellung zur Sozialdemokratie, der bestimmenden politischen Kraft jener Tage. Zu deren Umgang mit der Revolution schreibt er: „Die sozialdemokratischen Führer beendeten die Revolution nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Unverständnis und der Sorge, dass Partei, Arbeiterklasse, die Nation mit einer sozialistischen Revolution überfordert wären.“3

Dass der Sozialismus nach dem verlorenen Krieg Arbeiterklasse und Gesellschaft überlasten würde, hatte die SPD gleich nach dem Krieg vorgebracht. Mit dieser Begründung blockierte die Parteiführung jedoch nicht nur den Übergang zum Sozialismus, sondern jede Reform der Gesellschaft, angefangen von der Auflösung des preußisch-deutschen Offizierskorps über die Enteignung des adeligen Großgrundbesitzes und der Schwerindustrie bis hin zur Demokratisierung von Polizei, Justiz und Verwaltung. Auf diese Weise wurde die Novemberrevolution zum Scheitern gebracht – und das alles durch das „Unverständnis“ einer begriffsstutzigen SPD-Führungsriege? Die historische Wirklichkeit ergibt ein anderes Bild.

Das Machtkonzept der SPD-Führung

Die Parteiführung hatte schon vor geraumer Zeit davon Abschied genommen, im Falle ihrer Machtübernahme die alte Staatsmaschinerie durch eine neue zu ersetzen, wie Marx und Engels das für unabdingbar erklärt hatten, sondern strebte die Übernahme und Weiterführung des wohlgeordneten preußisch-deutschen Beamtenstaats unter ihrer Leitung an. Es gibt ‚keinen zweiten, dem preußischen ähnlichen Staat, … er ist ein ganz anderes Ding als jeder andere Staat, in seiner Art einzig in der Welt. … wenn wir einmal diesen Staat in der Gewalt haben, haben wir alles‘, hatte der langjährige Parteivorsitzende Bebel diese Orientierung auf dem Parteitag 1910 auf den Punkt gebracht.4

Durch die im Oktober 1918 vorgenommene Parlamentarisierung des Kaiserreichs, die angesichts der nahenden Kriegsniederlage von der OHL angeordnet worden war, um den US-Präsidenten Wilson als Friedensvermittler zu gewinnen, stand die SPD Ende Oktober als stärkste parlamentarische Partei davor, in absehbarer Zeit die Regierung dieses Obrigkeitsstaats zu übernehmen, auch wenn als neuer Reichskanzler zunächst der als liberal geltende Prinz Max von Baden ernannt wurde, mit zwei Sozialdemokraten in seinem Kabinett.

Von dieser Warte aus war die anrollende Novemberrevolution ein Desaster, denn sie drohte den bevorstehenden Zugriff auf einen intakten Staat zu vereiteln. Deswegen war die SPD-Führung von Anfang an eine entschiedene Gegnerin der Revolutionsbewegung, auch wenn sie sich hütete, dies in der Öffentlichkeit zu sagen. „Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie hatten sich mit der Oktoberreform am Ziel ihrer Wünsche gesehen. In ihren Augen war der Novemberumsturz ebenso überflüssig wie schädlich“.5

Pakt gegen die Revolution

Seit den ersten Novembertagen standen der neue Reichskanzler Max von Baden und der SPD-Parteivorsitzende Friedrich Ebert in regelmäßigem Kontakt miteinander, um das Vorgehen gegen die Revolutionsbewegung abzusprechen. „Mein Pakt mit Ebert“ heißt das entsprechende Kapitel in Badens Erinnerungen. Auf Badens Frage: „habe ich Sie dann an meiner Seite im Kampf gegen die soziale Revolution?“ war Eberts prompte Antwort: „Ich … will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde“, was Baden mit den Worten kommentierte: “Der Mann war entschlossen, sich mit seiner ganzen ungebrochenen Autorität der Revolution entgegenzustemmen.“6 Gegenstand der Beratungen war insbesondere der Umgang mit Kaiser Wilhelm II, der mittlerweile im Volk völlig verhasst war und dessen Abdankung (sowie den Thronverzicht des ebenso unbeliebten Kronprinzen) beide für zwingend erachteten, um die Revolutionsbewegung zu besänftigen und die Monarchie zu erhalten. In hartnäckiger Realitätsverleugnung weigerte der Kaiser sich allerdings tagelang, den Rücktritt zu vollziehen.

