Die „Epigenetik“ und der Klassenkampf

Fritz Gött

Die Überschrift meines Artikels mag verwundern. Was hat eine Genregulation bzw. ein Aspekt der Vererbungslehre, kurz die sogenannte „Epigenetik“, mit dem Klassenkampf (oder umgekehrt der Klassenkampf mit der Epigenetik) zu schaffen? Sollten sie überhaupt in Verbindung gebracht werden? Um sich diesem ‚Rätsel‘ zu nähern, ist es sinnig, die „Epigenetik“ näher zu betrachten.

1. Historisches: Der Biologe Paul Kammerer macht eine Entdeckung und wird bewusst fehlinterpretiert

Paul Kammerer (1880 – 1926) gehörte einst zu den bekanntesten Lamarck-Anhängern seiner Zeit, erfolgreich als Lehrbuchautor und als experimentell arbeitender Biologe.
Anfang des vorigen Jh. führte er folgendes Experiment durch: „Er besorgt sich Geburtshelferkröten, die sich normalerweise an Land paaren. Andere Krötenarten pflanzen sich im Wasser fort. Damit das Männchen dabei nicht vom Weibchen abrutscht, entwickelt es an den Vorderbeinen sogenannte Brunftschwielen. Kammerer will zeigen, dass sich erworbene Eigenschaften vererben, eine These, die etwa 100 Jahre zuvor Jean-Baptiste de Lamarck aufgestellt hat. Dann begann Darwins Evolutionstheorie die lamarckistische Lehre infrage zu stellen, und wer ihr um Beginn des 20. Jahrhunderts noch anhängt, gilt selbst in der konservativen Wiener Wissenschaftsszene als reaktionär.
Kammerers Versuche bringen neuen Schwung in die Debatte. Er lässt Geburtshelferkröten in heißen Terrarien heranwachsen, in denen sich die Kröten nur in einem Wasserbecken abkühlen können. So zwingt er die Amphibien, sich entgegen ihrem natürlichen Verhalten im Wasser zu paaren. In der vierten Generation seien dann die Brunftschwielen an den Vorderbeinen der Männchen aufgetaucht berichtet Kammerer.“
Der 1. Weltkrieg unterbricht die Versuchsreihen. Die konservierten Präparate, in wenigen Exemplaren vorhanden, leiden. Dann passiert das Unglück. Im Zuge der Wirren nach dem 1.Weltkrieg wird das Labor, in dem Kammerer gearbeitet hatte, verwüstet. Von den Belegexemplaren bleibt nur eines übrig. Nach dem Krieg und der Inflation hat Kammerer jedoch keine eigenen Mittel, um die Versuchs-Züchtungen neu zu starten. – Jahre später wird Kammerer Schnitte der Brunftschwielen anfertigen und sie fotografieren. Er präsentiert die Bilder 1923 in Yale, London, und Cambridge, hält Vorträge. In den USA wird er von der „New York Times“als nächster Darwin gefeiert, nicht jedoch in der Heimat.
„Wieder zurück in Wien, erhält Kammerer Besuch vom amerikanischen Reptilienkundler Gladwyn Noble. Der begutachtet nicht nur die Fotografien, sondern lässt sich … auch das präparierte Krötenbein selbst zeigen. Der Aufsatz, den er daraufhin im August 1926 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht, findet ebenso viel Gehör wie zuvor Kammerers Vorträge. Der Wiener Biologe habe einfach Tusche in das Krötenbein gespritzt, um auf seinen Fotos den Eindruck vorzutäuschen, die Geburtshelferkröten hätten Brunftschwielen entwickelt, schreibt Noble.“

Schon damals, nach dem 1. Weltkrieg ist Kammerer im deutschsprachigen Raum ein Gezeichneter. Er ist bekennender Pazifist und Sozialist, von der politischen Rechten geschmäht; zudem ein Anhänger Lamarcks, dessen Evolutions-Lehre in der Fachwelt spätestens seit den 20er Jahren als Fehlweg, wenn nicht gar als „anrüchiger, uralter Aberglaube“ gebrandmarkt ist; jetzt wird ihm auch noch ein Wissenschaftsbetrug unterstellt. Als Kammerer 1926, entnervt und durch eine unglückliche Liebesaffäre gebeutelt, den Freitod wählt, gilt dies unter Zeitgenossen als Eingeständnis seiner Schuld als Fälscher, zu Unrecht, wie man heute weiß. Auch der „Lamarckismus“schien damit erledigt.

Dennoch stellen sich Fragen an die ‚Geschichte‘: Hatte Noble Recht? War Kammerer nur ein dreister Fälscher? Dass er tatsächlich Tusche benutzt hat, bezweifelt heute kaum ein Wissenschaftshistoriker mehr. Trotzdem ist sich Olaf Breidbach von der Universität Jena sicher: „Der Kerl hat nicht getrickst. Vermutlich hat er mit der Tusche die Farbkontraste auf den Fotographien stärken wollen. Das ist heute aber auch noch üblich, nur nimmt man jetzt elektronische Hilfsmittel.“ Zum gleichen Schluss kam vor drei Jahren auch Breidbachs Kollege Sander Gilhoff, der penibel Kammerers Aufzeichnungen und die seines Biographen Arthur Koestlers neu ausgewertet hatte.
Nun lieferte Alexander Vargas von der Universität von Chile in Santiago noch eine mögliche Erklärung aus Sicht des Genetikers: Umwelteinflüsse können dazu führen, dass sich chemische Gruppen an die Verpackungsproteine der DNS heften und so Gene stilllegen oder aktivieren. Diese Methylierungen genannten Änderungen können Eltern auch an ihre Nachkommen weitergeben – das habe dazu führen können, dass Kammerers männliche Geburtshelferkröten über mehrere Generationen hinweg Brunftschwielen ausbildeten.
Zu Kammerers Zeiten ist jedoch weder die Struktur der DNS bekannt noch deren Variationsmöglichkeiten. So kann Kammerer den Anschuldigungen wenig entgegensetzen, außer seinen Unschuldsbeteuerungen. Wenige Tage nach der Veröffentlichung von Nobles Artikel ist Kammerer in Wien als Betrüger verschrien. Einzig die Moskauer Akademie lädt ihn noch ein, in ihrem Auftrag in Russland zu forschen …“. (1) Kammerer sagt zwar zu, wählt aber dann doch den Freitod …

