Hundert Jahre russische Revolutionen

Kritische Rückschau auf einige Publikationen (Teil 1)

„Sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation erwachsen.“
Rosa Luxemburg

Von Alfred Schröder

Rosa Luxemburgs vor 100 Jahren geäußerter Wunsch nach einer kritischen Aufarbeitung der russischen Revolution ist naheliegend und verständlich, hatte sie doch selbst in der oben zitierten Schrift neben pathetischem Lob auch deutliche Kritik an der Politik der Bolschewiki formuliert. Wie ist der Stand der historischen Aufarbeitung heute, ein Jahrhundert später, zu bewerten? Bevor wir uns mit den Publikationen der Linken befassen, soll zunächst ein Buch vorgestellt werden, das in gewisser Weise den Stand der bürgerlichen Wissenschaft in knapper und gut lesbarer Form zusammenfasst und damit einen tauglichen Parameter liefern kann, an dem die Publikationen der deutschen Linken zu messen sein werden.

Ein Blick auf den Stand der bürgerlichen Wissenschaft

Gemeint ist das aktuelle Werk von Stephen A. Smith: Revolution in Russland, Darmstadt 2017. Das Buch von annähernd 500 Seiten Umfang und einem Preis von knapp unter 40 Euro ist auch für den historischen Laien gut lesbar und informativ, ohne langweilig zu werden oder sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Der Autor erweist sich unserer Meinung nach dem Thema in jeder Hinsicht gewachsen, sachkundig und auf dem Stand der wissenschaftlichen Forschung. Der von ihm behandelte Zeitraum reicht von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der „Neuen ökonomischen Politik“ Ende der 20er Jahre, wobei gerade die NÖP in dem Buch besonders ausführlich (weit über 100 Seiten) dargestellt wird. In einem Schlusswort bezieht der Autor seine eigene politische Position zu den Ereignissen. Wer die historischen Besonderheiten Russlands und die Triebkräfte der Revolution verstehen will, kann in diesem Buch ausreichend Material finden, um sich ein eigenständiges Bild der historischen Ereignisse zu verschaffen. Wer ist Smith?

Stephen A. Smith ist Professor für Geschichte am All Souls College der Universität Oxford und einer der renommiertesten Russland-Historiker. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte Russlands und die Russischen Revolutionen (sowie „vergleichende Kommunismusforschung“). Wie uns der Verlag weiter im Klappentext mitteilt, sei er der „beste englische Kenner der russischen Revolution“. Nach so vielen Vorschusslorbeeren für den Autor nun zum Thema. Was hat die bürgerliche Forschung in den letzten Jahrzehnten an neuen Erkenntnissen über die Voraussetzungen, gesellschaftlichen Triebkräfte und politischen Parteien der russischen Revolution ans Licht gebracht oder problematisiert? Welche Erkenntnisse könnten linke Historiker aus diesem Forschungsstand ziehen?

An folgenden Fragestellungen, die – um es vorweg zu nehmen – von der Mehrzahl der linken deutschen Historiker nicht behandelt werden, werden wir die Positionen Smiths vorstellen:

  • Wie stellt er den russischen Staat vor?

  • Wie stellt er die Klassen der russischen Gesellschaft vor?

  • Was sagt er zur Februar- und Oktoberrevolution, zu den Bolschewiki (und zum deutschen Geld)?

Staat

Die Frage nach den historischen Besonderheiten des zaristischen Staates wird von der marxistischen Geschichtsschreibung selten aufgeworfen. Dabei ist sie für die Revolutionen des Jahres 1917 von entscheidender Bedeutung. Der zaristische Staat war seit Jahrhunderten ein agrarisch geprägter Flächenstaat, der auf Grund seiner ökonomischen Schwäche keine für eine stabile Herrschaft notwendige Bürokratie und Ordnungsmacht ausbilden konnte. In Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Unruhen war die Armee mit ihrem adligen Offizierskorps, bäuerlichen Soldaten und kosakischen „Sondertruppen“ die eigentliche Stütze des zaristischen Regimes. Smith dazu: „Ungeachtet seiner vielfältig demonstrierten militärischen und administrativen Macht war der zaristische Staat strukturell schwach, wenngleich nicht ineffektiv. Die zentralistische Regierung verfügte über begrenzte Ressourcen an Material und Menschen, die Steuererträge waren gering, die Verwaltung nicht ausreichend besetzt und durch unklare Rechtsverhältnisse und Kompetenzbereiche sowie durch Korruption … beeinträchtigt.“ (S. 28)

„Überdies ist augenfällig, wie schwach die Polizeikräfte tatsächlich waren: Bis in die 1890er Jahre waren sie unterhalb der Ebene der Verwaltungsbezirke die einzigen Repräsentanten der Regierung, doch musste um 1900 ein einzelner Landkonstabler mit der Unterstützung von ein paar Polizeibeamten niederen Ranges bis zu 2,6 Quadratkilometer und zwischen 50.000 und 100.000 Einwohner überwachen. Da Polizisten sehr viel kostenträchtiger waren als Soldaten, ließ das Regime gefährlichere Aufruhrversuche durch die Armee niederschlagen. Insofern war die Regierungsgewalt im zaristischen Russland zu wenig durchschlagkräftig und die Bürokratie zu schwächlich, als dass von einem Polizeistaat … gesprochen werden könnte.“ (S. 30)

