Heiner Karuscheit (HK.): „Der deutsche Rassenstaat“ [1] und „Das Imperialismusproblem III“ [2]

Ein paar Anmerkungen

Karl-Heinz Goll,  September 2025

1. Vorbemerkung

Zum vorliegenden Text habe ich zunächst bis zum Erscheinen der AZD 98 [2] abgewartet weil für dieses Heft eine neuerliche „Kritik der Leninschen Imperialismustheorie“ angekündigt war. Der Zusammen­hang zwischen dem Buch [1] und dieser Kritik musste aufgegriffen werden. Ansonsten sind nachfolgend etliche Eigenzitate z.T. ohne besondere Quellenangabe aus meinen früheren Beiträgen enthalten.

Vorab zum Buch [1]:
Teilweise ist es lesenswert und „lehrreich“, wenn auch stark durchsetzt mit fragwürdigen Thesen und falschen Schlussfolgerungen.

2. Zunächst etwas „Positives“:
2.1 – 1848 und danach

HK. beginnt folgerichtig mit der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49.
Sie „endete mit einer Niederlage, weil ein maßgeblicher Teil des Bürgertums, voran die emporstrebende industrielle Bourgeoisie, es angesichts der sozialen Forderun­gen der Massen vorzog, an die Seite Preußens zu treten, um die Volksbewegung niederschlagen zu lassen …“  – so HK. Und weiter:
„ … der 1862 … ernannte  Bismarck … setzte den preußischen Militärstaat an die Spitze der Nationalbewegung und ließ die junkerliche Armee in den Einigungskrie­gen  von 1864 bis 1870 einen kleindeutschen Nationalstaat unter Ausschluss Öster­reichs erkämpfen.“

Diesen Staat charakterisierte Karl Marx 1875 folgendermaßen:
„… als nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feuda­lem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“.
Wohlgemerkt: 1875.

Wie es weiterging, habe ich in [3 – AZD 93]  folgendermaßen angedeutet:
„Heiner Karuscheit macht m.E. einen grundsätzlichen Fehler, wenn er die preußische Staats- und Gesellschaftsord­nung um 1900 als „vorbürgerlich“, „nicht von der Bourgeoisie be­herrscht“ definiert (u.a. AZD 88). Er macht keinen Unterschied zwischen Form und Inhalt, zwi­schen Staat und Gesellschaftsordnung, die er mit einem Bindestrich vermengt. Überspitzt könnte man so die heutige Staats- und Gesellschaftsordnung Großbritanniens als vorbürgerliche Monarchie betrachten.“

Und:
„Etwas schräg bzw. submarin könnte man das Bürgertum des späten Kaiserreiches mit einen Einsiedlerkrebs vergleichen, der mangels (demokratischer) Kruste mit seinem weichen Hinterleib in einem (preußischen Militär- und Obrigkeits) Schneckenpanzer steckt, ohne dass man ihn deswegen mit der Schnecke verwechseln sollte.“

Das Deutsche Reich war bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Monarchie mit schwindenden halb-feudalen Relikten, aber zunehmend bestimmt von den ökonomischen Interessen der Bour­geoisie.

Bismarck suchte durch Sozialreformen (Kranken- und Unfallversicherung, Renten- und Invalidenversicherung) sowie mit den Sozialistengesetzen zwischen 1878 bis 1890 „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ den wachsenden Einfluss der sozialistischen Arbeiterbewegung zurückzudrängen. Trotz alledem erreichte die SPD später 1912 bei den Reichstagswahlen 35 % der Stimmen.

Der Optimismus der SPD, den Staat friedlich-parlamentarisch übernehmen zu können war so groß, dass selbst Friedrich Engels 1891 zu höchst  fatalen Aussagen kam (MEW22, 250 bis 251):

„Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, die Partei, die wie die ansteigende Flut al­le Dämme überbraust, die sich über Stadt und Land ergießt, bis in die reaktionärst­en Ackerbaudistrikte – diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.“  Und Engels weiter:

„Die Hauptstärke der deutschen Sozialdemokratie liegt aber keineswegs in der Zahl ihrer Wähler. Bei uns wird man Wähler erst mit 25 Jahren, aber schon mit 20 Sol­dat. Und da grade die junge Generation es ist, die unsrer Partei ihre zahlreichsten Rekruten liefert, so folgt daraus, dass die deutsche Armee mehr und mehr vom Sozialismus angesteckt wird. Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluss.“

Doch das genaue Gegenteil dieser Engelsschen Visionen trat ein:

2.2 Die SPD „hineingewachsen“ in den preußischen Staat

Die Massen sozialdemokratischer Funktionäre in den Gewerkschaften, den Sozialversicherungen, staatlichen Behörden (z.B. den „12-Endern“ – in der Regel Unteroffiziersdienst­grade der laut Engels „sozialistisch angesteckten“ Reichswehr, die nach 12 Jahren anschließend als Beamte  zum Beispiel bei Finanzämtern, Zoll, Justiz, Post, Bahn übernommen wurden) identifizierten sich weitestgehend mit dem preu­ßischen Staat, von dem sie glaubten, dass die SPD ihn in Bälde parlamentarisch „übernehmen“ kön­nte. Dessen revolutionäres „Zerbrechen“ im Sinne von Marx war für sie undenkbar.

Für Marx war klar, dass das Proletariat die bürgerliche Staatsmaschine „nicht einfach in Besitz nehmen“ kann kann, sondern dass es diese im Bürgerkrieg „zerschlagen“, „zerbrechen“ muss (MEW 17, S. 336).)