Wollte Kammerer, der Anhänger Lamarcks, mit den Ergebnissen seiner Krötenexperimente den Lamarckismus beweisen? Das wird oft kolportiert. Diese Behauptung stimmt jedoch nicht mit der Selbstreflektion des Autors überein. Kammerer hatte 1923 geschrieben: „Meiner Meinung nach bietet es keineswegs einen schlüssigen Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften.“(2) Tatsächlich war Kammerer bei seinen speziellen Laborexperimenten auf ein bisher unbekanntes (gleichwohl in der Natur vorkommendes) Phänomen gestoßen, das es erst noch einzuordnen und zu erforschen galt. Bei seinen Gegnern oder Interpreten las sich das freilich anders. Ebenso wenig war (oder ist) Kammerer als „Vater der Epigenetik“ zu kennzeichnen, wie dies kürzlich ein geschäftstüchtiger Buchvertrieb tat. Ein Phänomen zu beschreiben, wertvoll im Einzelnen, ist eben noch keine wissenschaftliche Erklärung oder der Beginn eines Aufbruchs. Obige Mythen oder Unterstellungen sollten in der modernen Wissenschaftsgeschichte keinen Platz mehr haben.
Bereits 1924 fand man in der freien Natur ein erstes Exemplar der Geburtshelferkröte mit Brunftschwielen, kaum beachtet, im wissenschaftlichen Disput der Zeit nicht präsent – doch eine Tatsache. Offenbar ist bei dieser Gattung die Möglichkeit von Brunftschwielen im genetischen Code angelegt. Doch aus der Möglichkeit wird nur unter bestimmten (Umwelt-) Bedingungen Wirklichkeit.

2. Umbrüche

In den 70ern scheiterte der Versuch des kommunistischen Dissidenten und Querdenkers Arthur Koestler, die Fachwelt zur Wiederaufnahme der Versuche Kammerers zu bewegen. (3) Auch sein Plädoyer für eine „Vererbungslehre ohne Dogma“(4) verhallte ungehört. Das hatte Gründe und lag nicht an der ‚Bösartigkeit‘ oder Widerborstigkeit seiner Widersacher. Koestler konnte zwar auf Widersprüche und Probleme in der tradierten Vererbungslehre seiner Zeit verweisen (also jene bei August Weismann, oder die in der „Synthetischen Theorie“ des Ernst Mayr et.al.), doch wirklich Zwingendes für sein Anliegen, Lamarck und Verwandtes in der Vererbungslehre zu rehabilitieren, hatte er nicht an der Hand – gegen ein biologisches Weltbild, dem zufolge die Evolution nichts als „Zufallsmutation plus Auslese“ sei. Zudem war die ‚Atmosphäre‘ der Epoche durch eine alte politische Kontroverse (mit der Sowjetunion) vergiftet. So schrieb z.B. die Nobelpreisträgerin für Medizin Christiane Nüsslein-Volhard auf eine Frage der „Zeit“ noch 2008: „Was war der größte Irrtum in der Geschichte ihrer Disziplin?: Die Theorie, nach der erworbene Eigenschaften weitervererbt werden können, die von Lyssenko verbreitet wurde.“(5) – Keine guten Voraussetzungen für eine Überprüfung, Modifikation oder Revision der bestehenden Vererbungslehre(n), (deren Vertreter im Übrigen von mehr Zweifel geplagt waren als bei Koestler nachzulesen).

Die Wissenschafts-Situation änderte sich dann erneut in den 80er/90er Jahren des 20.Jh. – Schritt für Schritt. Neue spezielle biologische Tatsachen, tierexperimentelle Befunde, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse usw. ließen sich nicht mehr befriedigend in der ‚traditionellen‘ Vererbungs- und Evolutionslehre erklären. Eine Umbruchsituation entstand. Eine Reaktion darauf war das Entstehen der aktuellen „Epigenetik“ sowie das Auftreten des modernen „Neo-Lamarckismus“(6) – ein Ansatz, der hier aber nicht thematisiert wird: Zwei Neuerungen neben den etablierten Lehrmeinungen, die überaus kritisch beäugt wurden.

Heute jedenfalls geht man dann auch ‚nachsichtiger‘ mit dem ‚Erbe‘ Paul Kammerers in Sache „Geburtshelferkröte“ um: Noch Ende der 80er hieß es bei Franz W. Wuketits: „Kammerer glaubte, die Frage nach einer Vererbung individuell erworbener Merkmale sei endgültig zu bejahen, räumte aber ein, daß nicht jede beliebige körperliche Veränderung sich auch erblich manifestieren muß. Er versuchte, an Amphibien zu zeigen, daß sich Anpassungsmerkmale durch einen Standortwechsel (von Land- und Wasserleben) erblich übertragen lassen. Überzeugen konnten diese Versuche aber nicht, weil Anpassungsmerkmale durch Tuscheinjektionen vorgetäuscht worden waren, vermutlich nicht von Kammerer selbst, sondern von Leuten, die ihm eine Fälschung unterschieben wollten. Jedoch wurde Kammerer dadurch in den Selbstmord getrieben (ein häßliches Kapitel der Wissenschaftsgeschichte).“(7) Nach der Entdeckung und Verbreitung der „Epigenetik“ wurden die Stimmen noch nachdenklicher, aber – wie oben ausgeführt – auch aufmerksamer: Kammerer sei im Ergebnis seiner Experimente wohl auf die Epigenetik gestoßen und für seine Mutmaßungen seelisch ‚hingerichtet‘ worden. (8) Soweit endete ein trübes Kapitel dieses ‚Wissenschaftskrimis‘. Abgeschlossen ist er nicht.

3. Was ist die „Epigenetik“ heute

Kurz gesagt: a) Sie ist eine noch relativ junge, in Entwicklung begriffene neue Forschungsrichtung.
b) Sie ist eine ‚neue – epigenetische – Anschauung‘ und Erkenntnis, dass Organismus und Umwelt sehr wohl miteinander interagieren.
Aber wie? Indem epigenetisch wirksame Faktoren und Prozesse (über die noch zu reden sein wird) in die Genaktivitäten eingreifen (können),
ohne dass sich die Gene selber ändern. Die Genaktivität einer Zelle (oder eines Verbundes) kann dabei sowohl hoch- und runter-, ja auch ein- und abgeschaltet werden. Zudem postuliert die „Epigenetik“, dass sich diese (zumeist situativen) Neujustierungen in der Genregulation auch zeitweise erblich fixieren können, sich also generationsübergreifend wiederfinden. – Die „Epigenetik“ unterscheidet sich mit diesen ‚begrenzten‘ Feststellungen vom modernen „Neo-Lamarckismus“, der tiefer und weitergehend den Spuren Lamarcks in der Evolutionstheorie folgt, einer Spur, deren Berechtigung oder Unmöglichkeit – wie oben gesagt – jedoch kein Gegenstand dieser Abhandlung ist.

