Die Macht der Geschichtsschreibung

„Immer schreibt der Sieger die Geschichte der Besiegten.“ Berthold Brecht

Über die Langzeitwirkung des „Kurzen Lehrgangs“

Alfred Schröder

Der 100. Jahrestag der russischen Revolutionen hat die Aktualität der Brecht’schen Aussage wieder vor Augen treten lassen, und dies gleich in zweifacher Hinsicht – sowohl für die bürgerliche als auch für die marxistische Geschichtsschreibung. So war es nicht anders zu erwarten, dass fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR, dem Zerfall der Sowjetunion und dem noch unrühmlicheren Ende des sozialistischen Aufbaus in den osteuropäischen Staaten die bürgerliche Geschichtsschreibung diese Niederlagen feiern und erneut das theoretische wie politische Scheitern des Marxismus verkünden würde. Der Jahrestag der russischen Revolutionen bot dazu einen willkommenen Anlass.

Die bürgerliche Kritik am russischen Oktober …

Die Frankfurter Allgemeine vom 07.11.2017 tat dies denn auch standesgemäß mit einem Artikel von Manfred Hildermeier, einem führenden Vertreter der bürgerlichen Russland-Forschung: „Wenn es 1917 in Russland eine Revolution im üblichen Sinn gab, dann fand sie nicht im Oktober, sondern Ende Februar statt. Nur im Februar gingen Massen auf die Straße, deren Protest eine jahrhundertealte Herrschaft ins Wanken brachte. Dagegen entsprach der ‚Rote Oktober‘ eher dem Drehbuch eines Militärputsches. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss ihn. Ein gefügiges Komitee des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats bereitete ihn sorgfältig vor, und eine parteitreue Miliz half bei der Besetzung strategisch wichtiger Einrichtungen. Wie ein scharfsinniger Augenzeuge kommentierte, war der Umsturz militärisch schon vollzogen, bevor er politisch überhaupt begonnen hatte. …
Das Friedensdekret verkündete zum Entsetzen der Alliierten und zur Freude der deutschen Generäle den endgültigen Rückzug Russlands aus dem Ersten Weltkrieg. Das Landdekret sagte sich faktisch von einem Grundsatz des Marxismus los, indem es auch im neuen Staat, der ja ein sozialistischer sein sollte, nichtöffentliches Eigentum erlaubte. Sowohl die Radikalität als auch der taktische Opportunismus, der darin zum Ausdruck kam, machten Schule. Lenin zeigte sich schon in den ersten Stunden nach seinem Sieg als Politiker, der die endlich errungene Macht um keinen Preis wieder abgeben würde – nicht einmal, wenn dafür lang bekämpfte Positionen übernommen wurden.“

Diese Interpretation war zu erwarten gewesen, und inhaltlich wurde von dieser Seite eigentlich nichts Neues ins Feld geführt. Was Hildermeier in der FAZ schreibt, hatte vor ihm bereits Richard Pipes in seinem Standardwerk über die russische Revolution ausgiebig entwickelt.1

und das Schweigen der Linken

Interessant ist etwas ganz anderes: die Sprachlosigkeit, mit der die Linke dieser zu erwartenden und inhaltlich keineswegs überraschenden Interpretation der russischen Revolutionen bis dato entgegentritt. Sie meidet die offene Auseinandersetzung über den Charakter der Februarrevolution ebenso wie die Auseinandersetzung über die Oktoberrevolution. Dies war im direkten Nachgang der Oktoberrevolution bis in die 20iger Jahre des 20. Jahrhunderts ganz anders gewesen. Da wurde von Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Paul Levy, Karl Kautsky, Georg Lukacs sowie Lenin und Trotzki heftig über diese Revolutionen, ihre Klassengrundlagen und ihren Charakter gestritten. In den im Jubiläumsjahr erschienen Publikationen finden wir bisher noch nicht einmal ein Anknüpfen an diesen Auseinandersetzungen, in denen die Grundfragen der Revolutionen in Russland durchaus herausgearbeitet wurden.

Die heutige Linke weiß, insofern sie ehrlich zu sich selbst und den Tatsachen ist, dass der bewaffnete Aufstand in Petrograd ebenso wie die „Erstürmung des Winterpalais“ in heroischen Bildern von Sergej Eisenstein dargestellt wurden, aber eben im Film. Dies war nicht die Wirklichkeit des russischen Oktobers. Da liegen die Beschreibungen der bürgerlichen Kritiker deutlich näher an der damaligen Realität. Warum wird diese Diskrepanz nicht aufgedeckt und erklärt? Warum überlässt man dieses historische Terrain den bürgerlichen Kritikern?

