Fritz Gött
Infos und Diskussionen aus der Wissenschaft
I. „Warum Krieg“? Altes und Neues zu einer aktuellen Fragestellung
Ein beliebter Trick ‚bürgerlicher‘ Autoren ist es, kriegerische Neigungen und Ereignisse in die ‚ewige‘ menschliche Natur zu verlegen. Dann erübrigt sich das Nachdenken über historische und gesellschaftliche Grundlagen konkreter Kriege. Denn das Phänomen Krieg in der Geschichte erscheint so als unvermeidlich oder als menschlicher Destruktionstrieb, der periodisch durchzubrechen droht. Die Frage aber „Wem nützt es, wem nützt der Waffengang?“ verschwindet im ‚mystischen Dunkel‘.
>Kain < oder Prometheus
Kriege in der Gegenwart sind eine Realität. Man muss sie erklären und sich dazu verhalten (einschließlich der politischen Unterscheidung und Behandlung in ungerechte und gerechte Kriege). Doch was unterscheidet einen Krieg von einem persönlichen Scharmützel? Emotionen, Aggression und Gewalt finden wir ja in Kriegen ebenso wie manchmal im persönlichen Leben, mal situativ oder im gesellschaftlichen Kontext. Der Mensch, hier als Gattung betrachtet, trägt nun mal sein tierisches Erbe und seine artspezifische Anpassung an ein sich ewig wandelndes historisches Milieu in sich, eben in Gestalt spezifischer Verhaltensformen und Möglichkeiten. Das hat sein Überleben über Millionen von Jahren gesichert. Ist das aber alles? Nein, die Gattung selber hat eine lange Phase biologischer und kultureller Evolutionen hinter sich, die ihre Spuren im Erbgut und im Gehirn der Menschheit hinterlassen haben. Die ‚menschliche Natur‘ und das Körperliche waren dabei einem ständigen Wandel unterworfen. Das evolutionär gewordene Menschengeschlecht ist nicht ‚dasselbe‘ wie zu Beginn der Entwicklung. Doch hat sich der Mensch nicht nur den Naturbedingungen angepasst. Mit der menschlichen Arbeit und zwischenmenschlichen Kooperation sowie mit der damit verbundenen Sprache hat er in die Umwelt eingegriffen, sie verändert und sein eigenes Wesen, „seine Natur“ dabei umgestaltet. Der Mensch wurde so auch ein Schöpfer seiner selbst. Das hat Auswirkungen. – Hier eine kleine Auswahl der Änderungen: Neben den Instinkt-Rudimenten finden wir heute bei jedem Individuum auch offene Verhaltensprogramme, eine Wahlfreiheit der Entscheidung unter gegebenen Verhältnissen. Das gesellschaftliche Naturwesen Mensch hat keinen Raubtiercharakter wie oft unterstellt. Im Gegenteil. Der Mensch ist kein Monster, das Instinkt- und Trieb-gebunden nicht anders kann. Er hat keine angeborene mörderische Aggressivität. Der neuzeitliche Homo Sapiens als Produkt der Geschichte hat als Gattung Vernunft, Sprache sowie soziale Kooperation und Lernbereitschaft als Potenz erworben und damit auch Handlungsoptionen. Das gilt auch im persönlichen Verhalten, freilich unter dem Vorbehalt des jeweils vorgefundenen und überlieferten politischen, gesellschaftlichen und sozialen Rahmens. So ganz frei ist das konkrete Individuum ja keineswegs, denn es kann sich seine biologischen Voraussetzungen, den Ort, das gesellschaftliche Umfeld und die Zeit, in der es lebt, die gegebenen Traditionen und gesellschaftlichen Zwänge oder Freiheiten nicht frei wählen. Aber unsere Persönlichkeit im Hier und Jetzt ist auch kein „nackter Affe“ der instinktmäßig handeln muss. Jeder hat Optionen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Niemand ist ohne Verstand und soziale Interessen, mag sich die Intelligenz und die soziale Kompetenz des Einzelnen dabei auch unterscheiden. Der moderne Mensch hat in der Regel die potentielle Fähigkeit, human auf alles Mögliche zu reagieren, wenn die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmig sind und er seinen Verstand mitmenschlich einschaltet.