Das Verhalten Eberts war nur konsequent: Wenn man die Regierung auf dem Boden der gegebenen Ordnung übernehmen wollte, musste man alles daran setzen, die Zerschlagung dieser Ordnung durch die Revolution zu verhindern. Mit „Unverständnis“ hatte das so wenig zu tun wie mit „Böswilligkeit“ – es war das politische Konzept der SPD-Führung, den preußisch-deutschen Staat möglichst unversehrt in die Hand zu bekommen. Unverständnis demonstriert hier lediglich der Urheber dieser Behauptung.

Der 9. November: die Kanzlerschaft Eberts

Dieses Unverständnis setzt sich mit der Darstellung des Ereignisablaufs am 9. November fort, als die Revolution ihren Höhepunkt erreichte und die Weichen für die kommende Entwicklung gestellt wurden. Dazu schreibt Bollinger, dass der Kanzler Max von Baden sich angesichts der voranschreitenden Revolution entschloss, Friedrich Ebert die Reichskanzlerschaft anzutragen. Der SPD-Vorsitzende, so fährt er fort, „lässt sich darauf ein, sieht aber zunächst einen Rat der Volksbeauftragten als die der Lage angemessene Zwischenlösung“.7 Wir erfahren also a) dass von Baden die Initiative ergreift, um Ebert zum Reichskanzler zu machen, b) Ebert aber zunächst einen Rat der Volksbeauftragten favorisiert, bevor er sich c) dann doch auf die Übernahme des Kanzlerpostens „einlässt“.

Mit den historisch gesicherten Fakten hat diese Darstellung erneut wenig zu tun. Als erstes kann keine Rede davon sein, dass sich Ebert auf einen Antrag Badens „einlässt“. Nachdem die Revolution am 7.November in München gesiegt hat und einen Tag darauf das führende USPD-Mitglied Kurt Eisner bayrischer Ministerpräsident geworden ist, kommt die SPD-Führung zu dem Schluss, dass es nicht mehr reicht, aus der zweiten Reihe zu agieren, sondern dass sie selber das Ruder übernehmen muss, um zu retten, was zu retten ist. Am Vormittag des 9.November teilt Ebert dem Noch-Kanzler mit, dass seine Partei es jetzt für erforderlich hält, „dass die Regierungsgewalt an Männer übergeht, die das volle Vertrauen des Volkes besitzen“, und fordert das Amt des Reichskanzlers für die SPD, d.h. für sich selber.

Unmittelbar davor hat Max von Baden von sich aus (wahrscheinlich in Absprache mit Ebert) die Abdankung des immer noch zögerlichen Wilhelm II verkündet, die dieser tatsächlich erst kurz darauf erklärt. Damit fühlt der bisherige Kanzler sich berechtigt, sein Amt auf Ebert zu übertragen (was eigentlich Aufgabe des Kaisers ist, der jedoch gerade abgedankt worden ist). Festzuhalten ist jedenfalls, dass Ebert sich auf überhaupt nichts einlässt – er beansprucht vielmehr das Kanzleramt und bekommt es auch.8

Weiter: woher hat Bollinger die Information, dass Ebert vor Übernahme der Kanzlerschaft „zunächst einen Rat der Volksbeauftragten als die der Lage angemessene Zwischenlösung“ angesehen hat? Es mag sein, dass es in der Umgebung Eberts entsprechende Überlegungen gab. Aber das erklärte Ziel der SPD-Führung ist eine ordentliche Regierungsübernahme mit Bildung einer regulären Regierung, und das schließt einen „Rat der Volksbeauftragten“ als alternatives Machtorgan aus. Sinn macht dies erst nach Ausrufung der Republik, und die ist zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar.

Erhaltung der Monarchie

Folgerichtig erklärt Ebert bei der Übernahme der Kanzlerschaft ausdrücklich, dass er sein Amt im Rahmen der Reichsverfassung ausüben wird. Das bedeutet vor allem, die Monarchie zu bewahren, denn nur so ist die staatliche Kontinuität zu sichern. Da der Thron zur Zeit verwaist ist, fragt Ebert bei der Amtsübergabe Prinz Max von Baden, ob er bereit sei, als „Reichsverweser“ tätig zu werden, bis einer der jetzt noch minderjährigen Hohenzollernprinzen aus der nächsten Generation den Kaiserthron mit Erreichen der Volljährigkeit einnehmen kann. Bis zur letzten Sekunde setzt der SPD-Vorsitzende alles daran, um mit der Monarchie den alten Staat zu retten.