Im vierten Kriegsjahr war das adlige Offizierskorps durch Verluste deutlich dezimiert und inzwischen durch Offiziere aus dem Bürgertum und dem städtischen Kleinbürgertum ersetzt worden. Die Masse der Bauernschaft verabscheute den Krieg und hasste ihre Offiziere. Dies erklärt die Schnelligkeit und Gründlichkeit, mit der der zaristische Staat im Februar/März 1917 gestürzt und zerschlagen werden konnte. Nachdem die bäuerlichen Armeeregimenter zum proletarischen Aufstand übergelaufen waren, wurden Polizei und Gendarmerie mit Waffengewalt zerschlagen. Ihre den Aufstand überlebenden Mitglieder verschwanden im Untergrund, um nicht von den aufständischen Arbeitern getötet zu werden. Die kosakischen „Sondertruppen“ allein konnten den Zarismus nicht retten und versuchten es im Frühjahr 1917 erst gar nicht.

Der alte zaristische Gewaltapparat war durch die Februarrevolution weitgehend beseitigt worden und löste sich in den folgenden Monaten vollständig auf. Die Grundlage der neuen Macht bildeten die Bajonette der Bauernarmee. (Welch fundamentaler Gegensatz zu der deutschen Novemberrevolution 1918, in der die Sozialdemokratie den preußisch-deutschen Beamtenstaat und das Fundament der junkerlichen Armee vor der Revolution „rettete“.)1 Die sich ablösenden „Provisorischen Regierungen“ Russlands hatten keinen intakten zaristischen Staatsapparat als Grundlage ihrer Macht „geerbt“, sondern als Fundament ihrer Legitimation nur die Sowjets, die die bewaffnete Macht der vom Kleinbürgertum dominierten Bauernregimenter verkörperten. Ohne Staatsapparat lässt sich aber schlecht „herrschen“, und die Schwäche der Provisorischen Regierungen war allgemein bekannt. Für den weiteren Verlauf der Revolution 1917 war dies von entscheidender Bedeutung (wie umgekehrt die sozialdemokratische „Rettung“ des preußischen Militär- und Junkerstaats ein Jahr später in Deutschland den Sieg der Konterrevolution sicherte).

Wie sah es mit der Staatsmacht nach der bolschewistischen Machteroberung aus? Konnte das historische Erbe des agrarisch geprägten Flächenstaates (keine ausreichende staatliche Verwaltung) durch die „bolschewistische Diktatur“ überwunden werden?

Dennoch blieb auch der bolschewistische Staat in vieler Hinsicht ’schwach‘. Seine Fähigkeit, den Bauern die zur Industrialisierung benötigten Ressourcen abzuringen, blieb begrenzt, und auf das Land hatte die Regierung nur wenig Einfluss. Wenn ein Staat stark genannt werden darf, der sich auf eine reibungslos funktionierende Bürokratie und eingeschliffene Verfahrensweisen der Regierung verlassen kann, dann war der Staat der Bolschewiki schwach …“ (S. 433)

Nicht anders schildert Helmut Altrichter in seiner Habilitationsschrift „Die Bauern von Tver“ die Situation auf dem Dorf, wo ja noch immer die große Masse der russischen Bevölkerung lebte: „Das flache Land blieb von den Vorgängen in Petrograd … unberührt. … An die Ausweitung der Rätebildung aufs Dorf ‚von oben‘ war nicht zu denken, dafür fehlten alle Voraussetzungen: neben den geeigneten Kandidaten, die Macht und die Argumente, um die Bauern von der Notwendigkeit der neuen Institution zu überzeugen. Weiterhin entschieden Dorfversammlung (schod) und Dorfältester (starosta) alle wichtigen, das Gemeinwesen berührenden Fragen. … Was sich auf dem Dorf wirklich änderte, waren Tempo und Ausmaß der Enteignungen.“2

Die „bolschewistische Diktatur“ war in ihrem ersten Jahrzehnt eine städtische Herrschaft. Sie auf das Land auszudehnen, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebte, war nach der Revolution in den 20er Jahren nur sporadisch und nur für kurze Zeit mit bewaffneten Trupps von Arbeitern möglich. Zogen die bewaffneten Trupps ab, übernahm die Dorfversammlung wieder das Zepter. Ein „starker Staat“ sieht anders aus. Erst mit der Kollektivierung bekam der Staatsapparat Einfluss auf den agrarisch geprägten Teil Russlands.

Bauernschaft

Kommen wir nun zur Bauernschaft, jenen 80 Prozent der russischen Bevölkerung, die allein auf Grund ihrer Masse das Schicksal der Revolution entscheiden mussten. Wie war ihre gesellschaftliche Verfasstheit und wie war sie politisch organisiert?

„An der Wende zum 20. Jahrhundert waren etwa drei Viertel des in bäuerlichem Besitz befindlichen Landes, darunter fast die Hälfte des Ackerlands, einer einzigartigen Form von Verwaltung unterworfen, in der die Haushaltsvorstände das der Gemeinschaft gehörende Ackerland periodisch neu unter die betreffenden Haushalte aufteilten. Des Weiteren entschied diese Dorfversammlung darüber, wann die Haushalte pflügen, säen, ernten oder Heu machten sollten. Solche Art von kollektiver Kontrolle hatte den Zweck, unwägbare Umweltrisiken zu minimieren und dafür zu sorgen, dass die Armen nicht zur Belastung wurden. Die Dorfversammlung war auch für die Steuerzahlung der Haushalte verantwortlich und musste Recht und Ordnung aufrechterhalten.