Was weiß man derzeit über die „Epigenetik“?

Gene sind unsere Erbsubstanz. Gene wirken nicht nur über die Abfolge ihrer Bausteine, sondern auch über den Grad ihrer Aktivität. Und diese Arbeitsweise ist veränderbar. Gene im Körper sind nun beileibe keine Autisten, keine ‚Eigenbrötler‘, die ihre Programme abspulen, unbeeindruckt von den Bedingungen des Lebens. Die Umwelt kann sehr wohl vermittels epigenetisch wirksamer Faktoren auf die Genaktivitäten zugreifen, wie umgekehrt auch der tätige Mensch auf die Umwelt und der Mensch auf sich selber einwirken kann.
Gene steuern im Körper nicht nur, sie werden auch gesteuert. Ein bestimmtes Wechselspiel zwischen Organismus und Umwelt, das dem Körper mithin eine bestimmte Feineinstellung zur Umwelt, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit erlaubt – und der Umwelt Zugriffe auf das Erbgut. Auch dem menschlichen Gehirn, der menschlichen Psyche, werden noch eigene Eingriffsmöglichkeiten und Aktivitäten auf die eigentliche, vorgegebene körperliche Konstitution sowie die äußere Lebenswelt eröffnet. Diese Einsichten sind nicht völlig neu. (9) Die „Epigenetik“ als weitere Disziplin (10) neben der „Stresstheorie“, der „Psychoneuroimmunologie“ usw. bereichert ‚nur‘ unser Wissen.

Epigenetisch wirksame Faktoren sind vielgestaltig. Wissenschaftlich untersucht werden da z.B. Ereignisse, Erlebnisse, individuelle und gesellschaftliche Lebensstile, Umweltbedingungen, chemische Noxen usw.
Doch wie übersetzen sich diese Faktoren
gegebenenfalls ins Physiologische? Das ist Gegenstand der Forschung. – Wie beschreibt die Fachwissenschaft die wichtigsten physiologischen Mechanismen, um in das Schaltprogramm der Gene einzugreifen?
– „Einerseits wirkt die Umwelt gezielt auf die Aktivität einzelner Gene ein, indem sich bestimmte chemische Moleküle an die DNA anheften. Diese ‚Methylgruppen‘ hängen wie Flaggen am Erbgut und können Gene an- und abschalten.“ – „Andererseits wirken Umwelteinflüsse über die „Verpackung“ der DNA auf die Genregulation. Das Erbmolekül liegt nicht „nackt“ im Zellkern, sondern ist auf bestimmte Proteine (Histone) gewickelt. So entsteht ein dichtes Knäuel aus DNA und Histonen. Doch damit Gene abgelesen werden können, müssen sie für die Zellmaschinerie zugänglich sein. Sprich: die Histonhülle muss die DNA zeitweise freigeben.“
„Beide Mechanismen ändern nichts an der Abfolge des genetischen Codes.“
Das ist noch nicht das Ende des menschlichen Erkenntnisweges, zumal sich nicht nur die theoretische Medizin (Naturwissenschaft) sondern auch die praktische Medizin für die Epigenetik interessiert, interessieren muss. (11)

4. Stress und Co: Es gibt mögliche, vererbbare Nachwirkungen epigenetisch wirksamer Faktoren -als genetische Reaktionsmuster – bis in die 3./4. Generation (oder mehr), die dann erlöschen

Wir haben hier nicht den Raum, die Wirkung der „Epigenetik“ auf die Arbeitsweise der Gene bzw. auf die genetische Vererbung ausführlich darzustellen. Ich verweise auf die Literaturliste mit ihren Querverweisen (10); Literatur, die sich immer noch ‚explosionsartig‘ vermehrt. Zwei Beispiele aus dem Themenkomplex müssen uns hier genügen:
Hungerkatastrophen
„In Herbst 1944 traten Eisenbahner in den deutsch besetzten Niederlanden in einen Streik, um die vordringenden Alliierten zu unterstützen. Der erste britische und amerikanische Vorstoß schlug fehl, und die Nazis rächten sich durch die Verhängung eines verheerenden Nahrungsmittelembargos. Der daraufhin ausbrechenden Hungersnot fielen mindestens 20 000 Niederländer zu Opfer.
Dieser
Hongerwinter sollte noch lange nach der Befreiung im Jahr 1945 Spätfolgen zeitigen. Bei den Kindern von Frauen, die während dieser Zeit schwanger waren, stieg das Risiko für ein breites Spektrum von Gesundheitsproblemen, darunter Diabetes, Fettleibigkeit und Herzkrankheit. In einigen Fällen war sogar noch bei ihren Enkelkindern die Gefahr gesteigert, untergewichtig zur Welt zu kommen. Während man sich die Gesundheitsschäden der ersten Generation noch mit Unter- und Mangelernährung während der Schwangerschaft erklären kann, ist dies für die zweite Generation unmöglich: Zur Zeit ihrer Geburt waren die Niederlande längst wieder wohlhabend. Es musste also ein erblicher Effekt sein.“… Das Beispiel „deutet darauf hin, dass die Gesundheit von Menschen von der Ernährung der Großeltern beeinflusst wird. Doch nach der herkömmlichen Evolutionstheorie sollte das unmöglich sein. … Die niederländischen (und schwedischen, d.V.) Erfahrungen lassen sich durch die sogenannte Epigenetik erklären. Das Genom scheint sich an gewisse Umwelteinflüsse, denen es ausgesetzt war, zu ‚erinnern‘. Normalerweise beschränken sich epigenetische Effekte auf somatische Zellen, in denen sie Gene abschalten oder ihre Aktivität regulieren. Manchmal werden aber auch Spermien und Eizellen modifiziert, sodass der Effekt auf die nächste Generation übertragen wird. Erworbene Eigenschaften können, wie sich zeigt, gelegentlich doch erblich werden.“… „Die Ernährung der Eltern hat offenbar zu einer epigenetischen Reprogrammierung der Kinder und Enkelkinder geführt und deren Stoffwechsel auf die damalige Ernährungssituation ausgerichtet. Das wiederum hatte ein erhöhtes Diabetesrisiko usw. zur Folge.“(12)
Auch aus Schweden liegt eine entsprechende historische Studie zu Hungerereignissen vor. Sie bestätigt die oben angegebenen epigenetischen Schlussfolgerungen.

