Der Artikel ist zuerst erschienen in: Sozialismus 7/8-2014
Heiner Karuscheit
Macht und Krieg
Strategische Fehler der Linken vor dem Weltkrieg – gestern und heute
„Warum will die Militärpartei den Krieg? Er soll ihr die Macht geben. Die Macht, alle Demokratie zu unterdrücken. Die Macht über das Proletariat und das Bürgertum.“ (Vorwärts vom 31.Juli 1914)
Vorbemerkung: Äußere und innere Kriegsgründe
Aus Anlass des Weltkriegsbeginns vor 100 Jahren ist eine Flut von Artikeln und Büchern erschienen, die sich dem Geschehen von den verschiedensten Seiten aus nähern. Dabei konzentriert sich die öffentliche Debatte auf eine Fragestellung, deren geschichtspolitische Relevanz auf der Hand liegt: Sind die europäischen Mächte durch gemeinsame Fehlentscheidungen in den Krieg gerutscht – oder trug das Kaiserreich (zusammen mit Österreich-Ungarn) die Hauptverantwortung für seinen Ausbruch?
Ein neuer Historikerstreit
Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus. Ein erheblicher Teil der Fachhistoriker ist der Auffassung, dass die deutsche Politik den entscheidenden Anteil am Zustandekommen des Kriegs hatte. Zu denen, die das in eigenen Werken über den Krieg vertreten, zählt neben dem Militärhistoriker Krumeich (Juli 1914 – Eine Bilanz) auch Jörn Leonhard, der jüngst die umfassendste Untersuchung des Weltkriegsgeschehens vorgelegt hat (Die Büchse der Pandora). Historiographisch steht diese Position in der Nachfolge des Historikers Fritz Fischer, der vor 50 Jahren in der erbittert geführten „Fischer-Kontroverse“ mit der bis dahin dominierenden Legende von der Kriegsunschuld Deutschlands gebrochen hat. Viele westdeutsche Historiker, vor allem die jüngeren unter ihnen, haben seinerzeit sein Urteil übernommen, wenngleich Fischer selber wegen einiger Mängel in seiner Beweisführung zwischenzeitlich in Misskredit geraten ist.
In vielen Leitartikeln und Kommentaren ebenso wie im politischen Raum haben dagegen die Arbeiten von Münkler (Der Große Krieg) und Clark (Die Schlafwandler) eine große Resonanz gefunden. Sie knüpfen mit der These vom ungewollten, durch Fehler aller Seiten verursachten Krieg an die alte Richtung der Geschichtsschreibung an, gegen die Fischer seinerzeit zu Felde gezogen ist.
Nachdem es zunächst so aussah, als würden die Verfechter der These vom Hineinschlittern auf keine große Gegenwehr stoßen, hat die Intervention einiger renommierter Historiker, darunter Volker Ullrichs und Hans-Ulrich Wehlers, dem Streit eine neue Wendung gegeben. Jedenfalls sieht Münkler sich in seiner jüngsten Stellungnahme in der Süddeutschen Zeitung vom 20.6.2014 genötigt, über die jahrzehntelange „Dominanz der Fischer-Schule“ zu klagen und zu befürchten, dass die Debatte der von ihm behandelten Themen „erneut in den Bann der Schuldfrage geschlagen“ wird.
Krieg als innerer Machtkampf
Allerdings muss man konstatieren, dass seine Themenauswahl für die gewünschte Debatte etwas einseitig ist. Clark und er weisen jegliche Berücksichtigung innenpolitischer Faktoren bei der Frage nach den Ursachen des Kriegs zurück; sie begründen ihre Position ausschließlich mit den außenpolitischen Entscheidungen der europäischen Mächte. Clark erklärt die Frage nach dem „Warum“ des Kriegs für verfehlt, und Münkler lehnt es explizit ab, „die inneren Gegensätze als Ursache oder Motiv für eine ‚Flucht in den Krieg‘ geltend zu machen.“
Einen anderen Zugang befürwortet der Historiker Heinrich August Winkler, der sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2.6.2014 mit Clark und Münkler auseinander setzt. Einen maßgeblichen Grund für deren Auffassung vom „Hineinschlittern“ Europas in den Krieg sieht er darin, dass beide Autoren die innenpolitischen Kräfteverhältnisse, „mit denen es die Staatslenker zu tun hatten“, komplett ausblenden; sie schenken „nicht nur den Eigenarten der deutschen Kriegspartei, sondern auch denen des politischen Systems des Kaiserreichs so gut wie keine Beachtung“. Winkler hat keine Zweifel, dass Deutschland die Hauptverantwortung für die Entfesselung des Kriegs trägt – und dass dies im Zusammenhang mit den inneren Verhältnissen stand.
Ein in der Stoßrichtung ähnliches Herangehen findet sich in dem Artikel mit dem Titel „Blutrausch“, dem die eingangs zitierten Sätze entstammen und der einen Tag vor Kriegsbeginn im sozialdemokratischen „Vorwärts“ stand. Als entscheidende Ursache des nahenden Kriegs wird dort nicht auf die Außenpolitik verwiesen und erscheint weder der Imperialismus noch ein deutsches Weltmachtstreben, sondern wird ein innenpolitischer Machtkampf zwischen Militärpartei, Arbeiterbewegung und Bürgertum mit dem Ziel der Unterdrückung der Demokratie verantwortlich gemacht.