Das Gegenteil wurde für die SPD zur Richtschnur ihrer staatstreuen Politik, was später angefangen mit der Zu­stimmung zu den Kriegskrediten, der „Burgfriedens“politik, der „Vaterlandsverteidigung“ zum Ausdruck kam, womit sie 1914 die Proletarier in das Völkergemetzel mobilisierte.

2.3 – 1918/19: Eine sozialdemokratisch geführte Konterrevolution

Die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokratie in der Novemberrevolution hat H.K. treffend herausgearbeitet.

3. Nun mehr Kritik:

3.1 H.K.´s  undialektisches Entgegensetzen von Klassenkampf und Ökonomie

Dieses (in marxistischem Sinn) metaphysische, schematische Verständnis von Klassenkampf äußert sich in verschiedenen Thesen. Es ist überwiegend beschränkt auf Parteienkonstellatio­nen in den Parlamenten, den Regierungen, dem politischen Überbau, während der dialek­tische Zusammenhang mit der ökonomischen Basis als „Ökonomismus“ abgetan wird. Als ob dieser unlösbare Zusammenhang nicht schon aus dem Titel des Hauptwerkes von Marx/Engels hervorgeht: „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“.

Laut Wikipedia wird das Bürgertum „charakterisiert durch den Erwerb bzw. die Wahrung von Besitz – und zwar Besitz von Rechten oder Besitz von materiellen Gütern oder Besitz von Bildung“ (https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgertum). Man muss hinzufügen, dass das bürgerliche Klassenbewusstsein ganz allgemein die Überzeugung einer grund­sätzlichen Überlegenheit, ein elitäres Sendungsbewusstsein gegenüber den „unteren“ Schichten impliziert.

Besitzbürgertum im Kapitalismus, marxistisch die Bourgeoisie, ist die Klasse, die die Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel ausübt. Sie bestimmt im Kapitalismus letztlich bzw. lässt zu – auf die eine oder andere Weise (ob parlamentarisch, oder per „Ermächtigung“) – wer die staatliche Geschäftsführung, sprich Regierungsgewalt ausübt.

3.2 Das Junkertum

Wohin der „historische Untergang“ des Junkertums  führte, darüber gibt das Buch wenig Auskunft. Lediglich die „… Weltmarktkonkurrenz des preiswerteren Getreides der amerikanis­chen Farmer …“ wird genannt, die die gemäß HK immer selbst-gleichen Junker zwang, „sich umso mehr an die Staatsmacht zu klammern“.

Bei H.K. beherrscht das Junkertum mit Preußen als Hegemonialstaat das Deutsche Reich als Klasse – speziell in Gestalt des Militäradels „zusammen mit den von der Schwerindustrie bestimmten Nationalliberalen“. Die Junker kommandierten nach HK quasi unwandelbar bis ins 3. Reich hinein die Armee „als wichtigstem innenpolitischen Machtfaktor“ – was allerdings bei näherer Betrachtung  bezüglich der Nazizeit so einfach nicht stimmt.

Ganz im Gegensatz zu HK’s Meinung („Pakt mit dem Militäradel“) [1,  S.85] beherrschte der Militäradel alias Junker­tum nur noch sehr bedingt  Hitlers Wehrmacht. Vielmehr ka­men zahlreiche Generäle aus bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Verhältnissen. Was be­sonders zählte, waren die Sporen, die im 1. Weltkrieg verdient wurden. Es seien unter den Generälen nur die Namen von Ludwig Beck, Alfred Jodl, Friedrich Fritz Fromm, Fritz Hal­der, Kurt Zeitzler, Wilhelm Burgdorf, Erwin Rommel, Friedrich Paulus genannt – eine Liste, die sich bis in nachrangige Posten beliebig verlängern ließe.

HK’s zentrale These zum 1. Weltkrieg ist mehr als fragwürdig, dass der Krieg „we­sentlich ein Machtsicherungskrieg“ des untergehenden Junkertums“ gewesen sei bzw., dass „der junkerliche Militäradel keine andere Möglichkeit mehr (sah), als die Flucht in ei­nen Krieg, um seine Vormachtstellung zu behaupten“. Dieser Nebenaspekt, der aber die Kriegsziele, besonders Annexionen ignoriert, dient HK vor allem dem Zweck, die ökonomisch/imperialistischen Kriegsgründe als  „Ökonomismus“ abzutun.

In dem geradezu Ehrfurcht erregenden 5-seitigen Literaturverzeichnis zum Buch [1] fehlt das sehr wichtige Werk von Roger Pickering [4]. (Auch fehlt z.B. ein ebenfalls  wichtiges Buch des Autors Ulrich Enderwitz: „Antisemitismus und Volksstaat“ [7].

Pickering [4] schreibt:
Der Reichstag war tief gespalten. Die Konservativen und die Rechtsliberalen, die Rechtsparteien, die den adligen Landbesitz und das Großbürgertum repräsentierten, forderten einen kompromisslosen Siegfrieden mit üppigen Gebietsgewin­nen … Die meisten der politischen und sozialen Eliten Vorkriegsdeutschlands waren in diesem Lager zu finden. Sie erwarteten, dass ein militärischer Triumph ihre eigene Führungsposition rechtfertigen und Forderungen nach politischen und sozialen Reformen ent­kräften würde.“

Gebietsgewinne, sprich Annexionen, nach denen die genannten Eliten gierten, betrafen besonders besetzte Gebiete im Westen (Belgien, Lothringen) und Im Osten (russische Gebiete in Polen, im Baltikum bis nach Rumänien). Das war Imperialismus in Reinkultur und bedeutete keineswegs nur einen „Machtsicherungskrieg“ des untergehenden Junkertums“.

