Sozialismus und Kapital

Sava Djahov

Zuallererst möchte ich mich bei der Redaktion der AzD herzlich bedanken, für das Vertrauen mir gegenüber und die Gelegenheit, mich hier zu äußern und ein stabileres Publikum zu erreichen. Bisher war ich nur in diversen Foren und sozialen Netzwerken aktiv.

In sozialen Netzwerken und Foren bin ich als „palette“ unterwegs und möchte mein Essay mit einem Tweet von mir einleiten:
https://twitter.com/qalette/status/1193983331278434304

„Sozialismus ist die planmäßige, gesellschaftliche Aneignung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten.
Nicht die erträumte Abschaffung der Wirtschaft, sondern ihre Aneignung.“

Ich leite deswegen damit ein, weil dort ein, wie ich finde, gängiges Missverständnis zur Sprache kommt, das sowohl Gegner als auch Anhänger des Sozialismus pflegen: Dass Sozialismus so etwas wie „Abschaffung der Wirtschaft“, „Überwindung von Marktwirtschaft“ oder „Wertgesetz wirkungslos machen“ – wie auch immer man es nennen mag – bedeuten würde. Diese Betrachtung ist falsch, grundfalsch.

Vorgeschichte

Marktwirtschaft (und somit das Wertgesetz) gibt es, seit es Menschen gibt. Schon seit der Steinzeit kann man Handel nachweisen. Nicht bei Neandertalern, bei ihnen wurden nie Gegenstände aus mehr als 100 km Entfernung gefunden. Auch die Versuche mit Primaten, die zeigen sollen, dass z.B. Schimpansen einen Begriff von „Wert“ hätten, überzeugen nicht.1 Aber es besteht kein Zweifel, dass der moderne Mensch, Homo Sapiens, seit jeher Handel treibt. Nicht unbedingt schon vor 200.000 Jahren, aber spätestens im Zuge der „kognitiven Revolution“2 vor ca. 70.000 Jahren, als mit der Entwicklung abstrakter Sprache Kultur im Sinne einer „zweiten Naivität“ (wobei „erste Naivität“ instinktgeleitetes Handeln meint) zum Wesensmerkmal des Menschen wird, entsteht nachweislich auch Handel. Handel zu treiben ist Bestandteil dieses Knäuels aus Sprache, Musik, Kunst, Spiritualität – kurz: der Sozialität des Menschen als Kulturwesen. 

Dem aktuellen Stand der Wissenschaft zufolge begann die Entwicklung dahin vor ca. 70.000 Jahren mit der „kognitiven Revolution“ (Begriff von Yuval Noah Harari); voll ausgeprägt nachweisbar ist sie beim Cro-Magnon-Menschen vor ca. 35.000 Jahren. Man geht davon aus, dass das biologische Potenzial des modernen Menschen zu dieser Zeit voll entwickelt war und ein heute aufwachsendes Cro-Magnon-Baby alle Karrierechancen hätte und ohne Probleme Pilot oder Physiker werden könnte.3 Dass somit also seit mehr oder weniger 50.000 Jahren die Evolution des Menschen mehr technologisch-soziokultureller als biologischer Natur ist.4 Darum pflege ich „Individualisten“ zu entgegnen: Ohne Gesellschaft wärst du nichts weiter als ein vereinsamter Homo Sapiens von vor 100.000 Jahren.

Auch Kapital im Sinne von akkumulierter und vergegenständlichter Arbeitskraft („tote Arbeit“) gibt es schon seit der Steinzeit. Vor den Cro-Magnon-Menschen kannte der Homo Sapiens im Prinzip nur eine Grundform an Steinwerkzeug, die verschieden zugerichtet wurde. Genauso wie die Neandertaler. Das kann man nicht als „Kapital“ bezeichnen.5 Ab den Cro-Magnon-Menschen aber gibt es eine Spezialisierung. Es gibt Messer, Äxte, Pfeil- und Speerspitzen, und vieles mehr. Die haben ein richtiges Repertoire an Werkzeugen, das sich stetig weiterentwickelt.

Und das setzt sowohl Geräte zum Werkzeugbau als auch eine Form von Bildung voraus, wodurch akkumuliertes und sich stetig verfeinerndes Wissen über komplexe Arbeitsprozesse mitsamt der entsprechenden Fertigkeiten und Gerätschaften über Generationen hinweg weitergegeben werden kann. Sowohl dieses technologische Wissen als auch die immer feiner und spezialisierter werdenden Fertigkeiten und Geräte sind nichts anderes als Kapital.

Höchstwahrscheinlich wurden schon damals nicht nur Gegenstände, sondern auch Ideen und Technologien gehandelt. „Gib du mir diesen Axtschaft, und ich zeige dir, wie man diese Pfeilspitzen macht.“ Zum Beispiel. Handelsbeziehungen wurden mit Fremden unterhalten, innerhalb einer Gruppe gab es keine Marktbeziehungen. Gibt es ja auch heute in der Regel nicht. Zum Beispiel handelt man normalerweise nicht im Rahmen seiner Familie oder WG. Das ist der zentrale Punkt, meiner Meinung nach, dieses Innen/Außen. Handel, Markt, Kapital, Wertgesetz – all das kennt die Menschheit seit der Steinzeit. Nicht, dass diese Sachen existieren, sollte Thema sein, sondern wie sie existieren. Ich lasse mal diesen Text da: Jared Diamond: The Great Leap Forward 

https://wps.pearsoncustom.com/wps/media/objects/6904/7070246/SOC250_Ch01.pdf

Obwohl es also bereits in der Steinzeit Handel und Marktbeziehungen zwischen den Menschen gab, würde niemand auf die Idee kommen, dass das Kapitalismus war. Das wäre absurd! Warum also neigen Leute dazu, Marktwirtschaft und Kapitalismus gleichzusetzen? Das regt mich jedes Mal auf. Vor allem, wenn diese Gleichsetzung von linker Seite kommt, von Sozialisten, Kommunisten und Marxisten. Meiner Meinung nach reproduzieren wir damit das Mantra der Anhänger des Kapitalismus, wonach Kapitalismus quasi die „natürliche Wirtschaftsform“ sei.

Denn Marktwirtschaft kann man tatsächlich – wenn man will – als „natürliche Wirtschaftsform“ bezeichnen. Kapitalismus aber eben nicht! Es gibt keinen Gegensatz zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft. Und die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die zur Herausbildung des Kapitalismus geführt haben, stehen genauso wenig im Gegensatz zum Sozialismus. Im Gegenteil, im Sozialismus muss es darum gehen, Herr dieser Gesetzmäßigkeiten zu werden und diese auf die Spitze zu treiben! Genau darum soll es in diesem Text gehen.

Der sowjetische Privatsektor

Ich weiß nicht, woher das kommt, aber wir alle neigen in der einen oder anderen Form dazu, Sozialismus zu idealisieren. In der Regel äußert sich das so, dass man Kommunismus und Sozialismus nicht voneinander unterscheiden kann, bzw. eine Erwartung hat, wonach „kommunistische Tendenzen“ im Sozialismus doch eindeutig erkennbar sein müssten, man aber das Gegenteil beobachtet. Wie z.B. das erwartete Überwinden von Lohnarbeit und Warenproduktion, die ja beide im Sozialismus statt abzunehmen eher zunehmen.

Als spontanes Beispiel fällt mir Martin Schlegels Rezension des Buchs „Chinas große Umwälzung“ in der letzten Ausgabe der AzD (92) ein, wo er „die Lohnarbeit und die Warenproduktion ins Zentrum [der kapitalistischen Produktionsweise] stellt“ (S. 58). Angesichts der Entwicklung der letzten Jahrzehnte neigt Schlegel offenbar dazu, „China als kapitalistisch zu kennzeichnen mit Besonderheiten, wie sie jedes kapitalistische Land hat.“ (S. 63) Für mich hingegen ist China eindeutig sozialistisch. Gerade die enorme Ausweitung von Warenproduktion und Lohnarbeit ist charakteristisch für die sozialistische Natur der chinesischen Wirtschaft. Darauf komme ich zurück. Zunächst will ich ein paar Sachen am historischen Beispiel der Sowjetunion ausarbeiten.

„Die Schlüsselkrise der 50er Jahre in der Sowjetunion“ von Heiner Karuscheit (AzD 67)6 ist ein lesenswerter und lehrreicher Text. Allerdings fällt auf, dass der Autor jenseits der Agrar-Kolchosen keine Genossenschaften nennt. An einer Stelle spricht er gar explizit von „beiden Sektoren, in denen individuelle Konsumtionsmittel produziert wurden (des agrarisch-genossenschaftlichen und des industriell-staatlichen)“.7 Karuscheit scheint zu glauben, dass alles jenseits des Agrarsektors verstaatlicht gewesen sei. Genau das war aber nicht der Fall.