Stress
Historisches
: Bereits in den 30er Jahren stieß der kanadische Biochemiker Hans Selye auf das sogenannte „Stress-Syndrom“: Belaste man nämlich, womit auch immer, einen höher stehenden tierischen oder menschlichen Organismus, so ließen sich, jenseits der spezifischen Wirkung des Agens, so Selye, schablonenhafte Körperreaktionen aufzeigen. – Also ein Syndrom, das sich in „Symptomen und Anzeichen“ darstelle; sich in umschriebenen Organveränderungen, in der Ausschüttung hormoneller (biochemischer) Signalstoffe, in Nervenaktivitäten, usw. äußere. – Selye definierte Stress dann auch als die „unspezifische Antwort des Körpers auf die an ihn gestellten Anforderungen aller Art.“
Wie kann man sich diese Kennzeichnung bildhaft vorstellen? Unzweifelhaft sind Kälte, Infektionen oder Emotionen unterschiedliche Faktoren, die spezifische Wirkungen haben. Selye fasste sie jedoch auch als Stressoren, als treibende Kräfte, die unbeschadet ihrer konkreten Gestalt Stress auszulösen in der Lage seien. Der Stressor ist als Begriff also eine Abstraktion. Wie aber wirkt ein Stressor im Körper? Doppelt – antwortet da der Stress-Theoretiker. Betrachten wir beispielsweise die normale Antwortreaktion des menschlichen Körpers auf einen Kältereiz. Was wir sehen, ist das Zittern der Gliedmaßen, um mehr Wärme verfügbar zu machen. Das ist nach Selye eine ebenso
spezifische Antwort des Organismus (auf die spezifische Wirkungsqualität eines Stressors) wie die Kontraktion der Gefäße bei Kälte, um einen Wärmeverlust an der Körperoberfläche zu vermeiden. Parallel dazu reagiere der Körper aber auch unspezifisch, sozusagen schablonenhaft, mit „Stress“. Stress sei also eine Anpassungsleistung des Körpers, um einer Belastung entgegenzutreten, sie zu bändigen. Das festgeschriebene Paket an Gegenmaßnahmen nannte Selye das „Allgemeine Anpassungssyndrom“(weil es eine umschriebene Ansammlung von Gegenreaktionen beinhaltet). – Stress in der Definition Selyes (bzw. der Wissenschaft) ist also das Gegenteil von dem, was die breite Öffentlichkeit umgangssprachlich dazu meint: Nicht ‚äußere‘ Belastung, die auf den Menschen zukommt, ist Stress, sondern die körperliche Reaktion auf einen „Stressor“ ist Stress. Umgekehrt, alles was Stress erzeugt, jenseits seiner Gestalt, ist per Definition ein Stressor. Und zu guter letzt, Stress ist das, was übrig bleibt, wenn wir von den spezifischen körperlichen Veränderungen auf einen ‚äußeren‘ Reiz absehen.- Biologisch und sozial gesehen ist das Stress-Phänomen ein evolutionärer Vorteil. Es ermöglicht dem menschlichen Körper, „Kraftreserven“ bei Anforderung zu mobilisieren; es ermöglicht Flucht oder Kampf, ja auch Erdulden, hilft aber auch in den größeren oder kleineren Belastungssituationen des Alltags – indem es hormonelle und nervale Anpassungsleistungen im Körper zur Verfügung stellt. Kurz: Wer keinen Stress hat, ist eigentlich tot.
Selye beschrieb das „Allgemeine Anpassungssyndrom“
in Aktion dann so: 1. „die Alarmphase“, d.h. die Wahrnehmung des Stressors, die Veränderungen der Körperfunktionen durch den Stressor; 2. die „Phase des Widerstands“, d.h. den Zustand der Gegenreaktion und der Anpassung; 3. die „Phase der Erschöpfung“, bei übermäßigem oder Dauerstress, die Überleitung in die unkontrollierbaren Stresswirkungen. – In der Phase der Erschöpfung kann das positive „Syndrom“ also auch ins Negative umschlagen, entgleisen. Auf seiner Basis können die sogenannten „Anpassungskrankheiten“ entstehen: spezielle Magen-/Darm-, Herz-/Kreislauf-, Nierenerkrankungen usw.

H. Selye (1907 – 1982) musste sein – hier nur angedeutetes – „Stress-Syndrom“, seine diesbezüglichen ‚Modellvorstellungen zum Stress‘, mehrfach überarbeiten und ergänzen, entweder auf Druck seiner Opponenten oder vor dem Hintergrund allgemein gewachsenen Wissens:
– So hatte sich z.B. gezeigt, dass das „Stress-Syndrom“ in Erscheinungsform und Ausprägung durch Zusatzfaktoren sehr wohl modifizierbar war oder einer Konditionierung unterliegen konnte: a) durch die Anwesenheit von inneren Faktoren wie „Erbanlagen, Alter, Geschlecht“, b) durch äußere Faktoren wie „die Behandlung mit bestimmten Hormonen, Arzneimittel, Diäten“ usw. Heute müsste man noch als c) hinzufügen: es spielten bei den ‚Stressereignissen‘ auch das Gehirn/das ZNS, sowie die „höhere Nerventätigkeit“, also das Psychische, eine bedeutende Rolle, sei es in der Wahrnehmung der Belastung, im Erleben, in der Verarbeitung, in der Bewältigung.- Kurz: Die Wirkung eines Stressors kann so selektiv verstärkt oder abgemildert (verformt oder gegebenenfalls sogar unterdrückt werden); ein an und für sich harmloser, verträglicher Stress kann so auch äußerst schädliche Wirkung entfalten.
– Um ein weiteres Beispiel für die Grenzen des alten Modells anzusprechen: Man kann keineswegs vollständig vom Charakter eines Stressors abstrahieren, da dieser zwar eine spezifische (und unspezifische) Wirkung am Körper zeigt, aber auch unterschiedlich in die Substanz des Organismus eingreifen kann. „Psychosozialer Stress“ am Arbeitsplatz ist beispielweise doch etwas anderes als die atomare Strahlung in der Nähe eines Atomkraftwerkes oder -unfalls.
Solche Kurskorrekturen und empirisch erhobenen Daten waren dann auch eine Hilfe, die „Organwahl“ bei „Stresserkrankungen“ besser zu verstehen sowie einzusehen, warum zwei ungleiche Menschen bei gleicher Situation nicht dasselbe ‚Schicksal‘ erleiden müssen – aber können.