1905 verfügten in den 46 Provinzen des europäischen Teils von Russland 8,68 Millionen Haushalte über Land, das formell der kommunalen Neuaufteilung unterstand, während 2,3 Millionen über Landbesitz auf erblicher Basis verfügten (das also vom Vater auf den Sohn überging). … Im Baltikum gab es keine derartigen Dorfgemeinschaften, und in der Ukraine herrschte die Erbfolge vor.“ (S. 37f)

Bemerkenswert sind hier zwei Dinge. Zum einen die regionalen Unterschiede der bäuerlichen Besitzverhältnisse. Das Baltikum mit seinen adligen Gutswirtschaften hatte ebenso – wie die im west- und mitteleuropäischen Sinne bäuerlich geprägte Ukraine und die Kosakenregionen – andere Eigentumsrechte am Ackerland als der weit überwiegende Teil der russischen Bauernschaft. Die regionalen Unterschiede agrarischer Besitzverhältnisse spiegelten sich auch in den politischen und militärischen Frontbildungen während der Revolution und des Bürgerkrieges wider. Dreiviertel des bäuerlichen Landes im Zentrum Russlands, die große Masse also, waren Obcina-Land und unterlagen in gewissen Zeitabständen einer Umteilung der Ackerlandes, während der Boden im Besitz der Dorfgemeinde verblieb.

Wie wirkte sich diese Umteilung des genutzten Ackerbodens nun auf die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft und die Herausbildung und Verfestigung von Klassengegensätzen innerhalb der Obcina-Bauernschaft aus? Das war die Frage, die die Marxisten in ihrer Auseinandersetzung mit den Volkstümlern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bewegte. Die Antwort der Marxisten und hier allen voran Lenins war, dass der Kapitalismus sich in der Dorfgemeinde entwickeln und dieselbe sich deshalb in Kulaken, Mittelbauern, arme Bauern und Landarbeiter aufspalten würde.

Einige Zeitgenossen waren davon überzeugt, dass sich die Bauern in dem Maße, wie der Kapitalismus sich auf dem Lande entwickelte, zu Klassen schichteten. Soziale Ungleichheit war typisch für das Dorfleben. Zur Jahrhundertwende erstellte Statistiken besagten, dass 17 bis 18 Prozent der Haushalte … als wohlhabend eingestuft werden konnten, was besagt, dass sie über genügend Landbesitz sowie Nutzvieh, Maschinen und Geld in einer Sparkasse verfügten. Am unteren Ende der Skala besaßen 11 Prozent der Bauernschaft kein Ackerland oder Nutzvieh. Diejenigen Personen, die die Bauern ‚Kulaken‘ (deutsch: Fäuste) nannten, wurden gewöhnlich nicht nach der von ihnen bewirtschafteten Fläche an Land bemessen, sondern mittels der Tatsache, dass sie Geld, Gerätschaften oder Zugtiere, Läden oder Mühlen besaßen.
Einige Historiker führen an, dass solche Statistiken soziale Prozesse, in denen die Lebensumstände individueller Haushalte sich bald zum Schlechteren, bald zum besseren hin verändern, zeitlich stillstellen. Sie behaupten, die Wohlhabenheit von Haushalten sei durch Arbeit, nicht durch Landbesitz bestimmt worden. Wohlhabende Haushalte hätten einfach über mehr arbeitende Mitglieder verfügt. Sobald jedoch erwachsene Söhne ihren eigenen Haushalt errichteten, sei das Vermögen des elterlichen Haushalts geringer geworden. Dieser Auffassung zufolge wurde der Hang zur sozialen Differenzierung durch die Teilung der Haushalte und die periodische Neuaufteilung des Ackerlands durch die Gemeinschaft wieder aufgehoben.“ (S. 42f)

Smith stellt hier die beiden gegensätzlichen Theorien zur Entwicklung der russischen Dorfgemeinde vor. Die erste ist unschwer als Position der russischen – und insoweit sie sich dazu äußerten, auch der westeuropäischen – Marxisten (Kautsky) zu erkennen. Für Lenin war das Bündnis mit den landarmen Bauern und den Landarbeitern (für die er 1917 fortwährend eine eigenständige Sowjetorganisation forderte, 1918 die Komitees der Dorfarmut per Gesetz verordnete – und beide Male scheiterte) wesentlich für das klassenpolitische Fundament seiner Aprilthesen. Gerade dieses Bündnis sollte die Tür zum Sozialismus aufstoßen.