Eine beschränkte Sichtweise
Wenn man die Sätze im „Vorwärts“ sowie die Stellungnahme Winklers liest, fällt umso mehr auf, was in den meisten Veröffentlichungen auf linker Seite fehlt. Ob wir die Publikationen von Stefan Bollinger (Weltbrand, ‚Urkatastrophe‘ und linke Scheidewege), Kurt Pätzold (1914 – das Ereignis und sein Nachleben) oder Gerd Fesser (Der Erste Weltkrieg), das Antikriegsheft der Marxistischen Blätter Nr. 3/2014 oder die Weltkriegsartikel der jungen welt zur Hand nehmen – über die innenpolitische Entwicklung im Kaiserreich schweigen sie sich aus.
Sie grenzen sich von Clark und Münkler ab und weisen die Position vom schuldlosen Hineinschlittern aller Staaten in den Krieg unter Berufung auf Fritz Fischer und die Weltkriegsforschung der DDR als Geschichtsrevisionismus zurück. Aber während es für Winkler eine Selbstverständlichkeit ist, das Herrschaftssystem der Vorkriegszeit zu untersuchen, um Klarheit über den deutschen Weg in den Krieg zu gewinnen, und der Vorwärts-Artikel hierzu eine dezidierte Position vertritt, suchen wir dergleichen Gedankengänge in den genannten Arbeiten vergeblich. Dabei geriet das Kaiserreich im Jahr 1909 in eine schwere Krise von Gesellschaft und Staat, die sich immer mehr vertiefte und in gleichem Maße den Ruf nach einem Krieg als Ausweg hervor brachte. Wenn wir die erwähnten Veröffentlichungen lesen, erfahren wir nicht einmal die Tatsache dieser inneren Krise, geschweige denn, dass eine Untersuchung des möglichen Zusammenhangs von Krise und Krieg vorgenommen wird.
Was hindert die Autoren daran, die Klassen- und Herrschaftsverhältnisse zu analysieren, d.h. den Krieg aus den inneren Widersprüchen des Kaiserreichs heraus zu entwickeln, obwohl dies eigentlich der Anspruch des Marxismus ist?
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Eine Klassenkonstellation mit drei verschiedenen Klassen
Den Grund für diese Zurückhaltung finden wir in der gängigen Auffassung, dass im Kaiserreich lediglich zwei Klassen agierten, d.h. der Arbeiterbewegung nur eine bürgerliche Klasse mit verschiedenen Flügeln gegenüber stand. So schreibt Leo Schwarz, um ein beliebiges Beispiel zu zitieren, in seinem Artikel zur Verteidigung Fischers ganz selbstverständlich von „dem alldeutsch-konservativen und dem liberalen Flügel der herrschenden Klasse“ bzw den „verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse“ („Irgendwo steinalt“, jw vom 03.04.2014)
Doch so verbreitet wie dieses Geschichtsbild ist, so verkehrt ist es. Die „Konservativen“ waren keine Fraktion der Bourgeoisie, sondern repräsentierten eine eigene Klasse, die ostelbischen Junker. Die Klassenkonstellation im Kaiserreich war durch ein Dreiecksverhältnis zwischen drei verschiedenen Klassen bestimmt, und nur auf dieser Basis lassen sich sowohl der deutsche Weg in den Krieg als auch die Niederlagen der Arbeiterbewegung nachvollziehen.
Klassenkompromiss unter Hegemonie des Militäradels
Bis 1870 war es für die Vertreter der Arbeiterbewegung keine Frage gewesen, dass in Preußen das Junkertum über Arbeiterschaft und Bürgertum herrschte. Erst die Reichsgründung warf diese Position über den Haufen.
Indem Bismarck das preußische Heer in die deutschen Einigungskriege zur Schaffung eines Nationalstaats führte, gelang es ihm, das bürgerlich-liberale Lager zu spalten und einen Klassenkompromiss herbei zu führen, der das Bürgertum an der Macht beteiligte, aber die Vorherrschaft des preußischen Gutsadels bewahrte. Sie gründete sich neben der föderalen Ordnung des Kaiserreichs und der Hegemonie Preußens mit dem dort fortgeltenden Dreiklassenwahlrechts in erster Linie auf die außerverfassungsmäßige Stellung der von den Landadeligen geführten Armee.
Eine Minderheit der Liberalen lehnte den Kompromiss ab, aber der von den Nationalliberalen geführte, politisch maßgebliche Flügel des Bürgertums stellte sich auf seinen Boden. Dabei war die Zustimmung strategisch kalkuliert: gab es erst einmal den Nationalstaat inklusive Reichstag, wollte man zu gegebener Zeit das Haushaltsrecht des Parlaments einsetzen, um das Kommando über die Armee zu übernehmen und die Adelsvormacht abzuschütteln.
