Mindestlohn und ständische Gewerkschaftspolitik

Heiner Karuscheit

Seit mehreren Jahren führen die Dienstleistungsgewerkschaften Verdi und NGG eine Kampagne für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Nirgendwo sind die Betriebe so zersplittert und gibt es so viele prekäre Arbeitsverhältnisse wie in der Dienstleistungsbranche. Tarifvertraglich so gut wie nicht zu regeln, kämpfen die Dienstleistungsgewerkschaften mit der Mindestlohnforderung zugleich um ihre Existenzberechtigung.

Ursprünglich nur von Verdi und NGG getragen, wird die Kampagne seit dem Bundeskongress 2006 auch vom DGB geführt, zunächst mit einer Mindestlohnforderung von 7,50 € pro Stunde und seit 2010 mit 8,50 €.

In dem Artikel über die Eurokrise wurde festgestellt, dass die Gewerkschaften in Deutschland den Sozialabbau der letzten Jahre nicht ernsthaft bekämpft haben und insbesondere die Industriegewerkschaften nicht hinter der Mindestlohnkampagne stehen. Diese Feststellung wird in Zweifel gezogen, ja es wird sogar befürchtet, man würde sich mit einer solchen Behauptung lächerlich machen. Sehen wir uns daher die Dinge genauer an.

1. Die Industriegewerkschaften als Standesvertreter

Um mit der Gewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie zu beginnen: ein Blick auf ihre Webseite reicht aus, um zu konstatieren, dass sie alle Bemühungen um einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn strikt und völlig unverblümt als Verstoß gegen die Tarifautonomie zurück weist: http://www.igbce.de/portal/site/igbce/menuitem.c8c21b9b1f9ede8a17e9261035bf21ca/ Ja, sie ist sich nicht einmal zu schade, vom Boden der für sakrosankt erklärten Tarifautonomie den DGB zu kritisieren, weil dieser die Mindestlohnforderung übernommen hat.

Wie sieht es mit der anderen Industriegewerkschaft aus, der IG Metall? Hören wir dazu als erstes einen unverdächtigen Zeugen: „Dass die IG Metall nicht zu den glühendsten Verfechtern der Mindestlohnidee gehört, ist nicht neu (…) Offenbar wird die rasante Karriere des Mindestlohns den Metallern langsam unheimlich. Die stolzen und gut organisierten Industriegewerkschaften Metall und Bergbau, Chemie, Energie brauchen keine staatlichen Lohnuntergrenzen. Ein Metaller würde für 7,50 Euro die Stunde kaum zur Schicht antreten. Der Mindestlohn ist ein Projekt der durchsetzungsschwachen Dienstleistungsgewerkschaften, in deren Branchen deutlich schlechter bezahlt wird als in der Industrie.“ (http://www.welt.de/debatte/kommentare/article6071071/Warnung-vor-dem-gesetzlichen-Mindestlohn.html; 08.01.2008)

Das war ein Pressekommentar von Anfang 2008 – also fast 2 Jahre nach dem DGB-Kongress, der einen gesetzlichen Mindestlohn forderte. Nun wird indes behauptet, dass die IGM heute die Mindestlohnforderung unterstützt. Da diese Behauptung nicht durch einen Gewerkschaftsbeschluss zu untermauern ist (den gibt es nicht), wird zum Beweis auf das IGM-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban verwiesen, der in der Tat für einen gesetzlichen Mindestlohn eintritt. Aber wer ist dieser Urban? Darüber klärt ein Blick in wikipedia auf. Urban zählt sich selber zur „Gewerkschaftslinken“ in der IGM und ist Mitglied des Forums Gewerkschaften der Zeitschrift Sozialismus. Mit anderen Worten: er steht der Partei „Die Linke“ nahe, die bekanntlich für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn eintritt. Ansonsten kann man den Angaben noch entnehmen, dass er aus der Bezirksleitung Frankfurt der IGM stammt, also nicht aus den Automobil- und Stahlbezirken im Südwesten und Nordwesten, welche die Politik der Gewerkschaft bestimmen.