Das Folgende ist für mich selbst noch voller Fragen, darauf komme ich am Schluss zurück. Aber ein paar Tatsachen können dennoch klar benannt werden: Zu Stalins Zeiten gab es in der Sowjetunion einen riesigen Privatsektor in Form von Genossenschaften und Einzelunternehmern. „Riesig“ im relativen Sinne, bezogen auf die Geschichte der UdSSR: Der sozialistische Privatsektor war während der Stalinzeit am größten, und zwar auch deutlich größer als zu Zeiten der Perestroika.

Marx hatte ja zwischen Abteilung I (Herstellung von Produktionsmitteln) und Abteilung II (Herstellung von Konsumgütern) unterschieden. Und während der Stalinzeit wurde Abteilung I zentral vom Staat geplant und betrieben, Abteilung II jedoch war weitgehend offen für dezentrale und (streng regulierte) marktorientierte wirtschaftliche Aktivitäten der Bevölkerung. Insbesondere Handwerk und Dienstleistungen, aber auch Industriebetriebe, waren genossenschaftlich (bzw. einzelunternehmerisch) organisiert. Das waren teilweise richtige Großbetriebe. Diese Unternehmen operierten nicht vollständig unabhängig, sondern waren eng mit dem staatlichen Sektor verwoben. Wie das im Einzelnen aussah, ist mir nicht ganz klar, aber mir scheint, es war eine quasi-keynesianische Beziehung, wo der Staat bloß wichtiger Kunde und Auftraggeber war. Tatsache ist jedenfalls, dass diese Kollektivbetriebe eine gewisse Unabhängigkeit hatten und Waren für den Verkauf produzierten. Das waren im Prinzip Markenwaren, wobei die Genossenschaft die Marke war.

An dieser Stelle muss ich kurz betonen, dass es zu der Zeit eine ganz spezifische „Konsumkultur“ in der UdSSR gab und Güter oft als reine Gebrauchsgegenstände produziert wurden, die allen zugutegekommen sind, nicht bloß dem einzelnen Konsumenten. Das klassische Beispiel ist der Ausbau des öffentlichen Verkehrs anstelle von individualisierter Motorisierung. Und zwar über den Ausbau von Metro und Straßenbahn hinaus: So kamen die berühmten Automodelle ZIS 101 und 110 nie in den Verkauf, sondern wurden zugeteilt, und die privat genutzten Fahrzeuge dieser Modelle auf den Straßen waren Taxis, also öffentliches Gut. Sowjetische Alltagskultur insgesamt verdient viel mehr Aufmerksamkeit. Ich bitte um Verständnis, dass ich das im Rahmen meines Essays nicht vertiefen kann.8 Jedenfalls wuchs der sozialistische Privatsektor kontinuierlich, und zwar durchgängig bis 1956, als man unter Chruschtschow begann, diesen Sektor zu liquidieren. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass genossenschaftliche Unternehmen über die ihnen zugedachte Rolle hinausgewachsen seien und sich im Wesentlichen nicht von staatlichen Industriebetrieben unterschieden.9

Ein weiterer, vielleicht gar der eigentliche, Grund scheint im Verlauf der „Virgin Lands Campaign“ gelegen zu haben: Nach dem Erfolg im ersten Jahr 1954 war der Ertrag 1955 weit niedriger als erwartet,10 was zu höheren Preisen für staatlich produzierte Waren führte, welche von den Genossenschaften unterboten wurden.11 Konzipiert war das System jedoch andersherum: Produkte aus dem staatlichen Sektor waren grundsätzlich billiger. Die Preise für Waren aus dem Privatsektor waren nach oben gedeckelt und durften nicht mehr als 10-13% teurer sein als analoge Produkte aus staatlicher Produktion,12 aber nach unten scheint es keine derartige Begrenzung gegeben zu haben (wird zumindest nirgends erwähnt). Es war offenbar bis 1955 nicht vorstellbar, dass Genossenschaften billiger als der Staat produzieren könnten.  Diese „Virgin Lands Campaign“ samt ihrer Auswirkungen ist insgesamt von zentraler Bedeutung für die Geschichte der UdSSR. Ein Thema für sich.

Am 14.4.1956 beschlossen Zentralkomitee und Ministerrat, die Genossenschaften abzuschaffen.13 Zu diesem Zeitpunkt wurden ungefähr 33% der Textilwaren, 40% der Möbel, 70% der Küchengeräte aus Metall, und alles Spielzeug in der Sowjetunion von Genossenschaften hergestellt.14 Dieser gesamte Sektor mit etwa 2 Millionen Beschäftigten, die ca. 6% des BIPs der Industrie erwirtschafteten,15 wurde liquidiert.

Wie Karuscheit in „Schlüsselkrise“ näher ausführt, wollte Chruschtschow darüber hinaus sogar die Kolchosen abschaffen und in Sowchosen umwandeln, aber die Bauernschaft war zu stark und ließ dies nicht zu. Mit Ausnahme des Agrarsektors war schon 1960 die gesamte Wirtschaft der UdSSR verstaatlicht. Die Rechtsform „Kooperative“ bestand zwar fort, aber abgesehen von Behindertenwerkstätten und Kunsthandwerk nur jenseits des produktiven Sektors, wie z.B. in Form von Konsum- und Wohnungsgenossenschaften. Ich betone: Nicht Stalin, sondern Chruschtschow hat zwischen 1956 und 1960 die gesamte sowjetische Wirtschaft (mit Ausnahme des Agrarsektors) verstaatlicht.

Wie erwähnt gab es neben Genossenschaften auch Einzelunternehmer. Ich weiß leider nicht, wie groß dieser Sektor war, aber Reparaturdienste und ähnliches sind ohne Frage wichtige privatwirtschaftliche Angebote. Im Zuge der Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft hatte man auch Einzelunternehmungen liquidiert, nur war es praktisch unmöglich, diesen Sektor abzuschaffen. Die wirtschaftlichen Aktivitäten von Einzelpersonen, die in ihrer Nachbarschaft tätig sind, haben natürlich nicht aufgehört, sondern wurden bloß in den Schwarzmarkt gedrängt.

Leider finde ich online keine Infos dazu, abgesehen von Gorbatschows „Gesetz Nr. 6050 H1“ von 1986, das derartige Aktivitäten wieder zuließ (allerdings nicht als Haupterwerbstätigkeit), was mit Begeisterung von der Bevölkerung aufgenommen wurde und gerne als beispielhafte „anti-stalinistische“ Reform im Rahmen der Perestroika charakterisiert wird…16 Ich kann also nicht sagen, wann Chruschtschow „individuelle Arbeitsaktivitäten“ verboten hat, das wird in den Artikeln, die ich gelesen habe, nicht separat aufgeführt. Aber ich nehme an, das war 1959, denn es gibt eine berühmte Karikatur, die sich damit befasst, und diese Karikatur wurde im April 1959 im Satire-Magazin „Krokodil“ (Nr. 10) veröffentlicht:

Die beiden Herren oben rechts verlautbaren: „Wir müssen diese rückständige Produktionsweise (‚Bastelei‘) überwinden!“, und unten tauchen sie wieder auf als Manager (links) und Stellvertreter (rechts), mit Sekretärin, Assistent, Reinigungskraft und Buchhalter im Obergeschoss, wobei das Firmenschild von umgangssprachlich zu formal gewechselt ist.

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Der Vollständigkeit halber: Eine weitere Folge der Abschaffung des Privatsektors, bei gleichzeitig chronischem Mangel an Konsumgütern, waren schwarz operierende Fabriken, deren Betreiber „Zechovik“ genannt wurden. Das waren keine illegalen Genossenschaften oder so etwas, sondern klassische Mafiastrukturen, organisierte Kriminalität. Das Problem reicht in die Stalinzeit zurück, damals war es aber mehr klassischer Diebstahl bzw. Betrug.17 Erst die Abschaffung der Genossenschaften durch Chruschtschow machte das Zechovik-Wesen zu einem wirklichen Phänomen. 

Hier ein Artikel auf Russisch  dazu:
https://aif.ru/society/history/mezhdu_millionom_i_rasstrelom_samye_gromkie_dela_sovetskih_cehovikov
Der Google Translator18 macht insgesamt einen guten Job, um sich einen Eindruck zu verschaffen, aber mehr auch nicht. Da sind teilweise eklatante Fehler. Ein Beispiel aus der Mitte des Textes: Da steht in der Übersetzung „Roifman hatte die Produktion beendet und unglückliche Patienten, die praktisch kostenlos arbeiten konnten.“ Im Original steht das genaue Gegenteil: „Ройфман получил готовое производство“ bedeutet „Roifmann bekam eine fertige Produktion“, eben die Werkstätten der neuropsychiatrischen Apotheke samt der dort beschäftigten Behinderten.