Der „historische Untergang“ bestand darin, dass die Junker sich tendenziell zu  einer Fraktion der Bourgeoisie entwickeln mussten. Diese Tatsache leugnet HK..

3.3 Das Bürgertum als herrschende Klasse der Nazi-Diktatur

Laut HK war die NSDAP „keine bürgerliche, sie war eine kleinbürgerliche Partei.“ Das mag für die Entstehungszeit der NSDAP gelten. Dagegen hat der Autor Bernt Engelmann mehrere Bücher veröffentlicht, darunter 1978 den fast 600 Seiten langen Bericht: „Krupp, die Geschichte eines Hauses; Legenden und Wirklich­keit“ [5].

2022 erschien das Buch „Braunes Erbe – die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien“ [11] des Autors David de Jong. Es ist ein akribisch recherchiertes Werk über die Familien Quandt, Flick, von Finck, Porsche-Piech und Oetker, deren Vertreter als Parteimitglieder engste Verbindungen zur NSDAP-Führung unterhielten und sich besonders durch umfangreiche „Arisierungen“ jüdischer Firmen und Besitztümer enorm bereicherten.

Führende Industrielle der Großbourgeoisie unterstützten Hitler schon bei der „Machtergreifung“ und mitfinanzierten die NSDAP. So ist der von Fritz Thyssen arrangierte Empfang vom 26. Januar 1932 im Industrieclub Düsseldorf berüchtigt. auf dem Hitler erschien, redete und den großen Bossen von Rhein und Ruhr vorgestellt wurde. Auf S. 80 des Buches [1] beschreibt auch HK. die „ungeteilte und z.T begeisterte Zustimmung der 650 Zuhörer, unter denen sich so gut wie alle Wirtschaftsführer aus dem Montanbereich befanden“.

Das mittlere bis kleine Bürgertum reihte sich begeistert in die „Reichsarbeitsfront“ ein, als das schuldenfinanzierte Kriegsrüstungsprogramm der Nazis zu einem ungeahnten Aufschwung führte. Kleine Bauunternehmer z.B., die mit vielleicht 15 Arbeitern gerade noch mit Mühe und Not die Weltwirt­schaftskrise überstanden hatten, machten nun Profite teils mit über 300 Leuten – z.T. Reichsarbeitsdienstler, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge – beispielsweise beim Bau des West- oder At­lantikwalls.

3.4 Eine „neue Bourgeoisie“

Aus den Reihen der Nazi-Organisationen, z.B. aus dem „Stahlhelm“, der SA und SS ka­men „Aufsteiger“, die sich einen bürgerlichen Lebensstil leisten konnten, mit großzügigen Wohnungen oder Villen, mit Dienstgesinde, Autos und weiteren Statussymbolen. Es waren Kader der Wehrmacht, „Wehrwirtschaftsführer“, Nazi-Parteibonzen usw., die die Bourgeoi­sie des Naziregimes komplettierten. Der zügellose großbürgerliche Prunk von Hermann Göring sei nur als Beispiel genannt.

Es war also eine bunte Mischung an Bourgeoisie, die  die Machtergreifung des Nazi-Regimes ermöglichte.

3.5 Nach 1945 – HK’s groteske These

Zitat von HK in der „Schlussbetrachtung“ zu [1] :
„Mit Adenauer an der Spitze erreichte die Bourgeoisie damit (mithilfe der USA), wozu sie selbst nicht imstande gewesen war: Sie konnte in der 1949 gegründeten Westrepublik zum ersten Mal in ihrer Geschichte (!!) die Herr­schaft übernehmen.“

Eine solch geradezu groteske These  kann man bestenfalls mit höchster Heiterkeit verkraften.

Karuscheit verwechselt wieder die Macht der Kapitalbesitzer mit der vom Bürgertum (s.o.) „eingesetzten“ bzw. per „Machtergreifung“ zugelassenen staatli­chen Ge­schäftsführung.

HK traut dem Bürgertum „nur prinzipiell, nicht in jedem Einzelfall“ eine parlamentarisch/demokratische Herrschaft zu. Faschismus schiebt er auf „andere“ Klassen, wie den Nationalsozialismus aufs Kleinbürgertum.

3.6  Kontinuität der Klassen- und Machtstrukturen in Westdeutschland und Gesamtdeutschland nach der Wiedervereinigung

Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus ging es den Siegermächten zunächst vor allem darum, ein Wiedererstarken des deutschen Imperialismus und Militarismus nachhaltig zu verhüten – allerdings wesentlich bestimmt vom beginnenden kalten Krieg und der „Rollback“-Politik des Westens gegenüber der Sowjetunion. Die Westmächte etablierten 1949 die westdeutsche BRD nach der Währungsreform von 1948. Im Oktober 1949 folgte die Gründung der DDR unter sowjetischer Oberherrschaft.

Die Einbindung und Einhegung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Militärblö­cke NATO und Warschauer Pakt und der entsprechenden Wirtschaftsblöcke war das Leit­motiv der folgenden Entwicklungen. Dazu gehörte die Integration Westdeutschlands in das Projekt Europa unter US-amerikanischer (und alliierter) Protektion, beginnend mit der Montanunion.

Den Wiederaufstieg eines eigenständigen und unkontrollierbaren Deut­schen Imperialis­mus zu verhindern, ist,  wie man heute sieht, nicht in jeder Hinsicht gelungen. Die Karriere des wiedervereinigten  Deutschlands ist eher ver­gleichbar mit einem Kuckucksei, aus dem sich ein ökonomischer Riese mit militaristischem Programm auf dem Weg in die „Kriegstüchtigkeit“ heraus gepellt hat – allerdings in anhaltender US-Abhängigkeit. Die Unterwürfigkeit ge­genüber den USA zählt zur DNA Nachkriegsdeutschlands (s. auch unten).

