Dokumentation

Um eine neue linke Sammlungsbewegung

Vor einigen Wochen lancierten Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht den Gedanken einer neuen Sammlungsbewegung der politischen Linken, die außer der Linkspartei auch Teile der SPD und der Grünen umfassen soll; Eckpunkte sollen soziale Gerechtigkeit und eine friedlichere Außenpolitik sein. Als Referenzen bezog Lafontaine sich neben dem Labour-Vorsitzenden Corbyn auf den französischen Präsidentschaftskandidaten Mélenchon, der bei der Präsidentschaftswahl 2017 mit „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich) aus dem Stand heraus knapp 20 % der Stimmen erzielte.

Seither wird in der Linkspartei eine heftige Auseinandersetzung geführt. Sie dreht sich zum einen um die Organisationsfrage, indem die Gegner des Sammlungsgedankens Lafontaine und Wagenknecht vorwerfen, die von ihnen ins Spiel gebrachte Sammlungsbewegung würde mit den Prinzipien demokratischer Willensbildung (in der Linkspartei) brechen, linkspopulistisch-autoritären Vorstellungen folgen und auf eine „bonapartistische“ Formation mit „charismatischen Führungsfiguren“ an der Spitze abzielen. Politisch-inhaltlich geht der Streit im Zusammenhang mit der sozialen Frage um die Flüchtlingspolitik, um offene Grenzen, die Stellung zur EU, den Nationalstaat und die Adressaten der eigenen Politik.

In zugespitzter Form zusammengefasst, betrachtet die eine Seite den Nationalstaat als reaktionäres Relikt, tritt für offene Grenzen ein und plädiert als Antwort auf den globalisierten Kapitalismus für eine Öffnung zu den Ausgegrenzten und Flüchtlingen als „andere Klasse“ (die Berufung auf „1968“ erinnert an die seinerzeitige Diskussion über „Randgruppen“ als neues revolutionäres Subjekt). Dagegen wendet sich die andere Seite gegen offene Grenzen, fordert die Orientierung an den Interessen der lohnabhängig arbeitenden Klasse und betrachtet den Nationalstaat als Schutz vor der schrankenlosen Unterwerfung unter das international agierende Kapital. (In diesem Zusammenhang sei auch auf die AzD 73(2005) „Zur sozialen Frage“ verwiesen).

Da die Linkspartei angesichts der entgegengesetzten Positionen auf zentralen Feldern der Politik handlungsunfähig ist, stellt der Vorschlag von Lafontaine und Wagenknecht zu einer neuen Sammlungsbewegung der Linken offenbar einen Versuch dar, durch das Aufrollen der sozialen Frage nicht nur Teile der SPD und der Grünen zu gewinnen, sondern auch den gegnerischen Flügel der Linkspartei um Katja Kipping zu isolieren, ohne als Spalter da zu stehen.

Die beiden folgenden Beiträge dokumentieren die geführte Kontroverse anhand von je einem Exponenten des jeweiligen Lagers. Der erste Beitrag erläutert die Position von Lafontaine und Wagenknecht; er stammt von Andreas Wehr und ist am 26.01.2018 im Online Magazin RUBIKON erschienen (>>http://www.andreas-wehr.eu/klarheit-vor-sammlung.html<<). Der Verfasser ist Autor von Büchern und Artikeln zu Europa, Philosophie und Geschichte sowie zur aktuellen Politik. Früher SPD-Mitglied und bis 1999 Mitherausgeber der „Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft – spw“, ist er seit einigen Jahren Mitglied der Linkspartei und Mitbegründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin. Wir bringen seinen Beitrag in stark gekürzter Fassung.

 

Andreas Wehr: Klarheit vor Sammlung!
Zu den Überlegungen von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht über eine neue linke Sammlungsbewegung

Nach Lafontaine müsse sich jetzt die Linkspartei öffnen und zum Initiator einer neuen linken Sammlungsbewegung werden, die neben früheren Sozialdemokraten auch unzufriedene Grüne anspricht. (…) Der Hintergrund: SPD und Linkspartei fällt es zunehmend schwer, Arbeiter, Angestellte und Arbeitslose für sich zu gewinnen. Zwar konnte die Partei DIE LINKE bei den Bundestagswahlen am 24. September 2017 leicht zulegen und dabei vom Niedergang der SPD profitieren, zugleich aber verlor sie an die AfD zahlreiche Wähler, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern.