Kriege nun sind per Definition und Beschreibung organisierte, bewaffnet ausgetragene, kollektive Gewaltanwendungen, dabei zumeist ideologisch unterfütterte und verherrlichte Auseinandersetzungen zwischen sozialen Gruppen oder Staaten. Der Krieg als institutionelles Unterwerfen und Töten unterscheidet sich damit deutlich von einer privaten, zwischenmenschlichen Fehde oder einem individuellem, zumeist spontanen Gewaltausbruch. Nicht jeder Mensch ist zudem ein Krieger noch wünscht ein Jeder es zu sein. Es gibt kein Krieger-Gen. Kriege sind vielmehr ein gesellschaftliches Phänomen, das dem Einzelnen kaum Wahlmöglichkeiten gibt sich dem zu entziehen. Kriege haben zudem nicht zu allen Zeiten existiert (siehe weiter unten). Sie sind ein historisch relativ spätes Phänomen, an konkrete sachliche- und gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden und damit auch wieder auslöschbar. Kriegerische Akte hat man folglich vom individuellen Verhalten (und sei es ein psychopathologisches) zu unterscheiden. Wer das nicht tut und die Ebenen vermischt, landet leicht als Ideologe im Sozialdarwinismus.
Bereits in den 70er Jahren hat sich der österreichische Sozialist und Philosoph Walter Hollitscher mit den zeitgenössischen biologistischen Thesen zum Thema Krieg beschäftigt bzw. er hat zum Thema „Aggression im Menschenbild“ gearbeitet, deren fragwürdige Sichtweisen aufs Korn genommen und eine wissenschaftliche Kritik dazu vorgelegt. (1) Seine von mir unten angezeigte Arbeit zu Marx, Freud und Lorenz ist immer noch lesenswert, auch wenn man sie heute dem erweiterten Kenntnistand gemäß ergänzen und weiterentwickeln müsste. Man sollte seine Arbeiten nicht in den Antiquariaten vergammeln lassen.
Jetzt in Zeiten (erneuter) gesellschaftlicher Turbulenzen, hat das „Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle“ ein ‚Experiment’ gewagt (2015/16), und sich dem Thema „Krieg“ aus archäologischer Sicht – mit einer großen Show – genähert. Politisch neutral versteht sich, und doch aufschlussreich.
Der kiloschwere Begleitband zur Ausstellung (2) spannt den Betrachtungsbogen weit. Abgehandelt werden hier Themen wie: Aggression im Tierreich (Ameisen, Schimpansen); Ethnologische Beobachtungen am Menschen; Gewalt im Paläolithikum; Kriegerische Konflikte von der Jungsteinzeit bis zur Bronze-/Eisenzeit; Der Dreißigjährige Krieg in Mitteldeutschland; Waffen und Waffentechnik; usw.
Die hier aufgezeigten Fakten und vorgetragenen Interpretationen lassen sich in der AzD schon aus Platzgründen nicht wiedergeben.
Der Krieg – eine historische Spurensuche
Eine Aussage des Panoramas will ich aber hervorheben. Die These: Von wirklichen kriegerischen Auseinandersetzungen kann erst ab der Jungsteinzeit, also der Sesshaftigkeit des Menschen, gesprochen werden. Wie das? In einem Übersichtsartikel schreibt der Ausstellungsleiter und Direktor des Landesmuseums Halle, Harald Meller, u.a.: „Nach momentaner archäologischer Erkenntnis entstand das Phänomen Krieg also bald nach dem Beginn des Neolithikums (d.h. der Jungsteinzeit, d.V.) im Zusammenhang mit Bevölkerungswachstum, neuen Besitzverhältnissen, Territorialität, fortschreitender Hierarchisierung sowie Lagerungsmöglichkeiten (Nahrung, Ressourcen, symbolische Werte), aber auch der Möglichkeit Besitz zu rauben (Viehherden. Obwohl individuelle zwischenmenschliche Gewalt für das Paläolithikum (die Altsteinzeit, d.V.) belegt ist, können wir dabei in keinem einzigen Fall von Krieg sprechen. Dieser könnte mit der frühesten Sesshaftigkeit und Besitzstrukturen in komplexen Wildbeutergesellschaften beginnen, wobei hier die Nachweise noch nicht ausreichen. Sicher beginnt er jedoch bald nach dem Beginn des Neolithikums zeitlich versetzt zwischen dem Vorderen Orient (siehe Jericho, ca. 9400 v. Chr.) und Mitteleuropa mit der entwickelten mitteleuropäischen Bandkeramik (ca. 5200 v. Chr.).“ (S. 23/4) – Wichtig ist, dass diese Aussagen des Autors durch das archäologische Material der neuzeitlichen Forschung gestützt werden und keine Mutmaßung sind. Der vorliegende Band dokumentiert diese Einsichten eindrucksvoll.