Scheinbar paradoxerweise wurden die Eliten, die oben beschriebene „bunte Mischung“ des Bürgertums des 3. Reiches, abgesehen von einer geringfügigen Dezimierung durch eine höchst laxe „Entnazifizierung“, von den Westmächten weitestgehend in das westdeutsche Establishment übernommen. Das be­deutete eine Kontinuität der alten Klassen- und Machtstrukturen. So wurde der Antikom­munismus der Nazi – Führungs­schichten in den kalten Krieg eingebracht; geradezu ein WinWinDeal für die Westmächte wie für die alte (west)deutsche Bourgeoisie. In der Wirt­schaft, den politischen Parteien, in Verwaltung, Justiz etc. tummelten sich massenhaft demokratisch gewendete Kader des NS-Staates. Polizei und Geheimdienste blieben durchsetzt mit Ex-Nazis. Beispielsweise der BND ging aus der Organisation Gehlen hervor, mit der viele ehemalige Agenten der „Abteilung Fremde Heere Ost“ des Oberkommandos des Nazi-Heeres quasi kollektiv übernommen wurden.

Der niedergeschlagene imperialistische Wolf musste sich allerdings diverse Schafspelze über­streifen, um wieder auf die Beine zu kommen und in der westlichen Welt salonfähig zu werden, als da wären: pro-westlich (NATO-Mitgliedschaft) statt antiwestlich, proamerikanisch, kosmopolitisch statt nationalistisch, prozionistisch statt antisemitisch, demokratisch statt diktatorisch, marktwirtschaftlich statt kriegs-kommandowirtschaftlich…

Das prägt bis heute die deutsche Staatsräson, quasi die DNA der Bundesrepublik obwohl auch hier („Zeitenwende“ und Trump) inzwischen etwas ins Rutschen gekommen ist.

3.7 „Erschreckendes Fazit“: Dieselben sozialen Gruppen in Spitzenpo­sitionen seit 100 Jahren

Die Kontinuität der (bürgerlichen) Eliten Deutschlands belegt auch neben [11] die soziologische Forschung:  Die Untersuchung von Michael Hartmann, Professor für Soziologie und Elitenforscher zeigt: Der Anteil sozialer Aufsteiger hat sich seit über 100 Jahren, nämlich seit 1907 kaum verändert. [Ulrike Hagen, Frankfurter Rundschau vom  30.06.2025].

4. „Das Imperialismusproblem“; Die AZD-Kritik an Lenin

4.1 Kein deutscher Imperialismus?

Seit Jahrzehnten (spätestens seit den 90-iger Jahren) ist die „Verabschiedung von der Lenin­schen Imperialismus-Theorie“ ein Leitmotiv der AZD. Neben berechtigter Kritik an der Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ hat sich HK. so weit verirrt, dass er sich „dagegen ausspricht … angesichts des kürzlich beschlossenen 100 Mrd. Aufrüstungs­programms der Berliner Regierung … daraus gleich auf die Wiederauferstehung von Milita­rismus, Imperialismus und Kriegsvorbereitung zu schließen“. [10]

Ich habe dazu folgendes bemerkt [6, AZD 95 vom Oktober 22]:
„Schon den Terminus „Wiederauferstehung“ (von den Toten) kann ich nur so verstehen, dass es vor dem 100-Mrd. Schulden“vermögen“ nach HK´s Ansicht weder einen bundesdeutschen Militarismus noch Imperialismus noch Kriegsvorbereitungen gegeben hat. Und auch nach dem 100 Mrd.- Beschluss spricht er sich dagegen aus, auf eine Wiederauferstehung (von der vorhergehenden Nichtexistenz) „zu schließen“. Ohne hier langatmig auf eine solch verwunderliche Sichtweise zu entgegnen, sei hier zunächst auf die umfangreichen Dokumentationen der „Informationsstelle Militarisierung“ (http://www.imi-online.de/) verwiesen.
Einen schwachen Erklärungsansatz für HK´s Lesart könnte man in dem Sachverhalt vermuten, dass die Geschäftsführung des deutschen Imperialismus in Gestalt der transatlantischen Superkoalition – CDU/CSU, SPD+Grüne – die deutsche „Sicherheit“ tief im neokonservativen Enddarm des US-Imperialismus sucht. Diese Rolle als Vasall der USA – geradezu masochistisch forciert durch die Ampel-Regierung – wird nun dem Modell Deutschland zum Verhängnis aufgrund der neokonservativen US-Strategie zur Ukraine und dem Sanktionsregime gegen Russland.“

Die US-amerikanische Strategie unter Biden zielte darauf ab, dass einerseits die Ukraine im Stellvertreterkrieg so lange weiterkämpfen sollte, bis Russland als Machtkonkurrent am Ende ist und die USA die Hände frei bekommen gegen China. Andererseits erreichten die USA mit ihrer Strategie bewusst und mit Erfolg, dass die Konkurrenten in Europa und speziell Deutschland durch die Rückwirkungen der Sanktionen empfindlich getroffen, von Russland abgeschnitten und in noch größere Abhängigkeit von den USA gebracht wurden.

Mit Trumps Zollpolitik und dem angestrebten „Deal“ mit Putin kommen die EU und besonders Deutschland vom Regen in die Traufe.

Logischerweise (keine Wiederauferstehung) dürfte es nach HK eigentlich keinen deutschen Imperialismus (mehr) geben. Andererseits ist in den AZD immer wieder von Imperialismus (zumindest etwas verschämt von „imperialen Mächten“)  die Rede.