Etwa 400.000 frühere Linkswähler machten diesmal dort ihr Kreuz. Es waren vor allem Arbeiter und Arbeitslose die gingen. Unter den Arbeitern lag der Anteil der AfD bei 21 Prozent, der der SPD bei 24, aber der der Linkspartei bei nur 10 Prozent. Ein ähnliches Bild bei den Arbeitslosen: AfD 21 Prozent, SPD 23, Linkspartei 11 Prozent. Besser sah es unter den Angestellten aus: 11 Prozent AfD, 20 Prozent SPD und 9 Prozent Linkspartei. Besonders bitter für DIE LINKE fiel das Ergebnis bei der Wahlentscheidung von Gewerkschaftsmitgliedern aus, denn hier lag die AfD mit 15 Prozent vor der Linkspartei mit 12 Prozent. Selbst für die SPD, die den Gewerkschaften traditionell am nächsten steht, entschieden sich nur 29 Prozent.

Der Zickzackkurs der SPD-Parteiführung nach der Bundestagswahl und die Entscheidung deren Bundesparteitags vom 21. Januar 2018, Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU aufzunehmen, lässt erwarten, dass die Unterstützung der SPD weiter erodieren wird, es sogar zu Austritten aus der Partei in größerer Zahl kommen kann. In dieser Situation müsse sich, so Lafontaine, die Linkspartei öffnen und zum Initiator einer neuen linken Sammlungsbewegung werden, die neben früheren Sozialdemokraten auch unzufriedene Grüne ansprechen kann. Die Partei DIE LINKE müsse bereit sein, sich in einem solchen Prozess als Organisation selbst infrage zu stellen, um so Motor einer neuen linken Sammlungsbewegung werden zu können, mit der anschließend das politische Spektrum in Deutschland wieder nach links verschoben werden kann.

DIE LINKE – eine stagnierende Partei

Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Sahra Wagenknecht, sieht ihre Partei an einer Wachstumsgrenze angekommen, die es notwendig mache, über andere Wege nachzudenken, (denn eine) „starke linke Volkspartei“ wird … die Partei DIE LINKE nicht mehr werden. Zehn Jahre nach ihrer Konstituierung im Jahr 2007 hat sie viel ihres anfänglichen Elans verloren. Stieg die Mitgliederzahl nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG schnell auf 76.000, so ist sie inzwischen auf kaum mehr als 60.000 gesunken. Trotz einiger Erfolge bei der Gewinnung jüngerer Anhänger im Bundestagswahljahr 2017 ist ihre Mitgliedschaft weiterhin stark überaltert. Die Zahl der Parteimitglieder und damit ihre gesellschaftliche Verankerung werden daher in Zukunft weiter zurückgehen. Insgesamt bietet die Partei DIE LINKE bei Wahlen ein Bild der Stagnation. (…) DIE LINKE erfüllt grundlegende Voraussetzungen nicht, um als eine eingriffsfähige sozialistische Kraft gelten zu können. (…)

Die Kampagnenunfähigkeit der Partei DIE LINKE ist vor allem ihrer Zersplitterung geschuldet, existieren doch unter ihrem Dach die unterschiedlichsten Milieus und Strömungen, ohne dass sie größer Kenntnis voneinander nehmen. Die Partei beherbergt nicht weniger als 26 bundesweite Arbeitsgemeinschaften, die meist über eigene Strukturen wie Vorstände, Delegierte, Bundestreffen sowie Informationsdienste verfügen. Hinzu kommen zwei wie eigenständige Parteien in ihr agierende trotzkistische Strömungen: Das „Netzwerk Marx 21“ und die „Sozialistische Alternative Voran (SAV)“.