Wenn ihr euch in der jüngeren Geschichte Russlands auskennt, wird euch Roifmann an Bill Browder erinnern, der genau das gleiche Geschäftsmodell betrieb. Eben dadurch geriet er ins Visier der Ermittlungsbehörden, und der Fall weitete sich in der Folge aus zu den Sanktionsregimes „Magnitsky Act“ und „Global Magnitsky Act“, die bis heute die internationalen Beziehungen prägen. Wer sich dafür interessiert, sollte sich Nekrassows „The Magnitsky Act – Behind the Scenes“19 anschauen. Weiter unten fällt mir grad noch dieser Satz auf: „Seine Intervention ruinierte fast die gesamte Untersuchung, auf die Dunaev gehofft hatte.“ Da muss der Nebensatz in die Mitte, also so: „Seine Intervention, auf die Dunaev gehofft hatte, ruinierte fast die gesamte Untersuchung (Ermittlung).“

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Und das war es auch schon…

Jenseits dieser doch recht oberflächlichen Ausführungen kann ich leider nichts weiter zum sozialistischen Privatsektor der UdSSR sagen. Ich denke, jeder Leser wird ein Gefühl der Unzufriedenheit spüren und zahlreiche Fragen haben. Geht mir genauso. Ich hab mehr Fragen als Antworten. Das Problem ist aber, dass niemand diese Sachen angemessen thematisiert. Warum auch? Es widerspricht den gängigen Vorstellungen vom Ostblock, wo selbstverständlich „alles verstaatlicht“ war. War ja schließlich „Sozialismus“. Und natürlich war es während der Stalinzeit am extremsten, schließlich hat erst Chruschtschow die Zügel gelockert und die Gesellschaft „entstalinisiert“…

Selbst diejenigen, die Chruschtschow „Revisionismus“ vorwerfen und einen „anderen Blick auf Stalin“ wagen, blenden den sozialistischen Privatsektor komplett aus. Sie sehen ihn offenbar nicht, und wenn doch, dann interpretieren sie diesen als „Überbleibsel des Kapitalismus“ oder so etwas. Dieses Phänomen wird nicht als etwas wahrgenommen, womit man sich weiter beschäftigen müsste.

Ich weiß davon letztlich nur, weil das in marxistisch orientierten Kreisen in Russland mittlerweile fast schon Allgemeinwissen zu sein scheint. Vor etwa einem Jahr bin ich im russischen YouTube20 darüber gestolpert und habe dann, anfangs ungläubig, in der russischen Wikipedia ein wenig quergelesen. Das ist meine Quellenlage… Ich kenne keine einzige (populär-) wissenschaftliche Publikation zu diesem Thema und habe nur Artikel in der russischen Wikipedia sowie in Medien bzw. Blogs gelesen. Hier ein paar Links, in denen die obigen Ausführungen zu finden sind:

https://ru.wikipedia.org/wiki/Артель#Советское_время

https://ru.wikipedia.org/wiki/Кооперативы_в_СССР

https://ru.wikipedia.org/wiki/Цеховик

https://ru.wikipedia.org/wiki/Закон_об_индивидуальной_трудовой_деятельности

Darstellungen von Kommunisten:

https://back-in-ussr.com/2018/02/chastnoe-predprinimatelstvo-stalinskoy-epohi.html 

https://back-in-ussr.com/2017/10/malyy-i-sredniy-biznes-stalinskoy-epohi.html 

Der Google Translator schafft auch hier die bereits erwähnten Probleme, aber allein wegen der Bilder von Produkten aus Genossenschaften lohnen sich diese Texte. Ärgerlich finde ich nur diese übertrieben idealisierende Beschreibung der Stalinzeit. Das ist ein generelles Problem in Russland. Hier ein Text, in den auch persönliche Erinnerungen mit eingeflossen sind:
https://publizist.ru/blogs/4/9463/

Und hier ein Artikel aus der Zeitschrift „Jahrhundert“ vom „Fond für historische Perspektive“ (von Natalija Narotschnizkaja21 ins Leben gerufene NGO) http://www.stoletie.ru/territoriya_istorii/kak_razrushali_rossijskuju_glubinku_2011-04-22.htm

Die Herrschaft der Bürokraten

Die totale Verstaatlichung hat katastrophale Konsequenzen gehabt und meiner Meinung nach das Ende der Sowjetunion eingeleitet. Das Problem im Ostblock war ja nicht die Schwer-, sondern die Leichtindustrie, die Produktion von Konsumgütern, wo marktorientierte, dezentral operierende Genossenschaften wesentlich effektiver Bedarf ermitteln und die Produktion entsprechend ausrichten können als ein vom Zentralstaat verfasster Plan es kann. Die historische Erfahrung ist hier eindeutig.

Darüber hinaus offenbart die totale Verstaatlichung grundlegende Denkfehler, die bis heute das linke Verständnis von Wirtschaft prägen. Der Sozialismus-Begriff, der hier zum Tragen kam, prägt das gesamte sozialistische, kommunistische, marxistische, usw. Lager, egal ob autoritär, antiautoritär, oder welche Richtung auch immer.

Chruschtschow hat im Grunde versucht, die chaotische wirtschaftliche Aktivität der Menschen zu systemisieren und durch zentrale „wissenschaftliche“ Planung zu ersetzen. Dadurch würgte er aber die Vitalität der sowjetischen Zivilgesellschaft ab, die bis dahin wirtschaftlich sehr aktiv war. Eben dadurch schufen Chruschtschows Reformen die Basis für die vielen Ineffizienzen, welche zuerst zu Stagnation und schließlich zum Niedergang der UdSSR führten.

Der Staat ist nun mal nicht mit der Gesellschaft identisch. Das ist zwar eine banale Feststellung, aber gerade Banalitäten bekommen zu wenig Aufmerksamkeit. Die einen idealisieren den Staat (wie Chruschtschow), die anderen idealisieren die Gesellschaft (Anarchisten). Wenige haben einen klaren Begriff von der Beziehung zwischen diesen beiden offensichtlich verwandten Realitäten.

In einem Satz: Der Staat ist institutionalisierte Gesellschaft.22 Staat und Gesellschaft bedingen einander, aber sie tun es selten in harmonischer Weise. Die institutionalisierte „öffentliche Gewalt“ entwickelt oft genug eine Art Eigenleben und steht der Gesellschaft entfremdet oder gar feindlich gegenüber. Und die totale Verstaatlichung war so ein feindlicher Akt des Staates gegenüber der Gesellschaft. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht… Es spricht Bände, wenn Vergesellschaftung nur als Verstaatlichung gedacht werden kann.

Ich behaupte, dass selbst der Kommunismus als „staatenlose Gesellschaft“ eine öffentliche Gewalt kennen wird. Aber diese wird rein administrativen Charakter haben und mitten in der Gesellschaft stehen. Sie wäre nicht länger eine von der Gesellschaft getrennte und ihr entgegenstehende Macht. Genau dieses Konzept muss aber schon im Sozialismus Leitidee sein. Der sozialistische Staat muss die gesellschaftliche Realität in angemessener Weise administrativ wiedergeben. Es darf nicht sein, dass der institutionelle Arm der Gesellschaft diese nach eigenen Vorstellungen zu formen versucht, um einen „neuen Menschen“ zu schaffen.23

Die realen Menschen, so wie sie sind, gehören in den Mittelpunkt. Und ob man es mag oder nicht, der Markt ist eine sehr menschliche Form wirtschaftlicher Aktivität. Ein zentraler „wissenschaftlicher“ Plan kann niemals menschlichen Einfallsreichtum ersetzen. Die Geschichte des Ostblocks ist in dieser Hinsicht absolut eindeutig. („Geschäftemacherei“ war Alltag im Ostblock, man denke nur an Taxifahrer24 und Kellner.25 Und obwohl es offiziell keine Prostitution gab und auch nicht geben konnte, haben viele Frauen als Prostituierte hinzuverdient.26 Zwei Beispiele von vielen.)

Es ist schon lange überfällig, entsprechende Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Sowohl im Kapitalismus als auch Sozialismus, in einer Sklavenhaltergesellschaft ebenso wie im Feudalismus gilt: „Die Gesetze der ökonomischen Entwicklung sind […] objektive Gesetze, die die unabhängig vom Willen der Menschen sich vollziehenden Prozesse der ökonomischen Entwicklung widerspiegeln. Die Menschen können diese Gesetze entdecken, sie erkennen und, auf sie gestützt, sie im Interesse der Gesellschaft ausnutzen […], aber sie können sie nicht umstoßen oder neue ökonomische Gesetze schaffen.“ (Stalin: Ökonomische Probleme)

Um nicht missverstanden zu werden: Verstaatlichung an sich ist nicht das Problem. Das ist eine Form der Vergesellschaftung. Insbesondere bei Infrastruktur und komplexen Anlagen der Schwerindustrie wäre alles andere total ineffektiv, da die konkrete Organisation der Arbeitsabläufe sich aus den technischen Begebenheiten der Anlagen ergibt. Es macht Sinn, Abteilung I komplett und Abteilung II teilweise zu verstaatlichen. Jedoch sollte das eigentliche Grundprinzip die Genossenschaft sein. Die halt in manchen – perspektivisch vielleicht sogar in allen – Bereichen staatliche Ausmaße erreicht. Der Nationalstaat als ultimative Genossenschaft, sozusagen. Aber insgesamt sollte gelten: Lass die Leute doch Geschäfte machen und Geld verdienen. Wo ist das Problem? Es geht doch letzten Endes darum, dass die Produktionsmittel denen gehören, die sie auch in Bewegung setzen, und dass die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft ist. Oder nicht?