Zur „Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands“ habe ich einen Artikel geschrieben [8] mit dem Fazit:
Denn wo Deutschland als Unterauftragnehmer der USA scheinbar paradoxerweise einem Wirtschaftskrieg, einem „friendly fire“ seitens diesem „engsten Verbündeten“ ausgesetzt ist, bedingen die sonstigen Verstrickungen in die zahlreichen Widersprüche und Konkurrenzverhältnisse eine wahre Strategie-Unfähigkeit, geradezu einen Masochismus eines ratlos hin- und her getriebenen angeknacksten Wirtschaftsriesen und Strategie-Zwerges. Würden die Herrschenden nach imperialistischer Logik Ernst machen und würde Deutschland entgegen der hohlen Großmachtphantasien im „globalen machtpolitischen Konkurrenzkampf“ als „Gestaltungsmacht“ ernst genommen und einen wirklichen Platz an der Sonne als großer Führungs-Player in NATO und EU einnehmen können, würde das nur durch noch heftigere, vielseitige Gegenreaktionen und verschärfte Widerstände gefährlich durchkreuzt werden. –  Das alles heißt mit Sicherheit alles andere als Sicherheit.“

4.2 Imperialismus heute

In [6] wurde von mir ein „holzschnittartiger Versuch“ einer Definition von „Imperialismus heute – über Lenin hinaus“ veröffentlicht. Dazu gab es von HK (auch von Alfred Schröder), den Autoren von „Das Imperialismusproblem III“ in AZD 98) bislang keine Stellungnahme.

Man findet in den Artikeln der AZD auch so gut wie nichts zur Definition bzw. den allgemeinen politökonomischen Merkmalen des heutigen Imperialismus.

4.3 Das „Imperialismusproblem III“ [2] – falsche und berechtigte Kritik

Diesen Text kann man als Resümee aller bisherigen Artikel der AZD zur Leninschen Imperialismustheorie betrachten.

4.3.1 Metaphysik statt Dialektik

Doch Lenin vermochte es nicht, die Konstellation des Krieges klassenpolitisch zu erklären, weshalb er daran ging, die Erklärung in der Ökonomie zu suchen … „nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus“. … Noch deutlicher konnte man die Orientierung an der Ökonomie nicht formulieren, was bedeutete, dass er dem ökonomischen Marxismusverständnis der II. Internationale verhaftet blieb.“ [2, S. 19]

Unabhängig von Lenins Imperialismusschrift zeigen diese Formulierungen ein undialektisches, metaphysisches  Auseinanderdividieren und Entgegensetzen der Kategorien „Klas­senpolitik“ versus „Ökonomie“ durch die Autoren. Die jeweilige ökonomische Formation der Gesellschaft ist jedoch unlösbar die Basis von Klassen und Klassenkampf, woraus  die dia­lektische Entwicklung folgt. Schon der Titel des marxistischen Hauptwerkes „Kapital“ – lau­tet: „Kritik der politischen Ökonomie“.

Marx hat das Verhältnis Basis/Überbau im Vorwort zur „Kritik der Politischen Ökonomie“ (MEW 13/8) klar definiert. Engels hat das in der Einleitung zum „Anti-Dühring“ (MEW 20/25)  folgendermaßen ausgedrückt:
„Es zeigte sich … dass also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstel­lungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind.“

Also auch die Klassenkämpfe. Und daher ist auch die „Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus“ in der „ökonomischen Struktur der Gesellschaft“ zu ergründen.

Wenn jemand die „Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus“ aufwirft – was hat das mit dem „ökonomischen Marxismusverständnis der II. Internationale“ zu tun? Da ist überhaupt kein kein zwingender Zusammenhang zu erkennen. Im Gegenteil. Der fundamen­tale Unterschied zwischen Lenin und der II. Internationale ist immerhin der, dass Lenin nicht die „friedliche“ Übernahme des Staates durch Wahlen, sondern dessen Sturz für unumgäng­lich hielt. Lenin das „ökonomische Marxismusverständnis der II. Internationale“ vorzuwerfen, ist nichts als Ausdruck der oben kritisierten Metaphysik der Autoren.

4.3.2 „Sterbender Kapitalismus“ – Epoche der proletarischen Revolution?

Es bleibt allerdings das Problem, ob die Imperialismusschrift  auch rückblickend nach über 100 Jahren den Ansprüchen der Komintern und Lenins genügt. Man kann nur die völlige Fehl­anzeige konstatieren.  Denn nach über 100 Jahren haben  Kapi­talismus und Imperialismus sämtliche gescheiterten sozialistischen Anläufe überdauert und in Form kapitalistischer Restau­rationen Urständ gefeiert. Der Kommunismus ist marginalisiert und existiert im Westen nur noch in Ge­stalt irrelevanter,  meist „revisionistischer“ bzw. idealistischer Sekten. Will man das imperialistische China, das  fa­milien-dynastische Nordkorea oder das dahinsiechende Cuba als „kommunistisch“ betrach­ten, beglaubigt man damit den vollständigen Bankrott der „Sache“.

