August Bebel als Vaterlandsverteidiger

Die Stellung des SPD-Parteivorsitzenden zur Kriegsfrage 1910 – 1913

Von Heiner Karuscheit

Vom September 1910 bis zu seinem Tod im August 1913 stand der SPD-Parteivorsitzende August Bebel in geheimer Verbindung mit der britischen Regierung, um diese vor einem bevorstehenden Angriff der deutschen Schlachtflotte zu warnen. 2014 ist die erweiterte Neuauflage einer Studie zu diesen Kontakten erschienen unter dem Titel „Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904-1913“.1 Neben einem ausführlichen Vorwort des Herausgebers und ergänzenden Schriftstücken enthält der dokumentarische Hauptteil den Briefwechsel und die Unterredungen Bebels mit dem britischen Generalkonsul in der Schweiz, Heinrich Angst, den er in Zürich kennen gelernt hatte, wo seine Tochter lebte und er sich seit Ende der 1890er Jahre regelmäßig aufhielt. Durch ihn ließ er seine Warnungen dem Foreign Office in London zukommen.

Die Lektüre erhellt nicht nur die Frage, wie es dazu kam, dass die SPD im August 1914 die Vaterlandsverteidigung befürworten konnte, ohne sich zu spalten. Über die Kriegsfrage hinaus geben die Äußerungen Bebels zu den Herrschaftsverhältnissen in Deutschland wie in einem Brennglas Einblick in die politische Gedankenwelt eines Mannes, der bis zu seinem Tod 1913 an der Spitze der sozialdemokratischen Arbeiterpartei stand und die Konzeption bestimmte, mit der diese in den Krieg ging.

Der befürchtete Schlachtflottenkrieg gegen Großbritannien

Gleich in seinem ersten Gespräch mit dem britischen Generalkonsul in Zürich Ende September 1910 sagte Bebel einen Krieg gegen Großbritannien voraus: „Die Katastrophe wird, glaube ich, 1912 kommen, wenn nicht früher. Preußen kann nicht hoffen, jemals in einer besseren Position für einen plötzlichen Angriff auf England zu sein, als dann, wenn die Seestreitkräfte in den modernsten Kampfeinheiten fast gleichwertig sind, während sich Englands Verteidigung zu Lande noch in chaotischem Zustand befindet.“ (Bericht Angst vom 4.Oktober 1910 an den britischen Außenminister Edward Grey über ein Gespräch mit Bebel eine Woche zuvor) Bei der Gelegenheit äußerte der SPD-Parteivorsitzende zugleich sein Unverständnis darüber, „was sich die Britischen Regierungen und das Volk dabei denken, Deutschland so nah mit seiner Flottenrüstung an sich heranschleichen zu lassen.“

Die Warnung vor einem deutschen Überfall auf Großbritannien wiederholte Bebel in der Folgezeit regelmäßig. Sie erwuchs nicht allein aus Sorge vor einem Krieg als solchem, sondern war auch den befürchteten innenpolitischen Rückwirkungen geschuldet. So prophezeite er am 2.Januar 1912, „dass die englische Flotte gleich zu Beginn geschlagen werden würde, und dann wäre das Unheil für Deutschland ebenso groß wie für England. Alle liberalen und demokratischen Institutionen in Deutschland wären für eine Generation erledigt und unsere Partei eine Zeitlang ruiniert.“ (Gespräch vom 2.Januar 1912)

Um den nach seiner Auffassung unmittelbar bevorstehenden Krieg zu verhindern, beließ er es nicht bei bloßen Warnungen, sondern forderte die britische Regierung zur Aufrüstung auf, wie sein Gewährsmann nach London übermittelte: „Herr Bebel ist der Meinung, dass es nur einen Weg gibt, aber nur einen, den ruinösen Flottenwettlauf zwischen England und Deutschland zu beenden, nämlich die Aufnahme einer überwältigenden Sonderanleihe für die Flotte durch die Regierung seiner Majestät.“ (Brief Angst an Tyrell, 1.Mai 1911) Bebel selber äußerte: „Deutschland kann einfach nicht mehr Geld als jetzt für seine Flotte ausgeben … Eine letzte, entschlossene Anstrengung von Seiten Englands, die eindeutige Vorherrschaft zur See wiederzugewinnen, wird Deutschland dazu bringen, das Handtuch zu werfen.“ (Gespräch mit Angst am 17.März 1912)