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Unter „Stalinismus“ versteht man ja in der Regel die planmäßige Industrialisierung der Sowjetunion ab 1928, was als Abkehr von Lenins NEP interpretiert wird. Aber das stimmt nicht. Die NEP wurde erst mit Chruschtschow beendet. Der Übergang zur Planwirtschaft geschah zwar vor dem Hintergrund der Krise der NEP 1927 und führte zu linken Exzessen wie das totale Verbot privaten Handels im Oktober 1931. Da die NEP nie offiziell beendet wurde, wird eben dieses Verbot als ihr endgültiges Ende gewertet. Aber nur ein halbes Jahr später, im Mai 1932, wurde der private Handel wieder zugelassen, und dabei blieb es auch.27

Die Grundprinzipien der NEP haben die planmäßige Industrialisierung begleitet, und erst diese Kombination ermöglichte ihren Erfolg.28 So war Stalins Lohnpolitik nichts anderes als die Ausweitung von Bucharins an die Bauernschaft gerichteten „Bereichert euch!“ auf das Industrieproletariat. Die Stoßarbeiter haben ja nicht für Medaillen und Urkunden malocht, sondern weil sie gutes Geld verdienen konnten.

Der sog. „NEPmann“29 war zwar eine Erscheinung der 1920er, aber das Phänomen des zur Schau gestellten Reichtums prägte auch die Jahrzehnte danach. Linke Puritaner im In- und Ausland störten sich daran, aber Feuchtwanger hat es in seinem Reisebericht von 1937 perfekt auf den Punkt gebracht: „André Gide wundert sich weiter, und diesmal wundern sich viele mit ihm, über die Ungleichheit des Einkommens in der Sowjet-Union. Ich wundere mich über diese Verwunderung. Mir scheint es durchaus vernünftig, daß die Union das sozialistische Prinzip: `Jedem nach seiner Leistung´ befolgt, solange sie nicht den idealen Grundsatz des vollendeten Kommunismus: `Jedem nach seinem Bedürfnis´ verwirklichen kann. Mir scheint, beim Aufbau des Sozialismus geht es nicht um Verteilung der Armut, sondern um Verteilung des Reichtums. Ich sehe aber keinen Weg, wie man jemals dahin gelangen könnte, Reichtum zu verteilen, wenn man diejenigen, von denen man sich eine große Leistung verspricht, zwingt, ein so ärmliches Leben zu führen, daß es dieser Leistung Abbruch tun muß. Die Auffassung, es sollten die Bürger eines sozialistischen Staates, solange nicht alle ein reiches Leben führen können, ausnahmslos ein armes oder zumindest ein sehr bescheidenes Leben führen, scheint mir ein atavistisches Derivat urchristlicher Vorstellungen und mehr fromm als vernünftig.“ 

Wer Feuchtwangers Reisebericht nicht kennt, sollte ihn unbedingt mal lesen:
http://ciml.250x.com/archive/literature/german/feuchtwanger/1937_moskau_feuchtwanger.pdf

Übrigens: Wenn man Chruschtschows „Geheimrede“30 vom Februar 1956 liest, wird man feststellen, dass er ausschweifend über den „Individualismus“ von Stalin schimpft. Das war sein Problem mit Stalin. Und (unter anderem) genau auf dieser Grundlage griff er den Personenkult an. Aber auch der sozialistische Privatsektor sowie das Stücklohnsystem, das er ab 1957 abzuschaffen begann (was Karuscheit in „Schlüsselkrise“ angemessen behandelt), war in Chruschtschows Augen nichts weiter als Ausdruck von Individualismus. Er hatte diese linke Idee, alles müsse „kollektiv“ sein, wobei er den Staat als Verkörperung dieses „Kollektivs“ betrachtete.

Ich würde sogar so weit gehen und argumentieren, dass die Dämonisierung Stalins lediglich den Zweck hatte, sein Erbe zu delegitimieren, um die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft so transformieren zu können, damit sie mehr gewissen Idealen der Linken wie „Egalitarismus“ und „Kollektivismus“ entspricht. Und die heutige ablehnende Haltung in Teilen der Linken gegenüber China beruht oft auf genau derselben ideologisierten Mentalität.

Manager statt Funktionäre

China ist im Grunde eine Neuauflage von Stalins Wirtschaftsmodell (verstaatlichte, zentral geplante Abteilung I und weitgehend privatisierte, dezentral marktorientierte Abteilung II), jedoch unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Das ist auch der Grund, warum die chinesische Wirtschaft so sehr finanzialisiert ist. Finanzen im Allgemeinen sind wichtig, und meiner Ansicht nach zeigt es einen großen Mangel an Verständnis von Wirtschaft, wenn in kommunistischen Kreisen das Finanzwesen oft einfach als „kapitalistisch“ abgetan wird.

Was sowieso total paradox ist: Marxisten betonen ständig, wie wichtig Wirtschaft für soziale Realitäten ist, haben aber gleichzeitig ein sehr schlechtes, in der Regel rein philosophisches Verständnis von Wirtschaft. Und eben auf philosophischer Ebene wird im Allgemeinen auch die Frage diskutiert, ob China sozialistisch sei – mit den üblichen philosophischen Fehlschlüssen.

Der Einfachheit halber will ich das an einem Zitat aus dem Wikipedia-Artikel zur „sozialistischen Marktwirtschaft“31 demonstrieren, das mir oft begegnet: „Wegen der schwachen wirtschaftlichen Leistungen der traditionellen Staatsunternehmen in der Marktwirtschaft schlug China eine Strategie der umfangreichen Privatisierung ein. In diesem Modell behält der Staat zwar formell das Eigentum und die Kontrolle über die großen staatlichen Unternehmen, hat aber wenig direkten Einfluss auf deren internes Management.“  

Das ist so absurd! Es ist doch offensichtlich keine Privatisierung, wenn „der Staat das Eigentum behält“. Das ist keine Formalität, die Eigentumsfrage ist zentral. Diese „internen Manager“ sind eben keine Eigentümer, sondern Verwalter. Sie üben eine Hausmeister-Funktion aus, im Auftrag des Eigentümers: Das chinesische Volk. „China stellt für das interne Management staatseigener Unternehmen Fachleute ein“, so müsste man das formulieren. Diese Fachleute machen ihren Job und werden gut dafür entlohnt. Ist doch prima!

Warum sollen irgendwelche Staatssekretäre diesen Job machen? Selbst wenn diese vom Fach sind: Warum sollen sie als Staatsbedienstete Unternehmen managen, statt das als in staatseigenen Unternehmen angestellte Manager für Lohn bzw. Gehalt zu tun? Ersteres letzterem vorzuziehen widerspricht jeder Logik. Ein Manager ist im Prinzip auch „nur ein Arbeiter“. Ein Lohnarbeiter, um genau zu sein. (Gut, er kriegt „Gehalt“, aber…) Ist alleine das nicht schon Ausdruck der Diktatur des Proletariats in China?

Adam Smith hat bekanntermaßen drei grundlegende Formen des Einkommens unterschieden: Rente, Profit, Lohn. Rente und Profit sind die klassischen Einkünfte des Adels und der Bourgeoisie, während Arbeiter von Lohn leben. Und die Diktatur des Proletariats macht alle zu Lohnempfängern.

Die im Kapitalismus privat angeeignete Rente ist im Sozialismus verallgemeinert und fließt ins Staatsbudget mit ein; der im Kapitalismus als privater Profit angeeignete Mehrwert steht im Sozialismus zu einem Teil als Staatsbudget der Allgemeinheit zur Verfügung,32 zum anderen Teil als individueller Lohn für die an der Wertschöpfung direkt Beteiligten. Simpel. Auch das ist übrigens Ausdruck der „Ausweitung von Lohnarbeit“. Warenproduktion und Lohnarbeit stehen nicht bloß „im Zentrum der kapitalistischen Produktionsweise“, sondern ihre Verallgemeinerung ist eine Grundvoraussetzung der sozialistischen Produktionsweise. Dazu gleich mehr.