Abschied von der Parlamentarisierung
Normalerweise hätte es auch nicht lange gedauert, bis man dieses Vorhaben umgesetzt hätte, aber der Aufstieg der revolutionären Arbeiterbewegung im Verein mit Bismarcks politischem Geschick verhinderte dies.
In anderen Ländern hatten die Bürger den Adel geschlagen, bevor das Proletariat sich organisierte (bzw. es existierte keine Feudalherrschaft, wie in den USA). In Preußen-Deutschland dagegen wurde das Bürgertum bereits von der Sozialdemokratie herausgefordert, als die Aristokratie noch an der Macht war. Das hatte insbesondere auf seine ökonomisch wie politisch führende Abteilung, die Montanbourgeoisie, Auswirkungen, die in ihren Riesenbetrieben mit ungeheuren Arbeitermassen konfrontiert und noch von den Erfahrungen der 48er Revolution geprägt war. Von Bismarck durch Spaltung und Druck tatkräftig ermuntert, zogen die Zechenherren und Stahlbarone es vor, von einer Parlamentarisierung Abstand zu nehmen, da sie befürchteten, dass dies auf dem Boden des allgemeinen Reichstagswahlrechts der SPD in die Hände spielen würde. Entgegen ihren ursprünglichen Absichten hielten die Nationalliberalen also an dem Bündnis „von Roggen und Eisen“ fest.
Der andere Flügel des bürgerlichen Lagers, in dem die kleinen und mittelgroßen Betriebe der weiterverarbeitenden Industrie sowie später die aufstrebende Chemie und Elektroindustrie zu Hause waren, verfocht weiter die demokratischen Traditionen des Bürgertums. Meist auf verschiedene Parteien verteilt, hatten diese linken Liberalen im Vergleich zu den Nationalliberalen indes wenig Einfluss.
Der Schein bürgerlicher Herrschaft
Der fortdauernde Antagonismus von Bürgertum und Adel war nur schwer zu erkennen. Ökonomisch nahm der Kapitalismus in dem neuen Nationalstaat einen gewaltigen Aufschwung und politisch trugen Nationalliberale und Konservative bis auf ein Zerwürfnis in den 70er Jahren jahrzehntelang gemeinsam die Regierung. Daraus zog die sozialdemokratische Führung die Schlussfolgerung, dass die Verhältnisse im Kaiserreich wesentlich bürgerlich geworden waren, wenngleich mit einigen feudalen Relikten, und nur noch eine einzige herrschende, bürgerliche Klasse mit verschiedenen Abteilungen existierte.
Dieser Anschein verstärkte sich noch, als der den Nationalliberalen nahestehende Bernhard von Bülow 1900 die Leitung der Reichspolitik übernahm. Noch als Staatssekretär das Äußeren (Außenminister) hatte er 1897 den Übergang des Reichs zur Weltpolitik verkündet: Deutschland meldete den Anspruch auf einen „Platz an der Sonne“, sprich ein großes Kolonialreich und die Gleichberechtigung mit Großbritannien als Weltmacht an. Innenpolitisch war das Ziel dieser Politik, neben dem Kleinbürgertum auch die Arbeiterschaft für den Imperialismus zu gewinnen, um so das innere Kräfteverhältnis zugunsten des bürgerlich-liberalen Lagers zu verschieben, ohne mit dem Militäradel brechen zu müssen.
In diesem Konzept spielte der Bau einer Schlachtflotte eine zentrale Rolle, und dafür brauchte man das Einverständnis der Konservativen.
Ein erneuerter Klassenkompromiss …
Die Junker waren im Prinzip gegen die Schlachtflotte. Sie war ein bürgerliches Projekt, kostete nur Geld und war, wie ein Bonmot lautete, für die Verteidigung der Grundrente nicht zu gebrauchen. Auf der anderen Seite empfanden sie die Marine nicht als Bedrohung, da sie davon ausgingen, dass die entscheidenden Schlachten weiterhin zu Land gegen Russland/Frankreich durch das von ihnen kommandierte Heer und nicht zu See gegen Großbritannien geschlagen würden.
Gleichzeitig standen sie als Großgrundbesitzer vor dem Problem, dass das in ihren vorkapitalistischen Gutswirtschaften angebaute Getreide der Preiskonkurrenz auf dem Weltmarkt nicht gewachsen war. Um wirtschaftlich zu überleben, musste der deutsche Binnenmarkt durch Agrarschutzzölle abgeschottet werden, und für deren Einführung benötigten sie die parlamentarische Zustimmung der Nationalliberalen.
Auf dieser Basis kam man zur Jahrhundertwende zusammen: die Konservativen erklärten sich mit dem Flottenbau einverstanden, und die Nationalliberalen stimmten für hohe Getreidezölle. Die von Bülow vermittelte Übereinkunft knüpfte an die von Bismarck praktizierte Sammlungspolitik der staatstragenden Kräfte an und erneuerte den Klassenkompromiss der Reichsgründung.
… mit Verfallsdatum
Der Kompromiss kam nicht zuletzt deswegen ohne große Auseinandersetzungen zustande, weil er auf Kosten der Massen ging, denn diese mussten dafür in Form höherer Brotpreise zahlen. Auf Seiten der Arbeiterbewegung verstärkte dies den Eindruck, dass (National-) Liberale und Konservative lediglich verschiedene Abteilungen derselben Klasse vertraten.