4.4.1 „Kommunistischer Idealismus“

Diese Form des Idealismus bedeutet nicht die Erklärung des Geistigen, der Ideen, zur Ursache aller Erscheinungen und Entwicklungen oder dass die Wirklichkeit auf Ideen basiert oder dass die reale Welt nur als Ob­jekt des Bewusstseins existiert. Das alles nicht (bzw. weniger). Dagegen geht es um die Überhöhung von Analysen bzw. ideologisch begründeten Parteibeschlüssen oder von Theoremen „unfehlbarer Führer“ zum Agens  der Gesellschaft – losgelöst von bzw. im Widerspruch zu objektiven, materiellen Bedingungen. Beispielsweise u.a., indem man vom Willen der Menschen unabhängige ökonomische Geset­ze jenseits der objektiven Voraussetzungen per Beschlüssen willkürlich übergehen, gar ab­schaffen oder neue Gesetze erfinden könnte.

Ein solcher Idealismus zeigte sich auch z.B. in der deutschen Novemberrevolution und danach: Die Revolutionäre, die für die Ideale einer sozialistischen Republik nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution kämpften, blieben in der Rätebewegung eine Minderheit. Sie unterschätzten die noch unerledigten Aufgaben der bürgerlichen Revolution, die für den Sozialismus „unreife“ Klassenstruktur und die Aktionsfähigkeit  der sozialdemokratisch ge­führten Konterrevolution. Lenin kritisierte (in taktischer, nicht strategischer Hinsicht) den zugrun­deliegenden linken Radikalismus der deutschen Revolutionäre. Die KPD mit ihrem fortdau­ernden linken Sektierertum und ihrem Voluntarismus, mit der sie die Ideen von Sozialismus und Dik­tatur des Proletariats als unmittel­bar auf der Tagesordnung verfolgte, konnte Massen rück­ständiger Arbeiter, Bauern und Millio­nen anderer kleiner Warenproduzenten nicht gewinnen und wurde letztlich vom Nazi-Faschis­mus überrollt.

War Lenin frei von diesem „kommunistischen Idealismus“? Er war ein Mensch seiner Zeit, in der durch den 1. Weltkrieg sich gewaltige revolutionäre Bewegungen erhoben und unter Lenins Führung die russische Oktoberrevolution siegte.

4.4.2 Die AZD-Kritik an Lenins Imperialismusschrift  – zum Teil berechtigt

Der „Abschied“ von der Leninschen Imperialismustheorie, wird in den AZD seit Ende der 80-iger Jahre ventiliert. So wurden im August 22  in der „Kommu­nistischen Debatte“ Texte aus dem Jahr 1987 (AZD 39) wiederveröffentlicht, die damals unter dem Titel „Kapital und Monopol – Zur Kritik der Monopoltheorie bei Hilferding und Le­nin“ (https://kommunistische-debatte.de/?page_id=366) er­schienen sind und de­ren Schlussfolgerungen  im Wesentlichen in [2] wiederholt sind.  Diese sehr gründlichen Beiträge (132 Seiten) zu den Wider­sprüchen zwischen Lenins Quellen (bes. Hilferding, Hob­son) und der Marxschen Theorie weisen klar nachvollziehbare und zutreffende Kritik­punkte auf, auch an „Schwankungen und Unsicherheiten“ Lenins selbst. Insbesondere wird anhand von Hil­ferdings Theorie des „Finanzkapitals“ und seiner Monopoltheorie nachgewiesen, dass die­se mit der Marxschen ökonomischen Theorie, auch wegen eines falschen Verständnisses von der Rolle der Kon­kurrenz, nicht vereinbar sind. Da Lenin seine Imperialismusschrift teilweise auf Hilferdings „Finanzkapital“ gestützt hat, schließen die Autoren, dass auch die Leninsche Theorie des Im­perialismus mit der Marxschen Theorie nicht vereinbar sei. Man wirft Lenin den Begriff „Übergangskapitalismus“ vor, in dem „die Warenproduktion be­reits untergraben ist und die Hauptprofite den Genies der Finanzmachenschaften zufallen; ja man meint daraus den Schluss ziehen zu müssen,  „dass es (angeblich laut Lenin) nicht mehr der Wert ist, der die Produktion bestimmt und regelt“ (AZD 39/91). Oder man unterstellt Lenin, dass er mit seiner Rede vom Monopolkapitalismus die „Aufhebung der Gesetzmäßigkeiten der Warenproduktion“ behauptet habe – krass überspitzte Stücke an Interpretationskunst.

Marx wird  gegen Lenin ausgespielt. Dabei wird ignoriert, dass schon Marx bemerkt hat (MEW 25/454):
Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise inner­halb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Wider­spruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktions­form sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmi­schung heraus. Er re­produziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projek­temachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Akti­enhandel.“

Und Engels füg­te als Beispiel hinzu, dass „in diesem Zweig, der die Grundlage der ganzen chemischen In­dustrie bildet, in England die Konkurrenz durch das Monopol er­setzt und der künftigen Ex­propriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation aufs er­freulichste vorgearbeitet.“ Hatte damit Lenin nicht etwa schon Vordenker?

HK setzt diesem Ausspielen Lenins gegen Marx sein Fazit obendrauf:
„Es ist deshalb an der Zeit, dass wir uns verabschieden, nicht von Lenin, der an der Seite des revolutionä­ren Pro­letariats den Kampf gegen den Opportunismus … der II. Internationale aufnahm, sondern von der (?) Imperialismustheorie.  

Konsequenter kann man das Kind nicht mit dem Bad ausschütten.

Das „Problem des Imperialismus selber“ muss statt dessen heute neu aufgerollt werden, dazu haben die AZD bislang kaum etwas geleistet.

