Das kapitalistische Produktionssystem ruiniert die Gesundheit und das Leben der werktätigen Bevölkerung.

Fritz Gött

Literaturhinweise

Unterteilt man die Bevölkerung in fünf Einkommensgruppen und vergleicht die Lebenserwartung, so zeigen sich krasse Unterschiede: Das obere Fünftel lebt im Schnitt zehn Jahre länger als das unterste Fünftel“, so dozierte der frisch gebackene SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach in der ‚Zeit’ (vom 3.Nov.2005/S.24). Auf den ‚Vorschlag’, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen reagierte er dann so: „’ Zum jetzigen Zeitpunkt übersteigt die Lebenserwartung der Einkommensschwachen die Grenze von 67 Jahren nur um wenige Jahre’, … Es sei kaum bekannt, dass in Deutschland einkommensstarke Männer im Durchschnitt 12 Jahre länger lebten als einkommensschwache. ’Insofern habe ich die Sorge, dass mit der Rente ab 67 für diese Einkommensgruppen der Rentenbezug im Durchschnitt um ein Drittel verringert, für einige sogar halbiert wird. Daher sehe ich noch Diskussionsbedarf.’“ (Tagesspiegel, 30.1.06, S. 4)

Der Mann gibt sich naiv: Das Kabinett der Großen Koalition beschloss die stufenförmige Anhebung des Renteneintrittsalters. Es will nicht diskutieren, sondern im Interesse der Kapitalistenklasse handeln. Die ‚taz’ könnte also mit ihrem Kommentar (2.Feb.2006, S.11) recht behalten: „Bei einer Rente mit 67 werden viele Arbeitnehmer ihren Ruhestand kaum noch erleben. Die Statistik über die Lebenserwartung täuscht, solange sie nur als Durchschnittswert erhoben wird. Tatsächlich stirbt das einkommensschwächste Viertel früher. Bei den Männern beträgt der Unterschied etwa 10 Jahre, bei den Frauen sind es fünf. Steigt das Rentenalter, werden die Armen noch weniger von den Beiträgen profitieren, die sie jahrzehntelang eingezahlt haben. Offiziell gilt die Rentenversicherung als Generationsvertrag: Die Jungen unterstützen die Alten. Doch diese Sicht ist geschönt. Tatsächlich alimentieren die Jungen fast nur die Rentner der Mittel- und Oberschicht. Die Rentenversicherung ist insgeheim ein Mittel, um die Unterschichten auszuplündern. Kühl wird mit ihrem Tod kalkuliert; erwünscht sind sie nur als Beitragszahler. Dieser Trend wird sich nun verstärken…“.

In der ‚Fachwissenschaftlichen Diskussion’ wurden Lauterbachs Thesen zur Lebenserwartung (und seine oft divergierenden Zahlen) übrigens zurückhaltend aufgenommen. Zur Kritik hieß es: Seine Datenbasis sei zu schmal (was wohl stimmte), seine Aussagen seien zu ‚zugespitzt’. Nun hat Rembrandt Scholz (et al) vom Max-Plank-Institut für Demografische Forschung in Rostock eigene Zahlen zur Lebenserwartung von Männern vorgelegt. Er konnte dabei auf das Zahlenmaterial des Forschungsdatenzentrums der Deutschen Rentenversicherung zurückgreifen, somit alle Männer in den Blick nehmen, die eine gesetzliche Rente beziehen. Seine Thesen sind zwar schwächer als die von Lauterbach, aber nicht weniger explosiv:

Armut verkürzt das Leben, allerdings nicht in so starkem Maß, wie Karl Lauterbach annimmt. Die Lebenserwartung eines Mannes mit niedriger Rente ist nach Scholz’ Studie knapp fünf Jahre geringer als die eines Mannes mit sehr hoher Rente. Anders ausgedrückt: Ein 65-Jähriger, der in seinem abgelaufenen Arbeitsleben wenig verdient und wenig in die Rentenkasse eingezahlt hat, lebt durchschnittlich noch 14 Jahre; ein Gleichaltriger mit ehemals hohem Einkommen und hoher Rente hat eine weitere Lebenserwartung von 19 Jahren. … Scholz und seine Kollegen konnten mit ihren Daten nach weiteren Unterschieden suchen. So stellten sie fest, dass Angestellte im Schnitt zwei Jahre länger leben als Arbeiter; auch derjenige, der privat krankenversichert ist, lebt statistisch fast drei Jahre länger. Überrascht waren die Wissenschaftler über eine Parallele: Zwischen ost- und westdeutschen Rentnern fanden sich nur sehr geringe Unterschiede – trotz sehr verschiedener Arbeitsbedingungen im ostdeutschen Realsozialismus und westdeutscher Marktwirtschaft. Auf die Sterblichkeit schien dies keinen Einfluss zu haben.“ (SZ, 12.5.2006, S.10)

Feststellungen ändern nichts an der Welt. Sagen wir es konkret: Die alte Volksweisheit ‚Weil Du arm bist, musst Du früher sterben’, hat einen harten Kern. Wer nicht früher ins Grab wanken will, muss sich schon im Klassenkampf engagieren. Der Sozialismus ist nicht nur historisch, sondern auch ganz pragmatisch die Alternative.