Ein finanzieller Aspekt des Ganzen fand nirgends Erwähnung, war aber von erheblicher Tragweite. Bei der Staatsgründung hatte das Reich keine substantiellen direkten Steuerrechte erhalten; es durfte nur indirekte Steuern erheben, die (damals) wenig ergiebigen Verbrauchssteuern. Zur Finanzierung seiner hauptsächlich für die Rüstung anfallenden Ausgaben war es auf die Zuwendungen der Länder angewiesen. Auf diese Weise war sicher gestellt, dass es von Preußen abhängig blieb und das nach allgemeinem Wahlrecht gewählte Zentralparlament keinen Steuerzugriff auf die Gutswirtschaften der Junker hatte.
Diese Steuerschwäche stellte die Flottenfinanzierung von Anfang an vor Schwierigkeiten, zumal sie nicht auf Kosten der Heeresrüstung gehen durfte. In diesem Zusammenhang war der Zollkompromiss ein Segen, denn die Zolleinkünfte flossen in den Reichshaushalt und halfen, die Schlachtschiffe zu bezahlen. Indessen war die Reichweite dieser Zusatzeinnahmen begrenzt; irgendwann musste die Steuerfrage unvermeidlich auf die Tagesordnung treten.
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Machtzerfall und Kriegsvorhaben
1909 war es so weit, denn mittlerweile hatte sich das Reich überschulden müssen und es mussten zusätzliche Einkünfte her, um einen Staatsbankrott abzuwenden. Nachdem er lange gezögert hatte, weil ihm die Brisanz der Angelegenheit klar war, schlug der Kanzler Bülow schließlich die Einführung einer reichsweiten Erbschaftssteuer vor, die auch den Großgrundbesitz erfassen sollte.
Die Junker, bis dato nur in dem von ihnen beherrschten Preußen steuerpflichtig, waren indessen um keinen Preis bereit, dem Reichstag den Steuerzugriff auf ihre Güter zu gewähren. Sie begriffen die Erbschaftssteuer-Vorlage als das, was sie war, als Machtfrage, und reagierten entsprechend.
Wer Wind sät, wird Sturm ernten
Um die Gesetzesvorlage zu Fall zu bringen, verließen die Konservativen das Kartell mit den Liberalen und stürzten zusammen mit dem Zentrum die Regierung. Was sie nicht voraussehen konnten, war, dass der Wind, den sie damit gesät hatten, bald darauf als Sturm zurück kommen würde. Mittlerweile war nämlich die Furcht des Bürgertums vor der Arbeiterbewegung geschwunden, nachdem sich dort reformistisches Gedankengut verbreitet hatte. Wenn die SPD aber dabei war, zu einer bürgerlichen Arbeiterpartei zu werden, musste das Bürgertum keine Revolutionsangst mehr haben.
Das hatte zur Folge, dass die Nationalliberalen sich nach dem einmal vollzogenen Bruch weigerten, in das antisozialistische Bündnis mit der Junkerpartei zurück zu kehren und die SPD weiter als Hauptfeind zu behandeln. Die Vertreter der Montanbourgeoisie waren nicht in der Lage, die Parteiführung zur Umkehr zu zwingen. Wenn die Schwerindustrie sich aber in „ihrer“ Partei nicht mehr durchsetzen konnte, bedeutete das einen Dammbruch, denn damit hatte sich die Führungspartei des bürgerlichen Lagers aus dem historischen Kompromiss der Reichsgründung verabschiedet.
Die zur Minderheit gewordenen rechten Nationalliberalen kooperierten weiter mit der Junkerpartei, verließen ihre Partei jedoch erst am Ausgang des Kriegs und schlossen sich mit den Konservativen zur Deutschnationalen Volkpartei DNVP zusammen. Die Allianz von „Roggen und Eisen“ bestand also weiter, war aber seit 1909 im bürgerlichen Lager nicht mehr hegemonial, und damit löste sich die alte Ordnung auf, die bis dahin die innere Stabilität des Kaiserreichs gewährleistet hatte.
In der Schwebe
Eine Konsequenz daraus war, dass keine stabilen Parlamentsmehrheiten für die Regierung mehr zustande kamen und die Staatstätigkeit blockiert wurde. Durch die Reichstagswahl im Januar 1912 wurde dieser Zustand noch verschärft. Zur Wahl 1907 hatten Konservative und Liberale der SPD durch eine Kartellbildung eine schmerzhafte Niederlage zugefügt. Nunmehr trafen die Nationalliberalen keine Wahlabsprachen mit den Konservativen mehr, sondern nur mit der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei, und diese wiederum schloss ein geheimes Stichwahlabkommen mit der SPD. Damit zeichnete sich in ersten Ansätzen ein neues, gegen die Junkerpartei gerichtetes Parteienbündnis ab. Die Konservativen erlitten schwere Wahlverluste und die SPD eroberte nahezu ein Drittel der Parlamentssitze.