Zunächst ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Umgang mit den sogenannten Klassikern:

4.5 Der „Umgang“ mit den Klassikern

Es gibt 2 Extreme, wie mit Lenin und den übrigen „Klassikern“ des Marxismus umgegan­gen wird: auf der einen Seite betrachtet man sie als heilige, unfehlbare Propheten, denen (fast) alles (oft einseitig verzerrt, dogmatisch bzw. idealistisch) nachgebetet wird. Das an­dere Extrem bedeutet, wie z.B. bei Lenin, von dessen Imperialismustheorie man sich komplett verabschieden muss, ja dem man historische Niederlagen des Kommunismus ankreidet. Sozusagen ein positiver bzw. negativer theoretischer Personenkult.

Sämtliche Klassiker des sog. ML haben sich in manchen Fragen geirrt, haben Fehler selbstkritisch konstatiert und, so möglich, korrigiert oder konnten sie nicht erkennen. Schön ist der diesbezügliche Spruch von Engels zum 50. Geburtstag von Marx:
„Was wir doch vor 25 Jahren für jugendliche Enthusiasten waren, als wir uns rühmten, um diese Zeit längst geköpft zu sein“ (MEW32/80).
Engels hat selbstkritisch eingeräumt, dass sie beide, Marx und Engels sich historisch geirrt hatten:
„Die Geschichte hat uns … un­recht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung da­mals bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“ (MEW22/515).
Und Engels lag völlig daneben, als er 1895 glaubte, die SPD
stehe heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herr­schaft kommt“ (MEW 22/250).

Lenins radikale Selbstkritik bei der Wende zur NÖP 1921 (4,5 Jahre nach der Imperialismusschrift – LW 33/42)  ist klassisch:
… begingen wir den Fehler, dass wir beschlossen, den unmittelbaren Übergang zur kommunistischen Produktion und Verteilung zu vollzie­hen“. Das war alles andere als eine Kleinigkeit, war doch dieser Fehler verbunden mit ei­ner „Niederla­ge, die ernster war, als irgendeine Niederlage, die uns jemals von Koltschak, Denikin oder Pilsudski beigebracht wurde, … viel ernster, viel wesentlicher und gefährli­cher …“ (LW 33/44).

In der Landwirtschaft hatte die radikale Ablieferungspflicht schwere Hungersnöte ver­schärft; sie wurde abgeschafft und durch eine Naturalsteuer ersetzt.

Die Kritik an Lenin lässt sich fortsetzen an seiner Rolle bei der „Zimmerwalder Linken“, die 1915 die noch unerledigten Aufgaben der bürgerlichen Revolution unterschätzte. Auch da­zu hat Lenin 1920 sich in Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunis­mus“  geäußert, was man auch als Selbstkritik im Rückblick auf Zimmerwald interpretieren kann.

Er hat beispielsweise 1919 in seiner Kritik an Bucharin präzisiert:
„Reinen Imperialismus ohne kapitalistische Grundlage hat es niemals gegeben, gibt es nirgends und wird es nie­mals geben. … Nirgendwo auf der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkur­renz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert und wird er jemals existieren“ (LW 29/150). Wer will, kann auch das als eine Selbstkritik zur Imperialis­musschrift betrachten.

4.6 Der Kontext 1916, Lenins Unklarheiten und der Abschied von Heiligkeiten

Die Imperialismusschrift wurde 1916 geschrieben, im 1. Weltkrieg, als sich die revolutionä­re Situation abzeichnete. 1920 schrieb Lenin dazu:
„Es fällt schwer, jetzt, in den Tagen der Freiheit, diese durch Rücksicht auf die zaristische Zensur entstellten, zusammenge­quetschten, in einen eisernen Schraubstock gepressten Stellen der Broschüre wieder zu lesen …“ (LW 22/191).

In der Tat haben gewisse Schlussfolgerungen, Unklarheiten und Überspitzungen des Tex­tes eine Grundlage geliefert für verschiedene grundfalsche Theoreme. So für die quasi „gesetzmäßige“ Gewissheit bis in die Tage Honneckers („den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“), dass der faulende Imperialismus unmittelbar der „Vor­abend der sozia­len Revolution des Proletariats“ sei. Das scheint heute auch nach über 100 Jahren reichlich fern. Oder eine Grundlage für die „antimonopolistische Demokratie“ der DKP, auch für die Agitation der MLPD, in der „DIE MONOPOLE“ quasi der Satan schlechthin und die „Alleinh­errschaft des internationalen Finanzkapitals“ der internationale Hauptfeind des international­en Proletariats sind. Die in Wirklichkeit „allein herrschende“ Konkurrenz der imperialistischen Staaten wie der Monopole untereinander ist dabei ul­traimperialistisch weggezaubert.

Was bleibt da, wenn man wegen ihrer Fehler und Irrtümer, ihrer im Nachhinein erklärbaren Fehlprognosen den „Klassikern“ die Heiligkeit, die Eigenschaften als Wahrsager und unfehlb­are Propheten absprechen muss?

Die Marxisten müssen in selbstständiger theore­tischer Arbeit mit der marxschen Methodik an die jeweils aktuellen Entwicklun­gen heran­gehen.

 

5. Folgen

5.1 „Revisionismus“ pur

In [2] wird völlig richtig die „Begeisterung für die Leninsche Imperialismustheorie“ in einem Teil der Linken unter Einschluss ihres „kommunistischen Flügels“ konstatiert,
„… obwohl man sich von den sonstigen theoretischen und insbesondere revolutionären Positionen Lenins längst verabschiedet hat. Statt die Lenin/Liebknechtsche Position des revolutionären Defaitismus gegen beide imperialistischen Kriegsparteien im Ukraine-Krieg zu beziehen, vertrat man entweder die offene Unterstützung der russischen Seite, forderte Waffenstillstände oder verfiel gleich dem Pazifismus.“

Das kennzeichnet den marginalisierten Zustand der Linken (vielleicht abgesehen von der „woken“ Linkspartei) , erst recht der „kommunistischen“ Splitterparteien bzw. idealistischen Sekten.