Die Kritiker des Vorstoßes von Lafontaine und Wagenknecht können daher zu Recht behaupten, dass mit der Partei DIE LINKE längst die geforderte Sammlungsbewegung besteht. Nach Aussage von Parteichef Bernd Riexinger in der Tageszeitung Junge Welt vom 9. Januar 2018 sei das sogar eine „große Leistung“. Das ist jedoch ein zweifelhaftes Lob, denn das Modell einer „Patchworkpartei“ bzw. einer „Mosaiklinken“ mag zwar als Reaktion auf eine überzentralisierte Kaderpartei wie die SED bzw. einer nach der Wende zersprengten westdeutschen Linken einmal einer bestimmten historischen Situation entsprochen haben, heute hingegen blockiert es die Handlungsfähigkeit der Linkspartei. (…)

Postmaterielle, identitäre Sozialdemokraten und Linke

Die europaweiten Verluste der Sozialdemokratie, die in einigen Ländern, etwa in Frankreich, den Niederlanden, Irland, Griechenland und in Tschechien, bereits zu ihrer Marginalisierung geführt haben, sind Ergebnis des zerbrochenen Vertrauens der arbeitenden Klasse in die Sozialdemokratie als ihre einstmalige Interessensvertretung. Dahinter steht die Erfahrung, dass die sozialdemokratischen Eliten, einmal an die Macht gelangt, bruchlos an die neoliberale Politik der Konservativen und Liberalen anknüpfen, und sie – wie in Deutschland unter Schröder geschehen – sogar noch verschärfen.

Die Sozialdemokraten öffneten sich aber nicht nur dem Neoliberalismus als Wirtschaftsstrategie, sondern auch Politikinhalten, die man zusammengefasst als postmaterielle bezeichnen kann. Überall übernahmen sie Werte und Inhalte der Grünen bzw. der „neuen sozialen Bewegungen“, der Umweltbewegung, der Feministinnen sowie der verschiedenen Initiativen zur Gleichstellung von Minderheiten. Die traditionelle Ausrichtung linker Politik auf gesamtgesellschaftliche Ziele, auf die Emanzipation der Lohnabhängigen als der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, ging dabei verloren. An ihre Stelle trat oft eine Politik, in der nur ihre authentische Bedeutung für den jeweils Einzelnen zählt. (…)

Die Ausrichtung auf postmaterielle Werte und Identitätspolitik hat längst auch die Partei DIE LINKE erfasst. Die dafür stehende Strömung „Emanzipatorische Linke“ um die Zeitschrift „Prager Frühling“ konnte in den letzten Jahren bemerkenswerte Siege im Kampf um Mehrheiten in der Partei erringen. (…) Mit Katja Kipping konnten die „Emanzipativen“ auf dem Parteitag 2012 sogar die Parteispitze erobern. Dank ihres kadermäßigen Vorgehens stellen sie, trotz einer im Verhältnis zur Gesamtmitgliedschaft vergleichsweise geringen Anhängerschaft, inzwischen in vielen Vorständen von Landesverbänden sowie im Parteivorstand – hier im Bündnis mit Vertretern des traditionell rechten Parteiflügels – die Mehrheit. Nach den Bundestagswahlen konnte sich dieser Flügel über eine Reihe neuer Bundestagsabgeordneter freuen, die sich dort sogleich hinter Kipping stellten. Zuwachs erhielten die „Emanzipativen“ zudem durch die Übernahme der Konkursmasse der libertären Piratenpartei.

Mit dieser Wende hin zu einer „kosmopolitisch-linken Identitätspolitik“ ergeben sich für die Linkspartei neue Schnittmengen mit einer in ihren urbanen Mittelstandsmilieus inzwischen ganz ähnlich ausgerichteten Sozialdemokratie und natürlich mit den Grünen. Auf dieser Grundlage soll eines Tages auf Bundesebene eine Rot-Rot-Grüne Zusammenarbeit zustande kommen. Programmatisch vorbereitet wird sie schon heute vom „Institut Solidarische Moderne“ (ISM), in dessen Vorstand Repräsentanten der drei Parteien vertreten sind: Katja Kipping, Axel Troost und Sabine Leidig für die Linkspartei, Andrea Ypsilanti, Hilde Mattheis für die SPD sowie Katharina Beck für die Grünen.