Nicht anders bei dem von Hildermeier angesprochenen „Landdekret“. Dieses „Landdekret sagte sich faktisch von einem Grundsatz des Marxismus los“, schreibt Hildermeier, und die große Mehrzahl linker Publikationen behandelt die Kernfrage der russischen Revolutionen, die Landfrage, bestenfalls am Rande, ohne den Leninschen „Sündenfall“ wider den Marxismus überhaupt näher zu betrachten. Auch dies war bei den oben angeführten Zeitgenossen der russischen Revolutionen in Europa ganz anders. Für Luxemburg und Levy war die Bauernpolitik der Bolschewiki der zentrale Kritikpunkt an der russischen Revolution. Von diesem „Landdekret“ kann es keinen direkten Weg zum Aufbau des Sozialismus geben, so die – durch die Geschichte belegte – Position der deutschen Kommunisten.2

Und ebenso wenig weiß die heutige Linke den von Hildermeier paraphrasierten „scharfsinnigen Augenzeugen“, der vom militärisch bereits vollzogen Umsturz spricht, „bevor er politisch überhaupt begonnen hatte“, zu interpretieren oder gar zu widerlegen. Wer so sprachlos vor den Kritikern und historischen Fakten kapituliert, darf sich nicht darüber beschweren, von der bürgerlichen Historiographie ignoriert zu werden, wie die linken Publikationen zum Centennium der Revolutionen. Der akademische Marxismus in Deutschland ist tot, das hat das Jubiläumsjahr jedem Interessierten deutlich gemacht.

Die marxistische Geschichtsschreibung der russischen Revolutionen

Und damit zurück zu der Geschichte, die von den Siegern geschrieben wird. Auf die russischen Revolutionen trifft dies, wie bereits eingangs bemerkt, gleich zweifach zu. Nicht nur die bürgerliche Geschichtsschreibung konnte am Ende des letzten Jahrhunderts ihren Triumph über den sogenannten orthodoxen Marxismus feiern, zuvor hatte in der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts die bolschewistische Interpretation der russischen Revolutionen ihren Siegeszug über die Tatsachen angetreten.

Im Oktober/November 1917 hatte die Bolschewistische Partei gestützt auf die Arbeiterklasse gesiegt, danach den Bürgerkrieg siegreich beendet und während der Weltwirtschaftskrise eine erfolgreiche Industrialisierung des Agrarlandes begonnen. Die Sieger des Oktoberumsturzes, des Bürgerkrieges und der Industrialisierung haben in den 30iger Jahren die Geschichte ihres Sieges geschrieben und dabei das tatsächliche historische Geschehen genauso „geglättet“ und „uminterpretiert“, wie Hildermeier z.B. fortwährend die Rolle der russischen Bourgeoisie und des zaristischen Generalstabs in der Februarrevolution „uminterpretiert“.3 20 Jahre nach den Ereignissen wurde die Geschichte der Revolutionen „kodifiziert“, so wie die Sieger die Interpretation der Geschichte für die politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit benötigten. An die Stelle der Klassen und ihres politischen Handelns trat die bolschewistische Partei und ihre entschlossene Führung durch Lenin und Stalin.

Der 100. Jahrestag der russischen Revolutionen wäre nach den politischen und theoretischen Niederlagen der Linken in den letzten Jahrzehnten Anlass genug gewesen, diese Geschichtsschreibung ernsthaft zu hinterfragen, zurück zum Revolutionsjahr selbst zu gehen, um die Klassen, ihre Parteien und politischen Programmatiken neu zu bewerten. Doch was finden wir?

Die Mehrzahl der Publikationen zum Revolutionsjahrestag wiederholt – vermutlich von den Autoren noch nicht einmal bewusst reflektiert4 – die von Josef Stalin im „Kurzen Lehrgang“5 kanonisierte Fassung der Ereignisgeschichte des Revolutionsjahres samt passend gemachter politischer Interpretation. Wir erfahren, dass die Arbeiterklasse die Februarrevolution zum Siege führte,6 hören von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, die die frisch eroberte Macht der Bourgeoisie „auslieferten“,7 von der dadurch entstehenden „Doppelherrschaft“,8 die mit den Juliereignissen in Petrograd ihr Ende fand. Ab Juli soll dann die Bourgeoisie uneingeschränkt und ungeteilt die gesamte politische Macht besitzen,9 obwohl sie dieselbe ja schon im März 1917 von den Menschewiki und Sozialrevolutionären „ausgeliefert“ bekommen hatte. Im alleinigen Besitz dieser Macht hatte die Bourgeoisie nichts Eiligeres zu tun, als eine militärische Erhebung zu organisieren und zu finanzieren, um die zum „Anhängsel der Provisorischen Regierung“ (siehe Fußnote 9) degradierten Sowjets zu zerschlagen.10 Die sich anschließende Niederlage Kornilows war dann die Ouvertüre zur „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“.11 Mit leichten Nuancen, zumeist der Unkenntnis des Originals geschuldet (und teilweise auch noch fehlerhafter als das Original), wird uns diese Geschichte der russischen Revolutionen, die der „Kurze Lehrgang“ dekretiert hat, wenig hinterfragt bis heute als „marxistische Interpretation“ der Ereignisse präsentiert.