Man könnte es aber auch noch anders, nämlich marxistisch ausdrücken: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der historischen Entstehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und dem Phänomen Krieg. Nicht zufällig, sondern gesetzmäßig. Kriege sind an konkrete sozio-ökonomische Verhältnisse gebunden, was das Kultur-historische ‚Beiwerk‘ im Denken, jene ideelle Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins in den Köpfen keineswegs ausschließt, sondern notwendig einschließt. – Aus der Gebundenheit des Kriegsphänomens an konkrete Gesellschaftsformationen leite ich nunmehr einen optimistischen Umkehrschluss ab: dass mit der Entwicklung der menschlichen und ökonomischen Produktivkräfte einerseits und mit dem zu erkämpfenden Sozialismus/Kommunismus (=Vergesellschaftung der Produktionsmittel) andererseits, auch jene gesellschaftlichen Grundlagen erschaffen werden können, um den Krieg in die Rumpelkammer der Geschichte zu verbannen. Er war und ist eine Geißel der Menschheit, mit der man sich nicht abfinden sollte. Dass der Kapitalismus auf diesem politischen Wege ebenfalls als Quelle „moderner Kriege“ beseitigt werden muss, liegt dabei auf der Hand. Denn es ist eine „Unmöglichkeit die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen“, wie es bei den Klassikern des Marxismus heißt.
Literatur:
- Walter Hollitscher: Aggression im Menschenbild. Marx, Freud, Lorenz. Frankfurt/Main: Verl. Marxistische Blätter GmbH, 1970
(2) Harald Meller und Michael Schefzik (Hrsg.): Krieg. Eine Archäologische Spurensuche. Begleitband zur Sonderausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale). Halle (Saale): Theiss, 2015
II. Die Kontroverse um die „menschliche Willensfreiheit“ geht weiter
Seit Jahren tobt ein Streit unter Philosophen und Neurowissenschaftlern, ob dem Menschen Willensfreiheit zukommt. Auch unter den Anhängern des naturwissenschaftlichen Materialismus ist die Meinung dazu nicht einheitlich. – Derzeit konzentriert sich der Streit auf die Frage, wer der Initiator oder Entscheider beim Handlungs- und Verhaltensakt des Menschen ist, das Gehirn oder das „Ich“ (also mein Wille). Doch lauert die Frage, wer das Gehirn eigentlich inhaltlich programmiert, weiter ‚ergänzend‘ im Hintergrund. – Einem philosophischen Materialisten und monistisch denkenden Menschen mag die obige Frage nach der so gestellten „Willensfreiheit“ gekünstelt und abstrus erscheinen, da der Mensch in seinem Verständnis mit dem Gehirn (dem ZNS) denkt und mit dem ganzen Körper agiert, aber das Sein, das pralle Leben unser Denken und Handeln bestimmt. Doch die Hirnforschung wirft immer wieder Fragen auf, die einer materialistischen Beantwortung oder Bewertung bedürfen. Sie zu ignorieren würde nur das Tor zum philosophischen Idealismus öffnen, der ganz andere Positionen zum Thema vertritt. Letztlich ist es auch eine praktische Frage, die hier abgehandelt wird, denn wer kann die Welt schon verändern ohne Willensfreiheit.