In den 70er/80er Jahren wurde auch in der politischen Linken viel über das „Stressphänomen“ und die „Arbeitswelt“ diskutiert. Je nach politischem Standpunkt unter den Schlagworten: „Kritik der bürgerlichen Wissenschaft“, „Industriearbeit und Herrschaft“, „Ökologie der Arbeit“ usw. Hintergrund dieser Diskussionen waren das Aufkommen moderner Produktionsmethoden in (West)-Deutschland, die Wirtschaftskrisen mit ihrer Arbeitslosigkeit, die zunehmende Verdichtung der Arbeitsabläufe, die Arbeitshetze, die galoppierende Zahl an Herz-Kreislauferkrankungen (die sich nicht mehr als „Managerkrankheiten“ verharmlosen ließen) usw. Viele der damaligen, zumeist gesellschaftskritischen Positionen und Arbeitsergebnisse sind inzwischen wieder ‚vergessen‘. Doch es wird Zeit, sie erneut auszugraben.

Heute weiß man erheblich mehr über das „Stressphänomen“ (13) als zu Zeiten Selyes (was nicht heißen soll, seine Arbeiten umstandslos beiseite zu legen). Zu den neueren Erkenntnissen zählt u.a., dass ‚lang andauernder‘ Stress auf die Genaktivitäten zugreifen kann sowie, dass die dabei entstandenen genetischen Reaktionsmuster auch epigenetisch vererbbar sind.
Hier liegen tierexperimentelle und humangenetische Beobachtungen und ‚Experimente‘ vor, so z.B. bei Traumata (14).

Die oben angesprochenen Weichenstellungen am Gen-Verhalten nach Stress sind mehr oder weniger negativ zu bewerten. Es gibt jedoch auch ein positives Beispiel epigenetischer Vererbung durch Stress: „Frühkindlicher Stress kann … auch dazu führen, dass Betroffene später mit schwierigen Situationen besser umgehen können. Auch diese Fähigkeit wird auf die Nachfolgegenerationen vererbt. Dies hat Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik der Universität und der ETH Zürich, an Untersuchungen mit Mäusen unlängst herausgefunden.“ (15) – Leider erklärt der hier zitierte Kurzartikel nicht, welche Mechanismen hinter dieser Stärkung stehen (können). – Da dürfte weiterer Forschungsbedarf bestehen.
Dies muss im Übrigen auch für eine weitergehende Frage gelten, nämlich, warum die einen stark auf ‚seelische’ Erschütterungen und Traumata reagieren und ein Leben lang daran herum knabbern, die anderen schwach und sie wegstecken. Liegt der Schlüssel dazu auch in der DNA oder im aktiven gesellschaftlich sozialisierten Gehirn, in Beidem, oder worin? Es sind noch so viele Fragen unbeantwortet.

Löschung? Epigenetische Vererbung bei Traumata

Wie beständig ist die epigenetische Vererbung am Gen-Verhalten? Auch hier sind noch viele Fragen offen. Nach heutigem Verständnis erlischt das neu induzierte Reaktionsmuster ‚irgendwann‘, will sagen nach ‚einigen‘ Generationen automatisch. Warum, wann und nach welcher Gesetzmäßigkeit? Eine strittige Frage jedoch konnte inzwischen geklärt werden: Neuerdings verweisen Untersuchungen darauf, dass epigenetische Fixierungen am „Gen-Schalter“ kurzfristiger‘ gelöscht werden können – unter gewissen Bedingungen. Dazu heißt es im Wissenschaftsjournal: „Schwere Traumata schlagen sich dauerhaft auf Körper und Verhalten nieder und werden sogar an den Nachwuchs vererbt. Das ist aber wohl kein unausweichliches Schicksal, wie nun ein Schweizer Team um Isabelle Mansuy feststellte. Die Forscher zeigten mit Mäusen erstmals, dass die epigenetische Vererbung von Traumata unter Umständen rückgängig gemacht werden kann. / Die Wissenschaftler hatten neugeborene Mäusemännchen in unregelmäßigen Abständen immer wieder von ihrer Mutter getrennt. Die so traumatisierten Nager reagierten in belastenden Situationen bald anders als unvorbelastete Artgenossen, sie verloren etwa die Scheu vor hellem Licht. Dieses Verhalten übertrugen sie auch auf ihren eigenen Nachwuchs, obwohl dieser stressarm aufwuchs. / Hinter einer solchen Traumavererbung steckt ein epigenetischer Effekt: Stress bewirkt, dass am Gen für einen Glukokortikoid-Rezeptor einige Methylgruppen verschwinden und die Genaktivität steigt. Auf Grund der Demethylierung bilden die Zellen mehr Rezeptoren für Neurotransmitter aus – die Tiere reagieren daher empfindlicher auf bedrohliche Situationen. Das geschieht vor allem im Hippocampus, jenem Teil des Gehirns, der Stress und Angst reguliert. Da die Veränderungen auch in den Keimzellen stattfinden, ist der Nachwuchs ebenfalls betroffen. / Doch in Mansuys Experimenten ließ sich all das durch eine besonders stressfreie Umgebung wieder rückgängig machen: Die fehlenden Methylgruppen legten sich unter diesen Umständen offenbar wieder an die DNA an – epigenetische Traumavererbung lässt sich demnach also gezielt beeinflussen und sogar umkehren.“ (16)

Prävention?

Kann man sich vor negativ wirkenden Belastungen/Stressereignissen vorbeugend schützen? In gewisser Weise schon. Ein nicht uninteressanter Artikel dazu erschien vor einiger Zeit in der „FAZ“. (17) Die hier vorgestellten und empfohlenen Maßnahmen zur Anti-Stress-Strategie bei „Psychoterror“ lauten dann u.a. so: „Gebot des Nichthandelns“, Selbstdisziplin, die „buddhistische Geisteshaltung des Nichtdenkens“, Meditation, Langsamkeit, gutes gesundes Essen, eine neue Pausenkultur z.B. das „Anti-Stress-Nickerchen“, …
– Alles schön und gut, wenn man das notwendige ‚Kleingeld‘ und die gesellschaftlichen Möglichkeiten für diesen ‚Jahrmarkt‘ der Gelegenheiten hat. Für viele Mitmenschen in der kapitalistischen Arbeitswelt oder Gesellschaft ist es ‚utopisch‘. – Wie heißt es doch so schön bei B. Brecht (frei nach Villon): „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!“
– Selbstverständlich kann man auch eine andere, von der FAZ nicht thematisierte Strategie wählen, sagen wir, eine persönliche oder politische Vermeidungsstrategie bei ‚Stressereignissen‘, z.B. in der ‚Arbeitswelt‘ durch den Gang zum Betriebsrat, durch kollektive Aktionen oder durch gewerkschaftliches Engagement – um der Arbeitshetze oder dem Mobbing Einhalt zu gebieten. Nur ist das nicht immer möglich.