Dabei ist der „Kurze Lehrgang“ beileibe keine Analyse der russischen Revolutionen, sondern, leicht erkennbar, im Wesen eine Rechtfertigungsschrift zu den parteiinternen Säuberungen der 30er Jahre, die den Verurteilten ihren „Opportunismus“ in allen Phasen der Parteigeschichte nachweisen will. Eine fast endlose Auflistung von Opportunismus und Verrat durchzieht den Text und schafft schlussendlich ein Melodram über Lenin und eine Handvoll Getreuer, die der russischen Arbeiterklasse den Weg zum Sieg weisen. Statt einer Geschichte von Klassenkämpfen wird eine Geschichte von „Abweichlern“ und Leningetreuen, von Parteitagsbeschlüssen und Resolutionen erzählt, hinter der die wirkliche Geschichte der Klassen und ihrer Auseinandersetzungen in der russischen Revolution verschwindet bzw. bestenfalls zur Illustration herangezogen wird. Und doch bildet diese Schrift, bildet die stalinsche Kodifizierung der Revolutionsgeschichte12 bis heute die Grundlage für die marxistisch geprägte Publizistik zu den Ereignissen des Jahres 1917, von der sich auch die Publikationen zum 100. Jahrestag in Deutschland nicht zu lösen vermögen.

Da hat es schon etwas Amüsantes, wenn sich Stefan Bollinger über die „ewiggestrigen Kreise“13 in Russland 1917 mokiert, ohne zu merken, wie treffend (dieser an sich unpolitische Begriff) auf die deutsche Linke und ihr Geschichtsbild anzuwenden ist. Seit siebzig Jahren erzählt sie, ohne einen einzigen ernstzunehmenden Erkenntnisgewinn, ein und dieselbe Geschichte über Verlauf und Ergebnis der russischen Revolutionen. Wen wundert es dann, dass die Zahl der Interessenten für solche Geschichten immer geringer wird und Veranstaltungen zum Jahrestag der russischen Revolutionen mehr den Charakter nostalgischer Rentnertreffs zur Selbstvergewisserung der Gesinnung haben, als der kritischen Aufarbeitung der historischen Ereignisse zu dienen?

Vom Februar zum Oktober

Man muss in den Publikationen des letzten Jahres lange suchen, um solche Sätze zu finden wie: „Die innere Dynamik der Revolution wurde weniger durch die Beschlüsse des Rates der Volkskommissare bzw. des Rätekongresses bestimmt als vielmehr durch die Massenbewegungen im Lande, die von den Bauern, den Soldaten, von den Arbeitern in den Städten ausgingen und darauf gerichtet waren, die alten Eliten zu entmachten und die alte Ordnung abzuschaffen.“14 Doch wer hofft, dass dieser treffende Satz, (denn auch Lenin war, ebenso wie die Führer der Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Kadetten, ein von den Massenbewegungen getriebener Politiker) den Autor veranlasst, gerade diese Massen, mit ihrem speziellen russischen Gesicht, mit ihren politischen Führern und deren Programmen herauszuarbeiten, der wird von Deppes Buch enttäuscht. Auf den wenigen Seiten, die den russischen Revolutionen gewidmet sind,15 finden wir nicht eine wirkliche Neuinterpretation oder Korrektur der Ereignishistoriographie.

Bei W. Hedeler finden wir in seiner lesenswerten Sammelrezension16 einen Hinweis auf eine andere Sicht des damaligen Revolutionsgeschehens. Er schreibt, dass „die meisten russischen Autoren in der Einschätzung der Februarrevolution als bäuerlicher, von den Soldatenmassen getragenen Revolution einig sind“, während „ihre Meinungen über die Ereignisse im Oktober weit auseinander (gehen)“.17 In den deutschen Publikationen, allen voran die beiden bereits zitierten Veröffentlichungen von F. Deppe18 und S. Bollinger, suchen wir solche Auseinandersetzungen und Neuinterpretationen vergeblich.