Als die Mehrheit der nationalliberalen Abgeordneten im neu zusammen getretenen Parlament für die Wahl des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann in das Reichstagspräsidium stimmte, während die rechten Nationalliberalen und Abgeordneten der Konservativen in isolierter Gegnerschaft verharrten, wiederholte sich die Wahlkonstellation auf öffentlicher Bühne und kündigte einen klassenpolitischen Gezeitenwechsel an.
Im Gefolge der Wahl verbreitete sich die Forderung nach einem Bündnis „von Bassermann bis Bebel“ (Bassermann war der Vorsitzende der Nationalliberalen). Doch zu einem solchen Schritt waren die Nationalliberalen noch nicht bereit. Zum einen hätte dies zur Abspaltung ihres nach wie vor mächtigen schwerindustriellen Flügels geführt, und zum anderen war es schwierig, die Machtverhältnisse innerhalb der Arbeiterpartei definitiv einzuschätzen, so lange Bebel noch Parteivorsitzender war. So beließ es die Parteiführung bei der gleichen Distanz sowohl zu den Konservativen als auch zur SPD und wartete ab. Das bedeutete, dass die Dinge in der Schwebe blieben: die alte Hegemonie war am Ende, aber eine neue noch nicht geboren.
Der Ausweg: Staatsstreich oder Krieg
Für das junkerlich-schwerindustrielle Rechtsbündnis war das Wahlergebnis ein Fiasko. Wenn es nicht sehenden Auges untergehen wollte, musste es handeln, und die nächste Gelegenheit dazu bot sich anlässlich eines Massenstreiks an der Ruhr im März 1912.
Als die Bergarbeiter, ermutigt durch den sozialdemokratischen Wahlsieg, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen in den Ausstand traten, versuchten die Zechenherren mit allen Mitteln, den Konflikt zu verschärfen. Ihr Ziel war die Ausrufung des Ausnahmezustands, um durch einen Staatsstreich die Verfassung aufzuheben und das allgemeine Wahlrecht abzuschaffen. Wäre das gelungen, hätten sie keinen Anlass gehabt, zum Krieg zu drängen. Aber der Kanzler verfolgte gegenüber der Arbeiterbewegung eine andere Politik und war nicht bereit, die Verfassung zu brechen, deshalb blieb das Unterfangen erfolglos.
In der Folgezeit verlor das Rechtsbündnis weiter an Rückhalt. In den Beratungen über den Rüstungshaushalt mussten seine Vertreter offene Attacken gegen die Adelsprivilegien im Heer hinnehmen – bis dahin ein Sakrileg – , und zur Finanzierung einer Heeresvermehrung 1913 beschloss das Parlament einen „Wehrbeitrag“, der nachholte, was 1909 misslungen war, und auch den Großgrundbesitz zur Kasse bat. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Machtzerfall mit der Zabern-Krise 1913/14. Als bekannt wurde, dass preußische Offiziere im elsässischen Zabern ihre Truppen aus nichtigem Anlass mit dem Säbel gegen die Zivilbevölkerung losgeschickt hatten, verlangte eine breite Mehrheit des Reichstags aus SPD, Zentrum und der Mehrheit aller Liberalen ein Ende der außerparlamentarischen Sonderstellung der Armee. Lediglich die konservativen und rechtsnationalliberalen Abgeordneten stimmten dagegen.
Der Krieg als letztes Mittel
Der Kanzler verteidigte die adeligen Offiziere vor dem Parlament pflichtgemäß (und handelte sich dadurch ein Misstrauensvotum des Reichstags ein), doch gleichzeitig erwirkte er einen kaiserlichen Erlass, der die Armee bei künftigen Einsätzen im Innern den Verwaltungsbehörden unterstellte. Das war ein Schock, denn „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Bis dahin hatte der Militäradel nach eigenem Ermessen Truppen einsetzen können, und damit war jetzt Schluss.
Nach dem misslungenen Staatsstreich 1912 war das Rechtsbündnis zur Forderung nach einem Krieg übergegangen, weil es keine andere Alternative zur Sicherung der alten Ordnung mehr hatte. Jetzt gab es endgültig kein Zurück mehr. Vor fast 50 Jahren hatten die Siege der preußischen Armee in den deutschen Einigungskriegen die bedrohte Machtstellung des Militäradels auf Jahrzehnte hinaus befestigt. Nun sollte ein neuer Krieg dies für weitere Jahrzehnte tun.
Anfang August 1914 war der erste Schritt getan, denn der Krieg war in Gang gekommen. Auf seinem Boden gingen die Anhänger der alten Ordnung anschließend weiter. 1917 stürzte die Oberste Heeresleitung mit Hindenburg und Ludendorff an der Spitze den Kanzler, stellte den Kaiser kalt und errichtete eine Militärdiktatur. Nach dem gewonnenen Krieg wollte man dann nachholen, was 1912 fehlgeschlagen war, und mit einer neuen Verfassung das allgemeine Wahlrecht abschaffen. Nur die Kriegsniederlage verhinderte die Umsetzung dieses Plans.