Da sich Sahra Wagenknecht einer solchen Ausrichtung der Linkspartei widersetzt, sie weder Anhängerin einer Rot-Rot-Grünen Zusammenarbeit noch einer „kosmopolitisch-linken Identitätspolitik“ ist, sollte sie direkt nach den Bundestagswahlen in ihren Rechten als Vorsitzende der Bundestagsfraktion beschnitten und damit demontiert werden. Das war der wirkliche Hintergrund der in der Presse als bloße „Personalquerele“ beschriebenen Auseinandersetzung vom Herbst 2017. In diesem Konflikt zeigte sich aber gleichzeitig, dass Wagenknecht für ihre Positionen Unterstützung weit über die Linkspartei hinaus genießt. So gelang es ihr leicht, für ihren Online-Newsletter „Team Sahra“ innerhalb kurzer Zeit Zehntausende Unterstützer zu gewinnen. Es sind vor allem diejenigen, die sich nach einer Wiederherstellung des Sozialstaats sehnen und für die der nationale Rahmen als Schutzraum nicht geschwächt oder in einer EU überwunden werden darf. (…)

 

Klarheit über die Ziele herstellen!

Der Vorschlag von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht für eine neue linke Sammlungsbewegung, die über den Rahmen der Linkspartei hinausgeht, dürfte zunächst darauf abzielen, die Stimmen jener Ungehörten zu Gehör zu bringen, die als „resignatitv-autoritärer Teil“ abgetan werden. (…)

Eine neue Sammlungsbewegung aber, die ihren Mittelpunkt in der Linkspartei auf Grundlage postmaterieller und identitärer Inhalte hätte und zu der dann all diejenigen aus der SPD stoßen würden, die sich einer Koalition mit den Unionsparteien verweigern, da sie in einem solchen Bündnis Fragen der Migration oder der Minderheitenrechte in ihrem libertären, identitären Sinne nicht gewahrt sehen, wäre alles andere als ein Gewinn. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, in seiner Zeit als Vorsitzender der Berliner Jusos das Deutschlandfest der SPD allein wegen des Worts „Deutschland“ boykottierte. Mit einer solchen Sammlungsbewegung würden die Probleme lediglich auf eine andere, höhere Ebene gehoben werden.

Der dem Vorstoß von Lafontaine und Wagenknecht zu Grunde liegende inhaltliche Konflikt verweist darauf, dass die Zeiten von linken Mosaik- bzw. Patchworkparteien europaweit zu Ende gehen. Die Krise der deutschen Linkspartei ist Teil einer westeuropäischen Entwicklung, in der sich zeigt, dass das Modell der pluralistischen, ohne theoretisches Zentrum arbeitenden linken Sammlungs- bzw. Bewegungspartei für immer mehr sich links Engagierende als nicht mehr der heutigen Situation angemessen angesehen wird.

Doch so wenig wie die italienische Rifondazione Comunista oder die Kommunistische Partei Frankreichs zu einer Überwindung ihres überkommenen Parteimodells in der Lage sind, so wenig dürfte es die Partei DIE LINKE sein. So werden sich daher auch in Deutschland früher oder später die Wege jener, die dieses Modell bewahren wollen, von denen, die es als untauglich für eine offensive sozialistische Politik ansehen, trennen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine abstrakte akademische Diskussion. Es geht um viel. Es bedarf dringend einer politischen Kraft, die sich dem starken Rechtstrend entgegenstemmt, der jetzt auch Deutschland erfasst. Die Partei DIE LINKE ist diese Kraft aber nicht.

Notwendig ist daher, Klarheit über die Ziele einer möglichen neuen linken Formation zu gewinnen. Im Mittelpunkt muss dabei die soziale Frage stehen, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten und der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme auf nationalstaatlicher Ebene. Dazu gehört auch eine eindeutige Haltung gegenüber der Europäischen Union, die davon ausgeht, dass sie nicht zu einer demokratischen und sozialen EU transformiert werden kann. Dazu gehört zudem ein unverkrampftes Verhältnis gegenüber der eigenen Nation, deren Erhalt auch für die Arbeiterbewegung ein hohes Gut darstellt. Und schließlich gehört dazu eine realistische Flüchtlingspolitik, die Abschied nimmt von der illusionären Forderung nach offenen Grenzen für alle.