Natürlich sind personenbezogene „Anti-Stress-Rezepte“ wie die Entschleunigung, innere Ruhe und Gelassenheit, „gute Arbeit“ und Befriedigung usw. nicht deshalb falsch, weil sie häufig scheitern, also an der gesellschaftlichen Realität im Kapitalismus zerschellen, sich die körperliche Ertüchtigung als Flopp erweist oder sich die guten Vorsätze im „Neuen Jahr“ in Luft auflösen. Die Sehnsucht bleibt. Eine ganze ‚Anti-Stressindustrie‘ lebt vom Versprechen auf individuelle Befreiung und Befriedung. Doch auch ein Märchen für große Kinder bleibt ein Märchen, ein Märchen, dessen letzter Akt oft in Achselzucken oder Frust endet. – Stattdessen rennen wir weiter von Termin zu Termin, von Arbeitsstück zu Arbeitsstück, von … … im gesellschaftlichen ‚Hamsterrad‘.

Ein entscheidender Baustein zur (gravierenden) Stress-Vermeidung in der obigen Aufzählung der „FAZ“ fehlt hier sowieso: Die (notwendige) gesellschaftlich verordnete Prävention vor ‚Stressschäden‘ durch den(bürgerlichen) Staat. Dieses ‚Vergessen‘ in einem Kapitalisten-Blatt dürfte kein Zufall sein. Gelten doch einschneidende Staatsgesetze gegen die Profitwirtschaft, gegen den hemmungslosen Raubbau an Leib und Leben, aber zu Gunsten der Werktätigen / der bedrohten Umwelt, als verwerfliches Übel. Durchaus logisch vom kapitalistischen Standort aus – der ja nicht der unsrige seien kann. Wie schon Karl Marx im „Kapital“, hier zur ‚Arbeitswelt‘ vermerkte: „Die kapitalistische Produktion … ist … weit mehr als jede andere Produktionsweise, eine Vergeuderin von Menschen, von lebendiger Arbeit, eine Vergeuderin nicht nur von Fleisch und Blut, sondern auch von Nerven und Hirn.“/ „Das Kapital ist rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“/ „Zum ‚Schutz‘ gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.“/ usw.
Kurz und gut: Es gibt viele Gründe, schon in der bürgerlichen Gesellschaft dem Kapital gesellschaftlich wirksame Schranken zu setzen sowie Gründe, in politischer Perspektive mit dem Kapitalismus zu brechen, ihn zu brechen.

 

5. Exkurs: Eine „Vererbung der anderen Art“- Schadstoffe und ihre Wirkung

„Laut Untersuchungen an Mäusen und Ratten … können bestimmte Substanzen wie Agrochemikalien, Kerosin und sogar einige allgemein gebräuchliche Kunststoffe das Erbgut epigenetisch verändern. Mögliche Folgen sind Krankheiten und Fruchtbarkeitsstörungen, ohne dass die eigentliche DNA-Sequenz der Tiere angetastet wird. Noch überraschender war jedoch folgende Beobachtung: Wenn derartige Epimutationen in Eizellen und Spermien auftreten, können sie dort anscheinend fest eingebaut und so auf spätere Generationen übertragen werden – zusammen mit allen damit einhergehenden Gesundheitsrisiken. / Langzeituntersuchungen an Menschen weisen inzwischen darauf hin, dass Epimutationen auch bei uns manchmal von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Das könnte bisher ungeahnte Bedeutung für die öffentliche Gesundheit haben. So lassen sich die teils dramatischen Zunahmen an Fettleibigkeit, Diabetes und anderen Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten vielleicht auf den Kontakt der Eltern und Großeltern mit Umweltgiften wie DDT und Dioxin zurückführen.“ (18) Die (kontrovers geführten) Diskussionen zum Problemkomplex stehen erst am Anfang. Sie sollten aber unsere Aufmerksamkeit finden.

6. Eine kleine Zwischenbetrachtung

1) Viele Naturwissenschaftler und Mediziner, die sich mit der Epigenetik beschäftigen, betreiben ‚reine Wissenschaft‘. Mit der Feststellung, was „Epigenetik“ ist und wie sie wirkt, sind sie zufrieden. Die gesellschaftspolitische Seite der Entdeckung interessiert sie nicht sonderlich; sollte sie aber.
2) Die Bourgeoisie ist nicht wirklich daran interessiert, die gesellschaftspolitischen Erkenntnisse aus der Epigenetik an die große Glocke zu hängen. Als Hauptakteure und Gestalter der sozialen und ökologischen Verhältnisse im Kapitalismus sind sie stets in Gefahr, auf der Anklagebank der Geschichte zu landen.
3) Die politische Linke hat sich bisher wenig für die „Epigenetik“interessiert. Viele Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft sind ihr eh ein Buch mit 7 Siegeln oder rauschen schlicht an ihnen vorbei. Lange ist es her, dass sich Marx und Engels mit der „Dialektik der Natur“ beschäftigt haben – und dabei vorbildlich agierten.
4) Marxisten aber müssen sich um die Erkenntnisse der Naturwissenschaft und damit auch der „Epigenetik“ bemühen, und das nicht nur für ein wissenschaftliches Weltbild und deren Erklärung, sondern auch, weil sie die soziale Frage und den Klassenkampf ins Zentrum ihrer Politik und Propaganda stellen (sollten).

7. Historisches: Der Arbeiterführer August Bebel macht sich Gedanken zur Begründung des Sozialismus – und greift nicht nur auf die Schriften von Marx und Engels zurück

1879 erschien erstmals die Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel (1840 – 1913). Sie erreichte noch zu seinen Lebzeiten 50 Auflagen. Bebel war seinerzeit, also vor dem Ersten Weltkrieg, Vorsitzender der deutschen Sozialdemokratischen Partei. Er war nicht nur ein Anhänger von Marx und Engels, also Sozialist bzw. Kommunist; in der angezeigten Schrift verarbeitete er auch Ansichten der Evolutionsbiologen Charles Darwin (1809 – 1882) und Jean Baptiste Lamarck (1744 – 1844).

