Kritik der Migration

Dokumentation

Hannes Hofbauer ist Autor des soeben im promedia-Verlag erschienenen Buchs „Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert“. Wir dokumentieren das von Reinhard Jellen geführte und am 30. und 31.Oktober von TELEPOLIS ins Netz gestellte Interview mit dem Autor.

Herr Hofbauer, ist Migration Ihrer Einschätzung nach eine anthropologische Konstante oder handelt es sich hierbei um historische Ausnahmefälle?

Hannes Hofbauer: Migration war immer, insofern ist die Wanderung von Menschen eine anthropologische Konstante. Sie ist allerdings nicht, wie viele neue Migrationsforscher nahelegen, eine Bedingung menschlichen Lebens. Die meisten Menschen sind sesshaft. Das geht auch aus einer Studie der österreichischen Akademie der Wissenschaften hervor. Danach machten sich von 1950 bis in die 2000er-Jahre jährlich 0,6 Prozent der Weltbevölkerung in die Fremde auf. Seit 2005 ist diese Zahl auf 0,9% gewachsen. Die Norm ist also der Sesshafte.

„Brexit ist der Konkurrenzsituation am Arbeitsmarkt geschuldet“

Karl Marx und Friedrich Engels haben sich seinerzeit zur Migration irischer Lohnarbeiter geäußert. Wie war deren Einschätzung?

Hannes Hofbauer: Marx und Engels hatten bezüglich der Arbeitsmigration keine konsistente, durchgehende Haltung. Klar war den beiden, dass – wie Marx schreibt – „die englische Bourgeoisie das irische Elend nicht nur ausnutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten.“

Marx spricht hier sehr deutlich die Funktion der Migration als Lohndrückerei und Spaltung des Arbeitsmarktes an und untermauert diese nicht nur mit sozioökonomischen Argumenten, sondern auch mit kulturellen, wenn er schreibt: „Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den Lebensstandard herabdrückt. Er empfindet ihm gegenüber nationale und religiöse Antipathien.“

So könnte man heute nicht mehr argumentieren, ohne des Kulturalismus verdächtigt zu werden, obwohl das Zitat recht aktuell klingt, wenn man den „irischen Konkurrenten“ durch den „polnischen Konkurrenten“ ersetzt. Der Ausgang des Referendums über den Brexit im Juni 2016 ist genau dieser Konkurrenzsituation am Arbeitsmarkt geschuldet.

In meinem Buch führe ich das auf die rasche und ungeschützte Öffnung des Arbeitsmarktes in Großbritannien anlässlich der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 zurück. Während Deutschland und Österreich den Zuzug billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa, wo der Durchschnittslohn in Polen damals acht Mal unter dem deutschen lag, um insgesamt sieben Jahre hinausschoben, hat England seinen Arbeitsmarkt sofort geöffnet. Die britischen Arbeiter reagierten im Juni 2016 entsprechend.

Zurück zu Marx und Engels und ihrer inkonsistenten Haltung zur Migration. Engels schreibt zum Beispiel an einer Stelle, dass „die fabelhafte Reichtums-Akkumulation durch die enorme Einwanderung in Amerika von Tag zu Tag gesteigert wird“ und gleichzeitig „die Mehrzahl der Einwanderer den Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter herabdrückt“.

Gleichzeitig weigert er sich, die Migration als solche zu kritisieren und rät von Restriktionen ab. Dies deshalb, weil er einen revolutionären Schub durch Verelendung voraussagt. Er rechnet mit einem „kolossalen Krach drüben (in Amerika)“ und prognostiziert die Alternative „Hungertot oder Revolution“. Heute wissen wir, dass dem nicht so war. Dennoch ist auch der Vergleich mit der aktuellen Diskussion interessant.

Linksradikale, in operaistischer Tradition stehende Stimmen sehen auch heute wieder im Migranten ein revolutionäres Potential und sehnen einen „Kosmopolitismus von unten“ herbei. Wünschen kann man sich viel, die Wirklichkeit des Kapitalismus sieht allerdings anders aus.

„Verwechslung des migrantischen Schicksals mit der Funktion der Migration“

Wie hängen schrankenlose Migrationsbejahung und Neoliberalismus zusammen?