Der folgende Beitrag von Mario Neumann ist im Neuen Deutschland vom 12.12.2017 erschienen (>>www.neues-deutschland.de/artikel/1071703.die-linke-migration-und-die-klasse-es-geht-nicht-um-wagenknecht-es-geht-um-die-zukunft-linker-politik.html<<). Der Autor ist politischer Aktivist und engagiert sich derzeit im Netzwerk „Welcome United“. Zusammen mit dem Philosophen Sandro Mezzadra hat er die Flugschrift „Jenseits von Interesse und Identität. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968“ verfasst (erschienen im laika-Verlag).

 

Mario Neumann: Die LINKE, Migration und die Klasse.
Es geht nicht um Wagenknecht, es geht um die Zukunft linker Politik

Ärzte aus Irak, Syrien und Niger würden nach Deutschland geholt, hat Sahra Wagenknecht neulich beklagt. Nun: Laut Statistik der Bundesärztekammer gibt es in der Bundesrepublik keinen einzigen Arzt aus Niger. Auch sonst hat beispielsweise der ARD-Faktencheck Wagenknechts Behauptung einiges entgegen zu setzen.

Wenn die Fraktionsvorsitzende einer linken Partei eine Form der Migration problematisiert, die es so gar nicht gibt, dann scheint hinter den Auseinandersetzungen in der LINKEN aktuell vielleicht doch mehr zu stecken, als es für viele den Anschein macht. Der »Machtkampf« in der Linkspartei ist keine Personaldebatte, sondern eine Auseinandersetzung um die Zukunft linker Politik.

Angriff auf das Erbe der 1968er

Sahra Wagenknecht ist nicht allein. Andrea Nahles läutete die (vielleicht kurze) Oppositionsrolle der SPD mit einem Angriff auf Geflüchtete ein, Oskar Lafontaine sieht die »soziale Gerechtigkeit« von der gegenwärtigen »Flüchtlingspolitik …außer Kraft gesetzt«, in Österreich macht sich der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes für eine rot-blaue Koalition stark. Alles nur Taktik, alles nur Rhetorik oder gar Zufall?

Sicher nicht. Wagenknechts Äußerungen zum verwirkten »Gastrecht«, zu Angela Merkels sicherheitspolitischer Verantwortung für den Anschlag am Breitscheidplatz, aber auch über »abgehobene Gender-Diskurse« und ihre hermeneutische Aufgeschlossenheit für die »Ängste« des Rechtspopulismus versteht man nicht, wenn man sie nur als Wahlkampfmanöver oder Taktik begreift. Was wir derzeit erleben, ist vielmehr die fortgesetzte Auseinandersetzung um die Zukunft linker Politik, die weit über die Partei hinausreicht und die in ganz Europa in vollem Gange ist. Wagenknecht verfolgt dabei nicht bloß das taktische Ziel, Wählerstimmen in AfD-affinen Milieus zu generieren. Vielmehr geht es ihr um eine langfristige Strategie der Renationalisierung der LINKEN, die eine programmatische Tiefe besitzt.

Diese Strategie ist ein systematischer Angriff auf die Politiken der Neuen Linken, die Neuen Sozialen Bewegungen und das Erbe von 1968 – verstanden nicht als Kalenderjahr, sondern als Beginn einer globalen Konjunktur neuer sozialer Kämpfe und einer neuen Linken. Und dieser Angriff kommt nicht von ungefähr. Er hat seine Wurzeln in der tiefen programmatischen und weitestgehend unreflektierten Bedeutung, die der Wohlfahrtsstaat für die LINKE hat. Sie steckt selbst über alle Strömungen hinweg bis zum Hals in der Idealisierung der Vergangenheit, auch wenn einige ihrer Fraktionsvorsitzenden in der Flüchtlingspolitik mit humanitären Argumenten widersprechen.

Männer mit Pass: Es gehören nicht alle zum Wohlfahrtstaat

Wovon lebt die programmatische Überzeugungskraft von Sahra Wagenknecht? Und warum ist sie gleichzeitig und bei aller Popularität nicht in der Lage, eine eindeutige Gegenposition zur AfD zu repräsentieren? Zwei Fragen, eine Antwort: Ihr geographischer und politischer Horizont ist der nationale Wohlfahrtsstaat. Ein Raum, in dessen klar definierten Grenzen ein klar definiertes Staatsvolk die »soziale Frage« stellt – und mittels des Staates ihre fortschrittliche Bearbeitung vollzieht.

