Die von Lenin 1916 im Schweizer Exil verfaßte Arbeit über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ ist für den überwiegenden Teil der revolutionären Kräfte, die sich auf die Arbeiterklasse beziehen, bis heute ein politisches Schlüsselwerk geblieben. „Lenins Imperialismuskritik bleibt der Schlüssel zum Verständnis der Welt von heute“, heißt es auf den ersten Seiten der von der Marx-Engels-Stiftung herausgegebenen Tagungsmaterialien „Großmachts- und Kriegspolitik heute: 80 Jahre nach Lenins Imperialismuskritik“. Ungeachtet aller sonst vorhandenen Differenzen gibt dieses Urteil eine gemeinsame Grundüberzeugung wider.
Fußend auf der Autorität der Oktoberrevolution, resultiert der anhaltende Einfluß dieses Werks aus seiner doppelten Stoßrichtung: es richtet sich sowohl gegen die (Monopol-) Bourgeoisie als auch gegen den Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung. Damit scheint die Schrift bis in die Gegenwart hinein den Zweck zu erfüllen, den Lenin ihr gesetzt hat, nämlich angesichts des Zusammenbruchs der sozialdemokratischen Zweiten Internationale eine neue, revolutionär-internationalistische Politik für die Arbeiterklasse zu begründen. Bei Kriegsbeginn hatten die wichtigsten Parteien der Internationale zur Unterstützung der jeweiligen nationalen Regierung aufgerufen, so dass die Arbeiter der verschiedenen Nationen mit dem Segen des Marxismus die Waffen gegeneinander statt gegen die eigene Bourgeoisie richteten. Darum galt es, zusammen mit dem Weltkrieg das opportunistische Verhalten der Arbeiterparteien zu erklären, um das Fundament für eine neue Internationale zu schaffen. Im Vorwort von 1917 hieß es zur Aufgabenstellung der Schrift, sie solle dazu beitragen, „sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus.“ (Vorwort von 1917, Schrift S. 6)
Die Monopoltheorie, in der sich die Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus zusammenfaßt, ist in den AzD bereits vor geraumer Zeit kritisiert worden (u. a. in den AzD 25, 34, 39, 41, 59). Nunmehr geht es nicht um die ökonomische Fundierung, sondern um die praktische Tauglichkeit der Imperialismustheorie für die Erklärung der Grundlinien der Politik. Konkret geht es um die Erklärung des 1. Weltkriegs im Hinblick auf das deutsche Kaiserreich. Deutschland stand im Mittelpunkt der Imperialismusschrift. Die übrigen Länder, auf die Lenin eingeht: England, Frankreich, die USA und Japan, nehmen selbst zusammengenommen nicht so viel Raum ein wie Deutschland. Der entscheidende Grund dafür ist, dass das Kaiserreich im Zentrum der Widersprüche jener Zeit stand. Nur mit der Donaumonarchie verbündet (von kleineren Staaten abgesehen), führte es einen Zweifrontenkrieg gegen die Großmächte Frankreich und Rußland sowie gleichzeitig gegen die weltumspannende Seemacht Großbritannien. Es war das industriell entwickelste europäische Land, besaß die stärkste Arbeiterbewegung, stellte mit der SPD die führende Partei der II. Internationale und bildete nach Auffassung der Marxisten den Schlüssel für die kommende sozialistische Revolution in Europa. Hier mußte also der Hebel angesetzt werden, um eine neue revolutionäre Politik zu entwickeln.
Der immanente Widerspruch der Schrift besteht darin, dass sie einerseits dazu beitrug, einen „linken“ Flügel der Arbeiterbewegung in Abgrenzung gegen die Sozialdemokratie zu formieren, dass sie dies andererseits aber mit einer fehlerhaften strategischen Orientierung tat. Nicht allein die ökonomischen, sondern – wichtiger noch – die politischen Kernaussagen der Imperialismusschrift halten einer Überprüfung nicht stand. Sie sind nicht erst durch den Zeitablauf hinfällig geworden, sondern waren von Anfang an falsch. Das aufzuzeigen, ist eine Pflicht gegenüber der kommunistischen Bewegung von heute. Sie ist ohne ein neues theoretisches Fundament zum Scheitern verurteilt, und dieses Fundament läßt sich nur aus der Kritik der bislang gültigen Theorien gewinnen. Zu diesem Zweck werden die Ursachen für den deutschen Weg in den Krieg untersucht, um daran die Aussagen der Leninschen Arbeit zu messen.