Hannes Hofbauer: Migration ist Ausdruck von Ungleichheit, dieser Diagnose würde wohl bald jemand zustimmen. Umso unverständlicher ist für mich, wie kritisch denkende Menschen eine positive Sicht auf Migration haben können. Ich erklär mir das mit der Verwechslung des einzelnen migrantischen Schicksals, das in aller Regel ein schweres ist und dem man zugeneigt ist, zu helfen, mit der Funktion der Migration. Und diese passt haarscharf in die Anforderungen des Neoliberalismus. Der ständige Import billiger und williger Arbeitskräfte in die Zentrumsländer Europas beweist dies deutlich. Seit dem ersten Anwerbeabkommen im Jahr 1955 (zwischen Deutschland und Italien) waren es die Unternehmerverbände, die mehr Migration forderten, um damit Arbeitsmärkte sowie Arbeits- und Sozialgesetze deregulieren zu können.

Symptomatisch war beispielsweise die Forderung des Internationalen Währungsfonds am Höhepunkt der großen Wanderung der Muslime, wie ich die Massenmigration des Jahres 2015 nenne, den eben erst eingeführten Mindestlohn in Deutschland für Flüchtlinge „gezielt und zeitlich begrenzt“ auszusetzen. Da wird die Logik der Mobilisierung von Arbeitskräften klar.

Migration als Ausdruck von Ungleichheit hat ja auch ganz konkrete Ursachen, die mit unserer Kapital-getriebenen Ökonomie zusammenhängen. Sehen wir uns nur die sogenannten Partnerschaftsabkommen der Europäischen Union mit über 30 Staaten Afrikas und der Karibik an. Diese Freihandelsabkommen sind Marktöffner für in EU-Europa überproduzierte Waren, während gleichzeitig afrikanische Produkte nur theoretisch den Weg in den europäischen Zentralraum finden, sie sind hier nicht konkurrenzfähig. Die Folge dieser typisch neoliberalen Politik ist, dass Millionen von Menschen in Afrika und in der Karibik ihrer Subsistenzgrundlage beraubt werden. Da sind einmal die Bauern, deren Erzeugnisse der EU-europäischen Konkurrenz nicht standhalten können.

In Ghana kamen beispielsweise vor dem Partnerschaftsabkommen 95 Prozent des Geflügels von heimischen Züchtern, nach Inkrafttreten des Abkommens waren es gerade einmal 11%. Es sind die Söhne (und Töchter) dieser Bauern, die keine Überlebensperspektive mehr in ihrer Heimat haben und sich über das Mittelmeer nach Europa aufmachen. Dasselbe passiert den örtlichen Fischern, die durch bilaterale Verträge ihrer Fischgründe verlustig gehen, weil riesige Trawler aus Spanien, Portugal oder Japan bis knapp an die Küste alles leer fischen. Auch hier versucht die nächste Generation ihr Glück in der Emigration.

Aktuell wehrt sich beispielsweise der ruandische Präsident Paul Kagame gegen die Überschwemmung des lokalen Textilmarktes mit EU-europäischen und US-amerikanischen Altkleidern. Diese werden in gutem Glauben hierzulande in Metallcontainer geworfen, nach Rumänien zum Sortieren und Zusammennähen verschickt und kommen dann nach Afrika. Dort zerstören sie die lokalen Textilmärkte und nehmen den Menschen ihre Lebenschancen. Man nennt das Subsistenzmigration.

„Der menschliche Aderlass an der Peripherie ist enorm“

Was sind allgemein die Folgen der Massenmigration in den Herkunfts- und Zielländern?

Hannes Hofbauer: Massenwanderungen haben sowohl in den Herkunftsländern als auch den Zielländern der Migranten negative Effekte. Dort, wo die die Menschen weggehen (beziehungsweise weggehen müssen), fehlen gerade die Jungen, Flexiblen, Neugierigen. Es kommen ja nicht die Alten und Gebrechlichen, die einer Gesellschaft mehr Kosten verursachen, in die europäischen Zentren. Die Jungen und potenziell Produktiven gehen in den peripheren Ländern ab, gerade sie würden aber gebraucht, um ihre von Krisen oder gar Kriegen zerstörten Länder wieder aufzubauen. Diese sich mit jeder Migration verstärkende Ungleichheit kennen wir nicht nur zwischen Europa und dem globalen Süden, sondern auch innerhalb der Europäischen Union.