Zu Lebzeiten Bebels las man die genannten Evolutionsbiologen noch als verwandte Seelen, ohne das Trennende über zu bewerten. In der Tat, diese Biologen stimmten in einigen Fragen überein, in anderen nicht. Einigkeit bestand darin, von einer Transformation der Arten auszugehen. Gravierende Unterschiede zwischen den Beiden gab es in der Bestimmung der Evolutionsmechanismen selbst. Das soll uns hier aber nicht beschäftigen.
Wichtig für unser Thema „Epigenetik“ ist lediglich die Feststellung, dass Darwin in seinem eigenen Lehrgebäude auch die Möglichkeit einer „Vererbung erworbener Eigenschaften“ sah (und nicht ablehnte, wie häufig unterstellt). Allerdings fand er für die konkreten
Vererbungsmechanismen keine vertretbaren, heute noch gültigen (wissenschaftlichen) Antworten.

Erst in den 20er Jahren des 20. Jh., unter dem Eindruck der Wiederentdeckung der Studien Gregor Mendels (1822 – 1884) sowie angesichts der Arbeiten August Weismanns (1834 – 1914) betonte der „Neo-Darwinismus“ der (späteren) Gegenwart die Gegensätze der Veteranen, und das mit erheblicher Aggressivität.
Doch fertig wurde der „Neo-Darwinismus“ mit dem ‚Gespenst‘ Lamarck nicht.
Wie dem auch sei: In der erwähnten Schrift Bebels finden sich gewisse ‚Spuren‘ all dieser Autoren (ihrer Ansichten und einiger ihrer Probleme). Im Übrigen sollte diese Arbeit des Autors im Kern Seiten der angestrebten sozialistischen „Zukunftsgesellschaft“ skizzieren und illustrieren, sie bezog aber auch zu weltanschaulichen und politischen Fragen der Zeit Stellung. Ein Auszug sei hier kurz dokumentiert:
Bebel schrieb u.a.: Männer wie Frauen sind trotz körperlicher Unterschiede zu vergleichbar hohen Leistungen fähig. Lediglich die (bestehende) Gesellschaft hemmt dieses Vermögen, behindert die Emanzipation der Frau. „Da eine solche Entwicklung (zur körperlichen und psychischen Entfaltung der weiblichen Potenzen, d.V.) Sache der Lebensbedingungen und der Erziehung, naturwissenschaftlich derb ausgedrückt, der „Züchtung“ ist, darf als sicher angenommen werden, dass das physische und geistige Leben der Menschen zu den schönsten Resultaten führt, sobald der Mensch
zweck- und zielbewußt in seine Entwicklung eingreift. / Wie Pflanzen und Tiere von ihren Existenzbedingungen abhängen, günstige sie fördern, ungünstige sie hemmen, und Zwangsverhältnisse sie nötigen, ihr Wesen und ihren Charakter zu ändern, vorausgesetzt, dass sie unter deren Entwicklung nicht zugrunde gehen, so ergeht es auch dem Menschen. Die Art und Weise, wie der Mensch seine Existenz gewinnt und erhält, beeinflusst nicht nur sein äußeres Wesen sondern auch sein Fühlen, sein Denken und Handeln. Sind ungünstige Existenzbedingungen der Menschen – das heißt Mangelhaftigkeit des Sozialzustandes – Ursache mangelhafter individueller Entwicklung, so folgt daraus, dass durch Veränderung seiner Existenzbedingungen, das heißt seines Sozialzustandes, der Mensch selbst verändert wird. Es handelt sich also darum, die sozialen Zustände in der Weise zu gestalten, dass jeder Mensch die Möglichkeit zur vollen ungehinderten Entwicklung seines Wesens erhält, dass die Gesetze der Entwicklung und Anpassung, die nach Darwin mit der Bezeichnung des Darwinismus belegt werden, zweck- und zielbewußt für alle Menschen zur Wirksamkeit kommen. Das ist aber nur möglich im Sozialismus“. (19)

Das obige Zitat aus Bebels Arbeit ist im Namen Darwins formuliert, von Lamarck inspiriert, und politisch links gewendet. – Soweit zu Bebel, dessen namentlich angezeigte Schrift trotz gewisser Schwächen und Fehler immer noch anregend zu lesen ist – als Plädoyer für die Emanzipation der Geschlechter und den Sozialismus.

Andere Autoren wie Karl Kautsky gingen in der angesprochenen ‚Problematik‘ der ‚Menschheitsverbesserung‘ einen gefährlichen Schritt weiter: Diese Strömung in der alten Sozialdemokratie setzte nicht nur auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen (und den Sozialismus). Sie machte sich auch für eine „Sozialistische Eugenik“ d.h. für „ein gesellschaftliches Streben nach Wohlgeborenheit“ und eine „Sozialhygiene“ („Rassenhygiene“) auf freiwilliger Basis – im Sozialismus – stark. Damit sollte, wie es hieß, eine körperliche „Entartung der Menschheit“ verhindert und diese höher entwickelt werden. (20) – Darüber hinaus gab es in den Reihen der Sozialdemokratie – vor allem nach dem 1. Weltkrieg – des Weiteren Vertreter einer ausgesprochenen „Erb-Eugenik“ bereits unter bürgerlichen Verhältnissen. Man weiß heute hinlänglich, wohin ein solches Engagement alles führen kann.