Tod und Krankheit sind nicht einfach Naturphänomene. Sie tragen auch (natürlich nicht nur) den Stempel gesellschaftlicher Realitäten. Für die Untersuchung gilt da das Wort des Sozialhygienikers Alfred Grotjahn: „Nicht nur entstehen viele Krankheiten primär aus sozialen Ursachen, sondern ungleich mehr werden sekundär durch begleitende soziale Nebenumstände in ihrem Verlaufe entweder günstig oder ungünstig entscheidend beeinflusst . Am zweckmäßigsten hält sich deshalb die ursächliche Betrachtung an folgendes Schema: 1. Die sozialen Verhältnisse schaffen oder begünstigen die Krankheitsanlage. 2. Die sozialen Verhältnisse sind die Träger der Krankheitsbedingungen. 3. Die sozialen Verhältnisse vermitteln die Krankheitserregung. 4. Die sozialen Verhältnisse beeinflussen den Krankheitsverlauf. Die Einwirkung der sozialen Verhältnisse ist wieder verschieden nach der Stabilität und Qualität der allgemeinen sozialen Lage. Letztere ist zu unterscheiden nach der Art der Ernährung, der Wohnung, der Kleidung, der Arbeit, des Lebensgenusses, der Kinderaufzuchtsbedingungen und der Volksbildung.“ (A. Grotjahn: Soziale Pathologie. Berlin: 1912/ 1923, Neube. Aufl., S.18)

Heute gibt es viele Statistiken zur Volksgesundheit, jedoch, wie die SZ (vom 30.Nov.05, S.10) am Beispiel der so genannten ‚Volkserkrankungen’ notierte, weniger objektivierte Daten. Auch der offizielle Krankenstand in Deutschland, oder die amtliche Unfallstatistik ist kein wirklicher Indikator für die Volksgesundheit, da, wie auch bürgerliche Kommentatoren eingestehen, viele Krankheiten von den Betroffenen selber aus Furcht vor Arbeitsplatzverlust verschleppt, heruntergespielt oder verschleiert werden. Dazu kommt die ‚Unlust’ der herrschenden Klasse die Verhältnisse transparent zu machen. Sorgfältige Recherchen für unseren Kampf (und die daraus abzuleitenden Forderungen) sind also angebracht. Ein Blick in die Arbeiten bürgerlicher Autoren kann da nicht schaden (siehe oben); die kritische Sichtung ihrer Werke aber auch nicht. Es gehört mit zu den Aufgaben der Kommunisten die statistische Spreu vom Weizen zu trennen und Tatsachen sprechen zu lassen. Uns fehlt dabei so etwas wie die aktuelle Neufassung der Untersuchung ‚Über die Lage der arbeitenden Klassen in Deutschland’, in der sich auch die gewandelte Gestalt der deutschen Gesellschaft nach dem Fall der Mauer wieder findet. Wer packt sie an?

Neue Literatur zur Sozial- und Arbeitsmedizin

Die Arbeitsbedingungen in Deutschland spielen eine gewichtige Rolle im Ursachengefüge der Krankheiten. So sieht es auch die I.G. Metall. Allerdings stellt sie in ihrer Aufklärungs-Kampagne ‚Gute Arbeit’ nur ‚ungute’ Arbeit für Gesundheitsrisiken in der Arbeits- und Lebenswelt an den Pranger. Als vollziehe sich die krankmachende Arbeit hier und heute nicht unter kapitalistischem Kommando und nach Profigesichtspunkten. Sicher: Arbeit kann krank machen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen auch immer. Krankheiten aber, die vermeidbar sind, aber der Profitproduktion und dem Herrschaftsinteresse des Kapitals geschuldet , sind ein Verbrechen an der Arbeiterklasse und am Volk. Das sollte man klar stellen und die Fakten gewichten. Hier macht eben Arbeit und Dasein unter kapitalistischen Bedingungen krank und nicht der ‚Stoffwechsel von Mensch und Natur’.