Zugleich ist er mit der von Baden vorgeschlagenen Einberufung einer Nationalversammlung einverstanden, die über die künftige Regierungsform beschließen soll. Das ist zum einen unumgänglich, um der Revolutionsbewegung entgegen zu kommen, zum andern verbindet sich damit die gemeinsame Hoffnung, dass sich die Gemüter bis zum Zusammentreten der Nationalversammlung so weit beruhigt haben, dass die Monarchie beibehalten werden kann.

Außerdem ist seine erste Amtshandlung ein Aufruf an die preußisch-deutsche Beamtenschaft, auf ihrem Posten zu bleiben und der neuen Regierung zu dienen. Zur selben Zeit, wo Arbeiter- und Soldatenräte in den Städten und Kommunen erste Schritte zur Demokratisierung von Verwaltung und Polizei unternehmen, gibt Ebert also den demokratiefeindlichen beamteten Trägern des Staatsapparats, dem Rückgrat des Obrigkeitsstaats, eine Bestandsgarantie – und in der bald darauf verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung wird der Schutz des „hergebrachten Berufsbeamtentums“ sogar in Verfassungsrang erhoben.

Um die Revolutionsbewegung einzubinden, macht Ebert sich außerdem daran, Vertreter der USPD in die von ihm gebildete Reichsregierung einzubeziehen. Darüber hinaus plant er die Beteiligung von Bürgerlichen an der Regierung. Noch einmal: ein „Rat der Volksbeauftragten“ hat zu diesem Zeitpunkt in diesem Konzept keinerlei Platz.

Die ungewollte Ausrufung der Republik

Bis hierher ist alles im Interesse der SPD-Führung gelaufen. Die letzten Schritte zur Macht waren zwar improvisiert, aber mit Friedrich Ebert als Kanzler des Kaiserreichs hat die SPD-Führung das Ziel erreicht, auf das sie seit Jahren hingearbeitet hat. Nunmehr kommt es jedoch zu einem Ereignis, das vorübergehend alles über den Haufen wirft und eine jener „Friktionen“ darstellt, die in jeder Revolution vorkommen und dem Geschehen eine unerwartete Wendung geben, auch wenn sie die grundlegenden Wirkungskräfte nicht außer Kraft setzen können.

Während die führenden Sozialdemokraten im Reichstag nämlich noch eine Dauersitzung abhalten, um angesichts der Unruhen im ganzen Reich über das weitere Vorgehen zu beraten, versammelt sich vor dem Reichstag eine große Menschenmenge und fordert die Abdankung des Kaisers, die zwar mittlerweile erfolgt ist, sich aber noch nicht herumgesprochen hat. In dieser Situation, so lässt Bollinger uns wissen,9 tritt Philipp Scheidemann „pflichtschuldig“ an ein offenes Fenster – und teilt den Massen nicht etwa die geforderte Abdankung des Kaisers mit, sondern erklärt, „das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen“, und ruft eine Republik aus. Von welcher „Pflichtschuldigkeit“ redet Bollinger hier? Tatsächlich ruft Scheidemann die Republik ohne Absprache mit den anderen Mitgliedern der Parteiführung und gegen deren Willen aus.

Er selber legitimiert seinen Alleingang damit, dass Karl Liebknecht kurz darauf eine sozialistische Republik ausrufen will.10 Doch was heißt das? Die Spartakusgruppe ist in der Revolutionsbewegung isoliert, und die Ausrufung einer sozialistischen Republik würde daran nichts ändern, weil die Massen Spartakus nicht folgen. Darum hätte man Liebknecht ruhig gewähren lassen können. Davon abgesehen hätte niemand Scheidemann daran gehindert, seinen Auftritt mit den anwesenden Parteikollegen abzusprechen, was er aber nicht tat.

Darum deutet der Alleingang auf ganz andere Gründe: Scheidemann, ebenso ehrgeizig wie sprunghaft, steht in erbitterter innerparteilicher Konkurrenz mit Ebert, der gerade Reichskanzler geworden ist. Dieser reagiert nach den Worten Scheidemanns denn auch „vor Zorn dunkelrot“ auf sein eigenmächtiges Vorgehen und schreit ihn an: „Du hast kein Recht, die Republik auszurufen“; erst die Konstituante könne die künftige Regierungsform beschließen.11 Aber der Wutausbruch ist folgenlos. Da Scheidemann als Fraktionsvorsitzender der SPD im Reichstag der öffentlich bekannteste Sozialdemokrat ist, scheinbar für seine Partei spricht und ein Großteil der SPD-Mitglieder in der Tat für eine Republik eintritt, ist seine Ankündigung nicht mehr aus der Welt zu schaffen.12 Die Monarchie ist gefallen, und damit ist auch Eberts Kanzlerschaft nach wenigen Stunden perdu (was ihn nicht davon abhält, in seiner Korrespondenz als Volksbeauftragter weiterhin den Kanzlertitel zu verwenden).

