Umgruppierungen in der Arbeiterschaft

Über die gesellschaftlichen Hintergründe der Linkspartei

Von Heiner Karuscheit

Jenseits der tagesaktuellen Entwicklung steht der absehbare Wahlerfolg der neuen Linkspartei PDS/WASG mit gesellschaftlichen Verschiebungen im Zusammenhang, die bereits seit Jahren andauern und für alle politisch Interessierten von größter Bedeutung sind.

Wie in unseren Veröffentlichungen schon mehrfach thematisiert, lockert sich die Parteienbindung der Bevölkerung seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts langsam und deutet auf eine allmähliche Aufweichung der bürgerlichen Hegemonie über die Gesellschaft hin. Allerdings berührt diese Entwicklung beide großen Volksparteien auf unterschiedliche Weise. In der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Nr. 4/2004 vom September letzten Jahres werden die grundlegenden Veränderungen untersucht, die den jetzigen Aufstieg einer „Linkspartei“ ermöglichen – ohne dass zu dieser Partei selber ein Satz fällt.

Die Abwendung der Arbeiter von der SPD

Abgesehen von einer verbreiteten Wechselstimmung nach 16 Jahren Kanzlerschaft Kohl wurde die Union bei der Bundestagswahl 1998 hauptsächlich wegen der sozialen Frage abgewählt. Obwohl ihre Versuche zur Beschneidung des Sozialstaats, verglichen mit heute, äußerst zaghaft waren (z. B. die Einführung eines demographischen Faktors in der  Rentenversicherung), reichten diese Ansätze schon aus, um ihre Abwahl herbeizuführen. Vor allem die Arbeiter wählten SPD, in der Hoffnung, dadurch wieder die gesicherten sozialen Verhältnisse der vergangenen Jahrzehnte zu erreichen.

Für die von der SPD im Wahlkampf propagierte Sozialstaatspolitik stand an vorderster Stelle Lafontaine, der prompt seine Funktionen als Finanzminister und Parteivorsitzender niederlegte, als Schröder entgegen seinen und den Erwartungen der Wählerschaft daran ging, den Sozialstaat nach eigenem Plan abzubauen, gestützt auf seine Richtlinienkompetenz als Kanzler.

Die in den kommenden Jahren praktizierte Politik verfolgte zwei miteinander zusammenhängende Ziele der „Privatisierung“ zugunsten des Kapitals: erstens die paritätische Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch Kapital und Arbeit aufzugeben (Riester-Rente), und zweitens das Solidarprinzip in der Krankenversicherung ebenfalls in Richtung Privatisierung auszuhöhlen. Ihre Ergänzung fand diese Politik in einer Steuerreform, die den großen Kapitalgesellschaften Steuerersparnisse in zigmilliardenfacher Höhe bescherte.

Als Reaktion darauf wäre die rot-grüne Koalition bei einem normalen Verlauf der Dinge bereits 2002 abgewählt worden, aber die Flutkatastrophe und der Irak-Krieg kamen ihr zu Hilfe. Zwar büßte die SPD insbesondere bei den Arbeitern massenhaft Stimmen ein (Joachim Raschke: Rot-grüne Zwischenbilanz; in: APuZ 40/2004, S. 25), aber insgesamt reichte es zu einem knappen Wahlsieg für Rot-Grün.

Dann kam 2003 die Politik der „Agenda 2010“, die den Abbau des Sozialstaats noch einmal forcierte. Sie beschleunigte die ohnehin bereits stattfindende Abwendung der Arbeiter von der SPD in einer Weise, die kaum jemand vorhergesehen hatte. „Die Agenda-Politik Schröders hat die politisch anders sozialisierten sozialdemokratischen Anhänger verwirrt und gelähmt.“ (Franz Walter: Zurück zum alten Bürgertum: CDU/CSU und FDP, S. 38). Von der Mehrheit der Arbeiter wird die SPD nicht länger als „ihre“ Partei betrachtet.