Ein Experiment Libets und seine Interpretation durch G. Roth
Ausgangspunkt des derzeitigen Streits ist eine spezifisches Experiment Benjamin Libets, dessen Ergebnisse 1983 publiziert wurden. Vorausgegangen war diesem weiter unten dargestellten Laborexperiment die Einsicht, dass bei einer selbst initiierten, willentlichen Bewegung des Menschen in der Hirnstromkurve ein Ausschlag zu registrieren war, ein sogenanntes Potential. Nicht etwa zeitgleich mit der Bewegung, sondern ca. 1 Sek. bevor diese ausgeführt wurde. (Kornhuber/Deecke, 1965) Libet nun versuchte Jahre später zu klären, ob das Auftreten des Bereitschaftspotentials im Gehirn auch etwas mit einer bewussten Entscheidung der Person (z.B. den Finger zu heben) zu tun habe. In der Versuchsanordnung wurde der Proband also angehalten Auskunft über den genauen Zeitpunkt seines bewussten Entschlusses abzugeben. Im Ergebnis stand fest, das die Entscheidung zur Bewegung (des Fingers) ca. 200 Millisekunden vor der Ausführung der Handlung fiel. „Da das Bereitschaftspotenzial, wie schon Kornhuber und Deecke beobachtet hatten, aber bereits etwa eine Sekunde vor der Bewegung einsetzte, bedeutete dies, dass der Zeitpunkt der bewussten Entscheidung zur Bewegung dem Einsetzen des Bereitschaftspotenzials folgte, ihm also nicht vorrausging. Der Zeitpunkt der von den Probanden angegebenen bewussten Entscheidung hinkte dem Beginn des Bereitschaftspotenzials damit um durchschnittlich etwa 800 Millisekunden hinterher. Das Gehirn der Probanden war also – wie es schien – bereits vorbereitend aktiv geworden, bevor die Probanden ihre bewusste Entscheidung getroffen hatten.“ (J. Bauer)
Namhafte Hirnforscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer leiten aus diesem Experiment Libets nun weitgehende Mutmaßungen (und weltanschauliche Aussagen) ab:
– „Weil das Gehirn, so ihre Argumentation, bereits ein Bereitschaftspotenzial produziere, bevor eine Person die bewusste Entscheidung zu einer Bewegung getroffen habe, sei der freie Wille des Menschen ein Trugbild. Das bewusste Ich bilde sich zwar ein, Entscheidungen zu fällen. Vor dem bewussten Ich habe aber immer schon das Gehirn entschieden, das Ich nicke dessen Entscheidung sozusagen nur nachträglich ab. „Nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet“, so Roth (Roth, 2003).“ (J. Bauer, 2015, S. 196/7)
..- Doch ist bei Roth der Entscheider nicht einfach das Gesamtgehirn. Er differenziert im Gehirnaufbau und Entscheidungsablauf (und begibt sich noch weiter auf die glitschige Bahn der Unterstellung): „Es gibt durchaus kognitive und logisch-rationale Prozesse, die in unserer Großhirnrinde ablaufen und wenig von Emotionen beeinflusst werden, aber nur dann, wenn die Zentren des limbischen Systems sie dies „tun lassen“. Diese limbischen Zentren bewerten alles, was unser Gehirn verarbeitet, danach, wie wichtig es ist. Je wichtiger, desto stärker durchdringen Emotionen unser Denken und Planen. Handlungsabsichten können zwar rein rational entstehen, aber die Entscheidungen zum Handeln werden immer im Rahmen unseres teils unbewussten, teils bewussten emotionalen Erfahrungsgedächtnisses getroffen. Diese Entscheidungen können von den zuvor angestellten rationalen Überlegungen drastisch abweichen – übrigens ohne dass wir uns dessen immer bewusst werden.“ (Roth, 2009, S. 4).
Nicht wenige Kritiker Roths sehen hinter dieser Position eine verdeckte Anlehnung an die Psychoanalyse Sigmund Freuds, nur dass dessen Modelle (von der besonderen Macht des Unbewussten, des Sexualtriebes usw.) physiologisch neu drapiert würden.
– Des weiteren entwerten Roth und Singer die Schuldfähigkeit eines Verbrechers. Denn sie folgern: Wenn nicht das „Ich“ für ein Verbrechen verantwortlich ist, sondern das Gehirn, so relativiert sich auch die Schuldfähigkeit des Übeltäters; eine Position der Autoren, die nicht unwidersprochen geblieben ist.