Umstellung der SPD-Strategie

Die Ausrufung der Republik schafft für alle politischen Kräfte eine neue Lage, denn nunmehr ist ein neuer Staat entstanden. Allerdings ist dies erst einmal nur dem Namen nach der Fall, und dass es dabei bleibt, dafür sorgt die SPD-Führung in den kommenden Wochen und Monaten. Bisher hat sie alles daran gesetzt, als legitime Regierungspartei die alte Ordnung zu erhalten und zu diesem Zweck versucht, die revolutionäre Bewegung einzubinden. Mit dem Untergang des alten Staats muss sie ihre Strategie umstellen. Nunmehr setzt sie sich an die Spitze der revolutionären Bewegung, um von hier aus die Revolution zu ersticken und die alte Ordnung zu erhalten.

Als Ersatz für die soeben gefallene alte Regierung initiiert sie einen „Rat der Volksbeauftragten“, in dem je drei Mitglieder von SPD und USPD vertreten sind und der als neue Revolutionsregierung offiziell als Vertretung der Räte firmiert. Bollinger behauptet in diesem Zusammenhang: „Die MSPD wollte mit den Räten zusammenarbeiten, wenn es sein musste, sah sie aber nur als Unterstützungsorgan.“13 Wiederum fragt man sich, woher Bollinger diese Information hat, denn weder betrachtet die SPD-Führung die Räte als Unterstützungsorgan noch denkt sie irgendwann ernsthaft an eine Zusammenarbeit. Vielmehr sind die Soldaten- sowie die Arbeiter- und Soldatenräte die Verkörperung der von der Parteiführung gehassten Revolution, und deshalb gehen die sozialdemokratischen Volksbeauftragten vom ersten Tag an daran, die formal von ihnen anerkannte Rätebewegung Schritt für Schritt zu entmachten, wobei sie vorsichtig vorgehen müssen, da viele ihrer eigenen Parteimitglieder in den Räten aktiv sind.14

Bündnis mit dem Militäradel

Zu diesem Zweck vereinbart Ebert am Abend des 10. November mit dem OHL-General Groener die Zusammenarbeit mit dem kaiserlichen Offizierskorps, um Ruhe und Ordnung in Deutschland wiederherzustellen. Das bedeutet nichts anderes als die Wiederherstellung der Grundzüge der alten Ordnung durch Liquidierung der Revolutionsbewegung. Der zwischen dem sozialdemokratischen Parteivorsitzenden und der Heeresführung geschlossene Pakt setzt das im Krieg zustande gekommene Bündnis zwischen dem rechten Flügel der Arbeiterbewegung und dem preußischen Militäradel fort, sichert mit der Erhaltung des kaiserlichen Offizierskorps die Fortführung des junkerlich-preußischen Heeres und stellt den eigentlichen Gründungsakt der Republik dar, in dessen Gefolge alle weiteren Schritte der Restauration erfolgen, bis hin zur blutigen Niederschlagung des Arbeiterwiderstands, der sich gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung formiert.

Der 9./10. November konzentriert so wie in einem Brennglas das Schicksal der Revolution und die politischen Konzepte der agierenden Kräfte: die Übernahme einer monarchischen Regierung durch die SPD, die Friktion durch die Ausrufung einer Republik, die Umstellung auf die Bildung einer Revolutionsregierung, die Isoliertheit der Spartakusgruppe, schließlich der Abschluss des Ebert-Groener-Pakts als Besiegelung der sozialdemokratischen Politik. Wenn man das Geheimnis der Novemberrevolution enträtseln will, muss man diese beiden Tage durchleuchten. Doch anstatt das zu tun, negiert Bollinger die relevanten Fakten, teilt uns im Plauderton die „pflichtschuldige“ Ausrufung der Republik durch Scheidemann mit und unterstellt der mit allen politischen Wassern gewaschenen SPD-Führung eine Blauäugigkeit, die nur zum Staunen ist.

Was für eine Revolution?