Diesen Gedanken betonte er bis zum Schluss: „Wenn die britische Regierung eine Sonderanleihe von sagen wir 40 Millionen Pfund für die Marine aufnähme, würden und könnten die Deutschen dem Beispiel nicht folgen.“ (Brief Angst an Tyrell, 18.März 1913) Die Furcht des SPD-Vorsitzenden vor der deutschen Schlachtflotte ging so weit, dass er sogar die Forderung nach einer allgemeinen Abrüstung ablehnte, weil dies dem Kaiserreich in die Hände spielen würde. (Bericht Angst an Grey, 4.Oktober 1912)

Die Reaktion der britischen Regierung

Bebels Entschluss, es nicht bei der öffentlichen Antikriegspolitik der SPD zu belassen, sondern den auswärtigen Klassenfeind insgeheim zur Aufrüstung aufzufordern, um den heimischen Klassenfeind zu bekämpfen, war zweifellos ungewöhnlich. Das Bekanntwerden dieser Verbindung nach dem 2.Weltkrieg führte bei einigen Historikern sogar zum posthumen Vorwurf des Landesverrats, obwohl die Mitteilungen nichts Geheimes enthalten, sondern wesentlich die politische Ideenwelt Bebels wiedergeben.

Doch welche Relevanz hatten Bebels Warnungen vor der deutschen Gefahr? Wie realistisch war seine Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen kaiserlicher Marine und Navy? Diese Frage beantwortete Heinrich Angst als Vertreter der britischen Interessen selber. In einem Brief an Bebel erläuterte er dem deutschen Arbeiterführer „losgelöst von allen Mätzchen und Phrasen“ die beiden Grundkonstanten der britischen Außen- und Militärpolitik, nämlich: „1) Die Übermacht der britischen Flotte, 2) Bewahrung des politischen und militärischen Gleichgewichts auf dem Kontinent.“ (Brief Angst an Bebel, 14.April 1913) Diese Axiome waren jedem außenpolitisch Interessierten in Europa geläufig. Sie ergaben sich aus der Insellage Großbritanniens und der Notwendigkeit, zwecks Beherrschung des Empire den Rücken auf dem Kontinent frei zu halten. Unabhängig davon, welche Partei die Regierung stellte, bestimmten sie die Außen- und Rüstungspolitik des Inselstaats.

Doch woher rührten dann die Befürchtungen Bebels? Hierzu bemerkte der britische Außenminister Edward Grey in einem Schreiben an Angst gleich nach der ersten Kontaktaufnahme, dass in dem gerade geführten Wahlkampf die Marinerüstung „mit einer gewissen parteipolitischen Erregung diskutiert“ worden sei. Dann fuhr er trocken fort: das „hat im Ausland dazu geführt, ihre Stärke ebenso zu unterschätzen wie das Ausmaß dessen, was getan wird, um ihre Überlegenheit zu erhalten.“ (Brief Grey an Angst, 13.10.1910) Er ließ also keinen Zweifel daran, dass London trotz zeitweise interner Differenzen an der Überlegenheit zur See festhielt und wies dezent darauf hin, dass Bebel das Wahlkampfgetöse offenbar für bare Münze genommen habe.

Im britischen Unterhaus-Wahlkampf war die deutsche Gefahr hochgespielt und wider besseres Wissen eine Gefährdung Englands behauptet worden, um angesichts zunehmender sozialer Forderungen den kostenträchtigen Ausbau der Kriegsflotte zu rechtfertigen. Durch die Auswertung der inzwischen frei gegebenen Akten weiß man mittlerweile definitiv, dass die britische Admiralität über den Stand der deutschen Marinerüstung zu jeder Zeit informiert war und die Dominanz der Navy nie in Zweifel zog.2 Außerdem hielt England nicht nur seine Kriegsmarine auf Stand, sondern realisierte auch die zweite von Angst konstatierte Maxime seiner Außenpolitik, nämlich die Vorherrschaft eines Staates auf dem Kontinent zu verhindern. Um das Kaiserreich einzudämmen, schloss es 1904 ein Bündnis mit Frankreich und 1907 eines mit Russland.

Bley als Herausgeber der Dokumente sieht in dem Vorgehen des SPD-Vorsitzenden „kein durchdachtes Konzept eines international orientierten Sozialisten“. Er weist darauf hin, dass Bebel aus dem Handwerkerflügel der liberalen Bewegung kam und offenbar nach wie vor dem Klischee des liberalen England anhing, das zu den außenpolitischen Grundannahmen des deutschen Liberalismus in der Reichsgründungszeit gehört hatte.