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Der Weg in den Krieg
Auf dem Boden ihrer Zwei-Klassen-Theorie war die Parteiführung der SPD außerstande, Charakter und Tiefe der inneren Krise richtig einzuschätzen und die Machtfrage zu stellen. Für Preußen hatte Engels in den 60er Jahren des 19.Jahrhunderts eine Zwei-Etappen-Strategie entwickelt, der zufolge die Arbeiterpartei zunächst gemeinsam mit dem Bürgertum den Kampf um die Demokratie führen und die Junkermacht stürzen musste; erst danach müsse der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausgefochten werden. Diese Etappenstrategie schien mittlerweile überholt – der Sozialismus war das nächste Ziel.
Nach wie vor führte der Weg zum Sozialismus jedoch über die Vollendung der bürgerlichen Revolution. Man musste ein Bündnis mit den demokratischen Teilen des Bürgertums und Kleinbürgertums eingehen, um zunächst den preußischen Militäradel mitsamt der mit ihm verbündeten Montanbourgeoisie zu entmachten und Deutschland zu parlamentarisieren. Von dort ausgehend konnte man zu gegebener Zeit in einem zweiten Schritt zum Sozialismus übergehen, vorher nicht.
Eine sozialdemokratische Niederlagenstrategie
Die von der SPD verfolgte Sozialismuspolitik war zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht nur das herrschende Klassenbündnis bedrohte, sondern als kleine und mittlere Eigentümer von Produktionsmitteln auch die nichtproletarischen Massen. Sie richtete sich also gegen die Mehrheit der Bevölkerung, da der Anteil des industriellen Proletariats, grob gerechnet, nur etwa ein Drittel betrug, während die übrigen zwei Drittel zur Agrarbevölkerung bzw. zum städtischen Kleinbürgertum zählten. So stellte die SPD seit 1912 zwar die stärkste Reichstagsfraktion, aber statt als Hegemon eines breiten demokratischen Klassenbündnisses den Weg zur Macht zu beschreiten, blieb sie im proletarischen Ghetto gefangen und wurde zum Spielball der Ereignisse.
Ebenso ging es ihrem revolutionären Flügel unter Luxemburg und Liebknecht, der sich gegen den Reformismus und die um sich greifenden Auffassungen vom friedlichen Hineinwachsen in eine neue Gesellschaft wandte. Das entscheidende Problem betraf jedoch nicht die anzuwendenden Mittel bzw. Kampfformen (ob friedlich oder gewaltsam), sondern die Frage nach einer demokratischen oder sozialistischen Umwälzung, und in diesem Punkt teilten die Linken die Auffassung der Mehrheit.
Die Illusion der Friedenssicherung
Wie gelang es der Kriegspartei nun, den gewollten Krieg zu entfesseln? Der Kanzler, ein Gegner des Schlachtflottenbaus und der Weltpolitik, suchte den Ausgleich mit London und trat sofort den Rückzug an, als die britische Regierung sich in der deutsch-französischen Marokkokrise 1911 auf die Seite Frankreichs stellte. Seinen liberalen Kritikern, die ihn daraufhin als feige beschimpften und in die Kriegstrompete gegen das „perfide Albion“ bliesen, entgegnete er kühl, natürlich hätte Deutschland Krieg führen können – dann würden deutsche Truppen in Frankreich stehen, aber die deutschen Schlachtschiffe auf dem Grund der Nordsee ruhen.
Kurz danach nahm er Flottenverhandlungen mit Großbritannien auf, um das Verhältnis durch eine Abrüstungsvereinbarung zu verbessern. Die kam zwar nicht zustande, aber als 1912 die Balkankriege ausbrachen, sorgte er gemeinsam mit London dafür, dass die Konflikte regional beschränkt blieben und nicht auf die Bündnissysteme übergriffen. Nachdem bereits die Marokkokrise ohne den befürchteten großen Krieg zu Ende gegangen war, machte sich daraufhin allerorten, so auch in der Sozialistischen Internationale, die Überzeugung breit, dass der Frieden in Europa gesichert sei. Der Überlebenskampf der alten Ordnung in Deutschland machte diese Hoffnung zunichte.
In der Sackgasse
Um die parlamentarische Regierungsfähigkeit wieder herzustellen, bemühte sich Bethmann um eine Versöhnung zwischen Konservativen und Nationalliberalen, biss aber auf Granit. Im Verhältnis zur Sozialdemokratie brach er mit der Isolierungspolitik seiner Vorgänger, weil ihm klar war, dass an ihr kein Weg mehr vorbei führte. In seinen Reden wandte er sich gegen eine Demokratisierung und attackierte die Arbeiterpartei, doch in der Praxis ging er daran, sie durch eine Reformpolitik an den nationalen Staat heran zu ziehen. So beteiligte er die SPD u.a. an der Erarbeitung einer Verfassung für Elsass-Lothringen und ließ darin das allgemeine Wahlrecht aufnehmen.
Doch jeder Schritt, den er in diese Richtung machte, vergrößerte die Kluft zwischen ihm und den Rechten. Seine Verweigerung des Staatsstreichs 1912 machte den Bruch endgültig. Die alten Eliten stellten sich nun mit allen Konsequenzen gegen die Regierung. Stürzen konnten sie den Kanzler nicht, weil sie über keine Mehrheit im Reichstag verfügten und der Kaiser hinter ihm stand. Doch gestützt auf ihren Einfluss legen sie die Regierung lahm und drängten mit wachsender Vehemenz auf einen Krieg.