Über den Ereignisablauf hinaus stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Einordnung von Novemberrevolution und Republik. Zur Novemberrevolution bemerkt Bollinger unter Berufung auf einen SED-Beschluss von 1958, dass diese „eine unvollendete bürgerliche Revolution“ war.15 Auch wenn vielfach sozialistische Parolen zu hören waren, trug sie in der Tat keinen sozialistischen Charakter, denn ein „ernster Wille, sozialistische Maßnahmen durchzuführen, zeigte sich bei den revolutionären Massen eigentlich nirgends. Solche Absichten wären schon durch die Haltung der Soldaten vereitelt worden, deren Mehrheit nicht sozialistisch war, entsprechend der Zusammensetzung des deutschen Volkes.“16

Weit überwiegend verfocht die Revolutionsbewegung demokratische Ziele. Ihr „Programm war die Abschaffung des Obrigkeitsstaats und eine tiefgreifende demokratische Umgestaltung der politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse.“17 Das heißt, die spontane Bewegung stellte sich die Aufgabe, die historisch auf der Tagesordnung stand, nämlich die Durchsetzung der 1848/49 gescheiterten bürgerlichen Revolution – nicht weniger, aber auch nicht mehr.18 Insoweit ist die von Bollinger zitierte Beurteilung durch die SED, dass die Novemberrevolution objektiv eine bürgerliche, eine demokratische Revolution war, zutreffend.

Die Republik – ein Kind der Konterrevolution

Was bedeutet das jedoch für den Charakter der Republik? Auf den ersten Blick scheint der neue Staat ein Kind des Novemberumsturzes zu sein, woran Bollinger keinerlei Zweifel hat. Er hält es für erwiesen, dass „1918/19 die – allerdings inkonsequente – Umsetzung einer bürgerlich-demokratischen Umwälzung gelang“.19 Trotz der von ihm zugegebenen Mängel des neuen Staats versichert er uns, dass die Republik „ein gutes, ein großes Stück Demokratie“ repräsentierte.20

Doch wie soll das geschehen sein? Unter einer Revolution ist gemeinhin eine tiefgreifende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, wie jedes beliebige Lexikon schreibt. Die Revolutionsbewegung zielte auf einen solchen radikalen Wandel mit dem Ziel der Errichtung eines von Grund auf neuen, demokratischen Staats. Aber nichts davon ist Wirklichkeit geworden. Die SPD-Führung verhinderte auf allen Feldern die von der Novemberrevolution angestrebte Demokratisierung, so dass im Endeffekt „der ganze Herrschafts- und Geistesapparat des Kaiserreiches erhalten (blieb): Verwaltung, Justiz, Universität, Kirchen, Wirtschaft, Generalität“.21 Gegenüber dieser von einem liberal-konservativen Historiker getroffenen Feststellung klingt es wie ein schlechter Witz, wenn der linke Historiker Bollinger behauptet, die SPD „steht für eine bürgerlich-demokratische Revolution“.22 Die SPD „steht“ für das genaue Gegenteil davon, nämlich eine Konterrevolution.

Klassenpolitisch im Bündnis mit dem junkerlichen Militäradel und der Schwerindustrie sorgte sie dafür, dass die von der Revolutionsbewegung im ersten Anlauf niedergerungene alte Ordnung wieder hergestellt wurde. Wenn man die Revolutionstheorie ernst nimmt, muss man feststellen, dass die Republik von Weimar nicht das Ergebnis einer Revolution war, sondern einer Konterrevolution. Der neue Staat war eine Fortsetzung des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaats der Vorkriegszeit, versehen lediglich mit einem parlamentarischen Überbau.

Fazit

Zu guter Letzt benennt Bollinger als entscheidende Lehre der Novemberrevolution die fehlende Einheit der Linken: „Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängige Sozialdemokraten, Spartakisten/Kommunisten, Bremer Linke, revolutionäre Obleute, diverse anarchistische und anarchosyndikalistische Gruppen“ – sie verstanden es nicht, „als geeinte Linke zu agieren.“23 Auf welchem politischen Boden die Einheit hergestellt werden sollte, verrät er nicht. Zwecks Wiederherstellung der alten Ordnung? Zwecks Durchsetzung einer revolutionären Demokratie? Zwecks Errichtung einer Diktatur des Proletariats? Die Versöhnungspredigt ist so inhaltsleer wie das ganze Werk, sie ist außerdem eine Verhöhnung der Tausenden von Revolutionären, die auf Befehl einer konterrevolutionären SPD-Führung ermordet wurden und jetzt nachträglich zur Einigkeit mit eben dieser Sozialdemokratie aufgefordert werden.