Denselben Gedanken vom bäuerlichen Charakter der Februarrevolution entwickelt eine interessante Netz-Publikation zum russischen Revolutionsjahr aus der Sicht der bäuerlichen Massenbewegung. Hier wird der Ansatz der russischen Sozialrevolutionäre verfochten und die Revolutionen werden aus diesem Blickwickel betrachtet. Allein der Versuch einer Neuinterpretation der Ereignisse macht die Publikation bereits lesenswert. „Das soziale Subjekt, seine Kampfinhalte und sozialen Bewegungsformen bestimmten die Revolution – das sind Bäuerinnen und Bauern, Bauernsoldaten und die bäuerlich geprägten Arbeiter/innen in der Stadt. Sie haben aus einer sich gerade transformierenden Riesenkluft zum herrschenden Komplex heraus und in genügender quantitativer Stärke die Revolution zusammen mit einem Spektrum von politischen Militanten aus der radikalen Linken gemacht. Demgegenüber war die Taktik der Bolschewiki für den Radikalisierungsprozess nicht ursächlich. Schon gar nicht konnte eine einzelne Partei wie die Bolschewiki die revolutionäre Bewegung führen; das soziale Massensubjekt der russischen Revolution hatte seine ökonomische Grundlage vor allem in der familienzentrierten Selbstversorgungswirtschaft von Kleinbauern …“19

Hier wird mit Recht herausgearbeitet, dass die russische Bauernschaft „das soziale Massensubjekt der russischen Revolution“ bildete. Und dieses „Massensubjekt“ hat durch das Überlaufen der bäuerlichen Regimenter in der Hauptstadt das Schicksal der vom Proletariat begonnenen Februarrevolution entschieden. Wohlgemerkt: die Bauernschaft hat die Revolution nicht begonnen – wie unsere Volkstümler unterstellen20 –, aber sie hat ihren Ausgang entschieden. Die daraus resultierenden Konsequenzen schildert Suchanow: „Die unmittelbare Beteiligung der Armee an der Revolution war nichts anderes als eine Form der Einmischung der Bauernschaft in den revolutionären Prozess gewesen. (…) Jetzt war die Bauernschaft in graue Militärmäntel gekleidet. Das war der erste Punkt. Außerdem fühlte sie sich als Hauptheld der Revolution. Sie stand … nicht abseits, sondern beugte sich hier mit dem vollen Gewicht ihrer Masse und dazu noch mit dem Gewehr in der Hand über die Wiege der Revolution. Und sie erklärte: Ich bin der Herr nicht nur des Landes, nicht nur des russischen Staates, nicht nur der nächsten Periode der russischen Geschichte, ich bin der Herr der Revolution, die ohne mich nicht hätte vollzogen werden können.“21 Die den Sieg der Februarrevolution sichernde bäuerliche Armee bestimmte letztendlich den politischen Kurs des Sowjets. Und sie behielt diese Stellung bis zum Oktober 1917.

Dies war nicht das Ergebnis eines „ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins des Proletariats“, wie Lenin dies in seinen April-Thesen verfocht22 und Stalins „Kurzer Lehrgang“ wiederholt23, sondern Ausdruck der tatsächlichen Machtverhältnisse. Konsequenterweise kam damit auch nicht die Bourgeoisie an die Macht, wie Lenin es behauptet, sondern der Sowjet. Die Bildung der 1. Provisorischen Regierung als bürgerliche Regierung war ein Wunsch der Sowjetführung,24 die sich selbst acht Monate lang weigerte, die Regierung zu übernehmen. „Die provisorische Regierung war vollkommen machtlos. Sie bestand, aber sie regierte nicht und konnte es auch nicht. Nach einer Formulierung Gutschkows besaß sie ‚keines der Attribute, die eine Staatsgewalt überhaupt zu haben pflegt.‘ Die sowjetische Mehrheit aber wollte nicht die Staatsgewalt übernehmen und fürchtete sich vor ihr. Doch ob sie wollte oder nicht – die Staatsgewalt ruhte in ihren Händen.“25

Sie ruhte in den Händen des Sowjets und dieser Sowjet war fest in der Hand der Sozialrevolutionäre und rechten Menschewiki, die zusammen die Bauernschaft, das städtische Kleinbürgertum und die sozialpatriotischen Teile des Proletariats vertraten. Ab März 1917 herrschte in Russland damit die „demokratische Diktatur“ des Kleinbürgertums, dessen entscheidender Kern die bewaffnete Bauernschaft war, über das revolutionäre Proletariat und die Bourgeoisie.