Im bürgerlichen Lager fand Bethmann währenddessen nur wenig Rückhalt. Die Nationalliberalen waren innenpolitisch gelähmt, weil sie auf der gleichen Distanz zur SPD wie zu den Konservativen verharrten; gleichzeitig standen sie außenpolitisch gegen ihn, weil er Abstriche an Schlachtflotte und Weltpolitik machen wollte. Das dritte Lager schließlich, die Arbeiterbewegung, stand ihm innen- wie außenpolitisch am nächsten, aber als Kanzler des Reichs konnte er unmöglich offizielle Beziehungen zur SPD aufnehmen.
Von der Entspannung zur Risikopolitik
Am Vorabend des Kriegs hatte der Hegemonialbruch von 1909 seine zerstörerische Wirkung vollständig entfaltet – während das Land innenpolitisch in einer Sackgasse stand, verstärkten sich die Rufe nach einem Krieg als Ausweg aus der Staatskrise.
Noch Anfang Juni 1914 wandte Bethmann sich gegen die „vielen Militärs“, die einen Krieg forderten, und distanzierte sich von den „Kreisen im Reich, die von einem Krieg eine Gesundung der inneren Verhältnisse erwarten, und zwar im konservativen Sinne.“ Doch wenige Wochen darauf entschloss er sich zu einem außenpolitischen Vabanque-Spiel, mit dem er diesen Krieg selber provozierte.
Um die äußere Lage des Reichs zu verbessern und durch einen Erfolg neue Spielräume für die Lösung der inneren Krise zu gewinnen, gab er Wien nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Rückendeckung für eine Niederwerfung Serbiens, in der Hoffnung, Russland durch eine implizite deutsche Kriegsdrohung zum Zurückweichen zu bewegen. Dabei bewertete er selber seine Politik als „Sprung ins Dunkle“ und war sich bewusst, dass sie die Gefahr eines großen Kriegs in sich barg, den er im Unterschied zur Kriegspartei nicht wollte, den er aber in Kauf nahm und für diesen Fall die notwendigen Vorbereitungen traf.
Die offene Flanke der SPD
Um einen solchen Krieg zu führen, musste die Arbeiterbewegung auf die Seite der Regierung gezogen werden, und dabei kam Russland eine Schlüsselrolle zu. Seit das Zarenreich 1848 als Zentrum der europäischen Konterrevolution für die Zerschlagung der revolutionären Bewegungen in Mitteleuropa gesorgt hatte, waren Marx und Engels für die Niederwerfung des Zarismus eingetreten. Noch 1891 schrieb Engels, dass die deutschen Sozialisten bei einem Krieg mit Russland gemeinsam mit der Regierung die Zivilisation gegen den Despotismus verteidigen und die Errungenschaften der Sozialdemokratie schützen müssten. Das war auch die Position der SPD, an der Bebel bis zu seinem Tod 1913 festhielt.
Es ist fraglich, ob der von Engels bezogene Standpunkt Ende des Jahrhunderts noch richtig war, nachdem das im Krimkrieg geschlagene Russland aufgehört hatte, „Gendarm Europas“ zu sein. Spätestens die russische Revolution 1905-07 musste jedenfalls zu einer Revision führen, denn mit der Einführung einer Duma und der Beteiligung der Bourgeoisie an der Regierung unterschieden sich die Herrschaftsverhältnisse im Zarenreich qualitativ nicht mehr von denen in Preußen-Deutschland.
Von Seiten der revolutionären Linken wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die alte Position zur Vaterlandsverteidigung noch gelten könne, da doch Russland „die Revolution im Leibe“ trage. Aber eine Debatte darüber fand nicht statt, da ein anderes Kriegsszenario im Vordergrund stand, nämlich die kolonialimperialistischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Großbritannien/Frankreich, die in den Marokko-Krisen 1905 und 1911 bis an den Rand eines Kriegs führten. Diese Konflikte standen auch im Zentrum der Friedensresolutionen der Sozialistischen Internationale gegen Imperialismus und Krieg.
Ein russisch-deutscher Krieg erschien zu der Zeit dagegen als unrealistisch, da zwischen den beiden Ländern weder koloniale Gegensätze noch andere Kriegsgründe ersichtlich waren und der Zarismus durch die Revolution geschwächt war. Wenn aber doch, dann galt für die SPD die alte Position zur Vaterlandsverteidigung.
Mit dem bürgerlichen Vaterland gegen den autokratischen Zarismus
Der rechte Parteiflügel der SPD stand mittlerweile so weit auf dem Boden des bestehenden Staats, dass er in einem Krieg auf jeden Fall an die Seite der Regierung treten würde. Mit seinem führenden Vertreter, dem Reichstagsabgeordneten Südekum, sprach Bethmann in den Tagen vor Kriegsbeginn. Ausschlaggebend für die Reaktion der Gesamtpartei war indes die Stellung des „Parteizentrums“, und um dieses zu gewinnen, musste es so aussehen, als ob Russland der Angreifer wäre. Daher zögerte der Kanzler trotz des Drängens der Militärs die deutsche Kriegserklärung so lange hinaus, bis die zaristische Regierung die Generalmobilmachung angeordnet hatte. Als diese dann im Verlauf des 31.Juli in Berlin bekannt wurde, hatte seine Taktik Erfolg gehabt: wenige Tage später stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion geschlossen für die Kriegskredite.
