5. Abbau der Standesschranken und Aufstiegschancen

Durch den wirtschaftlichen Aufschwung und die geschickte Klassenpolitik gewann der Nationalsozialismus die große Mehrheit der Bevölkerung aus allen Klassen. Viele gerieten in dieser Zeit in eine Aufbruchsstimmung. Neben der Politik der sozialen Zugeständnisse gelang es der NSDAP, durch den Ausbau des Sozialstaates und neue Aufstiegschancen die Illusion von der Volksgemeinschaft weiter zu nähren.

Die neue soziale Mobilität

Grundlage blieb auch nach der Machtübernahme die Bismarcksche Sozialgesetzgebung und die Arbeitslosenversicherung der Weimarer Republik. Der Sozialstaat wurde von den Nazis keinesfalls zerschlagen, sondern weiter ausgebaut. Nach der Einbeziehung der Handwerker in die Sozialkassen folgte 1937 die gründliche Sanierung der Rentenversicherungen, die am Ende der Weimarer Republik zusammenzubrechen drohten.

Der neue Schwerpunkt lag auf der Familienförderung. Das Ehestandsdarlehen wurde schon erwähnt, hinzu kam die Verlängerung der Kinderzuschläge und Waisenrente im Rahmen der Sozialversicherungen bis zum 18. Lebensjahr der Betroffenen. [154] Mit dem Winterhilfswerk wurde eine gigantische Wohlfahrtsorganisation geschaffen. Das Winterhilfswerk und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt hatten 1939 11,9 Millionen Mitglieder. Erst sammelten sie für „notleidende Volksgenossen“, später für die Versorgung der Soldaten. Kamen anfangs die Gelder armen Familien und Kindern zugute, wurden die Sammlungen später ein Mittel, um aus der Bevölkerung das Letzte für die Kriegsmobilisierung heraus zu pressen. Außerdem unterzog das Winterhilfswerk die Bürger einer weiteren politischen Kontrolle.

Beim Wohnungsbau konnte die Regierung ihre Versprechungen bei weitem nicht erfüllen. Von den 1933 versprochenen 400.000 Eigenheimsiedlungen wurden nur ganze 34.101 fertiggestellt. [155] Im Krieg kündigte Ley den Bau von 5 Millionen Wohnungen an. Das Vorhaben wurde abgebrochen, da man es für nicht realisierbar hielt. [156]

Hitler verkündete, die neue Aufgabe der Staatsführung wäre, die Voraussetzung zu schaffen, „daß die fähigsten Köpfe ohne Rücksicht auf Herkunft, Titel, Stand und Vermögen die berechtigte Bevorzugung erfahren.“ [157] Studium und Weiterbildung war in der Weimarer Republik ein Privileg der alten Elite gewesen. Das sollte sich jetzt ändern. Die Grundlage für die Umgestaltung des Bildungswesens stellte die Abschaffung der Bekenntnisschule durch die Einführung der Gemeinschaftsschule dar. Durch diese Umsetzung einer alten Forderung der Arbeiterbewegung und des liberalen Bürgertums aus der Weimarer Zeit wurde der klerikale Einfluß auf das Bildungswesen verdrängt. Die Schule wurde ganz in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt.

Da Hitler aus bündnispolitischen Gründen nicht wagte, die bürgerlichen Bildungsprivilegien zu zertrümmern, schuf er einen neuen Bildungssektor parallel zur herkömmlichen Schule. „Durch die Schulen – die Adolf-Hitler-Schulen und später die NS-Erziehungsanstalten – will ich es ermöglichen, daß auch der ärmste Junge zu jeder Stellung emporsteigen kann, falls er die Voraussetzungen dazu in sich hat“, [158] legte Hitler in seinen Tischgesprächen dar. Auf den NAPOLA‘s (Nationalpolitischen Erziehungsanstalten) wurden Arbeiter- und Kleinbürgerkinder gefördert, die später die neue Elite bilden sollten. Das verschaffte Kindern aus armen Teilen der Bevölkerung nie dagewesene Aufstiegschancen. Hitler ging es dabei nicht darum, der breiten Masse der Bevölkerung Studienmöglichkeiten zu verschaffen und das ganze Bildungswesen den Arbeiter und Bauern zu öffnen. Es sollte vielmehr eine neue Elite aus dem Kleinbürgertum gebildet werden, die fein säuberlich nach rassischen und politischen Kriterien ausgesucht wurde. Ab 1938 konnte man auch ohne Abitur studieren. Kleinbürger- und Arbeiterkinder kamen als „Langemarckstipendiaten“ an die Universitäten. Doch die „Langemarckstipendiaten“ machten 1939 nur 0,14 % der neuen Studenten aus. [159] Auch hier handelte es sich um eine kleine Minderheit. Daß die Arbeiterkinder nur 2 % der Studierenden ausmachten [160] und 9 % der Abiturienten (1938), [161] zeigt, daß eine wirkliche Öffnung des herkömmlichen Bildungssystems ausblieb. Trotzdem wurden durch die NAPOLA und andere Eliteschulen Aufstiegschancen für einige Zehntausend geschaffen, die zu treuen Nationalsozialisten erzogen wurden.