Damit einher ging die Veränderung des Verhältnisses zu den Gewerkschaften. „Die Bündnispflege versagte hinsichtlich der Gewerkschaften, mit denen allein die SPD noch nicht gewinnt, aber gegen die sie bei Wahlen verloren ist. Die Differenz zwischen ‚Umbau‘ (SPD) und ‚Abbau‘ des Sozialstaats (Gewerkschaften) beschreibt die zwei Welten, in denen die Akteure leben. Entfremdung und Entkopplung bestimmen das Verhältnis, und typische Gewerkschafter zählen nicht mehr zu den Aktiven der SPD, die Parteiführung hat, freundlich formuliert, ein distanziert-taktisches Verhältnis zu den Gewerkschaften.“ (Raschke, S. 28)

Franz Walter spricht sogar von der „Auflösung der Beziehungen zu den Gewerkschaften“ und einem „Zerfall der Bindungen an die Arbeiterklasse“ als vollendeten Tatsachen (Franz Walter: Zurück zum alten Bürgertum: CDU/CSU und FDP; in: APuZ 40/2004, S. 35). Auch wenn es gegenwärtig noch nicht so weit ist, wird damit doch aufgezeigt, worauf die gegenwärtige Entwicklung hinausläuft.

Eine „Revolution der deutschen Wahlgeschichte“

Seit 2003 gingen sämtliche Landtagswahlen für die SPD verloren. Ursächlich dafür war im Wesentlichen die Wahlbewegung der Arbeiterwähler. In den beiden größten Bundesländern, Bayern und NRW, haben dies die letzten Landtagswahlen beispielhaft demonstriert.

Die CSU, in Bayern immer schon von relativ vielen Arbeitern gewählt, konnte ihren Anteil noch einmal steigern, weil sie sich auch auf Bundesebene als soziale Interessenvertretung der „kleinen Leute“ profilierte. „Die CSU kam bei der Landtagswahl in Bayern bei den niedrig gebildeten Wählern auf 67 % der Stimmen, bei den Hochgebildeten lediglich auf 47 %. Auch berufssoziologisch ist die CSU in Deutschland die proletarische Partei schlechthin. Bei Arbeitern hatte die Stoiber-Partei im September 2003 einen Anteil von 65 % erreicht.“ (Franz Walter, S. 35)

Den bundesweiten Gegenpol zu Bayern hatte bis dato NRW gebildet, wo die SPD über den stärksten Anhang in der Arbeiterschaft verfügte. Auch hier bewirkten die Landtagswahlen vom 22. Mai 2005 zwar keine vollständige Umkehrung, aber eine erdrutschartige Verschiebung der Verhältnisse. Obwohl sie bei Arbeitern und Arbeitslosen nach wie vor stärkste Partei blieb, verlor die SPD dort mit minus 11 Prozentpunkten doppelt so viel wie in der Gesamtheit. Bei ihrer Stammklientel, den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, holte sie immer noch 61 %, aber büßte auch hier 11 Punkte ein. Die CDU dagegen gewann bei Arbeitern und Arbeitslosen jeweils 9 Punkte sowie bei den Arbeitern mit Gewerkschaftsmitgliedschaft 7 Prozentpunkte (Forschungsgruppe Wahlen: Landtagswahl in NRW, S. 2, http://www.forschungsgruppe.de).

Insofern bestätigte der Wahlausgang in NRW, was die Wahlforschung bereits vorher analysiert hatte: „So ist mittlerweile das ‚altbürgerliche Lager‘ in seiner Wählerschaft ‚proletarischer‘ als das der SPD, auch als das von Rot-Grün insgesamt (…) die Union (ist) zu Beginn dieses Jahrhunderts zur Mehrheitspartei der deutschen Arbeiter geworden.“ Franz Walter spricht in diesem Zusammenhang von der zweiten „Revolution der deutschen Wahlgeschichte“ (S. 34/35; als erste Revolution nennt er die Abwendung der früher konservativ wählenden Frauen von der Union).

Eine unsichere „proletarische Basis“ für die Union

Wie weit die Arbeiter bereit sind, den Parolen der bürgerlichen Propaganda zu folgen, zeigten zuletzt die NRW-Landtagswahlen. In dem zentralen Rededuell von Rüttgers und Steinbrück kurz vor der Wahl forderten beide Spitzenkandidaten explizit längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Obwohl eine Milchmädchenrechnung zeigt, dass jede Arbeitszeitverlängerung unter gegebenen Verhältnissen nur weitere Arbeitsplätze vernichtet, stieg die Wahlbeteiligung sowohl der Arbeiter als auch der Arbeitslosen an und kam insbesondere der CDU zugute.