Zu Beginn hat der Autor die Absicht bekundet, „die zentralen Fragen der damaligen Zeit zu verstehen“. Herausgekommen ist nicht einmal der Ansatz einer Erklärung, um die Niederlage der revolutionären Arbeiterbewegung und die Totgeburt der Weimarer Demokratie zu verstehen. Stattdessen werden wir mit der Lektüre eines Werks gestraft, das gönnerhaft mit den historischen Fakten umgeht, den heutigen Stand der Forschung negiert und nicht einen eigenen Gedanken enthält. Wer an einer sozialdemokratischen Märchenstunde Gefallen findet, ist mit dem Kauf gut bedient. Allen anderen ist davon abzuraten.



Literatur

Baden, Prinz Max von: Erinnerungen und Dokumente. DVA: Stuttgart-Berlin-Leipzig 1928

Bollinger, Stefan: November ‘18. Als die Revolution nach Deutschland kam. Eulenspiegel Verlagsgruppe: Berlin 2018

Karuscheit, Heiner; Sauer, Bernhard; Wernecke, Klaus: Vom „Kriegssozialismus“ zur Novemberrevolution. VSA: Hamburg 2018

Kolb, Eberhard; Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik. Oldenbourg Grundriss der Geschichte Band 16: München 2013

Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S.Fischer: Frankfurt/M 1958

Rosenberg, Arthur: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik (Teil 1 und 2 in einem Band). EVA: Frankfurt/M 1983

Rürup, Rainhard: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19. Franz Steiner Verlag: Wiesbaden1968

Scheidemann, Philipp: Memoiren eines Sozialdemokraten, 2 Bände in einer Volksausgabe. Reissner-Verlag: Dresden 1930

1 Bollinger, S. 9

2 Z 115, S. 21

3 Bollinger, S. 141

4 H.Karuscheit: Die SPD und der „Junkerstaat“, in: Karuscheit/Sauer/Wernecke 2018; ders: Für Preußen-Deutschland und die Macht. Die Politik der SPD in Krieg und Novemberrevolution; in: Berliner Debatte Initial 3/2018, S.105ff

5 Kolb/ Schumann, S. 11. Das Werk der beiden Autoren gibt eine konzentrierte Darstellung der entscheidenden Stationen in der Entwicklung der Weimarer Republik; indem es darüber hinaus die Grundprobleme und Tendenzen der Forschung nachzeichnet, setzt es seine Leser/-innen in den Leser in den Stand, sich ein eigenes Urteil über den Gegenstand zu bilden.

6 Baden, S. 599, 613f

7 Bollinger, S. 34

8 Baden, S. 635 ff

9 Bollinger, S. 7

10 Scheidemann 2, S. 309ff

11 ebda, S. 313

12 Aufgrund seines Rückhalts in Teilen der Partei gelingt es Scheidemann noch, vorübergehend zum Reichsministerpräsidenten ernannt zu werden; bald darauf wird er aber auf den Posten als Oberbürgermeister von Kassel abgeschoben, von wo aus er nach Kräften gegen die Berliner Parteiführung intrigiert.

13 Bollinger, S. 140; MSPD = Mehrheits-SPD, zeitweise so genannt, um sie von der „Unabhängigen“ SPD = USPD abzuheben, die zahlenmäßig etwas schwächer war.

14 In den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat die Revolutionsforschung begonnen, die Rätebewegung auf breiter Quellenbasis zu untersuchen. Als Ergebnis hat sie festgestellt: a) dass diese Bewegung wesentlich demokratische Ziele verfocht und die von der SPD behauptete bolschewistische Unterwanderung nicht ansatzweise zutraf; sowie b) dass die sozialdemokratische Parteiführung die von den Räten angestrebte durchgreifende Reform der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung von Anfang an systematisch hintertrieb. (Kolb/ Schumann, S. 170ff)

15 Bollinger, S. 61

16 Rosenberg 1, S. 239

17 Rürup, S. 50; s.a. Kolb/ Schumann, S. 171

18 Für eine solche Revolution besaß die Spartakusgruppe unter Liebknecht und Luxemburg kein Konzept. Sie verfolgte mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats als nächstem Ziel eine Sozialismusstrategie, die in der Revolutionsbewegung nicht mehrheitsfähig war.

19 Bollinger, S. 81

20 Z 115, S. 21

21 Mann, S. 670

22 Bollinger, S. 148

23 Z 115, S. 12