Die größten Aufstiegsmöglichkeiten entstanden durch den Aufbau des neuen Staatsapparates. Viele Deutsche stiegen aus dem Nichts zum Ortsvorsteher, SA-Führer, Bürgermeister, Offizier oder Parteifunktionär auf. Als Beispiel: Von den Oberbürgermeistern der Städte über 200.000 Einwohner von vor 1933 waren im Mai 1933 nur noch 14,3 % und in Städten über 100.000 Einwohner 17,4 % im Amt. [162] An ihre Stelle traten jetzt Parteimitglieder. Auch HJ und BDM öffneten neue Wege. Bis 1936 kam die Mehrheit der HJ-Führer aus der Arbeiterschaft, danach mehr aus dem gebildeten Mittelstand. [163]

Durch die soziale Öffnung der Armee brach die NSDAP das alte Privileg der preußischen Elite. Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Armee rekrutierte sich das Offizierskorps zu bedeutenden Teilen aus dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft.

Neben den politischen Aufstiegsmöglichkeiten veränderte sich durch den Wirtschaftsaufschwung der soziale Status vieler Deutscher. Aus vielen Landarbeitern wurden ungelernte Industriearbeiter, aus ungelernten Industriearbeitern wurden gelernte, aus Dienstmädchen wurden Angestellte usw. Die Zahl der öffentlichen und privaten Angestellten nahm Mitte der dreißiger Jahre enorm zu. „Was die Veränderungen des beruflichen Status betrifft, schätzt Bolte für die Jahre zwischen 1934 und 1939 den Aufstieg in Ostdeutschland auf 20 % und in Westdeutschland auf 30 %“der Berufstätigen. [164]

Für die Frau bedeutete die Machtübernahme des Faschismus ein großer gesellschaftlicher Rückschritt. Der Nationalsozialismus wies ihr die Rolle als Mutter zu, in der sie dem Mann zu dienen hatte und dem „Führer“ möglichst viele Kinder schenken sollte. In der neuen NS-Elite spielten die Frauen noch weniger eine Rolle als in der Weimarer Republik, in der die Arbeiterbewegung schon eine gewisse politische und ökonomische Gleichberechtigung erkämpft hatte. Damit war es jetzt vorbei. Hitler legte 1934 seine Position zur Emanzipation dar: „Das Wort von der Frauenemanzipation ist nur ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort… Die deutsche Frau braucht sich in den wirklich guten Zeiten des deutschen Lebens nie zu emanzipieren.“ [165]

Bei der Umsetzung dieser reaktionären Vorstellungen scheiterte der Nationalsozialismus zumindest in der Wirtschaft an der gesellschaftlichen Realität. Schon vor dem Krieg stieg der Anteil der Frauen in der Produktion. Absolut stieg die Zahl der berufstätigen Frauen zwischen 1933 und 1936 von 4,24 Millionen auf 4,52 Millionen und zwischen 1936 und 1938 auf 5,2 Millionen. Nach absoluten Ziffern waren 1938 1½ mal so viele Frauen in der Industrie beschäftigt wie 1933. [166] Verdrängt wurde die Frau nicht in der Industrie, sondern auch als Selbständige und Beamtin. Die weiblichen Selbständigen nahmen um 14 % und Beamtinnen um 5,5 % ab. [167] Wir haben es hier also mit dem Gegenteil der beabsichtigten Entwicklung zu tun. Eine Industrie, die immer mehr Arbeitskräfte brauchte, fragte nicht danach, ob die Ware Arbeitskraft männlich oder weiblich war. Auf Grund des Arbeitskräftemangels hätten die Nazis die Aufrüstung bremsen müssen, um die Frau an Heim und Herd zurückzubeordern. Hitler hielt den Krieg für wichtiger, die Frau konnte er auch noch später zum nationalsozialistischen Idealbild formen lassen.