Allerdings ist die Hinwendung zur Union anders geartet als die jahrzehntelange Bindung an die SPD. Zwar wählt „die organisatorisch unbehauste Arbeiterklasse“ die CDU/CSU seit zwei Jahren, „eine begeisterte Zustimmung zu einem bürgerlichen, gar radikal neoliberalen Reformprojekt spiegelte sich in der demoskopischen Hausse der Union dagegen keineswegs.“ (Walter, S. 34, 37)

Die Wählerwanderung ist um so auffälliger, als die Führung der Union unter dem Druck der „ökonomischen Eliten“, wie sie in der Wahlforschung genannt werden, in Abstufungen zu einer Wirtschaftspolitik des Neoliberalismus übergegangen ist und Abschied von der sozialen Fundierung ihrer Marktwirtschaftspolitik genommen hat. Über Jahrzehnte hinweg trug ihr Arbeitnehmerflügel, lange Zeit von Norbert Blüm repräsentiert, für die soziale Gestaltung der Wirtschaftspolitik Sorge und sicherte so die Existenz der Union als Volkspartei. Er ist inzwischen vollständig entmachtet; die CDU/CSU hat ihre „Balance“ verloren. Wie weit sich die politische Achse der Union verschoben hat, konnte man im Herbst 2003 feststellen, als Norbert Blüm auf den Parteiversammlungen ausgelacht wurde, weil er vor den Konsequenzen einer neoliberalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik warnte.

Klassenstabilität der Union

Wenn diese „neue“ Union heute trotzdem von so vielen Arbeitern gewählt wird, so deswegen, weil man ihr mehr wirtschaftliche Kompetenz als der SPD zuschreibt und gleichzeitig hofft, dass ihre Politik sozialeren Charakter trägt als bei der FDP. „Man verbindet die neue Union immer noch mit dem Erfolgsmodell der alten CDU. Das ist ihr Kredit, daraus kann in Zukunft aber auch bittere Enttäuschung und elektorale Erosion erwachsen.“ (Walter, S. 38).

Insofern gleicht die gegenwärtige komfortable Situation der Union einem Spagat, der kaum auf Dauer durchzuhalten ist. „In ihrer Wählerschaft also ist die Union antibürgerlicher denn je. Im Milieu ihrer Parteiaktivisten, in ihrer programmatischen Orientierung ist sie indessen bürgerlicher als je zuvor.“ Daher weist „alles darauf hin, dass die Allianz von alter bürgerlicher Mitte und neuem sozialen Unten nicht lange halten wird“ und dauerhaft der „Status der Union als Volkspartei gefährdet“ ist. (Walter, S. 37, 38)

Aber der künftige Verlust ihrer Arbeiterwähler wird den sozialen Kern der Union nicht im gleichen Maße betreffen wie das bei der SPD der Fall ist. „Eine bürgerliche Wirtschafts- und Sozialreform einer Kanzlerin Merkel aber wird den bürgerlichen Kern der CDU nicht irritieren, sondern aktivieren. (…) Christdemokratische Aktivisten zählen sich von der sozialen Herkunft, dem Habitus und der politisch-ökonomischen Orientierung zum deutschen Bürgertum. Der christdemokratische Aktivist weiß mithin, wohin er gehört (…) Insofern wird die CDU nicht in die gleiche Identitätskrise geraten wie die SPD.“ (Walter, S. 35, 38)

Volksparteiversuch der FDP

Die zunehmenden Wählerwanderungen sind der Grund, dass die FDP vor einigen Jahren unter dem Einfluss Möllemanns versuchte, mit dem „Projekt 18“ aus einer bürgerlichen Honoratiorenpartei mit beschränktem Wählerpotential zu einer „Partei für das ganze Volk“ zu werden. Als Mittel dazu diente einerseits die Propagierung der „Spaßgesellschaft“, die eine unpolitische Wählerschicht ungebundener, jüngerer Wähler mit gesichertem Einkommen ansprechen sollte; andererseits zielten populistische Forderungen insbesondere auf Arbeiterwähler. Es war nicht der Misserfolg, sondern der Erfolg dieser Umorientierung bei den Bundestagswahlen 2002, der zum Ende sowohl dieser Politik als auch ihres Hauptvertreters führte, weil die Auswertung des Wahlergebnisses plastisch zeigte, wohin der Weg ging. „Das freidemokratische Bürgertum war am Wahlabend 2002 jäh ernüchtert und mochte sich auch nicht der neu hinzugewonnenen Wählerschichten erfreuen. ‚In gutbürgerlichen Wohngegenden haben wir Stimmen verloren, in Arbeiterhochburgen zugelegt‘, klagte der frühere Generalsekretär Werner Hoyer, ‚dieser Austausch ist lebensgefährlich‘.“ (Walter, S. 36)