Was macht es so schwer, mit der „orthodox marxistischen“ Erzählung von der Herrschaft der Bourgeoisie aufgrund der mangelnden Organisiertheit des russischen Proletariats zu brechen? Im Kontext des westlichen Marxismus und nach den Erfahrungen der unzähligen russischen Bauerunruhen war es 1917 – und wie wir sehen, bei vielen bis heute – kaum vorstellbar, dass die russische Bauernschaft die Führung einer Revolution übernimmt. Wie sollte diese unorganisierte Bauernschaft mit ihrer zersplitterten Produktionsweise zu einem koordinierten politisch-militärischen Vorgehen in der Lage sein? Dies traute man nur dem Proletariat oder der Bourgeoisie zu. Im Frühjahr 1917 aber waren die mobilsten und politisch bewusstesten Teile der Bauernschaft nicht nur in der Armee organisiert, sondern durch ihre revolutionsentscheidende Rolle im Februar war ihre politische Partei, die Sozialrevolutionäre Partei, die bestimmende Kraft im entscheidenden Sowjet geworden. Der hieß zwar noch immer Arbeiter- und Soldatenrat, wurde aber selbst in Petrograd zahlenmäßig und politisch von den Deputierten der Bauernsoldaten dominiert.

Natürlich war die Bauernschaft 1917 nicht die Avantgarde der Revolution. Sie war vielmehr ein Bleigewicht an den Füßen des revolutionären Proletariats, wie Suchanow es in seinem Tagebuch der Revolution immer wieder herausarbeitet. Sie hat weder die Februarrevolution „gemacht“, noch die Oktoberrevolution organisiert. In beiden Fällen war das russische Proletariat Initiator der Revolutionen, aber die Bauernschaft hat über den Ausgang beider Revolutionen entschieden.

Die Oktoberrevolution

Mit der Oktoberrevolution wird die politische Dominanz der Bauernschaft über die russische Revolution gebrochen. Im Gegensatz zum „orthodoxen Marxismus“ und der großen Mehrzahl der Centennium-Publizisten der deutschen Linken haben die neuen „Antiimperialisten“ (besser ausgedrückt: die Anhänger der alten russischen Volkstümler) dies sehr wohl begriffen: „Es gab einen politischen Höhe- und Wendepunkt 1917 in Gestalt der Oktoberrevolution. In ihr kulminierte die Tatsache, dass die sozialen Bewegungen eine Zeitlang Gebrauch von politischen Organisationen machen konnten, v.a. von den Bolschewiki, bis die Hauptkampfinhalte von Landverteilung, Ende der Repression und zaristischer Elitenmacht sowie Demobilisierung des Heeres durch die Bewegungen von unten autonom durchgesetzt waren. ….
Es waren die sozialen Bewegungen, die die Inhalte und Abfolge der revolutionären Dynamik bestimmten und der Politik ihren Stempel aufdrückten. Nach der Oktoberrevolution trennten sich die Wege, weil mit der Remigration von Millionen von Soldaten und Arbeiter-/innen in die Dörfer die städtische Kongruenz von politischer Führungskunst/Propaganda etc. und sozialer Militanz an ihr Ende gekommen war
.26

Dies kann man auch anders formulieren. Mit dem Landdekret der Oktoberrevolution – auf das noch einzugehen sein wird – löste sich die Armee auf. Die formelle Auflösung Anfang 1918 durch Trotzki vollzog diesen Tatbestand nur nach. Die Bauernschaft strömte von der Armee in die Dörfer, was zugleich bedeutete: von den städtischen- und Frontsowjets in die Dorfgemeinden. Die Bauernschaft verlor so sowohl ihre Organisationsform (Armee und Sowjet) als auch ihre politische Vorherrschaft über die Revolution. Ab 1918 haben wir wieder regionale Bauernaufstände, wie wir sie aus der russischen Geschichte seit Jahrhunderten kennen. Aber diese regionalen Bauernaufstände können aus sich heraus keine gesamtstaatliche Macht erringen. Voraussetzung dieser Entwicklung war die Anerkennung ihres Agrarprogramms, das weder „marxistisch“ noch „sozialistisch“, sondern schlichtweg rückwärtsgewandt war und auf die Wiederherstellung der Umteilungsgemeinde zielte. Darauf wird im Zusammenhang mit dem „Landdekret“ der Oktoberrevolution noch näher einzugehen sein.

 

Staatsstreich oder Revolution?