Was nun, wenn es diese Klassenspaltung im Dorf gar nicht gab? Wenn das Umteilungs-Dorf zwar sozial differenziert, aber keineswegs in antagonistischen Klassen zerfallen war, wie es die zweite von Smith geschilderte Position behauptet? Die Mehrheit der bürgerlichen Historiker in Deutschland, die sich mit der russischen Dorfgemeinde beschäftigt haben, beziehen inzwischen diese zweite Position. So etwa Carsten Goehrke in seiner dreibändigen Geschichte des russischen Alltags,3 Hans-Heinrich Nolte in seiner „Kleinen Geschichte Russlands“4 oder Manfred Hildermeier in seiner „Geschichte Russlands“.5 Diese unterschiedlichen Vorstellungen zur Entwicklung der sozialen Differenzen in der russischen Dorfgemeinde anzusprechen und damit den Leser auf die Problematik der inneren Entwicklung der Dorfgemeinde hinzuweisen, ist eine Stärke dieser Veröffentlichung. Bei den meisten linken deutschen Historikern wird dieses Problem, trotz seiner Bedeutung für den Verlauf der Revolution und der Beurteilung der Leninschen Politik, schlichtweg ignoriert.

Adel und Landadel

Im Gegensatz zu der gängigen marxistischen Geschichtsschreibung war die Bedeutung des Adels in der Revolution gering. Für den Landadel bedeutete die Bauernbefreiung von 1861 einen grundlegenden Bruch, denn das Ende der Leibeigenschaft zerstörte die bisherige sozialökonomische Basis seiner Lebensweise. Obwohl der Adel bei der Reform von 1861 „ein gutes Geschäft gemacht hatte“, nahm sein Landbesitz während des folgenden halben Jahrhunderts rapide ab. In den Jahrzehnten nach 1861 änderte der Adel seine Gestalt so weitgehend und differenzierte sich in einem Maße, dass man am Vorabend der Revolution nicht mehr von einer Klasse sprechen konnte.

„Obwohl der Adel bei der Emanzipation der Leibeigenen ein gutes Geschäft gemacht hatte, nahm sein Vermögen während des folgenden halben Jahrhunderts rapide ab. 1917 gab es etwa 100.000 Familien mit Landbesitz, von denen ca. 61.000 dem Landadel angehörten. Diese Grundbesitzer hatten ungefähr die Hälfte des Landes, das sie zur Zeit der Emanzipation besaßen, verloren … Die Besitzungen des Landadels waren größenmäßig höchst unterschiedlich: Es gab einige sehr große Domänen, doch mehr als 60.000 Familien besaßen weniger als 145 Hektar. Zudem waren zwar manche Großgrundbesitzer zu kapitalistisch produzierenden Landwirten geworden, doch war das durchschnittliche Adelsgut … unterkapitalisiert …. Bezeichnenderweise war um 1903 fast die Hälfte des Landes der landbesitzenden Klasse an Bauern verpachtet, und einige Bauern hatten Kredite von ihrer Bank aufgenommen, um dem Adel Land abzukaufen. Wie erwähnt, betätigten sich die liberalen Angehörigen des Adels während der 1890er Jahre und bis 1905 in den Semstwos, aber der zunehmend urbane Lebensstil einer großen Anzahl von ihnen und das nachlassende Interesse an der Verwaltung ihrer Güter untergrub ihr Ansehen in der ländlichen Gesellschaft.“ (S.  44f)

Politisch folgte der noch verbliebene alte Großgrundbesitz – eine dreistellige Zahl von Adelsfamilien – der politischen Reaktion und war eine Stütze des Zarismus, während eine Mehrheit des verbliebenen Landadels die ländliche Basis der bürgerlichen Kadettenpartei bildete.

Die Mehrzahl der Adeligen diente im zaristischen Staatsapparat und in der Armee. Von der ehemals den zaristischen Staat tragenden Stütze war der Adel auf dem Land durch die Reformen von 1861 entweder zu einem „kapitalistisch produzierenden Landwirt“ und somit Bestandteil der liberalen Opposition gegen den Zarismus geworden, oder in der Stadt zu einem “Freiberufler“ oder Staatsangestellten. Die Enteignung der Landbesitzer durch die Dorfgemeinde geschah überwiegend unblutig, da es 1917 keine Staatsmacht mehr gab, um seine Eigentumstitel zu verteidigen.

Industriekapital / Handelskapital

Etwas komplexer stellt sich die Situation beim russischen Kapital dar. Diese Klasse, die in der marxistischen Geschichtsschreibung spätestens seit März 1917 im Besitz der politischen Macht ist,6 erweist sich bei näherer Betrachtung als schwach entwickelt und politisch zersplittert.

„1913 machte ausländisches Kapital etwa 41 Prozent der in der Industrie und Bankwesen getätigten Gesamtinvestitionen aus. Eine mögliche Sorgenquelle war das Ausmaß des Handelsvolumens mit Deutschland, das sich per Valuta auf etwa 40 Prozent des gesamten Außenhandels belief. Die staatlich geförderte Industrialisierung wurde finanziell durch den Getreideexport abgesichert …
Jedoch sollte man bei der zweifellos wichtigen Rolle des Staates nicht vergessen, dass die russische Industrie über einen robusten Privatsektor verfügte. Die Industrieproduktion wurde von Konsumgütern beherrscht, wobei Textilien und Lebensmittel 1914 etwa die Hälfte des Bruttoausstoßes ausmachten.“ (S. 47)