5.2 Seit über 100 Jahren „sterbender Kapitalismus“?

Im Gegenteil:  Es ist ein geradezu exponentielles  „Wachstum“ des Kapitalismus, das bei gleichzeitig wachsender Ungleichheit und verelendeten Zonen den Globus mit inzwischen über 8 Milliarden  Men­schen überzogen hat. Man kann sehen, wie der  tendenziell Fall der Profitrate die Kompensation durch gesteigerte Profitmassen hervorbringt. Durch die qua Konkurrenz ständige Produktivitätssteigerung (per Automatisierung, Digitalisierung etc. – „mit immer weniger Leuten wird immer mehr produziert“) ist in den einzelnen Waren immer weniger gesellschaftlich-durch­schnittliche Arbeitszeit kristallisiert (was letzten Endes geringerem Profit pro einzelner Ware bedeutet); ergo: die Waren werden relativ immer billiger, was sich durch die gesteigerte (au­tomatisierte) Massenproduktion wettmacht. Infolgedessen überschwemmen ungeheuer an­geschwollene Warenfluten mit ihren Abfallprodukten aus den „reichen“ Weltregionen den Globus, wofür die die Ressourcen unwiderruflich geplündert, verheizt und vergeudet werden. Zugleich wird aber auch die Ware Arbeitskraft  billiger, da diese sich mit den „wohlfeile­ren“ Waren reproduziert, d.h. die sinkenden Warenwerte gehen einher mit relativ sinkenden Löhnen – was mehr oder weniger nominal durch die gleichzeitige „säkulare Inflation“ über­deckt, vor allem auch durch erfolgreiche Lohnkämpfe zeitweise konterkarriert wird.

Das Kapital strebt – getrieben von wachsender Produktivität nach dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – nach grenzenloser internationaler Expansion und Akkumulation, jedoch eingebannt in die staatlichen Formen. Dieser Expansionsdrang, dieser innere Druck auf die staatliche Organisation muss daher unbedingt durch eine mehr oder weniger expansive, aggressive imperialistische Politik der konkurrierenden Staaten gegeneinander zum Aus­druck kommen je nach dem Maß ihrer kapitalistischen und militärischen Potenziale bis zum Krieg als ultima Ratio des Imperialismus.

Immer mehr Staaten haben einen Entwicklungsstand erreicht, mit dem sie am globalen Konkurrenzkampf um Rohstoffe, Absatzmärkte, militärische Rüstung und Einflusszonen teilnehmen. Entgegen dem Euphemismus  von einer „friedlichen multipolaren Welt“ handelt es sich um eine multi-imperialistische Welt der heftigsten Konkurrenz, des Wettrüstens und der Kriege.

Der revolutionäre Optimismus, von dem Lenin vor über 100 Jahren erfüllt war, hat sich „in Luft aufgelöst“. Es sind komplexe Ursachen, zu denen der „kommunistische Idealismus“ (s.o.) zählt.

Ein entscheidender Wendepunkt war der Machtantritt der Chruschtschowianer in der Sowjetunion, mit der die Konterrevolution, die Kapitalisierung der UdSSR etwa in den 60-iger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Dazu verweise ich auf meinen diesbezüglichen Artikel [9].

Mit der Kapitalisierung der UdSSR begann der Untergang des gesamten realsozialistischen Lagers mit all seinen Varianten, sozusagen das historische Scheitern des ersten kommunistischen Anlaufs der Menschheit.

5.3 Aussichten

Hierzu verweise ich auf das Schlusskapitel meines Textes „Der tendenzielle Fall der Profitrate und Imperialismus heute- Kapitalismus ohne Ende?“: https://kommunistische-debatte.de/wp-content/uploads/Artikel-Imp-2022-1.pdf .

 

Literatur

[1]       Heiner Karuscheit: „Der deutsche Rassenstaat – Volksgemeinschaft &      Siedlungskrieg“, NS-Deutschland 1933-1945, VSA-Verlag Hamburg, 2025

[2]        AZD (Aufsätze zur Diskussion) Nr. 98, Juni 2025 –
https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2861

[3]        AZD (Aufsätze zur Diskussion) Nr. 93, Mai 2021 –
https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2077

[4]        Roger Chickering „Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg“, Becksche Reihe,        Verlag C.H.Beck, München 2002

[5]        Bernt Engelmann „Krupp – Die Geschichte eines Hauses – Legenden und           Wirklichkeit“, Wiihelm Goldmann Verlag, August 1978

[6]        AZD (Aufsätze zur Diskussion) Nr. 95, Oktober 2022 –
https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2537

[7]       Ulrich Enderwitz „Antisemitismus und Volksstaat, zur Pathologie kapitalistischer             Krisenbewältigung“, –  Ca ira – Verlag 1998      http://reichtum-und-religion.de/antisemitismus/antisemitismus-node1.html

[8]       K.-H.Goll, „Die nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands“ –
 http://www.kommunistische Debatte.de/?page_id=2800

[9]       K.-H.Goll, „Die Kapitalisierung der UdSSR und einiges zum Untergang des             Realsozialismus“  https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2635

[10]     Heiner Karuscheit, „Der Ukraine-Krieg und die Frage des deutschen Imperialismus“    https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2382

[11]      David de Jong, „Braunes Erbe – die dunkle Geschichte der reichsten deutschen             Unternehmerdynastien“.  2022, Kiepenheuer und Wisch, deutsche Übersetzung des     Titels: „Nazi Billionairs“.