Wagenknecht ist da ganz bei Ludwig Erhardt und viele LINKE sind da ganz bei Sahra. Viele glauben dabei jedoch, dass eine solche Politik problemlos mit humanistischen, feministischen oder ökologischen Aspekten verbunden werden kann. Das Problem ist jedoch: Eine nostalgische Sozialpolitik, die um den Nationalstaat und sein Volk kreist, wird aus sich selbst heraus immer wieder die Frage aufrufen, wer zu dieser Gemeinschaft der »sozialen Gerechtigkeit« dazu gehört. Um dann – ganz wahrheitsgetreu übrigens – von Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine damit beantwortet zu werden, dass das eben nicht alle sind und sein können.

Die Geschichte des Wohlfahrtstaates gibt ihnen Recht. Seine fortschrittlichen Elemente basierten konstitutiv auf Ausschluss – nach außen, aber auch nach innen. Während in vielen aktuellen linken Debatten der Neoliberalismus als das einzige Elend der Welt gilt und jene Zeit, die ihm vorausging, zur Utopie idealisiert wird – währenddessen scheint Wagenknecht nur allzu gut Bescheid zu wissen über die Voraussetzungen des »sozialen und nationalen Staates« (Etienne Balibar). Die Ausgrenzung von Migrant*innen, die Privilegierung der Staatsbürger*innen, die Unterdrückung der Frauen, der Arbeitsethos (als die Rückseite der Anerkennung der Arbeiter*innen-Bewegung): all das waren selbstverständliche Realitäten, gegen die sich dann die Revolten des Mai 1968 richteten. Der wohlfahrtsstaatliche Klassenkompromiss der Nachkriegszeit: Er hatte seine Grenzen in dem, was »Klasse« umfasste. Männer mit Pass.

Wie hältst du es mit der Migration?

Es war und ist das Verdienst der Neuen Linken, solche politischen Subjekte ins Zentrum ihrer Politiken gestellt zu haben, die von wohlfahrtsstaatlichen Politiken und der institutionalisierten Arbeiter*innen-Bewegung ausgeschlossen oder nur selektiv in diese einbezogen waren. Die Subjekte, die außerhalb des korporatistischen Kompromisses standen oder ihn als goldenen Käfig empfanden, waren nicht zufällig wesentliche Protagonist*innen der Aufstände jener Zeit: Junge Proletarier*innen, Frauen, Migrant*innen.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich Wagenknechts Politik heute von diesen Gruppen abwendet und sich dabei vor allem des Zuspruchs der weißen, männlichen und älteren Bevölkerungsgruppen versichern kann. Und es ist auch kein Zufall, dass weite Teile der LINKEN diesen Ausschluss zwar moralisch zurückweisen, sie aber keine politische Antwort entwickeln, in deren Zentrum andere Subjekte stünden als die Protagonist*innen der traditionellen Arbeiter*innen-Bewegung (abgesehen vielleicht von zaghaften Versuchen in der Gesundheits- und Pflegepolitik). Es würde schließlich erfordern, einen programmatischen Neuanfang zu machen.

Deswegen wird die gesamte LINKE nicht fertig mit dem »Sommer der Migration«. Er ist zu ihrer ganz eigenen Gretchenfrage geworden, weil der Kampf um die Grenze die Bedingungen in Frage stellt, die das ganze Programm der Partei plausibilisieren. »Ungesteuerte« Migration rüttelt an den Bedingungen, die den Geltungsbereich der »sozialen Gerechtigkeit« im Wohlfahrtstaat gleichzeitig begrenzten und ermöglichten. Migration verweist die Linke systematisch auf die Notwendigkeit eines neuen, transnationalen Paradigmas – ob reformistisch oder radikal. Und sie stellt in Frage, welche Subjekte zentrale Rollen in einer neuen linken Idee einnehmen. Ein nationaler Sozialstaat mit humanistischer Asylpolitik: das ist keine linke Antwort auf den globalisierten Kapitalismus, sondern eine Bankrotterklärung.