„Die Textilfabrikanten in der Moskauer Industrieregion bildeten den einflussreichsten Sektor der einheimischen Kapitalisten; sie waren in der Führung ihrer Betriebe eher konservativ und paternalistisch. Viele entstammten einer Familie von Altgläubigen. Anders als die Eisen- und Stahlfabrikanten waren sie nicht von staatlichen Aufträgen abhängig und unterstützten nach 1905 die Forderung nach politischen Reformen.“ (Anders die überwiegend deutschen Textilfabrikanten in Russisch-Polen, die dem Zarismus anhingen) (S. 49)
„Die entscheidenden Sektoren der Schwerindustrie und des Transportwesens hingen von staatlichen Aufträgen, Subventionen und Vorzugszöllen ab, weshalb die Unternehmer,
die oftmals Ausländer waren, hier kaum mehr taten, als sich über bürokratische Kontrollen zu beschweren.
In St. Petersburg waren die Besitzer der Fabriken für Metallverarbeitung und Maschinenbau zusammen mit den Großbankiers recht gut organisiert, vor allem um ihren Einfluss auf Regierungskreise bemüht, statt politische Reformen oder die Modernisierung der Produktionsverhältnisse zu unterstützen. …
Im Allgemeinen waren die Industriellen von Südrussland7 (wie sie sich selbst nannten) damit zufrieden, Verhältnisse zu tolerieren, die bestenfalls paternalistisch und schlimmstenfalls mehr als raubeinig waren. Für politische Reformen waren sie nicht zu haben.“ (S. 49-50)

Zusammengefasst ist festzustellen, dass die russische Bourgeoisie nicht nur zahlenmäßig schwach entwickelt, sondern auch in unterschiedliche politische Lager gespalten war. Während der schwerindustrielle Sektor von staatlichen Aufträgen abhängig und konsequent zaristisch eingestellt war, entwickelte die Leichtindustrie (Textilindustrie) zu Beginn des 20. Jahrhunderts entweder oppositionelle oder oktobristische Positionen,8 während der liberale Landadel und die Freien Berufe der Städte die Basis der Kadetten bildeten, der einflussreichsten bürgerlichen Partei. In diesem Zustand konnte die Bourgeoisie unmöglich zur führenden Kraft des Revolutionsjahres werden.

Arbeiterschaft

Hier gilt es die Frage zu beantworten, wie ein so zahlenmäßig schwacher Teil der Gesamtbevölkerung in den russischen Revolutionen eine so bedeutende, ja letztendlich entscheidende Rolle spielen konnte.

Im europäischen Teil waren etwa 58 Prozent der Industriearbeiter in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitern beschäftigt; das war ein viel höherer Konzentrationsgrad als in Westeuropa, und das erklärt auch, warum es verhältnismäßig einfach war, diese Arbeiter für Streiks und Demonstrationen zu mobilisieren. … Bereits 1897 waren die Hälfte aller männlichen urbanen Arbeiter und zwei Drittel aller Metallarbeiter alphabetisiert.“ (S. 53)

Das russische Proletariat war nicht wie im Westen Europas aus der Handwerkerschaft entstanden, sondern direkt aus der Bauernschaft, und es besaß zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer enge Bindungen an das Dorf. Bis zur Agrarreform 1906 war fast jeder städtische Arbeiter noch Mitglied der Dorfgemeinde und hatte dort Anspruch auf ein Stück Land. Zugleich war es in den russischen Metropolen in Großbetrieben konzentriert, was nicht nur zu einer schnelleren Radikalisierung beitrug, sondern ihm ein deutlich stärkeres politisches Gewicht verlieh, als es zahlenmäßig zu erwarten war.

Weiterhin war es als Ergebnis staatlicher und ausländischer Investitionen in wenigen industriellen Zentren und dort wiederum in Großbetrieben konzentriert; über die Hälfte der Arbeiter arbeitete in Betrieben von mehr als 500 Personen. Obwohl es mit 3-4 Mio. nur eine absolute Minderheit der zwischen 165 und 175 Mio. zählenden Bevölkerung Russlands ausmachte, war es durch seine Ballung in den politischen und industriellen Zentren (in erster Linie Petersburg und Moskau) ein wesentlicher politischer Faktor.

„Gerade das enge Verhältnis der Regierung zu den Arbeitgebern verhinderte die Trennung ökonomischer von politischen Konflikten, die im Westen vorherrschte und die Integration der Arbeiterschaft in das kapitalistische System erleichterte. In Russland aber sah es so aus, dass Staat und Kapital einen Gesamtmechanismus von Ausbeutung und Herrschaft darstellten.
… die Kombination der elementaren Energie der bäuerlichen gewalttätigen Empörung (russisch blunt) mit den tagtäglich frustrierenden Mechanismen kollektiver Arbeitsorganisation war hochexplosiv. … Nirgendwo in Europa war die Intensität der Streikbewegung so hoch: In den Hochzeiten, den Jahren 1905/06 und 1912/14 waren durchschnittlich pro Jahr fast dreiviertel der Industriearbeiter an Streiks beteiligt.“ (S.88f)

Obige kurze Zusammenfassung der Smithschen Darstellung liefert einen schlüssigen Erklärungsansatz für die politische Sprengkraft, die das russische Proletariat, trotz seiner auf die Gesamtbevölkerung bezogenen geringen Anzahl, in der russischen Revolution entfalten konnte.