 

 

Interne Machtkämpfe

Nun muss zur Ehrenrettung Bebels gesagt werden, dass er nicht einfach nur den „Mätzchen und Phrasen“ des britischen Wahlkampfs auf den Leim ging. Auf deutscher Seite verfolgten die Nationalliberalen als tonangebende bürgerliche Partei zusammen mit der Marineleitung die erklärte Absicht, Deutschland für eine Auseinandersetzung mit Großbritannien hochzurüsten, um eine Weltmachtstellung mitsamt einem Kolonialreich in Mittelafrika zu erobern.

Doch wie realistisch waren diese kriegerischen Tendenzen? Zum einen ist zu konstatieren, dass es nicht gelang, die notwendige Überlegenheit zur See herzustellen und dies den Verantwortlichen auch bewusst war. Die britischen Seestreitkräfte schlossen nach Ausbruch des Weltkriegs 1914 einen Blockadering um das Reich, ohne dass man etwas dagegen unternehmen konnte. Ein Mal nur lief das Gros der deutschen Schlachtflotte aus, um sich im Skagerrak eine Seeschlacht mit der Navy zu liefern, und dieser Kampf bewies in der Praxis, was schon vorher klar war, nämlich dass die eigene Kriegsmarine nicht in der Lage war, es mit der gegnerischen Schlachtflotte aufzunehmen und die Seeherrschaft Londons zu brechen.

Abgesehen von der rüstungstechnischen Seite war die andere Frage, ob die Vertreter der Welt- und Schlachtflottenpolitik einen möglichen Krieg auch intern durchsetzen konnten. Inwieweit waren sie in der Lage, die politische und vor allem militärische Führung des Reichs für einen weltpolitischen Waffengang hinter sich zu bringen?

Der Übergang zum Imperialismus 1897 und zum Bau einer gewaltigen Schlachtschiffflotte gründete sich auf den industriellen Aufstieg des Kaiserreichs und war ein bürgerlich-liberales, von Wilhelm II unterstütztes Projekt. Das in Preußen herrschende, agrarisch fundierte Junkertum, dem das Landheer unterstand, hatte an der Weltpolitik kein Interesse. Insbesondere die kostenträchtige Schlachtflotte war für die Großagrarier stets die „grässliche, hässliche Flotte“, deren Bau sie nur deswegen zugestimmt hatten, weil im Gegenzug die Getreidezölle um das Fünffache erhöht wurden. Die Untersuchungen Eckart Kehrs, insbesondere sein Werk „Schlachtflottenbau und Parteipolitik“, haben diesen Zusammenhang in aller Gründlichkeit herausgearbeitet.3

Doch die Tolerierung des Flottenbaus bedeutete nicht, dass der Militäradel auch mit einem Krieg gegen Großbritannien einverstanden war. Aufgrund der geographischen Lage Deutschlands war ein solcher Seekrieg nicht isoliert möglich, sondern musste durch einen Landkrieg gegen das seit 1904 mit London verbündete Frankreich flankiert werden, gegebenenfalls auch gegen Russland. Klassenspezifisch ausgedrückt: die Bourgeoisie konnte einen Seekrieg gegen London nicht ohne das Landheer der Junker führen. Umgekehrt konnten die Junker sehr wohl einen Kontinentalkrieg ohne die Schlachtflotte führen – was der Krieg 1914-18 unter Beweis stellte.

Bebel selber betonte in den Besprechungen mit Angst regelmäßig die Macht des Junkertums: „Preußen zu reformieren ist unmöglich; es wird der Junkerstaat bleiben, der es zur Zeit ist“. (Gespräch vom 4.10.1910) Aber was sollte den mächtigen Militäradel dazu bewegen, mit seinem Heer kontinentalen Flankenschutz für einen weltpolitischen Krieg gegen London zu geben, der allein im Interesse der Bourgeoisie lag? Nach Bismarcks Abgang 1890 konnten die bürgerlich-liberalen Kräfte das Außenministerium übernehmen und der den Nationalliberalen nahestehende Bernhard von Bülow, der Architekt der Weltpolitik, konnte sogar Kanzler werden. Doch der bürgerliche Spielraum hatte zwei eherne Schranken: im Innern durfte die außerparlamentarische Stellung der Armee und damit die junkerliche Vormachtposition nicht angetastet werden und im Äußeren behielt sich der Militäradel die Entscheidung über die Frage von Krieg und Frieden vor.