Das freidemokratische Establishment zog die Notbremse und nutzte die nächste Gelegenheit, um Möllemann abzuschießen und wieder das alte bürgerliche Stammpublikum zu hofieren. Damit aber wird das Problem virulent, dem Möllemann mit seiner Strategie begegnen wollte, denn die beiden Volksparteien sind „in die Mitte gerückt, haben sich liberaler Deutungen bedient – und den Liberalismus dabei thematisch weitgehend enteignet.“ (Walter, S. 36)

Politikverschiebung durch die neuen Mittelschichten

Um die Reichweite des Bruchs zwischen den Arbeiterwählern und der SPD zu begreifen, reicht es nicht aus, allein die Agendapolitik zu betrachten. Vielmehr liegt dem eine Politikverschiebung zugrunde, deren Anfänge aus den 80er Jahren resultieren.

Durch ihr Godesberger Programm von 1956 hatte die SPD auf dem Boden der Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft den Schritt von der Arbeiterpartei zur Volkspartei gemacht. Mit dem Aufstieg der „neuen sozialen Bewegungen“ vollzog sie eine neuerliche Umorientierung zu den neuen Mittelschichten. Neben die sozialen Fragen traten politisch-programmatisch die von der Wahlforschung so genannten „postmaterialistischen“ Themen von der Ökologie über den Feminismus bis zum Multikulturalismus. Durch ihren Kurswechsel verhinderte die SPD zwar, dass die Grünen zur Alleinvertretung der neuen Mittelschichten wurden, entfremdete sich aber gleichzeitig von ihren ursprünglichen Stammwählern.

Die „grüne“ bzw. „postmaterialistische“ Politik ist nämlich die Ursache dafür, dass insbesondere die nachwachsende Arbeitergeneration ihre politische Heimat nicht mehr in der SPD sieht. „Die jungen Männer mit geringer Qualifikation und Beschäftigung im sekundären Sektor (…) haben in den letzten Jahren ihre Zuneigung für die Union entdeckt (…) der feministische Postmaterialismus von Rot-Grün (ist) gerade in der jungen männlichen Arbeiterschaft verhasst. Er hat die SPD entproletarisiert, dem altbürgerlichen Lager aber eine keineswegs unprekäre und sicher auch nicht vorbehaltlos loyale neue Gruppe zugeführt.“ (Walter, S. 34, 35) Zu ergänzen ist, dass Teile dieser jungen männlichen Arbeiterschaft auch NPD oder DVU wählen.

Ironischerweise hat die Sogkraft der gesellschaftlichen Entwicklung inzwischen ausgerechnet die Grünen dazu veranlasst, den Sekundärcharakter der „postmaterialistischen“ Fragen anzuerkennen, so dass in ihrem neuen Wahlprogramm zum ersten Mal nicht die Ökologie am Anfang steht, sondern wirtschaftliche Probleme. Selbst der „Multikulturalismus“ wird mittlerweile in Frage gestellt, wie einem Aufsatz von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Juni 2005 unter der Überschrift „Werdet Bürger“ (S. 8) zu entnehmen ist.

Die SPD ohne „Ort“

Jedenfalls ist die Hinwendung zu den Themen und Interessen der neuen Mittelschichten ursächlich dafür, dass „die Sozialdemokratie im Laufe der neunziger Jahre allmählich ihren sozialen, kulturellen und politischen Ort verlor“. Im Unterschied zum christdemokratischen Aktivisten weiß der sozialdemokratische Funktionär heute nicht mehr, wohin er gehört – „Proletarier ist er nicht mehr; zum Bürgertum mag er sich nicht rechnen; auch ’neue Mitte‘ hat ihm nie recht gefallen“. (Walter, S. 38)