Welche Stellung nimmt demgegenüber die Organisation als solche ein? Auch hier verschafft ein Blick ins Internet Klarheit: „Die IG Metall will verbindliche Mindestlöhne für die Leiharbeitsbranche. Ein gesetzlicher Mindestlohn auf Basis der Tarifverträge ist notwendig, um Lohndumping zu verhindern. Um die zunehmende Ungerechtigkeit in der Leiharbeitsbranche zu unterbinden, müssen Leiharbeitnehmer gleich behandelt und bezahlt werden. Das sei das Ziel der IG Metall, das laut Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzende der IG Metall, mit Vehemenz verfolgt werde. Die IG Metall fordert, die Leiharbeitsbranche ins Entsendegesetz aufzunehmen. Damit werden Mindestlöhne für Leiharbeit gesichert.“ (www.igmetall.de/cps/rde/xchg/SID-0A456501-66171D96/internet/
style.xsl/mindestloehne-748.htm
; Hervorhebung durch mich; HK)

Das verdeutlicht, was die IGM unter Mindestlohn versteht: keinen allgemeinen Mindestlohn, sondern (nur) einen Branchenmindestlohn. Darum verlangt sie auch keine allgemeine gesetzliche Regelung, sondern eine Branchenregelung qua Entsendegesetz. Klarer kann man die eigene Klientelpolitik nicht formulieren.

Dabei ist noch anzumerken, dass die Tarifpartner sich in der letzten Stahltarifrunde für NRW, Niedersachsen und Bremen auf die Gleichstellung der Leiharbeiter geeinigt haben, und diese Vereinbarung als Pilotvertrag gilt. Deshalb hat sich eine gesetzliche Regelung, die beide Seiten wegen der gemeinsam hoch gehaltenen Tarifautonomie ungern sehen, erledigt.

Unter den Einzelgewerkschaften sind es also in der Tat nur die Dienstleistungsgewerkschaften Verdi und NGG, die die Mindestlohnkampagne tragen, was sich im übrigen auch durch einen Blick auf die Kampagnenseite der „Initiative Mindestlohn“ feststellen lässt:

www.initiative-mindestlohn.de/initiative/initiative_mindestlohn/

Demgegenüber stehen beide Industriegewerkschaften einer übergreifenden Schutzpolitik für die Klasse der Lohnarbeiter insgesamt fern. Sie verweigern sich nicht nur der Solidarität für die Schwächsten unter den arbeitenden Mitgliedern der Gesellschaft, sondern auch der Solidarität für die Schwestergewerkschaften Verdi und NGG. Unter Berufung auf die Tarifautonomie beschränken sie sich statt dessen auf eine ständische Interessenpolitik für die Lohnabhängigen ihrer Branche. Der Unterschied zwischen IGBCE und IGM ist, dass auf Seiten der IGBCE keine abweichenden Meinungen zu vernehmen sind, während dies in der IGM der Fall ist.

2. DGB und Gewerkschaften

Aber wie verträgt sich diese Feststellung mit der DGB-Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn? Wenn man sich näher mit Gewerkschaftspolitik und –geschichte befasst, wird klar, wie dieser Widerspruch sich auflöst. Bei der Gründung des DGB im Jahre 1949 wurden die Machtverhältnisse zwischen Dachverband und Einzelgewerkschaften festgelegt. „Dieser Dachverband fasste 17 autonome Einzelgewerkschaften im Vollbesitz ihrer weitreichenden Kompetenzen zusammen, so dass die Macht bei den großen Industriegewerkschaften, keineswegs aber, wie es den Anschein hatte, bei der DGB-Spitze mit ihrem streng eingeschränkten Einflusspotential lag.“ (Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, S.10)