Gegenrede
Libet zieht solche Schlussfolgerung (en) aus ‚seinem‘ “ Bereitschaftspotential“ nicht. Neurowissenschaftler wie Kornhuber, Deecke oder Niels Birbaumer lehnen die hier angedeuteten Thesen von Roth und anderen zum „Bereitschaftspotenzial“ ab. Sie stützen sich dabei auf experimentelle Daten. Mit Recht. – Es wäre für uns jedoch zu einfach, Leute (und dabei hochkarätige Neurowissenschaftler) wie Roth und Singer einfach als Schwätzer und Ideologen abzutun, auch wenn der Verdacht sich aufdrängen mag. Ich meine: Die genannten Autoren vertreten hier falsche (wissenschaftliche und weltanschauliche) Positionen. Aber sie sprechen auch ein Problem mit falschen Antworten an. – Nur mal zur Erinnerung ein paar, hier plakativ formulierte, Positionen des Materialismus zum Menschen. Sie können uns das Problem besser verdeutlichen. Also: Denken ist ein Produkt des Gehirns, ist „höhere Nerventätigkeit“, unser Wille die aktive Seite des Bewusstseins. Das „Ich“ aber ist die Summe aus Körper, Geist und sozialer Erfahrung plus Erinnerung des Einzelnen in ihrer Wiederspiegelung im tätigen (und inhaltlich letztlich gesellschaftlich geprägten) menschlichen Gehirn. Sicher ist zudem, im Handeln , im Verhaltensakt des Menschen selber gibt es nicht nur bewusste, willentliche Entscheidungen und Handlungsanweisungen des „Ichs“ , vollzogen über das Gehirn, es gibt auch unterbewusste und unbewusste Impulse aus dem Gesamtorganismus, die sich im Gehirn und Verhaltensakt des Menschen wiederfinden, dominierend, unterdrückt oder modifizierend. Der Mensch hat ja auch Triebe, Emotionen und Bedürfnisse, und nicht nur ‚Meinungen‘ und eingeschliffene Haltungen. – Es existiert also ‚objektiv‘ die Frage nach dem Verhältnis des „Milieu Intern“ zum gegebenen Außen sowie die Frage nach dem Interventionsrecht des Bewusstseins und nach der Reichweite unseres Willens im Verhaltensakt. Die Lösungsvorschläge der jeweiligen Autoren zum Fragenkomplex unterscheiden sich dabei situativ und prinzipiell, auch vor dem Hintergrund der ‚persönlichen‘ Weltanschauung. Roth vertritt hier – meiner Meinung nach – falsche Positionen, die ihn zunehmend in die Nähe des philosophischen Idealismus verweisen. Wenngleich er sich einer physiologischen Terminologie und Modellvorstellung im Streitfeld bedient. – Wie aber lässt sich nun das „Bereitschaftspotential“ ‚alternativ‘, und wie ich meine wissenschaftlich deuten? Ich teile hier die Einschätzung von N. Birbaumer: „Die in den Medien besonders beliebten Hirnforscher haben allerdings nicht über langsame Hirnpotentiale gearbeitet, sonst wüßten sie, daß diese hirnelektronischen Erregungsveränderungen lokale präparatorische Erregungsveränderungen großer Nervenzellverbände repräsentieren, welche für eine Vielzahl von bewußten und nichtbewußten Vorgängen eine mobilisierende Wirkung auf die neuronalen Verarbeitungsvorgänge ausüben.“ Zudem gibt Birbaumer zu bedenken: “ Weder freier noch unfreier Wille läßt sich beobachten, da wir kein neuronales Korrelat von Freiheit kennen. Freiheit ist zwar auch ein Konstrukt des Gehirns wie alles Verhalten und Denken, das der Mensch produziert, aber es ist auch und primär ein historisch, politisch und sozial gewachsenes Phänomen, das sich nicht nur auf Hirnprozesse rückführen läßt. Jeder vernünftige Mensch stimmt mit uns Hirnforschern darin überein, daß die gemeinsame Endstrecke allen Verhaltens und Denkens im Gehirn liegt (wo sonst?), aber eben nur die Endstrecke. Davor liegen eine lange Geschichte sozialer Vorgänge, welche in einer schwer zu qualifizierenden Art und Weise auf unser Hirn einwirken. Das Gehirn wirkt als eine Art Filtersystem eingebettet in die sozialen und historischen Prozesse und bildet dynamische Knotenpunkte der neuronalen Erregung an bestimmten Stellen in Abhängigkeit von Gedächtnis- und emotionalen Bewertungsprozessen, welche selbst wieder Resultat der historischen, biographischen und sozialen Abläufe darstellen. Ohne diese können wir die Verhaltens- und Denkprodukte unseres Hirns – sofern sie sich auf soziale Abläufe beziehen – weder verstehen noch einordnen.“ (Dok. Ch. Geyer, 2004, S. 28) – Der Streit um die wissenschaftliche Auflösung des Problems „Willensfreiheit“ muss anhand von Tatsachen ausgetragen werden.