Im Ergebnis ist „mittlerweile das ‚altbürgerliche Lager‘ in seiner Wählerschaft ‚proletarischer‘ als das der SPD, auch als das von Rot-Grün insgesamt. Zumindest ist die Anhängerschaft von Schwarz-Gelb derzeit eindeutig weniger gebildet als die von Rot-Grün. Bei der Bundestagswahl 2002 erreichten Union und FDP bei den so genannten Hochgebildeten eine Quote von 42 %. Die Parteien links von der Mitte kamen auf Werte von 55 %.“ (Walter, S. 34)

Insoweit wirkte die Agendapolitik seit 2003 als Katalysator, der eine ohnehin stattfindende Entwicklung beschleunigte und vertiefte. Auf der anderen Seite bedeutete sie einen qualitativen Bruch, der die bisher vorhandenen Ansätze auf eine neue Stufe hob. Zusammengenommen kommt Franz Walter zu dem Schluss, dass die Sozialdemokratie „durch die Auflösung der Beziehungen zu den Gewerkschaften und den Zerfall der Bindungen an die Arbeiterklasse“ seit einiger Zeit kein stabiles Fundament mehr hat. (S. 35) Sie ist nicht nur auf dem Weg, ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren – das verbindet sie mit der Union -; darüber hinaus läuft sie Gefahr, ihre soziale Basis zu verlieren.

Selbst wenn die Agendapolitik in der künftigen Oppositionsrolle ab der nächsten Bundestagswahl wieder rückgängig gemacht werden sollte, folgt aus dieser Analyse, dass der verloren gegangene Rückhalt in der Arbeiterklasse damit nicht wieder hergestellt werden kann. „Dafür halten die schon seit der ersten Schröder-Regierung entstandenen Bruchstellen im Beziehungsverhältnis der SPD zu ihrer alten Stammwählerklientel bereits zu lange an und sind für zahlreiche Abtrünnige mittlerweile irreparabel.“ (Elmar Wiesendahl: Parteien und die Politik der Zumutungen; in: APuZ 40/2004, S. 23)

Die Zielgruppen der „Linkspartei“

Die hier wiedergegebene Entwicklung bildet den Hintergrund für das neue linke Wahlbündnis mit Lafontaine und Gysi an der Spitze. Den Platz dieser Partei innerhalb des Parteiensystems und ihren Anspruch gegenüber beiden Volksparteien hat Lafontaine klar formuliert – was nicht heißt, dass seine Auffassung von allen Parteimitgliedern geteilt wird:

Erstens hat der ehemalige SPD-Vorsitzende dem Wesen nach Recht, wenn er feststellt, dass nicht er sich in den letzten sieben Jahren bewegt hat, sondern die SPD. Seine Aussage, dass die SPD nicht mehr die politische Heimat der Arbeiter sei, wird von der Wahlforschung bestätigt.

Ebenso ernst zu nehmen ist sein Vorwurf an die Union, sie habe die Politik der sozialen Marktwirtschaft aufgegeben. Die Berufung auf Ludwig Erhard zielt auf die Arbeitnehmerwähler der Union.

Die Zielgruppen der neuen Sozialstaatspartei sind in erster Linie Arbeiter und kleine Angestellte (vor allem des öffentlichen Dienstes), daneben Rentnerinnen und Rentner.

Im Hinblick auf die Gewerkschaften bedeutet die Entstehung der Linkspartei eine (faktische, nicht formelle) Spaltung. Die IGBCE auf der einen Seite leistet der Schröder-SPD mehr oder weniger bedingungslos Folge, auf der anderen Seite unterstützen zumindest ein Teil von Verdi oder der IG Metall die Linkspartei.

Gegenüber den neuen Mittelschichten und ihrer „grünen“ Interessenvertretung markieren das Aufgreifen der sozialen Frage und die dezidierte (reformistische) Vertretung von Arbeiterinteressen durch die Linkspartei einen tiefen Graben.

Für die bisherige Linke bedeutet sie einen Scheidungsprozess: ein Teil, voran die DKP, schließt sich ihr an; ein anderer Teil lehnt sie wegen ihrer mangelnden feministischen, ökologischen oder multikulturellen Orientierung ab – also nicht wegen ihrer reformistischen Arbeiterpolitik, sondern weil sie Arbeiterpolitik und keine Mittelschichtenpolitik betreibt.