Möchte die LINKE eine politische Kraft sein, die dem neuen Faschismus und dem globalisierten Kapitalismus etwas entgegenzustellen hat, sollte sie sich von ihrem programmatischen Nationalismus lösen, der untrennbar mit der Idealisierung des Wohlfahrtsstaates verknüpft ist.

Die andere Klasse

Oftmals werden in der gegenwärtigen Debatte – zuletzt in der Auseinandersetzung mit Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« – die Kämpfe von Migrant*innen und Frauen als Identitätspolitiken wenn nicht abgetan, so doch für sekundär erklärt. Die Grünen oder der »progressive Neoliberalismus« (Nancy Fraser) sind dann die Folie, auf der alle Politiken der Neuen Linken als Liberalismus diffamiert werden.

Selbstverständlich gibt es urbane und akademische Milieus, die sich in eine selbstreferentielle Identitätspolitik verstrickt haben, die oftmals um Distinktion und Überheblichkeit kreist. Das Label der »Identitätspolitik« und des »progressiven Neoliberalismus« verstellen jedoch den Blick auf die steigende und zentrale Bedeutung der Migrationsbewegungen, der Reproduktionsarbeit und der globalen Konjunktur feministischer Kämpfe für jede zeitgemäße linke Politik, ja: Klassenpolitik.

Migrantische und feministische Kämpfe liegen am Herzen dessen, was in unterschiedlichen Nuancen heute als »Klassenpolitik« oder »Soziale Frage« gegen die sogenannten »Identitätspolitiken« ausgespielt werden soll. Spricht die LINKE also von den »Ausgeschlossenen« und sozialer Gerechtigkeit, fände sie hier einen guten Ausgangspunkt – und nicht etwa den liberalen Gegenspieler einer Politik der »sozialen Frage«.

Und das nicht erst seit heute: Es waren Millionen Gastarbeiter*innen, die schon lange, bevor der Begriff des »Neoliberalismus« das Licht der Welt erblickte, die Arbeiterklasse in Deutschland prägten – etwas, das diejenigen Linken zu vergessen scheinen, die gegenwärtig vor einer neoliberalen Einwanderungspolitik warnen.

Heute sind es europäische Migrant*innen, denen kürzlich der Zugang zu Hartz IV für Jahre gestrichen wurde. Es sind Geflüchtete, die in illegale und unterbezahlte Jobs gedrängt werden; es sind geschätzt mehrere Hunderttausend osteuropäische Frauen, die als »Live-Ins« in deutschen Haushalten als Reproduktionsarbeiterinnen ihr Leben verkaufen.

Es sind Migrant*innen und Geflüchtete, die im Land der täglichen Angriffe auf Unterkünfte, im Land des NSU und einer völkisch-rassistischen Partei im Parlament allen Grund für die viel zitierten »Ängste« haben, die man im politischen Betrieb derzeit so gerne verstehen möchte. Ihre systematische Einbeziehung in linke Politiken – wie beispielsweise in den neuartigen Prozessen um »Solidarische Städte« – ist wesentlicher Teil eines anstehenden Neuanfangs.

Wagenknecht repräsentiert nicht die soziale Frage

Gegen all das – und nicht etwa gegen linke Szenepolitiken oder den grünen Neoliberalismus – entscheidet sich eine LINKE, die dem Kurs von Wagenknecht folgt. Stattdessen kreist sie seit Jahren um die weißen, männlichen Stammtische mit AfD-Affinität, weil diese ihrer antiquierten Vorstellung des »Volkes« entsprechen. Das größte Missverständnis der gegenwärtigen Debatte ist dabei, dass Sahra Wagenknecht dadurch gewissermaßen die soziale Frage, das Unten und die Ausgeschlossenen repräsentiere. Diese Deutung ist eine große Lüge.

Am Ende des Tages ist es das Projekt Wagenknecht, in dessen Register kein Platz ist für die Stimme der Ärmsten und für die Wahrheit über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Die, die schon seit Jahrzehnten hier sind und die, die noch kommen werden. Hier beginnt die Aufgabe einer kommenden Linken, die – so viel ist klar – ohne einen Schritt ins Offene nicht zu haben sein wird. Alle werden sich entscheiden müssen, so oder so.