Dort sind es an der Peripherie die oft gut ausgebildeten Fachkräfte, die Ingenieure, Ärzte oder Krankenschwestern, die es in die Zentralräume treibt. Bei herrschenden Lohndifferenzen von 8:1 zwischen Deutschland und beispielsweise Bulgarien ist das auch kein Wunder. 10% aller Ärzte in Deutschland sind nicht hier ausgebildet, sondern sie kommen aus Rumänien, Serbien oder Bulgarien. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Ausbildung eines Arztes in Deutschland circa 200.000 bis 300.000 Euro kostet, kann man erahnen, welchen Preis die ärmeren Volkswirtschaften bezahlen und was sich der reiche Norden erspart. Das Gesundheitswesen im europäischen Südosten liegt derweil im Argen.

Der menschliche Aderlass an der Peripherie ist enorm, Bulgarien hat in den vergangenen 25 Jahren 20 Prozent seiner Bevölkerung verloren; wenn man die aktivsten Teile der Bevölkerung her nimmt, jene, die zwischen 20 und 45 Jahre alt sind, beträgt der Verlust sogar 41%. Eine kürzlich erschienene Studie des IWF hat errechnet, dass zwischen 1990 und 2012 20 Millionen Osteuropäer nach Westen emigriert sind. Ohne diese Massenauswanderung, so der IWF weiter, hätte das BIP-Wachstum 7% mehr betragen. An dieser Stelle stockt der geübte Beobachter, ist es doch üblicher Weise der IWF, der genau jene Mobilität einfordert, die periphere Räume entleert.

Aber keine Sorge, die Finanzorganisation bleibt ihrer neoliberalen Doktrin treu, denn sie empfiehlt den Ländern Osteuropas, die bereits unter großem Facharbeitermangel leiden, ihrerseits den Import billiger Arbeitskräfte aus der Ukraine, Albanien oder Weißrussland. Polen und die Slowakei haben bereits darauf reagiert und ihre Einwanderungsgesetze angepasst, liberalisiert. In der Slowakei werken bereits Ukrainer bei Volkswagen, KIA und Renault-Peugeot und in Polen halten über eine Million Ukrainer ganze Branchen am Leben.

„Vom Unternehmerstandpunkt ein Eldorado“

Was sind die Vorteile von Massenmigration für die Kapitalseite?

Hannes Hofbauer: Arbeitsmärkte werden aufgemischt und ständig neu geteilt. Die gewerkschaftsnahe Hans Böckler-Stiftung hat errechnet, dass die Löhne und Gehälter in Deutschland zwischen 1995 und 2004 um – preisbereinigt – 0,9 Prozent gesunken sind. Seit 1992 gab es (bis 2016) keine Reallohnerhöhung. Das ist freilich nicht nur dem ständigen Zufluss billiger Arbeitskräfte im Gefolge des Zusammenbruchs von Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und Sowjetunion sowie Bürgerkriegen und NATO-Intervention in Jugoslawien etcetera geschuldet, aber die Migration trägt ihr Scherflein dazu bei.

Dann sehen wir uns die Folgen der großen Wanderung der Muslime der Jahre 2015 und 2016 bei Lichte an. Längst hat ja die Selektion nach dem Motto die Guten ins Land und die Schlechten außer Landes Platz gegriffen. Von den 1,1 Millionen Syrern, Afghanen und Irakern, die bis Ende 2017 einen Asylantrag gestellt haben, sind bis zu diesem Zeitpunkt 560.000 abgelehnt worden, also rückstellungsbereit. Wir haben also das Phänomen, dass aus dieser einen großen Migrationswelle Menschen mit sehr unterschiedlichem Status hervorkommen. Da sind einmal diejenigen, deren Asylantrag angenommen wurde, dann jene, die subsidiären, zeitlich begrenzten Schutz erhalten haben, die große Zahl der Abgelehnten und die in keiner Statistik aufscheinenden Untergetauchten. Vom Unternehmerstandpunkt, der billige, ausbeutbare Arbeitskräfte sucht, ein Eldorado.

Das Jahr 2015 hat auch die Asylschiene für Migration geöffnet. Weil es klar war und auch die Genfer Flüchtlingskonvention dazu eine klare Sprache spricht, dass nämlich Krieg kein Asylgrund ist und die deutsche Bundesregierung dennoch so getan hat, als ob es einer wäre, wurden hunderttausende Menschen ohne Chance auf die Asylschiene gesetzt. Das hat auch entsprechende Auswirkungen auf die afrikanische Subsistenzmigration.

Was sind die Konsequenzen für die Lohnabhängigen?

Hannes Hofbauer: Die stehen in immer härteren Konkurrenzkampf. Der vor kurzem auch in Deutschland eingeführte Mindestlohn zeugt davon. Von ihm kann eigentlich niemand leben.