Der unrealistische Krieg: die Marokko-Krise 1911

Diese Umstände erklären den Ablauf der Marokko-Krise 1911, die als Krieg-in-Sicht-Krise den Angelpunkt von Bebels Kontakten mit Angst bildet.4

Ihr Ursprung war der Versuch des deutschen Außenministers Kiderlen-Wächter, Frankreich zur Abtretung seiner mittelafrikanischen Kolonien an das Kaiserreich zu zwingen; im Gegenzug würden die Deutschen auf ihre seit der ersten Marokkokrise (Algeciras-Konferenz 1906) verbrieften Interessen in Nordafrika verzichten. Zur Unterstreichung der deutschen Ernsthaftigkeit ließ er den Kaiser das Kanonenboot Panther nach Agadir schicken. Da das mit Frankreich verbündete Russland erkennen ließ, dass es einen Krieg um Kolonien nicht als Bündnisfall betrachten würde, machte die französische Regierung bereits Anstalten, dem deutschen Druck nachzugeben, so dass es für eine kurze Zeit so aussah, als ob die deutsche Drohpolitik Erfolg haben würde. Doch dann trat Großbritannien auf den Plan, erklärte, dass es eine Schwächung Frankreichs nicht hinnehmen würde, und ließ zur Bekräftigung seiner Entschlossenheit die Schlachtschiffe der Navy auslaufen.

Wenn die deutsche Regierung unter Bethmann Hollweg, wie vielfach behauptet, von Anfang an auf einen Krieg zur Erlangung einer Weltmachtstellung abzielte, dann war jetzt die Gelegenheit dazu, denn die Kriegskonstellation war ideal: Weil Russland seine Neutralität signalisiert hatte, musste man keinen Zweifrontenkrieg führen, und nur gegen Frankreich hatte das preußisch-deutsche Heer größte Siegeschancen. Bei einem Sieg über Frankreich (incl. der Eroberung Belgiens) würde man die dortigen Atlantikhäfen in die Hand bekommen und damit war der Ausgang aus dem Ärmelkanal in den Atlantik frei. Als Folge wäre das Reich blockadefest und könnte umgekehrt den britischen Inselstaat von seinen transatlantischen Nachschublinien abschneiden. Der Krieg würde also höchst aussichtsreiche Bedingungen schaffen, um die Auseinandersetzung mit London um eine Weltmachtstellung siegreich zu führen.5

Doch kaum stellte die britische Regierung sich auf die Seite von Paris, trat der Reichskanzler Bethmann-Hollweg den Rückzug an und signalisierte Kompromissbereitschaft. Warum tat er das, obwohl derselbe Mann drei Jahre später in einer viel ungünstigeren Ausgangssituation durch ein hochriskantes Vabanque-Spiel einen Weltkrieg provozierte?

Zum einen entsprach ein solcher Krieg nicht dem Konzept des Kanzlers, der 1909 nach dem Sturz Bülows als Kompromisskandidat Regierungschef geworden war. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war er kein Verfechter der Weltpolitik und verfolgte gegenüber London eine Politik der Entspannung. Aber selbst wenn er gewollt hätte – wie hätte er die Kriegsentscheidung durchsetzen können? Aus den eben genannten Gründen hatte der preußische Militäradel keinerlei Interesse daran, das Heer in einen Landkrieg gegen Frankreich zu schicken, um Schützenhilfe für die weltpolitischen Ambitionen der Bourgeoisie gegen Großbritannien zu leisten. Und angesichts seiner politisch-militärischen Machtstellung war es undenkbar, einen Krieg gegen seinen Willen zu führen. Das ist der Hintergrund, vor dem Bethmann dem britischen Auftreten nachgab, trotz der wütenden Proteste der Liberalen, die ihm Feigheit und Englandfreundschaft vorwarfen und ihm bis zu seiner Entlassung 1917 nicht verziehen, dass er die Kriegsgelegenheit 1911 nicht wahrgenommen hatte.

Im Zusammenhang mit dieser Krise hielt Bebel am 11.November 1911 eine bis heute vielzitierte Antikriegsrede im Reichstag, in welcher er vor der Katastrophe eines Weltkriegs warnte und prophezeite, dass nach „dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch“ kommen würde. Nur führte der britisch-deutsche Gegensatz weder 1911 in Marokko noch später in den Krieg. Vielmehr entbrannte anstelle eines weltpolitischen Kriegs mit Großbritannien 1914 ein Kontinentalkrieg mit Russland und Frankreich, der seinem inneren Wesen nach ein Machtsicherungskrieg des Junkertums war. Die Vorgeschichte dieses Kriegs erlebte Bebel noch mit – und nahm dazu eine ganz andere Position ein als zu dem Krieg gegen Großbritannien.