Seit damals hat sich an der Machtverteilung zwischen DGB und den ausschlaggebenden Industriegewerkschaften nichts geändert. Diese bestimmen die politische Marschrichtung, und der DGB darf die Musik dazu machen. Das kennzeichnet den Unterschied zwischen Tat und Wort, zwischen Politik und Propaganda. Aufgrund der zersplitterten Arbeitslandschaft im Dienstleistungsbereich und ihrer Organisationsschwäche sind Verdi und NGG auf Unterstützung angewiesen, um der Mindestlohnforderung Gewicht zu verleihen. Würden die Industriegewerkschaften ihr politisches Gewicht in die Waagschale werfen, wäre ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn möglicherweise schon Realität. So lange aber nur die Dienstleistungsgewerkschaften und der politisch einflusslose DGB dafür trommeln, kann es bis dahin noch lange dauern.

Die IG Metall-Führung schlägt mit dieser Arbeitsteilung zwei Fliegen mit einer Klappe. Indem sie selber keinen allgemeinen Mindestlohn fordert, demonstriert sie allen Eingeweihten, an vorderster Stelle der Bundesregierung, ihre Distanz zu dieser Forderung. Gleichzeitig lässt man Kritik aus den eigenen Reihen ins Leere laufen, weil man ja auf die DGB-Kampagne verweisen kann. Wie erfolgreich diese Taktik ist, zeigen Tausende gutgläubiger Gewerkschaftsmitglieder.

3. Zerfallende Hegemonie

Seit geraumer Zeit erleben wir einen allmählichen Zerfall der bürgerlichen Hegemonie über die Gesellschaft. Die Wahlbeteiligung geht (mit Unterbrechungen) von Wahl zu Wahl zurück, und die Entfremdung zwischen der Gesellschaft und den Parteien wächst im selben Maße an. Insbesondere die Volksparteien als politische Massenträger der bürgerlichen Hegemonie unterliegen einer fortgesetzten Auszehrung. Der Anteil der Stammwähler schrumpft, ebenso die Zahl der Parteimitglieder, und die Überalterung der örtlichen Gliederungen lässt sie immer mehr zu bloßen Gerippen ohne Verankerung in den Massen werden.

Auch die Gewerkschaften als Kasematten der bürgerlichen Hegemonie innerhalb der Arbeiterschaft sind einem Erosionsprozess ausgesetzt, der sich seit der Agenda 2010 unter der rot-grünen Bundesregierung und anschließend der großen Koalition beschleunigt hat.

Historisch von der Facharbeiterschaft geprägt, betreiben sie im wesentlichen eine Interessenpolitik für die Stammbelegschaft der Großbetriebe. Unter den Stichworten der „Standortsicherung“ und der „Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“ ist es so aus Anlass der Agenda-2010-Politik der Schröder-Fischer-Regierung zu einer mehr oder weniger informellen Abmachung zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern gekommen, die sich in groben Umrissen wie folgt beschreiben lässt: die Gewerkschaften erhalten Arbeitsplatzgarantien und moderate Lohnzuwächse für die eigene Klientel; im Gegenzug tolerieren sie die Hartz-Reformen, insbesondere den Umbau der Arbeitslosenversicherung mit dem Ziel, die Arbeitslosen zur Annahme jeder Arbeit zu zwingen, sowie die anderen Abbaumaßnahmen in den Sozialversicherungen. „Tolerieren“ heißt in diesem Fall: sie protestieren verbal, ohne aber aktiv zu werden.

Dass dieser „Deal“ nirgends schriftlich fixiert, geschweige denn öffentlich bekannt gemacht wird, versteht sich von selber. Nicht einmal die Einführung der „Rente mit 67“ wurde von den Gewerkschaften mit Kampfmaßnahmen beantwortet, obwohl in diesem Fall auch die eigene Klientel betroffen war und hier über alle sonstigen Schranken hinweg eine gemeinsame Kampffront aller Lohnabhängigen möglich gewesen wäre.