Wie die Praxis die Theorie eingeholt und überholt hat

Meine Bemerkung weiter oben, das moderne China sei im Grunde eine Neuauflage von Stalins Modell, habe ich mir übrigens nicht ausgedacht. Das ist eine Tatsache. Der chinesische Ökonom Xue Muqiao33 war maßgeblich für die Reformpolitik unter Deng Xiaoping verantwortlich, und er hat sich explizit auf Stalins „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ berufen. In der Wikipedia wird angemerkt, dass dieser Text „ironischerweise“ benutzt wurde, um Konzepte der „sozialistischen Marktwirtschaft“ zu rechtfertigen.34 Aber da ist überhaupt keine Ironie, wie ich hoffentlich in meinen Ausführungen zum sowjetischen Privatsektor zeigen konnte und im Folgenden noch zeigen werde.

Im Wiki-Artikel zur sozialistischen Marktwirtschaft wird die chinesisch-marxistische Position wiedergegeben, wonach „eine sozialistische Planwirtschaft nur möglich ist, nachdem zunächst eine umfassende Warenwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen etabliert wurde. Erst nach deren vollständiger Entwicklung wird sie sich schließlich selbst erschöpfen und graduell in eine Planwirtschaft verwandeln.“ Genau das sagt im Grunde auch Stalin in „Ökonomische Probleme“,35 nur drückt er sich umständlicher aus. Zum Beispiel hier: „Um das kollektivwirtschaftliche Eigentum auf das Niveau des allgemeinen Volkseigentums zu heben, muss man die Überschüsse der kollektivwirtschaftlichen Produktion aus dem System der Warenzirkulation herausziehen und in das System des Produktentauschs zwischen der staatlichen Industrie und den Kollektivwirtschaften einbeziehen.“

Karuscheit zitiert diese Stelle in „Schlüsselkrise“ (Satz zur Fußnote 41) und führt weiter aus, dass laut Stalin dieses Problem „erst mit dem gegenwärtig nicht aktuellen Übergang zum Kommunismus anstehen“ würde. Dieses Zitat stammt aus Stalins Antwort an Sanina und Wensher, die laut ihm „mit dem Marxismus [brechen] und den Weg des subjektiven Idealismus [beschreiten].“ Dabei haben sie offenbar nur seine „Bemerkungen zu ökonomischen Fragen, die mit der Novemberdiskussion 1951 zusammenhängen“ gelesen und fehlerhaft in eigenen Worten wiedergegeben. Was nicht verwunderlich ist, denn „Ökonomische Probleme“ ist gekennzeichnet von Stalins teilweise widersprüchlich wirkendem Herumdrucksen.

Stalin kann nicht geradeheraus sagen, dass Engels sich in „Anti-Düring“ zum Teil geirrt hat und die Realität in der Sowjetunion der Beleg dafür ist. Dass die Praxis die Theorie eingeholt und überholt hat. Stattdessen biegt er sich den Engels so zurecht, wie er ihn braucht, um als Schlussfolgerung seiner recht detaillierten Ausführungen sagen zu können, „dass sich unsere Warenproduktion grundlegend von der Warenproduktion im Kapitalismus unterscheidet.“36 Das ist eine im Prinzip revolutionäre Feststellung, und ich möchte jeden Leser dazu auffordern, den zuvor angegebenen Link zu öffnen und dieses Kapitel zu lesen.

Die marxistische Theorie war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, die Realität in der UdSSR angemessen zu beschreiben, und Stalin war nicht in der Lage, die neue Realität angemessen theoretisch darzulegen. Und ich behaupte, das lag nicht an ihm, sondern am herrschenden Diskurs in der Sowjetunion und der sozialistischen Bewegung insgesamt.

Erst die chinesischen Marxisten seit Deng37 haben es verstanden, auf Grundlage der Erfahrungen sowohl in der Sowjetunion als auch in China eine theoretische Erneuerung bzw. Anpassung der marxistisch-leninistischen Theorie auszuarbeiten. Und zwar unter expliziter Berücksichtigung von Stalins „Ökonomische Probleme“. Das Wesen dieser Schrift ist ja, dass Stalin die sowjetische Realität – mal explizit, meist implizit – gegen marxistischen Dogmatismus verteidigt. Wie z.B. im folgenden Zitat, zu dem ich anmerken möchte, dass Stalin zwar von Kolchosen spricht, aber alle Artels meint, auch die industriellen. Er kann es nur nicht so offen aussprechen, weil das in seinem Umfeld im Prinzip undenkbar ist, nach dem Motto: ‚Die rückständigen Bauern, da kann man solch reaktionäres marktorientiertes Denken und Handeln ja verstehen. Aber zu behaupten, das fortschrittliche Industrieproletariat würde (bla bla bla) …‘‘

Dabei waren die Proleten bis vor kurzem eben diese Bauern, und sie haben natürlich ihre Mentalität und Attitüde mit in die Städte gebracht. Das genossenschaftliche Artel in Industrie und Handwerk, diese Jahrhunderte alte russische Institution, hat entscheidend dazu beigetragen, dass die sowjetischen Arbeiter Staat und Wirtschaft als ihr Eigen wahrgenommen haben. Generell existieren Stalins Ausführungen in „Ökonomische Probleme“ ja nicht im Vakuum, sondern müssen in Beziehung gesetzt werden zum sowjetischen Alltag der Zeit, den ich eben deswegen eingangs ein wenig näher beschrieben habe.

Aber jetzt das Zitat (Hervorhebungen von mir): „Dieser Umstand führt dazu, dass der Staat nur über die Erzeugnisse der staatlichen Betriebe verfügen kann, während über die kollektivwirtschaftlichen Erzeugnisse nur die Kollektivwirtschaften als über ihr Eigentum verfügen. Aber die Kollektivwirtschaften wollen ihre Produkte nicht anders als in Form von Waren veräußern, für die sie im Austausch die von ihnen benötigten Waren erhalten wollen. Andere ökonomische Verbindungen mit der Stadt als Warenbeziehungen, als Austausch durch Kauf und Verkauf sind für die Kollektivwirtschaften gegenwärtig nicht annehmbar. Darum sind Warenproduktion und Warenumlauf bei uns gegenwärtig eine ebensolche Notwendigkeit, wie sie es beispielsweise vor dreißig Jahren waren, als Lenin die Notwendigkeit der allseitigen Entfaltung des Warenumlaufs verkündete.

Wenn an die Stelle der zwei grundlegenden Produktionssektoren, des staatlichen und des kollektivwirtschaftlichen, ein allumfassender Produktionssektor mit dem Verfügungsrecht über alle Konsumgüter des Landes getreten sein wird, dann wird natürlich die Warenzirkulation mit ihrer „Geldwirtschaft“ als unnötiges Element der Volkswirtschaft verschwinden. Solange dies aber nicht der Fall ist, solange die zwei grundlegenden Produktionssektoren bestehen bleiben, müssen Warenproduktion und Warenzirkulation als notwendiges und sehr nützliches Element im System unserer Volkswirtschaft in Kraft bleiben. Auf welche Weise die Schaffung eines einheitlichen, vereinigten Sektors vor sich gehen wird, auf dem Wege der einfachen Aufsaugung des kollektivwirtschaftlichen Sektors durch den staatlichen Sektor, was wenig wahrscheinlich ist (denn das würde als Expropriation der Kollektivwirtschaften aufgefasst werden), oder auf dem Wege der Organisierung eines einheitlichen Wirtschaftsorgans des ganzen Volkes (in dem die staatliche Industrie und die Kollektivwirtschaften vertreten sein werden) mit dem Recht zunächst der Erfassung aller Konsumgüter des Landes und im Laufe der Zeit auch der Verteilung der Produkte, sagen wir, auf dem Wege des Produktenaustauschs – das ist eine besondere Frage, die eine getrennte Behandlung erfordert.“

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Die ganze Schrift ist eine Attacke gegen dogmatischen Marxismus.38 In meinen Augen ist das eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhundert. Und die wohl radikalste Formulierung ist dieser Satz gegen Ende des zweiten Kapitels, wo Stalin mehr oder weniger offen eine Erneuerung der marxistischen Theorie fordert:  „Ich denke, unsere Wirtschaftswissenschaftler müssen dieses Missverhältnis zwischen den alten Begriffen und der neuen Sachlage in unserem sozialistischen Lande beseitigen und die alten Begriffe durch neue, der neuen Lage entsprechende, ersetzen.“ Denn nicht nur die Warenproduktion im Sozialismus ist laut Stalin grundlegend anders als die Warenproduktion im Kapitalismus. Auch die Lohnarbeit hat einen gänzlich anderen Charakter. Darauf geht er vor dem soeben zitierten Satz kurz ein.