Der Umschlag 1912/13

Ausgangspunkt war die Reichstagswahl 1912. In deren Vorfeld teilte Bebel dem britischen Generalkonsul seine Auffassung mit, dass wie üblich eine „Verschwörung der andern Parteien gegen uns“ stattfinden würde, „weil die bürgerlichen Parteien sich immer gegen die ‚Sozis‘ zusammenschlössen.“ (Brief Bebels an Angst vom 14. Januar und Gespräch vom 22. Januar 1912)

Die von Bebel unterstellte „Verschwörung“ besagte, dass die anderen Parteien bisher durch Wahlkreisabsprachen dafür gesorgt hatten, dass die SPD bei den Wahlen erheblich weniger Sitze erhielt als ihrem Stimmenanteil entsprach (die Wahlkreise, in denen kein Kandidat im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit erzielte, wurden durch Stichwahl entschieden). Auf diese Weise hatte die SPD bei der vorangegangenen Wahl 1907 eine schwere Wahlniederlage erlitten, weil in diesem Jahr auch die linksbürgerliche DDP bei den Absprachen mitgemacht hatte, so dass die Zahl der SPD-Abgeordneten von 81 auf 43 geschrumpft war.

Aber die Wahl 1912 unterschied sich grundlegend davon. Im Jahr 1909 war das jahrzehntelange Bündnis von Konservativen und Nationalliberalen in einem Steuerstreit um die Finanzierung der Schlachtflotte irreparabel zerbrochen.6 Das hatte zur unmittelbaren Folge, dass Bülow, der Kanzler der Weltpolitik, durch Bethmann-Hollweg ersetzt wurde. Darüber hinaus gab es keine Wahlkreisabsprachen zwischen Konservativen und Liberalen, keine „Verschwörung der anderen Parteien gegen die Sozis“ mehr, so dass 1912 ein völlig anderes Wahlergebnis zustande kam als 1907. Während Konservative und Nationalliberale schwere Mandatsverluste hinnehmen mussten, am meisten die Konservativen, eroberte die SPD mit 110 Mandaten fast ein Drittel der Reichstagssitze.

Dass Bebel nicht in der Lage war, die grundlegenden Veränderungen zu erkennen, die von dem Bündnisbruch 1909 ausgingen, hatte damit zu tun, dass er kein tieferes Verständnis der Klassenverhältnisse besaß. Er brachte es fertig, die Junker als reaktionäre Inhaber der Staatsmacht zu kritisieren – und sie im selben Atemzug derselben bürgerlichen Klasse wie die Bourgeoisie zuzurechnen. Der stattfindenden Umgruppierung der Klassenkräfte stand er verständnislos gegenüber.

Vom missglückten Staatsstreich zum Kurs auf einen Krieg

Im Gegensatz zu Bebel begriffen die Junker die Tragweite des Geschehens von 1909/12. Seit 1909 unterstützte ihre Partei, die Konservativen, den neuen Kanzler nur noch von Fall zu Fall und zwang ihn so, eine Politik der sog „Diagonale“ zwischen den Parteien mit wechselnden Mehrheiten für die Gesetzgebung zu betreiben. Aber noch hielten sie sich zurück, weil sie hofften, dass sich das Verhältnis zu den Nationalliberalen wieder kitten ließ.

Erst die Wahl 1912 zeigte, dass der Bruch endgültig war und dass ihnen der Untergang drohte, wenn sie keine Gegenmaßnahmen ergriffen. Daraufhin reagierten sie mit aller Konsequenz. Als erstes versuchten sie gleich nach der Wahl, gemeinsam mit ihren Verbündeten aus der Schwerindustrie einen Bergarbeiterstreik an der Ruhr eskalieren zu lassen, um eine bürgerkriegsähnliche Situation herbei zu führen, in deren Zug die Verfassung außer Kraft gesetzt und das allgemeine Wahlrecht beseitigt werden sollte. Doch die Bergarbeiter ließen sich nicht auf die von den Zechenherren organisierten Provokationen ein, und Reichskanzler und Kaiser verweigerten sich einem Staatsstreich.