Willy Brandt hat 1973 einen vollkommenen Aufnahmestopp von Migranten erlassen. Würde er heutzutage dafür als rechtsradikal gebrandmarkt werden?

Hannes Hofbauer: Warum rechtsradikal? Pro-Migration ist ja nicht links und Anti-Migration schon gar nicht rechts. Aber Willy Brandt will ich dennoch kritisieren. Denn sein Aufnahmestopp hat gezeigt, dass die damals als „Gastarbeiter“ bezeichneten Migranten nichts weiter waren (und auch heute noch sind) als ein Krisenpuffer. Die Weltwirtschaftskrise 1973 war der Auslöser für den Aufnahmestopp, 800.000 Türken und andere sind damals wieder in ihre alte Heimat zurückgegangen … und haben auch dort keine Arbeit gefunden. Die sozialen Probleme wurden also von Willy Brandt exportiert.

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In Teil 2 des Gesprächs äußert sich Hannes Hofbauer zur muslimischen Massenmigration seit 2015, zum Multikulturalismus und zum „Globalen Pakt für Migration“, der Anfang Dezember in Marokko auf einer UN-Vollversammlung juristisch ratifiziert werden soll.

Herr Hofbauer, welche internationalen Vereinbarungen hat Angela Merkel 2015 mit ihrer Entscheidung außer Kraft gesetzt und was bedeutet das für das politische Gleichgewicht innerhalb der EU?

Hannes Hofbauer: Merkel hat de facto, wenn auch nicht de jure, die Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt. Dazu muss man sagen, dass schon diese Abkommen per se den imperialen Charakter der deutschen Vorherrschaft in EU-Europa zeigen. Denn „Dublin“ bedeutet im Migrationskontext, dass jenes Land der Europäischen Union, auf dessen Boden der Drittstaatsangehörige zuerst seinen Fuß setzt, für seine Behandlung im Fall der Ablehnung des Asylantrages zuständig ist. Der Zentralmacht Deutschland ist es mit der Einführung des Dublin-Regimes also gelungen, die Last der Flüchtlingsfrage auf die EU-europäische Peripherie abzuwälzen. Denn um nach Deutschland direkt zu kommen, müssten Asylantragsteller über die Ostsee schwimmen oder per Flugzeug einfliegen.

Letzteres ist um ein Vielfaches schwieriger als der Landweg und wird zudem von eigenen Vorfeldprüfungen auf deutschen Flughäfen erschwert. Konkret schultern also Länder wie Griechenland, Bulgarien, Italien und Ungarn die Dublin-Last. Weil Griechenland 2015 wegen immenser Strukturprobleme vom Dublin-Übereinkommen ausgenommen war, trug Ungarn die gesamte Bürde. Der Spiegel schrieb damals zum gleichzeitig stattfindenden Merkel-Hype und Orbán-Bashing: „Merkel kann sich Gesinnungsethik erlauben, weil Viktor Orbán das Grobe erledigt“. Orbán hatte – Dublin sei’s geschuldet – keine andere Wahl.

„Die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch ist aktive Migrationspolitik“

Wie ist es um die rechtliche Substanz für die Regulierung der Massenmigration bestellt?

Hannes Hofbauer: Mir geht es nicht um die Regulierung von Massenmigration. Mein Anliegen ist es, die Ursachen von Migration zu bekämpfen. Das sagen zwar jetzt viele, getan wird allerdings das Gegenteil. Die oben angesprochenen Partnerschaftsabkommen – der Begriff „Partner“ ist dafür freilich euphemistisch – verursachen Migration. Desgleichen die von westlichen Militärallianzen geführten Kriege in der islamischen Welt. Seit dem ersten Irak-Krieg 1991 zieht sich eine Blutspur der NATO und fallweiser williger Koalitionen von Afghanistan über den Nahen Osten, den Jemen und Libyen bis nach Mali. Millionen von Vertriebenen sind die Folge.

Die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch ist aktive Migrationspolitik, so wie jeder Krieg Menschen in die Flucht schlägt und Migrationswellen auslöst. Kein Krieg, keine Freihandelsabkommen … das würde sich migrationshemmend auswirken.

Wie bewerten Sie den „Globalen Pakt für Migration“, der Anfang Dezember auf einer UN-Vollversammlung verabschiedet werden soll?