Zurück zu Hildermeiers (und Pipes) Kritik an der Oktoberrevolution. Beiden fehlt an der Oktoberrevolution, dass die „Massen auf den Straßen“ sind, die Massen, die der Februarrevolution die Form einer spontanen Volksrevolution gegeben hatten. Und damit verfällt die Oktoberrevolution dem Verdikt des Staatsstreiches oder Militärputsches. Die Oktoberrevolution war aber eine proletarische und damit in Russland notwendig eine Minderheitenrevolution. Sie konnte siegen, weil sie der Bauernschaft das Land gab und dieselbe darum ihren bisherigen politischen Parteien die militärische Gefolgschaft verweigerte. Als Minderheitenrevolution konnte der Oktober nicht die Erscheinungsform einer Volksrevolution, wie im Februar, annehmen.

Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Um den Oktoberumsturz richtig zu verstehen, ist es unumgänglich, die Machtfrage von Februar bis Oktober richtig zu beantworten. Herrscht die Bourgeoisie vermittels der Provisorischen Regierung und gestützt auf eigenständige bewaffnete Organe in Russland oder herrscht das Kleinbürgertum, repräsentiert durch die Sowjets und gestützt auf die Bajonette der bäuerlichen Armee? Ist das erste der Fall, so muss das Proletariat die Macht der Bourgeoisie im bewaffneten Aufstand brechen. Ist das zweite der Fall, kann das Proletariat die Macht ergreifen, indem es die Mehrheit im Sowjet gewinnt, die Provisorische Regierung verhaftet und eine Sowjetregierung bildet. Das letztere war die Wirklichkeit des Oktobers.

Und hier kommen wir nochmals auf Hildermeiers anonymen „scharfsinnigen Augenzeugen“ zurück, der kommentierte, dass „der Umsturz militärisch schon vollzogen (war), bevor er politisch überhaupt begonnen hatte.“ Lassen wir diesen Augenzeugen die Geschichte selbst erzählen, sie ist spannend und lehrreich zugleich:
„Im Grunde vollzog sich der Umsturz in dem Augenblick, als die Petersburger Garnison, die die Stütze der provisorischen Regierung sein sollte, den Sowjet als ihre oberste Autorität und das militärrevolutionäre Komitee als ihren unmittelbaren Vorgesetzten anerkannte. Wir haben gesehen, dass ein solcher Beschluss auf der Versammlung der Vertreter der Garnison am 21. Oktober angenommen worden war. Doch in der damaligen beispiellosen Situation hatte dieser Vorgang, wenn man so sagen darf, abstrakten Charakter. Niemand hielt ihn für einen Staatsstreich. Das braucht uns auch nicht zu verwundern, denn dieser Beschluss änderte ja nichts an der tatsächlichen Situation. Die Regierung hatte auch bis dahin weder reale Macht noch Autorität gehabt. Jetzt erklärte die Garnison offiziell, dass sie die Regierung nicht anerkenne und sich dem Sowjet unterstelle. …
Und dennoch war die Regierung schon am 21. Oktober abgesetzt … Jetzt blieb im Grunde nur noch, das schon Durchgeführte abzuschließen, also erstens, dem Umsturz eine formelle Gestalt zu geben, indem man die neue Regierung ausrief, und zweitens, die Prätendenten auf die Staatsgewalt tatsächlich zu beseitigen, um damit die allgemeine Anerkennung der vollzogenen Tatsache zu erreichen. Die Bedeutung dieser am 21. Oktober vollzogenen Tatsache war nicht nur dem Mann auf der Straße und dem abseitigen Beobachter unklar, selbst die Führer des Umsturzes legten sich darüber keine Rechenschaft ab.“27

Und dabei ist es bis heute geblieben. Die Legende von der Herrschaft der Bourgeoisie, die im Oktober vom Proletariat gestürzt wurde, verhindert bis heute, die Rolle der Bauernschaft in der russischen Revolution zu erkennen und das Wesen der Oktoberrevolution als proletarische Minderheitenrevolution, die von der Bauernschaft geduldet wurde, zu begreifen. Diese Revolution konnte äußerlich die Form eines Staatsstreiches annehmen, da die tatsächliche Macht seit März 1917 beim Sowjet lag. Es musste kein bürgerlicher Staatsapparat zerschlagen werden, das war bereits im Februar/März geschehen, und es musste auch keine bürgerliche Regierung „gestürzt“ werden. Es reichte völlig aus, sie zu verhaften, da sie über keinerlei reale Macht verfügte.

Die von den „Siegern“ geschriebene Geschichte der russischen Revolutionen ist sowohl in ihrer bürgerlichen Fassung (Pipes/Hildermeier) als auch in ihrer bolschewistischen Ausformulierung falsch. Sie muss anhand der Klassen und ihrer Kämpfe um die politische Macht neu geschrieben werden.