Danach besaßen sie nur noch ein Mittel zur Rettung der patriarchalischen Ordnung, nämlich einen Krieg, um ihre Herrschaft durch einen großen Sieg des von ihnen kommandierten Heeres auf weitere Jahrzehnte zu befestigen. Des damit verbundenen Risikos waren sie sich vollauf bewusst, aber welche Alternative hatten sie? Von jetzt an blockierten sie die Regierungsarbeit auf allen Ebenen, trieben die Krise von Staat und Gesellschaft voran, spielten die russisch-französische Gefahr hoch und nutzten jedes ergreifbare Mittel, um den widerstrebenden Kanzler in den gewünschten Krieg zu zwingen.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde 1913 eine umfangreiche Heeresvermehrung beschlossen. Die damit im Zusammenhang stehenden Mitteilungen Bebels gehören zu den letzten, die in der Studie Bleys dokumentiert sind – und enthüllen das Geheimnis, wieso die SPD 1914 einem Weltkrieg zustimmte, während Bebel drei Jahre zuvor noch alles unternommen hatte, um einen anderen Krieg zu verhindern.

Bis dahin hatten die Rüstungsvorhaben der kaiserlichen Regierungen stets sowohl das Heer als auch die Marine berücksichtigt – auch dies ein Produkt des Klassenkompromisses von 1870. Demgemäß verlangten die liberalen Imperialisten jetzt wiederum, neben dem Heer die Schlachtflotte zu verstärken. Doch diesmal liefen sie mitsamt dem Kaiser gegen eine Wand. An der Sitzung der Etatkommission des Reichstags, auf der die Rüstungsvorlage beraten wurde, nahm auch Bebel teil und informierte den britischen Generalkonsul anschließend darüber. Er berichtete, dass Großadmiral Tirpitz, der Schöpfer der Schlachtflotte, in der Sitzung „mit der größten Erregung“ hatte offenbaren müssen, dass die Marine leer ausgehen würde. Die Haushaltsberatung demonstrierte, so Bebel, dass „die Militärkaste, d.h. die preußischen Junker, wieder einmal ihre ungeheure Macht bewiesen haben, indem sie gleichzeitig die Flotten- und Kolonialenthusiasten und den Kaiser selbst besiegten.“

Für den SPD-Vorsitzenden stand nach der Sitzung fest: „Für die Flottenanhänger ist das Spiel völlig aus, und England sollte sich dessen bewusst sein. (…) Wir können nicht länger mit England um die Flottenherrschaft konkurrieren.“ (Gespräch mit Angst am 18. März 1913) Worauf er jahrelang gehofft und durch seine Kontakte mit London hingearbeitet hatte, war endlich Wirklichkeit geworden: Deutschland hatte das maritime Wettrüsten verloren und die Gefahr eines weltpolitisch-imperialistischen Kriegs gegen Großbritannien war vorüber. Noch auf ihrem Friedenskongress in Basel Ende 1912 hatte die Sozialistische Internationale die „Gegnerschaft zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich“ als „größte Gefahr für den Frieden Europas“ benannt. Jetzt stand fest, dass die kaiserliche Marine nicht weiter aufgerüstet wurde, und damit schien die Kriegsgefahr vorüber zu sein.

Sozialdemokratische Vaterlandsverteidigung

Worüber Bebel seinem Verbindungsmann in Zürich nicht mehr berichtete, weil es die maritimen Gegensätze zwischen dem Kaiserreich und Großbritannien nicht betraf, war eine nichtöffentliche Sitzung mit Vertrauensleuten aller Parteien am 24. April 1913 im Reichstag, auf der die Heeresverstärkung von Vertretern des Militärs erläutert wurde. Von Seiten der SPD nahmen außer Bebel zwei weitere Reichstagsabgeordnete daran teil, Ledebour und Frank. Über ihren Verlauf sind wir aus den internen Berichten der bayrischen und württembergischen Militärbevollmächtigten informiert, die der Herausgeber der Bebel-Korrespondenz in die Dokumentensammlung aufgenommen hat. (abgedruckt als Dokument 82 a, S. 258 ff)

In der Zusammenkunft begründeten die Vertreter des Militärs die Notwendigkeit einer Nachrüstung mit den Rüstungsprogrammen Frankreichs und Russlands, die beweisen würden, dass diese Staaten einen Krieg gegen das Deutsche Kaiserreich planten. Zugleich legten sie dar, dass Deutschland im Kriegsfall gemäß den Vorgaben des Schlieffen-Plans zuerst Frankreich angreifen müsse (inkl. Durchmarsch durch das neutrale Belgien), um sich nach dem in Bälde erwarteten Sieg im Westen Russland zuzuwenden. Die anwesenden Führungsmitglieder der SPD mit Bebel an der Spitze nahmen die Ausführungen der Militärs ohne Widerspruch entgegen, sie protestierten nicht einmal gegen die angekündigte Neutralitätsverletzung Belgiens.