VIII. Eine Schlussfolgerung aus der „Epigenetik“

Ganz gleich ob man Sympathie für den modernen „Neo-Lamarckismus“ empfindet (der, wie mehrfach betont, hier nicht abgehandelt wird) oder ob man ‚nur‘ die wissenschaftliche „Epigenetik“ zur Kenntnis nimmt, an einer Verbesserung der sozialen Verhältnisse im Kampf gegen die Bourgeoisie und ihren Staat sowie für umfassende politische und demokratische Rechte der Werktätigen im Hier und Jetzt kommt man nicht herum. Denn man will den Schutz des Einzelnen, aber auch der Arbeiterklasse, vor körperlicher und sozialer Verletzung, der Werktätigen vor einem frühen Tod oder Degradation. Insofern hat auch die Epigenetik etwas mit dem Klassenkampf zu tun: Die „Epigenetik“ hat weitere physiologische und erbmäßige Mechanismen enthüllt, wie negative soziale und umweltbedingte Faktoren (im Kapitalismus) auf den Organismus (bzw. die Klasse) einwirken können, sogar über Generationen hinweg. Es reicht daher nicht, sich den Schutz der Ware Arbeitskraft als tagesaktuelle Aufgabe ans sozialistische Revers zu heften oder den konsequenten Lohnkampf zu organisieren, auch der Schutz der Umwelt, der menschlichen und der naturgegebenen, muss Teil unserer politischen Aufgabenstellung sein. Dass der Sozialismus darüber hinaus „der bessere (gesellschaftliche) Arzt ist“, wussten schon die Alten auch, dass er „die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“ einzuleiten in der Lage sei. Wie gesagt: Das Ziel bleibt, aber es bedarf auch der Begründung und politischen Propaganda im Klassenkampf.

 

Literatur und Quellenangabe zum Artikel

1) Alle Zitate aus: Katrin Blawat: Der Froschkönig. Seit 80 Jahren gilt der Biologe Paul Kammerer als einer der größten Betrüger der Wissenschaft – womöglich zu unrecht. in: SZ, 11. Sept. 2009, S. 16

2) zitiert nach: Arthur Koestler: Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen Paul Kammerer oder Für eine Vererbungslehre ohne Dogma. (1971) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Tb. Verl., 1974, S. 48

3) siehe A. Koestler, 1974

4) siehe Fußnote 3, sowie: Arthur Koestler: Der Mensch – Irrläufer der Evolution. (1978) Frankfurt/M.: Fischer Tb. Verl., 1989

5) Christiane Nüsslein-Volhard, in: Die Zeit, Nr. 14, 27. März 2008, S. 43

6) Harro Albrecht: Großvaters Erblast. Können erworbene Eigenschaften vererbt werden? Unsinn, sagen die Darwinisten. Aber die Wirklichkeit ist komplizierter als das Dogma. in: Die Zeit, Nr. 37, 4. Sept. 2003, S. 37/8 / Manuela Lenzen: Ein Phantom ist zurückgekehrt. Jean-Baptiste Lamarck, die Epigenetik und die Vererbung erworbener Eigenschaften: Eine Bestandsaufnahme. in: FAZ, 26. Aug. 2009, S. N4

7) Franz M. Wuketits: Evolutionstheorien. Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988, S. 52/53

8) sinngemäß K. Blawat, 2009, S. 16 / Neuerdings wird auch ein Komplott rechter Kreise gegen Kammerer in Erwägung gezogen. Siehe: Michael Hagner: Entlastung für den Krötenfälscher. Darwinismus und politische Intrigen: Klaus Taschwer präsentiert Belege für eine neue Hypothese zum spektakulären Sturz des Biologen Paul Kammerer. in: FAZ, 21. Okt. 2016, S. 10 / Klaus Taschwer: Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit. München: Hanser, 2016

9) Ernst Peter Fischer: Geschichte des Gens. Frankfurt/M: Fischer TB. Verl., 2003 / Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. (2002) München . Zürich: Pieper Tb. Verl., Aktualisierte und erweiterte 3. Aufl., 2014

10) siehe u.a.: Bernhard Kegel: Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden. Köln: Dumont Verl., 2009. / Peter Spork: Der Zweite Code. Epigenetik – wie wir unser Erbgut steuern können. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verl., 2009. / „Spektrum der Wissenschaft“Highlights: Gene und Umwelt. Wie wir werden, was wir sind. Nr. 2/2016

11) siehe z.B.: Reinhard Door: Auf gesund geschaltet. Epigenetik. Die noch relativ junge Forschungsrichtung könnte viele Krankheiten erklären. Denn sie zeigt, welche Bedeutung das An- und Ausschalten von Genen hat – über Generationen hinweg. in: Apotheken Umschau, 1. Juli 2016, S. 62 – 67 / Joachim Müller-Jung: Was die Hacker im Genom suchen. Auch die Natur programmiert. Die Epigenetiker mischen da immer besser mit, und die Medizin will sich das jetzt zunutze machen. in: FAZ, 24. Aug. 2016, S. N1

12) Mark Henderson: 50 Schlüsselideen Genetik. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verl., 2010 , S. 188 – 191

13) siehe u.a. die weltanschaulich durchaus unterschiedlich tickenden Übersichtsarbeiten: Jürgen R. Nitsch (Hrsg.): Stress. Theorien, Untersuchungen, Massnahmen. Bern . Stuttgart . Wien: Verl. Hans Huber, 1981 / M.M. Chananaschwili – K. Hecht: Neurosen. Theorie und Experiment. Berlin: Akademie-Verl., 1984 / Ludgar Rensing, M. Koch, B. Rippe, V. Rippe: Mensch im Stress. Psyche, Körper, Moleküle. München: Elsevier-Spektrum Akademischer Verl., 2006 / Christian Schubert (Hrsg.): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer, 2011

14) siehe u.a.: Moshe Szyf: Verankerung frühkindlicher Erfahrungen im Erbgut. in: Spektrum der Wissenschaft Highlights: Gene und Umwelt. Nr. 2/2016, S. 30 – 35

15) Epigenetik: Traumata und deren Überwindung können vererbt werden. (Kurzinformation d. V.) in: „gesunde medizin“, Nr. 4/2016, S. 18

16) lf: Stress. Späte Korrekturen. in: Gehirn und Geist, Nr. 09/2016, S. 7

17) Joachim Müller-Jung: Unsere Seele braucht auch die Leere. Bald wissen wir alles über Stress, nur wissen wenige, wie sie den Folgen des Psychoterrors entrinnen. Ein Anti-Stress-Exkurs zwischen Medizin und ehrfürchtiger Geistigkeit. in: FAZ, 3. Aug. 2016, S. N1

18) siehe u.a.: Michael K. Skinner: Vererbung der anderen Art. in: Spektrum der Wissenschaft, Nr. 7/2015, S. 19 – 25

19) August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. (1879,ff.) Bonn: Verl. J.H.W. Dietz Nachf. , 1994, (Neusatz der 1929 erschienenen Jub. Ausgabe, mit allen relevanten Vorworten; d.V.), hier zitiert S. 249/50

20) siehe u.a.: Karl Kautsky: Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft. Stuttgart: Verlag J.H. W. Dietz Nachf. , 1910. / Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890 – 1933. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger, 1995