(Die Themen „Landdekret“, „Marx und die russische Dorfgemeinde“ sowie die Frage der „Sozialistischen Allparteienregierung“ sollen demnächst in einem weiteren Artikel behandelt werden.)

1 „Obgleich es sich eingebürgert hat, von zwei russischen Revolutionen zu sprechen, die 1917 stattgefunden haben, eine im Februar und eine im Oktober, hat nur die erste diesen Namen wirklich verdient. Im Februar 1917 erlebte Russland eine echte Revolution, weil damals die Unruhen, die zum Sturz des zaristischen Regimes führten, wenn auch nicht unprovoziert oder unerwartet, so doch spontan ausbrachen und weil die provisorische Regierung, die anschließend die Macht übernahm, sogleich überall im Land anerkannt wurde. Nichts davon trifft für den Oktober 1917 zu. Die Ereignisse, die zum Sturz der Provisorischen Regierung führten, traten nicht spontan ein, sondern wurden von einer gut organisierten Verschwörergruppe geplant und inszeniert. Diese Verschwörer benötigten drei Jahre Bürgerkrieg und blinden Terror, um sich die Mehrheit der Bevölkerung zu unterwerfen. Der Oktober war ein klassischer Staatsstreich, die Usurpierung der Regierungsgewalt durch eine kleine Minderheit, die mit Rücksicht auf die demokratischen Gepflogenheiten der Zeit nach außen hin unter der Teilnahme der Massen erfolgte, ohne dass die Massen dabei mitgewirkt hätten.“ (Richard Pipes: Die russische Revolution Bd. 2, Die Macht der Bolschewiki; Berlin 1992, S. 89; Hervorhebungen von mir, A.S.)

2 „Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern, musste geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken. Sie ist nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet den Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf.“ (Rosa Luxemburg, >https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/index.html<)

3 Siehe dazu: Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917; Hamburg 2017, S. 41-42, sowie AzD Nr. 85, S. 14-16

4 Die über 600 Seiten starke Veröffentlichung von Alfred Kosing, („Aufstieg und Untergang des realen Sozialismus“, Berlin 2017), bildet hier eine Ausnahme. Der Autor ist sich der Wirkung und Bedeutung des „Kurzen Lehrgangs“ bewusst und schreibt: „Das Verständnis der wirklichen Geschichte des Sozialismus wird allerdings durch die Legenden und Mythen über die Geschichte der KPDSU, den Bolschewismus, den Leninismus und auch den Trotzkismus erschwert, die insbesondere in der berühmt-berüchtigten stalinschen Geschichte der KPDSU (B) Kurzer Lehrgang sowie durch die stalinsche Version des Marxismus-Leninismus über viele Jahre verbreitet wurden. Leider sind viele von uns diesen Auffassungen mehr oder weniger lange Zeit in gutem Glauben allzu unkritisch gefolgt, wovon ich mich keineswegs ausnehmen kann.“ (S. 16) Soweit so ehrlich.
Nur nutzt diese Ehrlichkeit wenig, wenn der Autor bei keiner einzigen inhaltlichen Frage der russischen Revolution von der im Kurzen Lehrgang vorgenommen Interpretation der Ereignisgeschichte abweicht. Vom feudalen Charakter des zaristischen Staates (S.78 – hier dokumentiert der Autor auch seine Unkenntnis der russischen Agrarverhältnisse) und der Schwäche der russischen Bourgeoisie bis zum sozialistischen Charakter des Oktobers (S. 100) wird der Kurze Lehrgang nacherzählt, mit einem Unterschied: Stalin wird zum zwielichtigen Gesellen, der zwischen Lenin und Kamenev laviert, und Trotzki zum Akteur der Revolution.

5 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Kurzer Lehrgang, Stuttgart 1974, S. 210ff

6 „Die Revolution siegte, weil die Arbeiterklasse Vorkämpfer der Revolution war und die Bewegung der Millionenmassen der Bauern im Waffenrock … leitete.“ (Kurzer Lehrgang, S. 212)

7 „Aber die übergroße Vertrauensseligkeit spielte den Arbeitern und Soldaten einen schlimmen Streich. … Die sozialrevolutionär-menschewistische Leitung des Petrograder Sowjets (traf) alle ihr zu Gebote stehenden Maßnahmen, um … der Bourgeoisie die Macht auszuliefern.“ (Kurzer Lehrgang, S. 214)