Februarrevolution, Sowjets, Bolschewiki und Oktoberumsturz

Soweit zu den staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen und den damit in Russland tatsächlich vorhandenen Klassenkräften. Kommen wir nun zu den Revolutionen im Februar und Oktober. Wie stellt Smith sie dar?

„Am 23. Februar 1917, dem internationalen Frauentag, füllten tausende von Textilarbeiterinnen und Hausfrauen die Straßen von Petrograd, um gegen die Brotknappheit zu demonstrieren. Die Kundgebung fand einen Tag nach der Aussperrung der Arbeiter aus den riesigen Putilow-Fabriken (ca. 30 000) statt. So schlossen sich viele Arbeiter den Frauen an … Keine der revolutionären Parteien hegte die Erwartung, dass sich daraus eine Kette von Ereignissen entwickeln würde, die schon bald zur Abdankung des Zaren führen sollte.“ (S. 121) Auf den folgenden Seiten folgt dann eine kurze Darstellung der Ereignisse, die im Überlaufen der Armeeregimenter und dem Sieg der Revolution gipfelt. Doch wie ist diese Revolution einzuschätzen?

Doch war von Anbeginn der Charakter der Revolution umstritten. War es eine politische Revolution, die zugunsten der Demokratie die Autokratie beseitigt hatte, die aber an der Seite der Alliierten den Krieg fortsetzen würde? Oder war es eine Revolution, die die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen Russlands gründlich umkrempeln würde? Viele Generäle und Duma-Politiker hatten den Umsturz der Autokratie nur deshalb unterstützt, weil sie sich davon eine Neubelebung der Kriegsanstrengungen erhofften. Die unteren Klassen jedoch begriffen Freiheit und Demokratie nicht nur als Grundsätze für die Neugestaltung der Regierung, sondern auch als Leitmotive für den Aufbau eines neuen Gesellschaftstyps.“ (S. 124)

Die Februarrevolution ließ diese Fragen offen. Und die Mehrzahl der handelnden Politiker taten dasselbe. Nur Gutschkow und Miljukow, die führenden Köpfe der Oktobristen und Kadetten, versuchten hartnäckig, den Zarismus in eine konstitutionelle Monarchie hinüberzuretten.9 Die Fragen von Krieg und Frieden, der notwendigen Agrarreform und der zukünftigen Staatsform blieben ungelöst und wurden auf eine zukünftige „Konstituierende Versammlung“ verschoben.

Die politische Stimmung der Arbeiterklasse

Was kann man über die politische Stimmung der Arbeiterklasse zu diesem Zeitpunkt sagen?

„Die starke Zunahme von Arbeitskämpfen lässt vermuten, dass Millionen von Arbeitern revolutionär gestimmt waren, aber die Internationalisten räumten ein, dass sich die Stimmung genauer als ‚revolutionär-defentistisch‘ beschreiben lasse. Revolutionär war sie insofern, als große Teile der Arbeiterschaft der Autokratie und den Kriegsprofiteuren höchst feindselig gesonnen waren; defentistisch indes, weil kein Bedürfnis bestand, die russischen Armeen im Kampf gegen Deutschland untergehen zu sehen, auch wenn sie das Ende des Krieges verzweifelt herbeisehnten.“ (S. 119) Dies trifft ebenso auf die politische Stimmung der Bauernschaft und damit auf die Armee zu.

Die sich in der Februarrevolution neu bildenden Sowjets, diesmal als Arbeiter- und Soldatensowjets, später stoßen auch noch Bauernsowjets hinzu, spiegeln diese politischen Stimmungen wider und stehen damit unter der politischen Führung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Insofern fällt es schwer davon zu sprechen, dass die Februarrevolution bereits „eine Revolution für den Frieden“ war.

„Im Februar 1917 wurden an die 700 Sowjets mit insgesamt 200.000 Delegierten als Repräsentanten der arbeitenden Bevölkerung ins Leben gerufen. Im Oktober gab es im gesamten Reich bereits 1429 Sowjets: Bei 706 waren die Delegierten Arbeiter und Soldaten, bei 235 waren es Arbeiter, Soldaten und Bauern, bei 455 nur Bauern und bei 33 nur Soldaten. Schätzungen zufolge repräsentierten die Sowjets etwa ein Drittel der Bevölkerung des russischen Reiches.
Generell sahen Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Sowjets als zeitlich begrenzte Körperschaft mit der Aufgabe, im Interesse der revolutionären Demokratie ‚Kontrolle‘ über die lokalen Regierungsorgane auszuüben. … De facto aber wurden die Sowjets rasch zu lokalen Regierungsorganen … und (die) dabei zumeist mit den demokratisierten Organen der lokalen Regierung konkurrierten.“ (S. 128f
) Was diese Aufzählung deutlich macht, ist die massive bäuerliche Präsenz (als Soldaten wie auch als Bauern) in den Sowjets. Sie bestimmte das politische Gesicht der Sowjets bis zum Bodendekret und der Armeeauflösung, sie bildete die Grundlage für die Vorherrschaft der Sozialrevolutionären Partei im Bündnis mit den rechten Menschewiki in den Sowjetorganen.