Was es bedeutet, wenn Gewerkschaften nicht sozialdemokratisch durchsetzt sind, konnte man jenseits des Rheins bei den Massenprotesten gegen die Heraufsetzung des Rentenalters sehen. Und in Deutschland? Hier organisierten die Gewerkschaften für die wochenlang streikenden französischen Kolleginnen und Kollegen nicht einmal größere Solidaritätsaktionen, hätten diese doch ein allzu grelles Licht auf die eigene Untätigkeit angesichts der „Rente mit 67“ geworfen.

Im Gefolge der so durchgesetzten Änderungen ist es zu einer erheblichen Ausdehnung des Niedriglohnsektors gekommen und zu einem wachsenden Druck „von unten“ auf die Löhne, so dass die deutsche Lohnentwicklung im europäischen Vergleich zurückgefallen ist.

Nach dem Regierungswechsel 2009 hat sich an der gewerkschaftlichen Kooperationspolitik nichts geändert, wie sich in der Mitbestimmungsfrage zeigt. Das von der FDP und Teilen der Union verfolgte Vorhaben zur Änderung der Mitbestimmungsgesetze, d.h. zur Abschaffung der Montanmitbestimmung und des Gewerkschaftsprivilegs bei der Besetzung von Aufsichtsratssitzen, ist mittlerweile stillschweigend ad acta gelegt worden – als Belohnung für fortgesetztes Wohlverhalten.

4. Täuschungsmanöver und Aufklärungsarbeit

Eine solche Politik bleibt allerdings nicht folgenlos. Indem die Gewerkschaften sich auf einen schrumpfenden Kern alternder Stammbelegschaften stützen, vertieft sich der Graben zu den übrigen Beschäftigten und den Arbeitslosen, mit der Konsequenz, dass die Mitgliederzahlen zurückgehen und der hauptamtliche Apparat reduziert werden muss. Gleichzeitig hat die Hinnahme der Agenda 2010 zu Rissen im Gewerkschaftslager geführt bis hin zu einer politischen Spaltung innerhalb der IGM; eine einheitliche Wahlempfehlung ist heute nicht mehr möglich.

Diese Entwicklung steht erst am Anfang. So wenig wie ein Ende der Zersetzung der Volksparteien abzusehen ist, so wenig ist dies mit der Krise der Gewerkschaften der Fall. Jeder, der den Kapitalismus und die bürgerliche Form der Gesellschaft nicht für das Ende der Menschheitsgeschichte hält, kommt nicht umhin, diese Geschehnisse mit Interesse zu verfolgen.

Gerade wenn man für die Arbeit in den Gewerkschaften eintritt, zeigt das Beispiel der Mindestlohnforderung, welche Aufgaben sich dabei stellen. Die Gewerkschaftsführungen lassen Zehntausende gutgläubiger Mitglieder eine große Kampagne führen, in vollem Bewusstsein, dass die öffentlich propagierten Ziele das eine sind, aber der fehlende politische Wille zur Durchsetzung das andere. Diese Manöver gilt es aufzudecken und über die Arbeitsteilung zwischen dem machtlosen DGB und den untätigen Industriegewerkschaften aufzuklären. Woher rührt die Diskrepanz zwischen dem konsequenten Eintreten der IGM für gleiche Branchenlöhne und dem fehlenden Engagement für einen branchenübergreifenden Mindestlohn? Wie erklären die IG-Metaller vor Ort, dass zwar der eine oder andere Gewerkschaftslinke abweichende Positionen vertreten darf, es aber keinen Beschluss ihrer Gewerkschaft zum allgemeinen Mindestlohn gibt?

Mit anderen Worten: die erste Aufgabe von Marxisten in der Gewerkschaft besteht nicht darin, im Kampagnenstrom mit zu schwimmen, sondern Klarheit über den Charakter der Gewerkschaften hinein zu tragen – in diesem Fall, die spalterische Standespolitik der Industriegewerkschaften zu kritisieren.