In der deutschen Übersetzung kann es verwirrend sein, dass er einerseits behauptet, das „System der Lohnarbeit“ existiere nicht in der UdSSR, bei seiner Kritik an Jaroschenko z.B. aber ganz selbstverständlich von einer Erhöhung der „Löhne“ spricht. Die Begriffe sind „наемный труд“ vs. „зарплата“, und der Übersetzer hat es eigentlich ganz gut gelöst. Denn Stalin stellt nicht Lohnarbeit als solche infrage, sondern das kapitalistische „System der Lohnarbeit“, wo Arbeitskraft eine Ware darstellt, die Kapitalisten sich aneignen. Und eben das gibt es nicht im Sozialismus. Ich denke, spätestens jetzt ist deutlich geworden, wie ich die Begriffe Lohnarbeit und Warenproduktion nutze. Genau so, wie Stalin sie in „Ökonomische Probleme“ nutzt.

Alternativen zu Warenproduktion und Lohnarbeit?

Für Stalin war es selbstverständlich, dass im Sozialismus Arbeit entlohnt wird sowie dass Konsumgüter als Waren produziert werden und auch als Waren zirkulieren. Und er prognostiziert, dass die Überschüsse irgendwann so groß sein werden, dass man sie „aus dem System der Warenzirkulation herausziehen“ kann. Bei den Chinesen wird daraus, dass die „Warenwirtschaft sich nach ihrer vollständigen Entwicklung selbst erschöpfen“ wird. Das ist der gleiche Gedanke, und er ist zutiefst marxistisch.

Genau das war doch das Wesen der Kritik von Marx am Gothaer Programm: Erst bei wirklich hoch entwickelter Produktivität, wo der Gesellschaft Güter im Überfluss zur Verfügung stehen, also „nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

Vergesellschaftung ist Folge, nicht Voraussetzung!39 Sie ist Folge der ungeheuer angewachsenen Produktivität, welche einen Überfluss an Gütern schafft und so die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten sprengt. Wie aber soll Produktivität erhöht werden ohne eine Ausweitung von Lohnarbeit und Warenproduktion? Wie soll das technisch vonstattengehen?

Das ist keine rhetorische Frage. Wie soll das in der alltäglichen Praxis aussehen, dass „Produktivkräfte gewachsen (sind) und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ – ohne Lohnarbeit und Warenproduktion? Wie sollen wir so viel Überfluss an Gütern schaffen, dass der „enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden“ kann – ohne Lohnarbeit und Warenproduktion? Was sonst ermöglicht es, „die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“, wie Marx und Engels schon im Kommunistischen Manifest forderten?

Heutzutage sind Sozialisten, Kommunisten, Marxisten, etc. meist Anti-Kapitalisten. Marx und Engels aber waren Post-Kapitalisten und wollten die „kapitalistische Produktionsweise“ maximal ausweiten, nur halt rational organisiert. Genau das verstanden sie unter „Sozialismus“. Das Kapital als solches sahen sie nicht als Problem, auch nicht die Wert- bzw. Mehrwertproduktion.

Das Problem des Kapitalismus ist die private Aneignung von gesellschaftlich geschaffenem Kapital und der sich daraus ergebenden Organisation der gesellschaftlichen Produktion. Marx und Engels im „Manifest“ dazu: „Das Kapital ist ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch eine gemeinsame Tätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden. Das Kapital ist also keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht. Wenn also das Kapital in ein gemeinschaftliches, allen Mitgliedern der Gesellschaft angehöriges Eigentum verwandelt wird, so verwandelt sich nicht persönliches Eigentum in gesellschaftliches. Nur der gesellschaftliche Charakter des Eigentums verwandelt sich. Er verliert seinen Klassencharakter.“

Das Kapital ist eine gesellschaftliche Macht!

Es geht nicht darum, es abzuschaffen oder so was. Es geht darum, es zu packen und zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen.  „Nur im Sozialismus ist Kapital bloß Produktionsmittel.“ Im Kapitalismus aber ist „Kapital kein Produktionsmittel, sondern ein Eigentumsrecht. Kapitalisten ermöglichen nicht Produktion, sondern sie drücken die Produktion unter die technisch effiziente Menge.“ Diese Zitate stammen aus einem weiteren Tweet von mir und des darin zitierten Norbert Häring:
https://twitter.com/qalette/status/1320285870306590721

Marx und Engels haben sich doch nicht die Mühe gemacht, die Wirkungsweise des Kapitals in drei Bänden zu beschreiben, nur damit es das Proletariat „ausschalten“ kann. Nein. Sie wollten das Proletariat auf diese Weise dazu ermächtigen, das Kapital unter Kontrolle zu bringen und sich wie ein Werkzeug zunutze zu machen. Die quasi göttlichen Zuschreibungen, die das Kapital in Teilen der Linken erfährt, sind Ausdruck einer Art mittelalterlichen Glaubens an Zauberei. Es hat nichts mit Rationalität und Wissenschaft zu tun, das Kapital zu einem Subjekt zu erklären.

Generell wird „Dekonstruktion“ von gesellschaftlichen Prozessen und Realitäten viel zu oft und fälschlicherweise als „Destruktion“ verstanden, im Glauben, man könne gesellschaftliche Prozesse und Realitäten beliebig „re-konstruieren“ oder sogar ohne derartige Konstrukte auskommen. Das Übel der Postmoderne… Dekonstruktion dient dazu, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, damit man sich diese zunutze machen kann. Mir scheint, dass selbst Marx das nicht ganz verstanden hat. Er macht sich ja regelmäßig lustig darüber, dass diese geistigen Schöpfungen so viel Macht haben, spricht von „gespenstiger Gegenständlichkeit“, „phantasmagorischer Form“, „Illusionen“ usw. Aber der Fetisch ist mehr als das, er ist Technologie. So wie auch Geld eine Technologie ist. Nur weil man die Konstruiertheit einer Technologie durchschaut hat, hört sie doch nicht auf, zu funktionieren oder notwendig zu sein.

Erst Stalin scheint das verstanden zu haben. Zumindest legen seine Ausführungen in „Ökonomische Probleme“ das nahe.

Güterproduktion vs. Kommodifizierung

Die Ausweitung von Warenproduktion und Lohnarbeit, die wir im Kapitalismus beobachten, trägt übrigens ganz anderen Charakter als den soeben beschriebenen. Hier wird immer mehr zur Ware gemacht, der Begriff der Ware wird ausgeweitet. Nicht mehr bloß die Warenproduktion im Sinne von Güterproduktion wird ausgeweitet, sondern immer mehr Bereiche des Lebens werden kommodifiziert.

Eben damit geht auch eine konstante Ausweitung der Ware Arbeitskraft einher, und anstelle der z.B. von Keynes erwarteten Arbeitszeitverkürzung werden immer mehr „Bullshit Jobs“40 geschaffen. Beide Prozesse sind Ausdruck einer kontinuierlichen Enteignung der Massen, die nur deswegen nicht sofort offensichtlich ist, weil der Überfluss an Waren im Sinne von Gütern ins nahezu Unermessliche gewachsen ist.

Diese totale Kommerzialisierung ist der Gegenpol zur ständigen Ausweitung des Kredits, ein System, das Varoufakis „Globaler Minotaurus“ nennt: Ein aufgeblasenes System, das schon lange nicht mehr von Wertschöpfung lebt, sondern von den globalen finanziellen Abhängigkeiten, die mit Bretton Woods geschaffen wurden und von der US-Armee am Leben gehalten werden.41 Im letzten Jahr wurden über 40% aller jemals in Umlauf gebrachten US-Dollar gedruckt (M1 zugrunde gelegt,42 bei M3 sind es etwa 20%43). Allein das spricht für sich.44 Und es steht im krassen Gegensatz zur Währungspolitik in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg: Eine stabile Währung, in welcher der stetige Produktivitätszuwachs durch konstant sinkende Preise zum Ausdruck kommt. 

Auch das hat Chruschtschow in den Sand gesetzt. Die Währungsreform 1947 sowie die Währungs- und Preispolitik bis 1953 sind sowieso ein spannendes Thema.45

Volkseigentum und Volksherrschaft

In „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ macht Engels gleich im ersten Satz klar, worum es geht. Und zwar um zwei Sachen:

1.) Der Klassengegensatz von Besitzenden und Besitzlosen

2.) Die in der Produktion herrschende Anarchie

Beides sind offensichtlich zwei Seiten einer Medaille. In meinen Worten weiter oben: „Das Problem des Kapitalismus ist die private Aneignung von gesellschaftlich geschaffenem Kapital (Der Klassengegensatz von Besitzenden und Besitzlosen) und der sich daraus ergebenden Organisation der gesellschaftlichen Produktion (Die in der Produktion herrschende Anarchie).“

Beide Punkte werden von China sehr effektiv in Angriff genommen: Alles Kapital in Abteilung I ist in China Volkseigentum. Auch in Abteilung II ist der Großteil des Kapitals Volkseigentum, nur halt oft genossenschaftliches, und nicht staatliches Volkseigentum. Huawei z.B. ist eine Genossenschaft. Selbst das in China verdiente Geld ist nicht einfach Privateigentum der Person, die es verdient, sondern individualisiertes Volkseigentum: Dieses Geld kann nicht mit ins Ausland genommen, sondern muss in China ausgegeben werden. In zahlreichen Bereichen gibt es zwar weiterhin einen Klassengegensatz, aber insgesamt liegt die Macht eindeutig bei der Arbeiterklasse. Nicht unbedingt bei den individuellen Arbeitern, das wäre das bourgeoise Konzept, sondern bei den Arbeitern als Klasse, welche das nationale Kapital als Volkseigentum zum Nutzen der ganzen Nation in Bewegung setzt. 