Jenseits des Sowjets, der sich als Lager der Demokratie verstand, sozusagen auf der anderen Klassenseite, stand die 1. Provisorische Regierung, die sich aus bürgerlichen Duma-Abgeordneten rekrutierte, aber keine vom Sowjet unabhängige eigenständige Machtbasis besaß. „Die Provisorische Regierung wiederum, die sich der schmalen Basis ihres gesellschaftlichen Fundaments und des fehlenden demokratischen Mandats wohl bewusst war, versuchte, Vertreter der sozialistischen Parteien zum Eintritt in die Regierung zu bewegen. Doch nur Kerenski kam dem Ansinnen nach. So entstand die ‚Doppelherrschaft‘, ein institutionelles Arrangement, bei dem die Provisorische Regierung formelle Autorität genoss, während die wirkliche Macht in den Händen des Exekutivkomitees des Sowjets lag, weil es die Unterstützung der Garnisonstruppen und des Großteils der Stadtbevölkerung genoss, und durch seinen Einfluss auf die Eisenbahnarbeiter die Transport- und Verkehrswege kontrollieren konnte.“ (Was fehlt in der Aufzählung, sind die Frontkomitees, die ebenfalls als Folge der Februarrevolution und dem Befehl Nr. 1 des Sowjets zu den demokratischen Rechten der Soldaten entstanden; A.S.)

„Außerhalb der Hauptstadt gab es so gut wie keine Doppelherrschaft“ – stattdessen spontan gebildete Komitees unterschiedlicher Zusammensetzung. … „Die Provisorische Regierung (war) entschlossen, ihre Autorität durch die Ernennung von Kommissaren durchzusetzen, die zumeist Vorsitzende der örtlichen Semstwos waren und somit die Interessen von Grundbesitzern und Geschäftsleuten vertraten.“ (S. 126-128) Was ihr allerdings nicht gelang, da die sich bildenden Sowjets oder örtlichen Komitees rasch zu tatsächlichen lokalen Verwaltungsorganen wurden.

Bolschewiki

„In der zweiten Hälfte des Jahres 1914 waren die Bolschewiki durch Verhaftungen und Einberufungen dezimiert. Ab 1916 fassten sie wieder Fuß, doch am Vorabend der Februarrevolution gab es im Land vielleicht nicht mehr als 12 000 Bolschewiki.“ (S. 119) Eine führende Rolle der Partei ist für die Februarrevolution nicht nachweisbar. Die Bolschewiki besaßen im Februar weder eine gemeinsame politische Linie, noch hatten sie die Mehrheit des Proletariats in den beiden Hauptstädten hinter sich.

„Vor seiner (Lenins) Rückkunft waren die Bolschewiki politisch uneins gewesen. In Petrograd gab es drei verschiedene Parteizentren, die sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnten. Nachdem Lew Kamenew und Josef Stalin aus dem sibirischen Exil zurückgekehrt waren, hatte sich die Partei auf begrenzte Unterstützung für die Provisorische Regierung, auf eine revolutionär-defentistische Haltung zum Krieg und auf Verhandlungen mit den Menschewiki zur Wiedervereinigung der SDAPR festgelegt. In seinen ‚Aprilthesen‘ (eigentlicher Titel: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution), die Lenin einer weitgehend mit Unverständnis reagierenden Partei vortrug, verurteilte er diese drei Festlegungen, indem er darauf beharrte, das es ‚für eine Regierung von Kapitalisten und Grundbesitzern‘ keine Unterstützung geben könne, dass der Charakter des Kriegs sich nicht um ein Jota verändert habe und dass die Bolschewiki für eine Übertragung der Macht auf ein den ganzen Staat erfassendes System von Sowjets eintreten sollten.“ (S. 134)

Zu dem immer wieder aufgestellten Behauptungen zum „Deutsche Gold“, das die russische Revolution finanziert habe, bemerkt Smith: „Trotz aller damaligen und bis heute währenden Anschuldigungen gibt es keinen Beweis dafür, dass die Bolschewiki von den Deutschen bezahlt wurden.“ (S. 131) Dafür, dass einige Linke diese Anschuldigung teilen (z. B. Stefan Bollinger) und die bürgerliche Geschichtsschreibung von diesem Thema nicht lassen kann, ist diese Stellungnahme eines „Kenners der russischen Revolution“ umso bemerkenswerter.

Um Smith‘ Buch nicht detailliert nachzuerzählen, verzichten wir auf seine weitere Darstellung der Ereignisse 1917 sowie seine ausführliche Behandlung der Neuen ökonomischen Politik. Hier verweisen wir den am Thema interessierten Leser auf das Buch selbst. Wir schließen die Vorstellung dieser Veröffentlichung mit seiner durchaus lapidaren Beschreibung der Oktoberrevolution.

Die bolschewistische Machtergreifung wird oft als konspirativer Putsch gegen eine demokratische Regierung interpretiert. Zweifellos besaß sie Merkmale eines Putsches, doch Ankündigungen hatte es zuvor schon gegeben, und die gestürzte Regierung war nicht demokratisch gewählt worden.“ (Ein Aspekt, den die bürgerlichen Historiker gerne vergessen. Die einzige Legitimation der Provisorischen Regierungen war ihre Duldung durch den Sowjet. Und die letzte Kerenski-Regierung besaß selbst die nicht mehr; A.S.) „Es ist bemerkenswert, dass nur wenige Offiziere bereit waren, der Regierung zur Hilfe zu kommen … Im Wesentlichen aber war der Provisorischen Regierung schon die Luft ausgegangen, bevor die Bolschewiki ihr das Ende bereiteten.“ (S. 177) Oder wie wir es formulierten: „Es reichte völlig aus, sie zu verhaften, da sie über keinerlei reale Macht verfügte.“10

Soweit die Vorstellung von Stephen A. Smiths neuem Buch zur „Revolution in Russland“, aus dem der Leser wichtige Hinweise auf die historischen Besonderheiten Russlands (schwacher Staat) sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse und Klassenkräfte auf dem heutigen Stand der bürgerlichen Wissenschaft gewinnen kann.