Gesellschaftlich wertete der Nationalsozialismus die Frau auf und dabei gab es nicht nur Gebärprämien, sog. „Karnickelorden“. Überraschend ist, daß auch einige alte Forderungen der fortschrittlichen Frauenbewegung erfüllt wurden. Ab 1934 durften ehelose Frauen, falls gewünscht, mit Frau statt Fräulein angeredet werden. In der BRD schaffte Adenauer diese Regelung später wieder ab. Auch das Scheidungsrecht wurde liberalisiert. [168] Den Hintergrund dieser Reformen stellte die Rassenideologie der Naziführung dar. Hitler und die SS sahen die Steigerung der Geburtenrate als „Lebensfrage“ für Deutschland. Die bürgerliche und kirchliche Sexualmoral, für die die Ehe höher stand als die Vermehrung, war deshalb hinderlich. Wiederholt versuchte die SS-Führung eine gesetzliche Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern herbeizuführen. Dabei scheiterte sie aber am erbitterten Widerstand der Kirche und größerer Teile der Partei. Die Liberalisierung des Scheidungsrechts war der einzige größere Erfolg in diesen Kämpfen. [169]

Auf die Universität kamen zunächst wenig Frauen. Der Anteil der Studentinnen an den Hochschulen war mit 10 % der jährlichen Neuimmatrikulationen quotiert. Doch als während des Krieges viele Studenten an die Front mußten, füllten sich die Universitäten mit Studentinnen. Ihr Anteil stieg auf 50 % im Wintersemester 1943/44. [170] Aus leitenden Stellen im Unterrichts- und Erziehungswesen wurden Frauen allerdings verdrängt. Die Regierung verhängte sogar ein Berufsverbot für Juristinnen. Daß das kleine bißchen Frauenemanzipation im „Dritten Reich“ ungewollt war, wurde auch in Hitlers Stellung zu den Löhnen deutlich. Die Forderung der DAF „Gleicher Lohn für gleiche Leistung“ lehnte Hitler in Bezug auf die Frauen wiederholt ab.

Volksgemeinschaft und Klassengesellschaft

Neben den genannten Maßnahmen war der Reichsarbeitsdienst das zentrale Mittel zur volksgemeinschaftlichen Erziehung. Hierl, der Führer des Arbeitsdienstes, erläuterte es folgendermaßen: „Es gibt kein besseres Mittel, die soziale Zerklüftung, den Klassenhaß und den Klassenhochmut zu überwinden, als wenn der Sohn des Fabrikdirektors und der junge Fabrikarbeiter (…) im gleichen Rock bei gleicher Kost den gleichen Dienst tun als Ehrendienst für das ihnen allen gemeinsame Volk und Vaterland.“ [171] Der Arbeitsdienst stellte eine Verstärkung der Ausbeutung dar und eine Form von Zwangsarbeit. Viele Arbeiterjugendliche erfüllte es aber mit Genugtuung, daß die Bürgerkinder zum ersten Mal auch mit zupacken mußten.

RAD, NAPOLA und der soziale Aufstieg von Millionen Deutschen schien für viele die Idee der klassenübergreifenden Volksgemeinschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Trotz des Abbaus der Standesschranken blieb die Klassengesellschaft weiter bestehen. Die Kapitalisten machten die Gewinne und blieben, wenn auch mit kleinen Einschränkungen, Herr im Betrieb. Die Proletarier und Bauern wurden weiter ausgebeutet. Handwerker blieben rückständige Kleinproduzenten und die Junker adelige Großgrundbesitzer. Alle Beteiligten wußten das auch. Nur gelang es dem Nationalsozialismus, durch eine feinfühlige Politik einen stabilen Kompromiß zwischen den Klassen herbeizuführen und damit die direkte Klassenkonfrontation der Weimarer Republik zu beenden. Alle, die versuchten, den Klassenkampf in alter Form neu zu beleben, wurden brutal verfolgt und landeten im KZ. Doch die Zustimmung der breiten Massen zum neuen Regime litt darunter nicht. Mögen auch viele den Terror mißbilligt haben, in den Widerstand traten sie deswegen nicht, in dem festen Glauben, der Nationalsozialismus verwirkliche ihre unmittelbaren sozialen Interessen.