Leserbrief zum Aufsatz von Martin Schlegel „Aufstieg und Fall der Profitrate“ (AzD 80)

So wichtig und aufschlussreich Untersuchungen zur historischen Entwicklung der Profitrate sein mögen – einen generellen Fall der Profitrate nachzuweisen oder zu widerlegen – und damit gar das ganze Gesetz – zeugt unter anderem von einem erstaunlichen Fehlverständnis des Adjektivs „tendenziell“. Marx hat diesen relativierenden Begriff ja nicht ohne Grund genutzt und entgegenwirkende Ursachen betrachtet: „Es müssen gegenwirkende Einflüsse im Spiel sein, welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben….“ (MEW 25, S. 242).

Abgesehen davon bedeutet die Marxsche Methode, Gesetzmäßigkeiten unter bestimmten Voraussetzungen zu entwickeln, unter Verweis auf weitere Kapitel oder Zusammenhänge, „die nicht hierher gehören“, und „dass man sie (die Begriffe) nicht in starre Definitionen einkapselt, sondern in ihrem historischen resp. logischen Bildungsprozess entwickelt“ (Engels, Vorwort zu Bd. 3). Es wären also durchaus weitere, über den Abschnitt des 3. Bandes hinausgehende, auch „gegenwirkende“, ökonomische, politische, historische Einflüsse auf die Entwicklung der Profitrate zu analysieren, nicht zuletzt das Klassenbewusstsein und die Kampfkraft des Proletariats.

Um ein viel einfacheres Beispiel zu bemühen: das „allgemeine Gesetz“ der Gravitation bewirkt z.B. den „tendenziellen Fall“ der Planeten in Richtung Sonne. Die entgegenwirkende Ursache ist die Zentrifugalkraft, die die Gravitation „aufhebt“ und das Planetensystem für Jahrmilliarden bislang ziemlich stabil gehalten hat. Der Fall ihrer Trabanten in Richtung Sonne lässt sich also buchhalterisch auch mit redlichster Mühe für historische Zeitspannen kaum nachweisen. Nur selten vorkommende Narren aber würden damit das Gravitationsgesetz als „nicht bestätigt“ bzw. als „widerlegt“ ansehen.

Im Gegensatz zur ewig stationär erscheinenden Planetenmechanik ist die Entwicklung des Kapitalismus (mit mal fallender, mal auch steigender Profitrate) etwas schnelllebiger und chaotischer. Mit dem Abschnitt vom tendenziellen Fall der Profirate und den entgegenwirkenden Ursachen, mit der „Entfaltung der innern Widersprüche des Gesetzes“ ist eines der wichtigsten Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt. Marx (Engels) schließt den Abschnitt nicht zufällig mit „Drei Haupttatsachen der kapitalistischen Produktion …“ und dem kürzestmöglichen Fazit: „Daher die Krisen.“ (MEW 25, S. 277).

Der Neoliberalismus erscheint geradezu als das ideologische Destillat entgegenwirkender Ursachen, eines „Aufbäumens“ des sterbenden Kapitalismus mit dem denkbaren Effekt einer mit wachsender Verelendung vorübergehend steigenden Profitrate (vielleicht auch mit metaphysischen Autoren, für die das Gesetz dann endgültig „widerlegt“ ist). Es gibt aber keinen schlagenderen Beweis für das anhaltende Wirken des Gesetzes als die derzeitige Krisenlandschaft mit einem Wertberichtigungsbedarf von Weltkriegsausmaß.

Mit solidarischen Grüßen

khg, 16. Juli 2012

 

 

Antwort von Martin Schlegel

Lieber Herr G,

herzlichen Dank für die Kritik an meinem Artikel zum tendenziellen Fall der Profitrate.

Zunächst noch mal zur Zielsetzung des Artikels. Ausgangspunkt war die theoretische Debatte zu diesem Thema in den Marxistischen Blättern, die die empirischen Untersuchungen zu diesem Thema ausblendete. Meine Absicht war es, diese Lücke mit einer Literaturübersicht zu füllen und die teilweise unabhängig voneinander entstandenen und mit unterschiedlichen Methoden erstellten empirischen Ergebnisse zu vergleichen. Generell halte ich Debatten ohne Bezug und Bemühen um Fakten für wenig zielführend. Auch bei der Darstellung des Gesetzes ging es mir vor allem um die Begrifflichkeit, nicht um eine Teilnahme an der theoretischen Debatte über den Charakter und die abstrakten Folgerungen des Gesetzes. Das wäre dann eine andere Arbeit geworden und hätte meiner Meinung nach auch den Blick von der auch für mich überraschenden Übereinstimmung der mit unterschiedlichen Methoden ermittelten Profitratenverläufe abgelenkt.

Insbesondere wird aus allen empirischen Untersuchungen deutlich, dass sich im Gefolge der Krise 1974/75 eine neue Situation in der kapitalistischen Akkumulation entwickelte, die in den Büchern von Krüger und Roth genauer untersucht wird (strukturelle Überakkumulation). Nach dieser Krise hat das Kapital, wie aus allen Profitratenverläufen hervorgeht, offensichtlich Mittel und Wege gefunden, den weiteren Verfall der Profitrate zu stoppen. Auch wenn ich es bezweifele, so würde ich doch generell nicht von vornherein ausschließen wollen, dass es dem Kapital sogar gelingen könnte, wieder die Höhe der Profitraten der 1960er Jahre zu erreichen. Wie der Verlauf der Profitraten weiter geht, wird die Zukunft zeigen und lässt sich sicher nicht aus theoretischen Überlegungen ableiten.

Den Vergleich mit der Gravitation finde ich interessant. Meiner Meinung nach gibt es in Teilbereichen der Physik eine Reihe „eherner“ Gesetze, die eine andere, strengere Art von Gültigkeit haben (keine Tendenzen sind) als das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Dies ist vor allem in der Mechanik der Fall, wo Dinge untersucht werden, die keine Entscheidungsfreiheit haben, und das ist der Grund für ihre strengere Gültigkeit. Betrachtet man andere Gebiete der Wissenschaft, wie zum Beispiel die Biologie, die sich mit lebenden, sich entwickelnden Objekten beschäftigt, so käme niemand auf die Idee, nach Gesetzen ähnlich wie in der Physik zu suchen. Erst recht nicht erwartet man das für die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen. Umso bemerkenswerter finde ich, dass Marx es dennoch geschafft hat, auch für diesen Bereich gewisse Gesetzmäßigkeiten (eine Art historischer Logik) zu formulieren, wohl wissend, dass sich daraus keine Zukunft vorhersagen lassen kann. Denn da gesellschaftliche Entwicklung sich immer im Kampf von Widersprüchen vollzieht, gibt es immer verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung.

Abschließend möchte ich nochmals betonen, dass meiner Meinung nach die isolierte Betrachtung der Entwicklung der Profitrate nur begrenzte Erkenntnisse über die Entwicklung der kapitalistischen Akkumulation zu liefern vermag. Für ein besseres Verständnis müssen zusätzliche Einflussfaktoren auf die kapitalistische Akkumulation untersucht werden, wie das vor allem Stephan Krüger in seinen Büchern gemacht hat. Ich hoffe damit, meinen Standpunkt zu den wesentlichen Kritikpunkten erläutert zu haben.

 

Mit solidarischen Grüßen

Martin Schlegel, September 2012