8 „Somit ergab sich eine eigenartige Verflechtung von zwei Gewalten, zwei Diktaturen: der Diktatur der Bourgeoisie in Gestalt der Provisorischen Regierung und der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft in Gestalt des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Es ergab sich eine Doppelherrschaft.“ (Kurzer Lehrgang, S. 215) Der Begriff der Doppelherrschaft stammt von Miljukow, dem Führer der Kadettenpartei, der ihn während der Februarrevolution als Kampfbegriff gegen den sich gerade konstituierenden Sowjet prägte. (Siehe dazu Suchanow: 1917. Tagebuch der russischen Revolution; München 1967, S. 87)

9 „Die Doppelherrschaft war zu Ende. Sie endete zugunsten der Bourgeoisie, … und die Sowjets verwandelten sich in ein Anhängsel der Provisorischen Regierung.“ (Kurzer Lehrgang, S. 235) Nur war die Provisorische Regierung ab ihrer zweiten Auflage eine Koalitionsregierung, bestehend aus führenden Vertretern des Sowjets und zweitrangigen Vertretern der Kadettenpartei.

10 „Nachdem die Bourgeoisie die ganze Macht an sich gerissen hatte, begann sie Vorbereitungen zu treffen, um die entkräfteten Sowjets zu zerschlagen und eine unverhüllte konterrevolutionäre Diktatur zu errichten.“ (Kurzer Lehrgang, S. 240 f)

11 „Die Große Sozialistische Oktoberrevolution hatte gesiegt.“ (Kurzer Lehrgang, S. 255)

12 Auch Leo Trotzkis Geschichte der russischen Revolution erzählt mit einer eher noch stärkeren Betonung der Rolle Lenins und der bolschewistischen Partei dieselbe Ereignisgeschichte mit weitgehend identischen politischen Interpretationen, nur spannender lesbar und literarisch anspruchsvoller. Die Rolle Stalins wird erwartungsgemäß anders dargestellt.

13 Stefan Bollinger: Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922; Berlin 2017, S. 11

14 Frank Deppe: 1917/2017. Revolution und Gegenrevolution; Hamburg 2017, S. 85-86

15 Deppe, S. 61- 86. Dabei beginnt er seine Darstellung mit dem Briefwechsel zwischen Marx und Sassulitsch zur russischen Dorfgemeinde. Eine Auseinandersetzung mit der Marxschen Position zur russischen Dorfgemeinde und der Politik der russischen Sozialrevolutionäre findet nicht statt. Marx und Engels werden zitiert, aber nicht hinterfragt, wie dies z.B. Kurt Mandelbaum in seiner Schrift zur Vorgeschichte der russischen Revolution versucht hat (im Netz zu finden unter >https://de.scribd.com/document/28980501/Kurt-Mandelbaum-Marx-Engels-Lenin-Zur-Vorgeschichte-der-Russischen-Revolution-1929<)

16 W. Hedeler: Ein Revolutionsjahr und seine Folgen, Berliner Debatte Initial 2/2017. Inzwischen gibt es einen umfangreicheren zweiten Teil, der weitere Publikationen und Veranstaltungen zum Revolutionsjahrestag vorstellt: Berliner Debatte Initial 4/2017.

17 Berliner Debatte Initial 2/2017, S. 123

18 Wobei die Veröffentlichung von F. Deppe nicht speziell die russischen Revolutionen zum Thema hat, sondern den Versuch unternimmt, auf ein ganzes Jahrhundert von Revolution und Konterrevolution zurückzublicken. Der Versuch einer erneuten Analyse und Neubewertung der russischen Ereignisse hätte dem Autor, dessen ehrliches Bedauern des letztendlichen Scheiterns der Revolution man auf jeder Seite seines Buches spürt, manch einen Umweg über vergleichende Revolutionstheorien etc. ersparen können. Im russischen Oktober ist die Möglichkeit des Scheiterns des Sozialismus erkennbar und wurde durch Luxemburg und Levy bereits formuliert.

19 >http://materialien1917.org/< Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Nr. 10/2017. Zur Kritik an diesem Bauernsozialismus siehe den hier abgedruckten Artikel von Ewgeniy Kasakow: „Mythologie der linken Debatten über die Russische Revolution 1917“ aus PROKLA 187

20 Unsere neuen Volkstümler behandeln die ArbeiterInnen Petrograds in der Februarrevolution als Bestandteil der Bauernschaft.

21 Suchanow, S. 204ff

22 Siehe dazu Schröder/Karuscheit 2017, S. 114 ff

23 Kurzer Lehrgang, S. 228

24 Siehe dazu das interessante Gespräch von Suchanow mit Zereteli zur Bildung der 1. Provisorischen Regierung, in: Suchanow, S. 267

25 Suchanow, S. 345

26 >http://materialien1917.org/< Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Nr. 10/2017

27 Suchanow, S.620 ff.