Neue Experimente fordern heraus
Eine neue Untersuchung von John-Dylan Haynes dürfte die wissenschaftliche Debatte um eine Teilfrage der „Willensfreiheit“ nun erneut befeuern und den Befürwortern der von mir oben definierten „Willensfreiheit“ Schützenhilfe geben. In der FAZ vom 27.1.2016 heißt es zu diesem erneuten Experiment: “ Heute kann man feststellen: Dem gesunden Menschenverstand ist zu vertrauen. Der freie Wille ist nicht totzukriegen. „Die Libet-Experimente sind obsolet.“ John-Dylan Haynes, der das behauptet, gehört selbst zu den eifrigsten Experimentatoren, und er ist weit davon entfernt, die Widerlegung der berühmten Libet-Experimente als Niederlage der Hirnforschung zu betrachten. Aber nach der Veröffentlichung seiner jüngsten Ergebnisse … steht für ihn fest: Das gemessene „Bereitschaftspotenzial“ sei jedenfalls kein Beweis dafür, dass der Mensch seine Entscheidungen durch das Gehirn diktiert bekommt. „Diesen Determinismus gibt es nicht.“ Der Hirnforscher, der am Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité seit Jahren mit allen möglichen bildgebenden und elektrophysiologischen Verfahren in die Entscheidungszentren unseres Gehirns zu blicken versucht, hat schon viele „vorbereitende Hirnwellen“ identifiziert. Tatsächlich hinterlassen viele Handlungen mitunter zehn Sekunden vor der Entscheidung des bewussten Ichs eine elektrische Spur in bestimmten Hirnarealen. Der entscheidende Punkt aber ist: Nichts spricht bisher dafür, dass diese Hirnströme das Handeln steuern, dass unser freier Wille eine Illusion ist.“ ….In den jüngsten Experimenten – so Haynes – laut FAZ sei gezeigt: Das ominöse Bereitschaftspotential kann quasi überstimmt werden, die vermeintlich vorbestimmte Handlung noch willentlich und aktiv gestoppt werden. / Grundlage dafür, so die FAZ, „ist eine Studie mit einem Dutzend Probanden am Computer. Die Versuchsteilnehmer traten in einem „Hirnduell“ gegen einen Rechner an, während mit Elektroden die Hirnströme und die Beinmuskulatur überwacht wurden. Insgesamt 326 Mal sollte jeder Proband Punkte sammeln und versuchen, ein Fußpedal während einer „Grünphase“ zu treten. Tritt er es, sobald das Rotsignal auf dem Bildschirm erscheint, gibt es Punktabzug. Der Computer war nun so trainiert, dass er anhand des Bereitschaftspotentials vorhersagen konnte, wann sich ein Proband bewegen würde. In dem Fall erschien das rote Stoppsignal. Würde der Proband jetzt noch das Pedal treten, gäbe es Punktabzug. Das Ergebnis war allerdings oft anders. Die Versuchsteilnehmerkonnten ihre Bewegung, nachdem dem Computer bereits die Bewegungseinleitung durch die Hirnstromkurve signalisiert wurde, noch rechtzeitig stoppen. Nur wenn das Rotsignal unmittelbar vor dem Pedaltritt aufschien, war der Computer nicht mehr zu überlisten. Der „Point of no return“ lag bei 200 Millisekunden. Trotzdem: Selbst danach, wenn die Fußbewegung also bereits eingeleitet war, konnten die Probanden ihre Handlung noch ändern, die Aktion komplett unterbinden. Haynes: „Das bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist als gedacht.“
Experiment gegen Mutmaßung, Forschung gegen Ideologie: Der Weg der Wissenschaft. Der Streit geht in eine weitere Runde.