Die in der Produktion herrschende Anarchie ist zwar nicht beseitigt, aber zumindest in Abteilung I geht es doch sehr geregelt zu. Man darf nicht vergessen, dass in einem demokratischen Prozess ausgearbeitete 5-Jahrespläne die allgemeine Richtung der Wirtschaft vorgeben. Der „erste Schritt in der Arbeiterrevolution [ist] die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“, wie Marx und Engels es im „Manifest“ formuliert haben. Genau das sehen wir in China. Denn entgegen aller bourgeoisen Unkenrufe ist das politische Modell in China durchaus eine Demokratie im Sinne von Volksherrschaft. Volkseigentum und Volksherrschaft sind Schlüsselkonzepte des Sozialismus.

Ich persönlich mag das „Kommunistische Manifest“ ja überhaupt nicht. Man spürt in jeder Zeile das Gewicht des Jahres 1847. Das war Jahre vor bahnbrechenden Meilensteinen in der Wissenschaft wie z.B. Maxwells Gleichungen oder Darwins Evolutionstheorie. Auch der Wissensstand von Anthropologie und Psychologie war miserabel und blieb es noch über Jahrzehnte hinaus.

Und eben im „Manifest“ sprechen Marx und Engels davon, dass das Proletariat „alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zentralisieren“ werde. Genau daher kommt ja diese verhängnisvolle Idee „totaler Verstaatlichung“, die schon Bakunin und andere scharf kritisiert haben.

Allerdings sagen sie im selben Satz ja auch, gleich vor dem soeben Zitierten, dass das Proletariat „der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital entreißen“ werde (Herv. von mir). Marx und Engels haben immer betont, dass dies ein Prozess sein wird, der sich zudem von Land zu Land unterscheidet. Und es ist klar erkennbar, dass man in China in genau diesem Prozess drinsteckt. Genauso wie die Sowjetunion sich in diesem Prozess befand – bis Chruschtschow entschied, alles zu beschleunigen, was im Ergebnis diesen Prozess abwürgte.46

Ungeduld und die oft überhohen Ansprüche sind ein ernstes Problem. Genau das war die Ursache für die Fehler Chruschtschows. Das Stalinsche System war ja alles andere als perfekt, sondern hatte einerseits enorme ungenutzte Überkapazitäten, während es andererseits krasse Verschwendung gab (wie z.B. die zuvor erwähnte Veruntreuung durch Genossenschaften). Es ist also durchaus verständlich, dass Chruschtschow und andere auf die Idee kamen, man könne die Effektivität steigern und Synergien schaffen, wenn man alles im Staat bündelt.

Aber diese oft beklagte Redundanz in der Stalinzeit war wichtig. Sie mag statistisch unangenehm und verschwenderisch gewirkt haben, aber sie war Ausdruck dieser explosiven sozialen Dynamik, die wohl einmalig in der Geschichte der Menschheit ist. Eine solche Dynamik lässt sich nicht kontrollieren, und schon gar nicht vorgeben. So sah halt das „als herrschende Klasse organisierte Proletariat“ in Russland aus.47

Es sollte nicht darum gehen, die Gesellschaft zu formen, sondern „die unter unseren Augen vor sich gehende Bewegung“ zu erfassen und sich an deren Spitze zu stellen. Genau das verstand Stalin – im Gegensatz zu Chruschtschow und vielen anderen Kommunisten. Und auch die chinesischen Marxisten verstehen eben das sehr gut. Wird Zeit, dass auch deutsche Marxisten wieder lernen, das zu verstehen. 

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Wenn ich Draht zu einem großen Verlag in Deutschland hätte, würde ich versuchen, ihn zu überzeugen, dieses Buch auf Deutsch herauszubringen:
Viktor Zemskov: 
„Stalin und das Volk. Warum es keinen Aufstand gab.“48
Allein den Titel muss man mal wirken lassen: Trotz der zahlreichen Konflikte gab es nicht einen Aufstand zur Zeit Stalins. Aber kaum ist er tot, geht’s los… Und Zemskov macht gleich in der Einleitung klar, dass der wohl zuerst in den Sinn kommende Gedanke, dass es an der Repression gelegen habe, nicht weiter von den Tatsachen entfernt sein könnte.

Stalin hat an die Diktatur des Proletariats geglaubt. Gerade in der Ermächtigung der Massen49 liegt das Geheimnis seines Erfolgs. Und ich vermute, dass u.a. deswegen die Staaten im Ostblock nach dem Zweiten Weltkrieg als „Volksrepubliken“ etabliert wurden. Das war offenbar der Versuch, dem damaligen (und heutigen) Mainstream-Verständnis von Sozialismus als „totale Verstaatlichung“ aus dem Weg zu gehen, da es nur kontraproduktiv sein konnte – wie sich nach Stalins Tod ja gezeigt hat. 

(Einen neuen „Zwischenschritt“ auf dem Weg zum Kommunismus zu etablieren, war offenbar einfacher, als die verknöcherte Definition von Sozialismus zu ändern. Auch China als Volksrepublik sieht sich ja erst auf dem Weg zum Sozialismus…)

Der „sozialistische Privatsektor“ war von entscheidender Wichtigkeit, aber er war mehr Ergebnis von Trial-and-Error als Folge einer gezielten Politik und hatte kein theoretisches Fundament. Gerade dieser Sektor war wiederholten Angriffen seitens der Dogmatiker ausgesetzt, schon zu Lenins Zeiten, und ließ sich im Rahmen der damaligen marxistischen Theorie nur als „vorübergehend notwendig“ rechtfertigen. Aber wie kann etwas permanent vorübergehend sein…?

Stalin scheint sich des Problems bewusst gewesen zu sein und hat eben deswegen in „Ökonomische Probleme“ angefangen, diese in der Sowjetunion gesammelte praktische Erfahrung als Theorie zu formulieren. Und er tat es sehr rudimentär, weil es sonst nicht verstanden worden wäre. Nicht, weil die anderen „dumme Bauern“ oder so etwas waren, sondern weil der Marxismus als Lehre so war wie er war. Und zwar auch außerhalb der Sowjetunion, wie Karuscheit in „Arbeiterschaft und SED-Sozialismus“ (AzD 92) am Beispiel der deutschen Kommunisten demonstriert hat.

Generell lässt sich festhalten, dass Stalin die Menschen und ihr Handeln ins Zentrum seiner Betrachtungen stellte, während Chruschtschow (und die Linke insgesamt) das System hervorhob, den Staat und die Ideologie.  Ein, wie ich finde, sehr plastisches Beispiel dafür ist der Umgang mit der Religion. Stalin war bekennender Atheist, aber er hat wiederholt das Recht der Menschen auf Religionsausübung verteidigt. Die Macht und der Einfluss der Kirche war das eine, die wurde bekämpft, aber die weit verbreitete Religiosität sollte auf natürlichem Wege überwunden werden. Chruschtschow „dagegen kann es nicht abwarten, bis die Religion dieses ihres natürlichen Todes verstirbt“ (Engels: Anti-Düring) und startet 1959 eine massive anti-religiöse Kampagne.50

Oder Chruschtschows Versprechen, in 20 Jahren werde man den Kommunismus erreicht haben. Er war offensichtlich „von den gewaltigen Errungenschaften der Sowjetmacht überwältigt, vor den außerordentlichen Erfolgen der Sowjetordnung von Schwindel befallen und [bildete sich ein], dass die Sowjetmacht ‚alles vermag‘, dass ihr ‚alles ein leichtes ist’…“ (Stalin: Ökonomische Probleme).

Es war übrigens Chruschtschow, der das ganze Wesen der Sowjetunion auf die Systemkonkurrenz zugespitzt und Lenins „Einholen und Überholen“ zum Motto gemacht hat. Stalin hingegen betonte regelmäßig Lenins „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“.

So wie ich das verstehe, wollte Stalin damit daran erinnern, dass Kommunismus eben nicht die Herrschaft der KP bedeutet oder die Realisierung einer Utopie, sondern eine auf Arbeiterräten beruhende Demokratie mit hohem technologischen Standard. Oder anders gesagt: Dass es nicht um Ideologie geht, sondern um materielle Bedingungen. Es gibt zahlreiche Anekdoten, in denen Stalin seine Genossen zügelt und sie auffordert, Fachleuten das Urteil in einer Sache zu überlassen. Seine Vision für die UdSSR scheint eine demokratisch formierte Technokratie gewesen zu sein, in der die KP eine untergeordnete Rolle spielt.