Im Anschluss an die Sitzung erarbeitete Bebel eine Stellungnahme, die im Mai 1913 vom Parteivorstand der SPD unter dem Titel „Ein ernstes Wort in ernster Zeit. Militärvorlage und internationale Rüstungsindustrie“ als Flugschrift herausgegeben und in ganz Deutschland verbreitet wurde. Darin heißt es, dass „wir in Deutschland mit der Möglichkeit eines Angriffskrieges von außen einstweilen noch rechnen (müssen), namentlich von Osten her.“ Ein solcher Krieg würde wegen der vorhandenen Staatenbündnisse zum Weltkrieg werden und „unser Vaterland vielleicht vor die Frage von Sein oder Nichtsein stellen“, woraus folgerte, „dass die geographische und politische Lage des Reiches die Vorbereitung einer starken Schutzwehr notwendig macht“. (Dokument 82 b, S. 272)

Das war eine vollständig andere Stellung als zuvor bei dem befürchteten Schlachtflottenkrieg gegen Großbritannien. Angesichts der von den Militärs behaupteten Gefahr für das Vaterland „vom Osten her“ befürwortete der Parteivorstand die Notwendigkeit der „Vorbereitung einer starken Schutzwehr“, stimmte also kaum verhüllt der Aufrüstung zu und signalisierte mit der Fragestellung von „Sein oder Nichtsein“ ebenso offen die Bereitschaft zur Vaterlandsverteidigung an der Seite der Regierung.

Damit führte er die Linie fort, die den russischen Zarismus seit der bürgerlichen Revolution von 1848 als Gendarm Europas und Hauptfeind des Fortschritts deklarierte. Diese Einschätzung war wohl bereits seit Russlands Niederlage im Krimkrieg überholt, weil der Zarismus damit aufhörte, europäische Ordnungsmacht zu sein. Definitiv war sie seit dem verlorenen Krieg des Zarenreichs gegen Japan und der anschließenden Revolution von 1905-07 verfehlt. Doch der Parteivorstand negierte alle Versuche, die antirussische Position zur Vaterlandsverteidigung zu revidieren, und Bebel verkündete weiterhin im Reichstag, dass er in einem Krieg mit dem barbarischen Russland jederzeit „die Flinte auf den Buckel“ nehmen würde, um die Zivilisation und die Errungenschaften der deutschen Arbeiterbewegung zu verteidigen.

Die Macht der „Militärkaste“

Als Begründung für dieses Verhalten arbeitet der Herausgeber in seiner Vorbemerkung heraus, dass Bebel zwar die Flottenrüstung als expansiv, aber die kontinentale Militärpolitik als defensiv beurteilte. (S.121) Bley hält diese Unterscheidung für verfehlt, doch in diesem Punkt hatte Bebel recht – allerdings nur bis 1912. Anders als die Welt- und Schlachtflottenpolitik der bürgerlich-liberalen Imperialisten, die auf eine Neuaufteilung der Welt zielte, war die kontinental bestimmte Außenpolitik des preußischen Militäradels im Grundsatz defensiv angelegt. Was sollten die ostelbischen Gutsbesitzer auch mit territorialen Eroberungen anfangen? Sie hatten genug mit ihren Gutswirtschaften zu tun und brauchten keine neuen Ländereien. Wenn Bismarck wiederholt erklärt hatte, das geeinte Deutschland sei „saturiert“ und der ganze Balkan nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert, so drückte sich darin diese Grundposition aus.

Zwar konnten die Nationalliberalen nach Bismarcks Abdankung 1890 die Außenpolitik gestalten, aber die Letztentscheidung über die Frage von Krieg und Frieden lag weiterhin beim Militäradel; das dokumentiert nicht zuletzt der Nicht-Krieg 1911. Nach dem Wahlsieg der SPD 1912 und dem Fehlschlag des daraufhin unternommenen Staatsstreichversuchs schlug die Position des Junkertums um, und da fiel die Entscheidung zum Krieg nicht aus außenpolitischen Erwägungen bzw. um territorialer Eroberungen willen, sondern aus Angst vor dem Machtverlust.