Hannes Hofbauer: Es ist ein hilfloser Versuch, Migrationsmanagement betreiben zu wollen. Aber wie gesagt, mir geht es nicht um das Verwalten von ungleicher Entwicklung, die zu Massenwanderungen führt. Stattdessen sollten soziale Differenzen und regionale Disparitäten entschieden bekämpft werden. Solange auf der Welt die Einkommensdifferenz von einem der reichsten Staaten (den USA) zu einem der ärmsten (dem Kongo) 93:1 beträgt, wirkt es wie aus der Zeit gefallen, Migration sicher, geordnet und regulär, wie es in der Überschrift zum UN-Pakt steht, gestalten zu wollen. Mehr noch: Ohne heftigste Anstrengungen in Richtung mehr soziale Konvergenz weltweit legitimiert ein solcher Pakt die herrschende Ungleichheit, indem er technische Machbarkeiten vortäuscht, die an der Wirklichkeit scheitern müssen.

„Ein Armutszeugnis der Linken“

Was kritisieren Sie am Konzept der multikulturellen Gesellschaft?

Hannes Hofbauer: Nichts, eine multikulturelle Gesellschaft finde ich lebenswert. Was ich an der Linken kritisiere, ist ihre Hinwendung zu Diversität und Weltoffenheit. Sehen wir uns mal in der Europäischen Union um. Da redet die Linke seit über einem Vierteljahrhundert davon, dass es nun endlich auch mal darum gehen müsse, soziale Fragen gemeinsam anzugehen. Lange Zeit wurde offensichtlich nicht erkannt, dass die Brüsseler Union gerade der Garant für die Parallelität von ökonomischer Konvergenz und sozialer Divergenz ist. Aus diesem Ungleichgewicht zieht der Investor seinen Profit.

Nun kommt mir manchmal vor, Teile der Linken haben eingesehen, dass aus der EU keine Sozialunion werden kann. Ihre Reaktion ist allerdings nicht, die EU fundamental zu kritisieren, sondern einen politischen Paradigmenwechsel zu vollführen. Statt Gleichheits- und Kollektivitätspostulat setzt man nun eben auf Diversität und Weltoffenheit. Beides ist mit dem Kapital bestens kompatibel. Diversität sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, jeder und jede muss so leben können, wie es ihr oder ihm gefällt. Das zur politischen Hauptparole zu erklären, ist ein Armutszeugnis der Linken. Und dem Begriff „Weltoffenheit“ kann ich keinen Sinn entnehmen. Das wäre das Gegenteil? Weltgeschlossenheit? Ich übersetz ihn für mich mit „Investitionsfreiheit samt ungehinderter Gewinnrückführung“.

Sie erklären das Integrationskonzept für gescheitert. Warum?

Hannes Hofbauer: Die Frage stellt sich: Integration wohin? Idealtypisch landet ein aus einem gambischen Dorf stammender 20jähriger Schwarzafrikaner hier als Hotel-Boy oder Küchengehilfe einer internationalen Schnellimbisskette, eine slowakische junge Mutter als Altenpflegerin in einer Mittelklassefamilie und ein bengalischer Einwanderer als frühmorgendlicher Austräger einer Tageszeitung oder Paketzusteller. Vor dieser Wirklichkeit kann man doch nicht die Augen verschließen. Das hat für mich allerdings nichts mit Integration zu tun, eher schon mit einer zunehmend segmentierten Gesellschaft, die sich zusätzlich zu Klassendifferenzen auch kulturell und ethnisch immer mehr aufspaltet. Darüber können Einzelfälle, die diese Grenzen überschreiten, so gut und eindrucksvoll sie auch sein mögen, nicht hinwegtäuschen.

Sie schreiben, dass die Linke in die „Identitätsfalle“ gestolpert sei. Was meinen Sie damit und wie begründen Sie das?

Hannes Hofbauer: Dort, wo die soziale Frage nicht mehr gestellt wird, weil man sie im Angesicht des wirtschaftlichen Primats verloren glaubt, treten Forderungen nach schlecht bis unzureichend kodifizierbaren Menschenrechten oder ein Recht auf Diversität und Anderssein in den Vordergrund. In anderen Worten: es geht um kulturelle Identität statt um soziale Auseinandersetzung. Diesen Wechsel, den freilich und glücklicherweise nicht alle Linken mitmachen, bezeichne ich als Identitätsfalle. Mein Buch spürt demgegenüber wirtschaftlichen und militärischen Ursachen für soziale und regionale Ungleichheiten – auch mit historischen Rückgriffen – nach und stellt fest, dass zu deren notwendiger Überwindung technische Tricks oder individuelle Auswege untauglich sind. (Reinhard Jellen)