Schluss: Eine notwendige Debatte
Den plötzlichen „Frontwechsel der sozialdemokratischen Parteiführer“ erklärt Pätzold in seiner Arbeit durch „die zuvor bereits erfolgte schleichende Preisgabe der Idee der internationalen Solidarität“ und „die Einübung versöhnlicher, opportunistischer Haltungen gegenüber dem Staat“. So richtig das sein mag, um den allgemeinen Boden der Kehrtwende zu beschreiben, so wenig lässt sich damit die Geschlossenheit nachvollziehen, mit der sie von statten ging. Um das zu begründen, vertritt Bollinger, dass es an der richtigen Analyse des „inneren Mechanismus ökonomischer Macht“ mangelte – gemeint ist der Monopolkapitalismus-Imperialismus.
Das entscheidende Problem war aber nicht eine unzureichende ökonomische Theoriebildung, sondern ein fehlerhafter Begriff der Klassenbeziehungen im Kaiserreich, kombiniert mit einer ebenso fehlerhaften außenpolitischen Strategie gegenüber Russland. Beides zusammen genommen führte dazu, dass nicht nur ein Teil der deutschen Arbeiterbewegung, sondern die SPD insgesamt an die Seite der Regierung trat.
Auf russischer Seite wiesen die Bolschewiki die geforderte Vaterlandsverteidigung zurück, weil ein Krieg des rückständigen Zarismus per se als reaktionär galt; wegen des feudalen Charakters Russlands war schließlich das nächste Ziel der russischen Sozialdemokraten keine sozialistische, sondern eine demokratische Revolution. Insoweit war die Kriegsgegnerschaft für Lenin und seine Anhänger näher liegend als für die deutschen Linken. Diese hielten das Kaiserreich für einen bürgerlich fortgeschrittenen Staat – auf welcher Basis wollten sie also einen Krieg gegen das autokratisch-reaktionäre Russland verurteilen? Es war ihre fehlerhafte politische Analyse, die dazu führte, dass sie sich der Parteimehrheit unterordneten.
Viele der Linken hatten zwar von Anfang an Vorbehalte gegen eine Unterstützung der Regierung, aber letztlich führte erst die Entwicklung der Kriegszieldiskussion in Deutschland zur Ablösung von der SPD. Als der Krieg begann, hatte das Kaiserreich noch keine Kriegsziele, so dass es scheinen konnte, als ob es überraschend von seinen Feinden angegriffen worden wäre. Erst nach Kriegseintritt begann eine Debatte über die Kriegsziele, deren öffentliche Führung der Kanzler zunächst untersagte, die sich aber auf Dauer nicht unterdrücken ließ. Sie machte schließlich deutlich, dass es nicht um die bloße Abwehr eines hinterhältigen Überfalls ging, sondern das Reich offensive Kriegsziele einschließlich territorialer Eroberungen verfolgte. In dem Maße, wie sich dies heraus stellte, festigte sich in der Linken die Überzeugung, dass Deutschland keinen Verteidigungskrieg, sondern einen imperialistischen Krieg führte. Mit dieser Begründung lehnte Karl Liebknecht schließlich im Reichstag weitere Kriegskredite ab.
Auf dieser Linie der „Charakteristik des Weltkrieges als imperialistischer Krieg“ (Pätzold) wenden sich auch Bollinger, Fesser und die Marxistischen Blätter gegen heutige Relativierungen der deutschen Kriegsverantwortung. Das Problem ist nur, dass diese Charakteristik zugleich die Aufdeckung der eigentlichen inneren Triebkräfte des Kriegs versperrt. Der am 31.Juli erschienene „Blutrausch“-Artikel hat diese Triebkräfte im Ansatz richtig benannt, und wenn man die darin enthaltenen Einsichten fruchtbar macht, kann man den Weg in den großen Krieg auch wieder als Geschichte von Klassenkämpfen begreifen, wie Marx und Engels das für die Geschichtsschreibung gefordert haben.
Vor über 50 Jahren wurde in Westdeutschland mit der Fischer-Kontroverse auf bürgerlicher Seite der erste große Historikerstreit der Bundesrepublik geführt. Die Tiefe und Breite der Debatte hat nicht nur eine Fülle fruchtbarer Forschungsarbeiten zur Folge gehabt, sondern erschwert es bis heute, die damals gewonnenen Erkenntnisse von der entscheidenden deutschen Verantwortung für den Großen Krieg zurück zu nehmen. Im Blick darauf täten wir als Linke gut daran, den Jahrestag des Weltkriegs zum Anlass zu nehmen, um unsererseits in eine offene Debatte über dessen Entstehung und die Fehler der Sozialdemokratie einzutreten.