Im folgenden Teil werden wir die Publikationen von (alphabetisch geordnet) Stefan Bollinger, Michael Brie, Frank Deppe, Wladislaw Hedeler und Joachim Hösler besprechen und dabei versuchen, ihre Interpretationsversuche der russischen Revolutionen und der bolschewistischen Politik (soweit behandelt) dem Leser vorzustellen.

1 Hierzu der Artikel von H.Karuscheit in dieser AzD-Ausgabe sowie ders.: Die SPD und der ‚Junkerstaat‘; in: Karuscheit/ Sauer/ Wernecke: Vom ‚Kriegssozialismus‘ zur Novemberrevolution; VSA: Hamburg 2018

2 Helmut Altrichter: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, R. Oldenburg: München 1984, S. 32-33

3 „Doch schon Teodor Shanin hat darauf aufmerksam gemacht, dass man es bei der sozialen Differenzierung auf dem russischen Dorf nicht mit einer linearen, sondern mit einer zyklischen Entwicklung zu tun hat, die ganz wesentlich durch das generative Verhalten gesteuert wurde (‚zyklische Mobilität‘). Weil die Landzuteilung an die Haushaltungen durch den Mir auf die Anzahl männlicher Personen abstellte, gerieten Ehepaare, denen nur Töchter beschert waren, bei der nächsten Landumteilung rasch auf den absteigenden Ast. Das Fehlen männlicher Arbeitskräfte, chronische Krankheiten, Start in den Haushalt ohne zureichende Betriebsmittel und Familienzwistigkeiten bildeten daher in dieser Reihenfolge die wichtigsten Ursachen dafür, dass ein Hof in das arme Drittel einer Dorfgemeinde absinken konnte. Umgekehrt sorgte das Landumteilungsverfahren aber auch wieder dafür, dass jedes junge Ehepaar, das seine eigene Wirtschaft eröffnete, zum Start in die Lebenslotterie mit relativ gleichen Chancen entlassen wurde – vorausgesetzt, es blieb von Krankheiten und Söhnelosigkeit verschont. In der Tat haben Längsschnittstudien aufgezeigt, dass über mehrere Generationen hinweg die meisten wohl situierten Bauernfamilien ihren Status nicht halten konnten.“ (Carsten Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 2. Auf dem Weg in die Moderne, Cronos-Verlag: Zürich 2003, S. 242-243)

4 „Die Obschtschiny umfassten besonders in Kernrussland nur kleine Siedlungen mit zehn, zwölf Höfen. Auf dieser Ebene fällte die Dorfversammlung, der Schod, die zum Leben wichtigen Entscheidungen über Umverteilung und Flurzwang. Hier war jeder Nachbar ja oft Verwandter. Aus der Umverteilung des Landes folgte, dass Armut und Reichtum weithin zyklischen Charakter hatten; wer viele Kinder hatte, bekam viel Land und sammelte ‚Produktionsmittel‘ an – ein Pferd, einen modernen Pflug. Dies galt nur, wenn Mann und Frau gesund blieben – lange Krankheit brachte einer Familie den Ruin.“ (Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Rußlands, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, S. 186-187

5 Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands, München 2013, S. 1178 ff. Kurz dargestellt in: Schröder/ Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917; VSA: Hamburg 1917, S. 46 ff

6 Engels unterstellt der russischen Bourgeoisie, bereits in den 90er Jahren den zaristischen Staat in der Hand zu haben. Das eine ist klar: Unter solchen Umständen (Staatsverschuldung des zaristischen Staates in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts; A.S.) hat die junge russische Bourgeoisie den Staat vollkommen in der Gewalt. In allen wichtigen ökonomischen Fragen muss er ihr zu Willen sein. Wenn sie sich inzwischen die despotische Selbstherrlichkeit des Zaren und seiner Beamten noch gefallen lässt, so nur, weil diese Selbstherrlichkeit, ohnehin gemildert durch die Begehrlichkeit der Bürokratie, ihr mehr Garantien bietet als Veränderungen selbst im bürgerlich-liberalen Sinn, deren Folgen, bei der inneren Lage Russlands, niemand absehen kann. Damit geht die Umwandlung des Landes in ein kapitalistisch-industrielles, die Proletarisierung eines großen Teils der Bauern und der Verfall der alten kommunistischen Gemeinde in immer rascherem Tempo voran.“ (Engels 1894, MEW Bd. 22, S. 435)

7 Gemeint ist das Donezbecken

8 Oktobristisch: auf dem Boden des Oktober-Manifestes des Zaren von 1905 stehend

9 Siehe dazu: Schröder/Karuscheit: Das Jahr 1917; VSA: Hamburg 2017, S. 38 ff

10 AzD Nr. 86, S. 38