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend ist festzustellen:

  1. Von allen gesellschaftlichen Kräften haben die Arbeiter sich als erste aus der Bindung an eine Volkspartei gelöst oder sind dabei, es zu tun. Die SPD hat aufgehört, die ausschlaggebende Arbeiterpartei zu sein. Das Vertrauen der Arbeiter in die bürgerliche Produktionsweise ist jedoch nach wie vor ungebrochen. Es gibt keine Anzeichen einer Strömung, die sich vom Kapitalismus abwendet. Im Gegenteil ist man bereit, für das Funktionieren dieser Produktionsweise Opfer zu bringen, sprich Lohneinbußen und längere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, in der Hoffnung, dass dadurch die Wirtschaft wieder an Aufschwung gewinnt.
  2. Unter dem Druck des Kapitals sind beide Volksparteien daran gegangen, die soziale Grundierung der Marktwirtschaftspolitik aufzugeben und durch einen „neoliberalen“ oder „marktradikalen“ Politikentwurf zu ersetzen. Damit wird dem Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit, der über ein halbes Jahrhundert lang die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland gesichert hat, der Boden entzogen.

    Die Arbeiterklasse reagiert darauf dem Wesen nach konservativ. Anstatt zum offenen Klassenkampf überzugehen, will sie mit allen Mitteln zurück in die gesicherten gesellschaftlichen Verhältnisse der Vergangenheit. In der Hoffnung auf eine schnelle Sanierung der kapitalistischen Wirtschaft wählt die Mehrheit der Arbeiter heute die Unionsparteien. Nur ist diese Zustimmung alles andere als stabil. „Insgesamt oszillieren organisatorisch und sozialkulturell nicht mehr gebundene Arbeiter schon seit Jahren unstet zwischen den Parteien.“ (Walter, S. 35) Da die Unionsparteien ihren sozialen Flügel entmachtet haben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie nicht nur die neu von der SPD hinzu gewonnenen Arbeiterwähler wieder verlieren, sondern auch diejenigen Arbeiter, die ihnen aufgrund des Sozialcharakters ihrer Marktwirtschaftspolitik früher schon die Stimme gegeben haben.

  3. Alles deutet daher auf eine weitere Auflösung der Parteienbindung, die Fortsetzung des Niedergangs der Volksparteien und, damit verbunden, die weitere Abschwächung der bürgerlichen Hegemonie über die Gesellschaft hin. Diese Entwicklung verläuft indes ungleichzeitig. Die SPD ist bereits heute dabei, ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren, dagegen täuscht das aktuelle Wählerhoch für die Union darüber hinweg, dass sie auf demselben Weg ist.

    Darüber hinaus existiert ein gravierender Unterschied zwischen Union und SPD. Die marktradikale Reformpolitik der Union wird von ihrem bürgerlichen sozialen Kern mitgetragen. Auch wenn sie künftig die Zustimmung ihrer nichtbürgerlichen Wähler verliert, bleibt ihr dieser Kern erhalten. Dagegen steht die SPD in doppelter Hinsicht vor dem Abgrund: wenn es ihr nicht gelingt, die verbliebenen Verbindungen zur Arbeiterschaft und zu den Gewerkschaften zu sichern bzw. neu wieder her zu stellen, hört sie nicht nur auf, Volkspartei zu sein, sondern wird darüber hinaus ihren sozialen Kern verlieren.

  4. Diese Entwicklung hat den Raum geöffnet für die Linkspartei. In ihr drückt sich einerseits der Niedergang der bisherigen Parteiendemokratie, insbesondere die Ablösung der Arbeiter von den Volksparteien aus. Auf der anderen Seite findet sich bei ihr auch nicht der Ansatz eines Bruchs mit den gegebenen Verhältnissen, sondern bindet sie die in Bewegung geratenen Massen weiter an die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Es gibt für Marxisten keinen Anlass, sich an ihr zu orientieren, geschweige sich dort zu organisieren.

In welcher Gestalt auch immer bietet die gegenwärtige Arbeiterbewegung keinen Resonanzboden für eine kommunistische Politik. Der revolutionäre Marxismus bleibt weiterhin eine isolierte ideologische Strömung, deren Mitglieder gut daran tun, die theoretische Arbeit und die ideologische Auseinandersetzung mit der Linken fort zu führen.

Letzte Änderung: 21.03.2016