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Was wäre ein Text über Stalins UdSSR wert, wenn man die „notwendig barbarischen Züge“, wie Karuscheit es in „Schlüsselkrise“ nennt, nicht wenigstens kurz anspricht. Angesichts der – von den eindeutig nicht bäuerlichen USA – in Korea, Vietnam, Irak, etc. angerichteten Barbarei kann ich allerdings nicht verstehen, warum Karuscheit die Ursache dafür in den „bäuerlichen Verhältnissen des Landes“ verortet.51 Natürlich war die Rückständigkeit des Landes entscheidend, aber nicht so sehr die soziokulturelle, sondern die physisch-materielle: Nicht existente Infrastruktur. 

Ohne das weiter zu vertiefen, will ich auf eine Sache hinweisen: Chruschtschow hat die Behörde GULag abgeschafft, nicht das System der Straflager. Und nur, weil die sozialen Umwälzungen samt ihrer Konflikte bereits durchgestanden waren und die Infrastruktur zur Versorgung entlegener Lager aufgebaut, nur darum gab es weniger Opfer. Das war die klassische Ernte fremder Früchte. Show, nichts weiter. 

Dieses Thema kann ich gerne an anderer Stelle ausführen, wenn entsprechendes Interesse bei der Leserschaft der AzD besteht.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

 

1 Was diese Versuche aber zeigen, ist Wertschätzung, vermutlich eine Vorform des ökonomischen Werts. Sehr beeindruckend demonstriert von Kapuzinern: https://youtu.be/meiU6TxysCg. Unbedingt ansehen! 2:43 min.

2 Auch „behavioral modernity“ https://w.wiki/32Vq genannt. Anatomisch moderne Menschen gibt es seit grob 300.000 Jahren, nachweislich „modernes“ Verhalten seit ca. 50.000 Jahren, und es ist bis heute unklar, was da genau in der Biologie passiert ist. Das ist eines der Schlachtfelder ideologischer Debatten unserer Zeit.

3 Das wird zwar hin und wieder auch vom Neandertaler behauptet, aber das ist Wunschdenken. Wen‘s näher interessiert: https://youtu.be/1eusfSg2edg. Da diese Sachen Grundlagenwissen darstellen, möchte ich auch diesen sehenswerten Vortrag empfehlen, über das menschliche Gehirn: https://youtu.be/_7_XH1CBzGw.

4 Was die Biologie natürlich nicht aufhebt. Jede nachhaltige Kultur muss diese allererste materielle Bedingung angemessen berücksichtigen.

5 Die Evolution von Steinwerkzeugen wird in vier Stufen unterteilt: Oldowan (Mode I) https://w.wiki/366B; Acheulean (Mode II) https://w.wiki/366D; Mousterian (Mode III) https://w.wiki/366E ist Neandertaler-Level; Aurignacian (Mode IV) https://w.wiki/366G ist Cro-Magnon-Level, das sich allmählich zum Neolith verfeinert.

7 Satz zur Fußnote 42 (ich habe nur die Online-Version ohne Seitenangaben), Hervorhbg von mir.

8 Weiter unten hab ich Feuchtwangers Reisebericht von 1937 verlinkt, er nennt weitere Beispiele.

13 Das war zwei Monate nach Chruschtschows „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag. Ich bin davon überzeugt, dass es da einen Zusammenhang gibt, nicht nur, weil Stalin Genossenschaften wiederholt verteidigt hat. Diese „Geheimrede“ ist sowieso ein Thema für sich…

15 Ebd. Alle diese Aussagen finden sich in mehreren Quellen.

17 Die zuvor erwähnte Verwobenheit zwischen Staat und Genossenschaften ermöglichte verschiedene Formen der Veruntreuung in Millionenhöhe (der Wiki-Artikel nennt z.B. einen Schaden von 222,4 Mio. Rubel für 1940 und 431,3 Mio. Rubel für 1946), was regelmäßig zu Forderungen nach Abschaffung des Privatsektors führte.

18 Ich demonstriere die Problematik zwar am Beispiel Google, aber andere Übersetzungsprogramme wie Deepl sind nicht wirklich besser. Maschinelle Übersetzungen haben grundsätzlich Fehler.

22 Dass der Staat zugleich ein Instrument der herrschenden Klasse ist, ist wiederum ein anderes Thema, das ich an dieser Stelle bewusst ausblende, um die Argumentation nicht zu überfrachten.

23 Berthold Brecht hat diese Problematik in seinem Gedicht „Die Lösung“ perfekt auf den Punkt gebracht.

24 Wer diese Sachen zu ersten Mal hört: https://www.youtube.com/watch?v=oeGsXKfrOug.

25 https://www.youtube.com/watch?v=dfLQuB7j8TQ. Das sind Videos eines YouTubers aus der Ukraine, der sowjetischen Alltag zum Thema seines Kanals gemacht hat.

27 https://fishki.net/anti/3443506-11-oktjabrja-1931-goda-v-sssr-zaprewajut-chastnuju-torgovlju.html. Es stellt sich hier die Frage, inwieweit dieses Verbot des privaten Handels mit dazu beigetragen hat, dass die Ernte 1932 weit geringer ausgefallen war als erwartet, was zur allseits bekannten Hungerkatastrophe geführt hat.

28 Der trotzkistische russische Historiker Wadim Rogowin spricht in diesem Zusammenhang explizit von einer „Neo-NEP“. Siehe z.B.: https://www.amazon.de/dp/3886340740. Ich hab Rogowin aber nie gelesen.

32 Bei staatseigenen Firmen direkt, bei Genossenschaften über die (dank Nationalisierung niedrige) Steuer.

35 Veröffentlicht in Band 15 der Stalin-Werke, hier die archivierte Online-Version: https://bit.ly/3dtnFWQ

36 Hervorhebung von mir. Das ist ein Fazit des zweiten Kapitels mit dem Titel „Die Frage der Warenproduktion im Sozialismus“. Ich kann leider keine Seitenzahl nennen, da ich mit der Online-Version des Textes arbeite.

37 Unbedingt lesenswert: Oriana Fallacis Interview mit Deng Xiaoping: https://redsails.org/deng-and-fallaci/.

38 Nur zur Info: Teile der Rechten in Russland versuchen Stalins Kritik am Dogmatismus als Lossagung vom Marxismus insgesamt zu deuten. Was natürlich absurd ist, aber ich wollte es erwähnt haben.

39 Bezogen auf Abteilung II. Denn die Verstaatlichung bzw. „staatskapitalistische“ Organisation von Abteilung I ist Voraussetzung, nicht Folge. Wer die „Kommandohöhen der Wirtschaft“ kontrolliert, bestimmt maßgeblich das gesamte wirtschaftliche Leben. Konsumgüterproduktion kennt selten derartige Monopolstellungen.

40 Ich nutze diesen Begriff sehr viel weiter gefasst als David Graeber, der ihn populär gemacht hat.

41 Und zwar als Zombie. Varoufakis argumentiert, dass dieses System 2008 an sein Ende gekommen ist.

44 Um dieses unfassbare Geldvolumen aufzusaugen, findet die „Warenproduktion“ mittlerweile im virtuellen Raum statt, siehe z.B. der Hype um NFTs: https://de.wikipedia.org/wiki/Non-Fungible_Tokens.

45 Hier ein kurzer Blogpost über die berühmte Goldrubel-Verordnung vom 1.3.1950: https://bit.ly/38jp2E9. Das Thema ist Quelle für viele Mythen, beschäftigt aber auch Historiker, die in Russland leider oft zu Sensationslust neigen. Ausführlicher publizistischer Artikel zum Thema: http://www.specnaz.ru/articles/195/27/1743.htm.

46 Ich sag oft (halb) scherzhaft: Kommunisten sind eines der größten Hindernisse des Kommunismus.

47 Man darf auch nicht vergessen, dass vieles in den 20er und 30er Jahren ausprobiert wurde, das sich als schlicht nicht praktikabel herausstellte. Zahlreiche ideologische Vorstellungen scheiterten an der Realität.

49 Was seine Schattenseiten hatte, das muss man gar nicht idealisieren.

50 https://en.wikipedia.org/wiki/USSR_anti-religious_campaign_(1958–1964). Diese Kampagne unterschied sich deutlich von der in den 30ern, die recht chaotisch und widersprüchlich verlief: https://w.wiki/32L4. Erinnert sei auch daran, dass Stalin nach dem 2.WK einen Deal mit dem berühmten polnischen Kardinal Wyszyński hatte.

51 Fünfter Absatz von unten: „Diese Entwicklung […] trug unter den bäuerlichen Verhältnissen des Landes notwendig barbarische Züge.“