Quellenangabe und kontroverser Lesestoff zum Thema (Auswahl):
– Joachim Bauer: Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München: Blessing, 2015
– Lüder Deecke: Freies Wollen und Handeln aus neurophysiologischer Sicht. in: J. Kriz / L. Deecke: Sinnorientiertes Wollen und Handel zwischen Hirnphysiologie und kultureller Gestaltleistung. Wien: Picus Verl., 2007, S. 43 – 94
– Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/M.: edition suhrkamp, 2004
– H.H. Kornhuber und L. Deecke: Wille und Gehirn. Bielefeld u. Basel: Aisthesis Verl., Edition Sirus, 2009
– Joachim Müller-Jung: Endlich befreit! Es ist raus: Unser Wille ist stärker, als das Gehirn zeigt. in: FAZ, 27. Jan. 2016, S. N1 . / Ein weiterer ähnlich gefasster Bericht zum Versuch J.-D. Haynes findet sich in der Zeitschrift Gehirn & Geist, Nr. 4, 2016, S. 10
– Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003
– Gerhard Roth: „Unser Vorbewusstes ist ein gigantisches Netzwerk“ (Interview). in: „SinnesOrgan“, 2/2009, S. 4
III. Neues zur „sozialen Evolution“
Das Nachdenken über „Grundprobleme des Marxismus“ gehört derzeit nicht zu den großen Tugenden der Linken. Umso verdienstvoller muss man die Herausgabe des Textbandes „Der Urkommunismus“ durch den österreichischen Verlag „ProMedia“ einschätzen. Es geht darin um die Voraussetzungen, die Existenz und Entwicklung egalitärer Gesellschaften in der frühen oder laufenden Menschheitsgeschichte, sowie (im Anriss) um Bedingungen zu ihrer Wiedergeburt in der Zukunft. Ausgangs- und Bezugspunkt der Textbausteine ist dabei der „Historische Materialismus“.
Die Dokumentation des Buches folgt den Spuren der frühen egalitären Gemeinschaften/Gesellschaften (zumeist als Urkommunismus bezeichnet) etwa anhand des jeweils (historisch) vorhandenen archäologischen Materials oder ethnologischer Beobachtungen; es bringt Textauszüge namhafter Politiker und Archäologen zu deren Erklärung oder Betrachtung ; verdeutlicht Kontroversen unter Wissenschaftler und Ideologen; regt zum Nachdenken über die ungelösten Fragen der Historie an.
Der Band gliedert sich in folgende Abschnitte: Eine Einleitung aus der Feder des Archäologen und Herausgebers Dieter Reinisch; dann die Kapitel I. Marxistische Vorstellungen vom Urkommunismus; II. Linke Nationalisten und die Urgesellschaft; III. Forschung in der UdSSR und der DDR; IV. Archäologen und Anthropologen über den Urkommunismus; V. Erkenntnisse aus dem 21. Jahrhundert. (Hier etwas schmalbrüstig, denn behandelt werden ‚nur‘, Stonehenge (England), Catalhöyük (Anatolien) usw. Die neuen Forschungsergebnisse z.B. aus Alt-Peru fehlen ganz). Der Band enthält sowohl eine Kurzbiographie zu den Band-Autoren, die Quellenangabe zum jeweiligen Text, wie Hinweise auf ev. weiterführende Literatur.
Schön wäre gewesen, wenn das schmale Buch in seinen Textauszügen umfangreicher ausgefallen wäre. Kurze, manchmal allzu kurze Abschnitte ersetzen nun mal nicht den Gedankenreichtum der Originale. Auch vermisst man den einen oder anderen Text um das Thema abzurunden. Doch angesichts des beschränkten Lesekreises kann man schon froh sein, dass die Herausgeber überhaupt das finanzielle Wagnis dieser Publikation eingegangen sind. Trotz des kleinen Mankos kann das Gesamturteil zum Buch nur lauten: der Band animiert zum Lesen und (eigenen) Weiterforschen.
Literatur:
Dieter Reinisch (Hg.): Der Urkommunismus. Auf den Spuren der egalitären Gesellschaften. Wien: ProMedia, 2012