Bebel vermerkte zu Recht, welch „ungeheure Macht“ die junkerliche Militärkaste besaß, so dass sie sich gegen die liberalen Imperialisten trotz deren Unterstützung durch den Kaiser durchsetzen konnte. Aber er zog keinerlei Schlussfolgerungen daraus – weder im Hinblick auf die Herrschaftsverhältnisse im Kaiserreich noch im Hinblick auf die zunehmende Kriegsgefahr. Obwohl mittlerweile die Forderung nach einem Krieg als Ausweg aus der inneren Krise des Reichs unüberhörbar geworden war, brachte er die Rüstungsvorhaben des preußischen Militärs damit nicht in Zusammenhang und negierte, dass es bei der einsetzenden Kriegsvorbereitung nicht um die Existenz Deutschlands ging, sondern um das Überleben des Junkertums, das umso mehr auf die Verfügung über die Staatsmacht angewiesen war, je mehr ihre unproduktiven Gutswirtschaften in der internationalen Konkurrenz zurück fielen.

Schluss: An der Seite des Militäradels

In seiner Bewertung des SPD-Parteivorsitzenden konstatiert Bley kopfschüttelnd Bebels „Widersprüchlichkeit und unpolitische Naivität in wichtigen Fragen“. Wer die dokumentierten Materialien nachliest, kann sich diesem Urteil nur anschließen.

Diese Widersprüchlichkeit hat einen Grund. Wie die SPD insgesamt hielt Bebel die bürgerliche Revolution in Deutschland mit der Reichseinigung 1870 für abgeschlossen. In der Logik dieses Dogmas durfte das ostelbische Junkertum keine eigene Klasse mehr sein, sondern musste zu einem Teil der Bourgeoisie geworden sein. Daher konnte er nicht begreifen, welche klassenpolitische Brisanz dem Hegemoniebruch von 1909 innewohnte, geschweige denn, dass daraus ein Machtkampf erwuchs, der sich auf das Gebiet der Außen- und Militärpolitik verlagerte und in einen Machtsicherungskrieg des Junkertums mündete.

Die Flugschrift von 1913 gehörte zu den letzten politischen Aktivitäten Bebels, wenige Monate vor seinem Tod und etwas über ein Jahr vor dem Großen Krieg. Wenn man diese Flugschrift und die anderen Stellungnahmen des Parteivorsitzenden zur Kenntnis nimmt, ist die Schlussfolgerung unabweisbar, dass die Sozialdemokratie 1914 in Verfolgung der von Bebel vorgegebenen Linie an die Seite des Militäradels trat.

1 Helmut Bley (Hrsg): Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904-1913, Offizin-Verlag, Hannover 2014; die folgenden Verweise in Klammern beziehen sich auf dieses Werk. Der hier abgedruckte Artikel ist die überarbeitete und erweiterte Fassung einer Rezension, die in der Nr. 1/2015 der Zeitschrift Sozialismus erschienen ist.

2 Andreas Rose: Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg; München 2011

3 Eckart Kehr: Schlachtflottenbau und Parteipolitik, 1894–1901, Berlin 1930 (Nachdruck Vaduz 1966); ders.: Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg und eingeleitet von H.U.Wehler, Berlin 1976

4 Zum Ablauf Emily Oncken: Panthersprung nach Agadir. Die deutsche Politik während der Zweiten Marokkokrise 1911; Düsseldorf 1981

5 Im Weltkrieg war der Besitz der belgisch-französischen Atlantikhäfen das Hauptkriegsziel der bürgerlich-imperialistischen Kräfte, voran die Nationalliberalen mit Gustav Stresemann an der Spitze.

6 Der Streit entzündete sich an dem Vorhaben des Kanzlers Bülow, einem Mann der Nationalliberalen, zwecks Deckung der Haushaltsausgaben für den Schlachtflottenbau eine reichsweite Erbschaftssteuer einzuführen, zu der erstmalig auch die preußischen Großgrundbesitzer herangezogen werden sollten. Um dies zu verhindern, organisierten die Konservativen den Sturz des Reichskanzlers; an seine Stelle trat Bethmann Hollweg, der ohne feste Mehrheiten im Parlament regieren musste und damit konfrontiert war, dass der Staat unregierbar wurde.

Der Konflikt von 1909 bedeutete mehr als nur eine normale Regierungskrise, denn mit ihm zerbrach der Klassenkompromiss von Bourgeoisie und Junkertum, der als „Reichsgründungskompromiss“ den Staat jahrzehntelang getragen hatte. Von hier aus datiert eine Krise von Staat und Gesellschaft, die sich sukzessive vertiefte, bis sie schließlich 1914 in den Weltkrieg mündete. (zur weithin verkannten Sprengkraft dieser Schlüsselkrise: Karuscheit 2014, S. 179 ff)