Trotz meiner Kritik an der IG-Metall-Kampagne zur Krankheitsprävention am Arbeitsplatz lohnt es, die Begleit-Materialien der Gewerkschaftsinitiative (bzw. des VSA-Verlags) zu studieren. Studieren, nicht einfach einzusehen. Man lernt viel über die blutigen Hände des Kapitals und die gesellschaftlichen Realitäten (auch wenn das keine Absicht der Gewerkschaftsführung war); man kann Arbeitshilfen zur Vorbeugung von Erkrankungen ziehen; kann argumentative Munition gegen das Profitsystem sammeln… Die kapitalistische Produktionsweise ist eben, wie Karl Marx zu Recht feststellte, „weit mehr als jede andere Produktionsweise, eine Vergeuderin von Menschen, von lebendiger Arbeit, eine Vergeuderin nicht nur von Fleisch und Blut, sondern auch von Nerven und Hirn“. (Das Kapital, Bd. III, S. 99, Dietz-Verl., Berlin: 1971) Beweisen wir es.

Unsicherheit und Veränderung gehören zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise. Jede Facette des gesellschaftlichen Seins kann dabei zum Katalysator einer individuellen Erkrankung werden. Kein Wunder, dass in Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation nun auch die Arbeitslosigkeit mit ihren sozialen Folgen zum Forschungsobjekt wird. Da liest man: „Die Erfahrung, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, kann dramatische gesundheitliche Folgen nach sich ziehen.“ Der Preis für die überfällige Herrschaft des Kapitals ist hoch.

Hatten wir in der AzD Nr. 64/Mai 1997, S.103, über den damaligen Stand linker und fortschrittlicher Veröffentlichungen zur Sozial- und Arbeitsmedizin berichtet, so können wir an dieser Stelle auf einige Neuerscheinungen verweisen:

  • Gine Elsner (Hrsg.): Leitfaden Arbeitsmedizin. Ein Handbuch für Betriebsräte, Personalräte und Gewerkschafter. Hamburg: VSA-Verl., (2. aktual. Aufl.), 1998

  • Ulrike Teske/Bernd Witte (Hrsg.): Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen. Hamburg: VSA-Verl., 2000

Band 1: Arbeitsbedingungen, -belastungen und Gesundheitsrisiken.

Band 2: Gesundheitliche Auswirkungen und Erkrankungsschwerpunkte.

Band 3: menschengerechte Arbeitsgestaltung – Bedingungen und Chancen.

  • K. Pickshaus/H.Schmitthenner/H.-J. Urban (Hrsg.): Arbeit ohne Ende. Neue Arbeitsverhältnisse und gewerkschaftliche Arbeitspolitik. Hamburg: VSA-Verl., 2001

  • K. Dörre/K. Pickshaus/R. Salm: Re-Taylorisierung. Arbeitspolitik contra Marktsteuerung. Hamburg: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2001

  • W. Hien/Ch. König/D.Milles/R. Spalek: Am Ende ein neuer Anfang? Arbeit, Gesundheit und Leben der Werftarbeiter des Bremer Vulkan. Hamburg: VSA-Verl., 2002

  • Juhani IImarinen/Jürgen Tempel: Arbeitsfähigkeit 2010. Was können wir tun, damit wir gesund bleiben? Hamburg: VSA-Verl., 2002

  • Jahrbuch für Kritische Medizin. 39 . Arbeit und Gesundheit. (Hrsg. M.Essers u.a.). Hamburg: Argument-Verl., 2003 . (Div. Autoren)

  • Jürgen Peters/Horst Schmitthenner (Hrsg.): gute arbeit … . Menschengerechte Arbeitsgestaltung als gewerkschaftliche Zukunftsaufgabe. Hamburg: VSA-Verl., 2003

  • IGM Projekt Gute Arbeit/Vorstand: Schwarzbuch. Krank durch Arbeit. Arbeitsbedingungen – Gesundheitsrisiken – Gegenwehr. Frankfurt/M.: Jan. 2005

  • Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. 16.Jg., Nr.63, Sept.2005 . darin: K. Dörre/T. Fuchs: Prekarität und soziale (Des-)Integration. (S.20-35); K. Michelsen/K. Mosebach: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Armut und zunehmende soziale Ausgrenzung verringern Teilhabe- und Verwirklichungschancen. (S.36-50); K. Priester/J. Reusch: Die Arbeitswelt von heute – Belastungswandel, gesundheitliche Folgen, Interventionsbedarf. (S.51-71)

  • Gehirn & Geist. Nr. 12/2006 . darin: Alois Wacker: Psyche im Abschwung. Arbeitslosigkeit und Stellenunsicherheit haben sich in Deutschland zu einem Massenphänomen entwickelt. Höchste Zeit, die seelischen Probleme der Betroffenen genauer unter die Lupe zu nehmen. (S. 64-69); Thomas Kieselbach: Job weg – und nun? (S. 70-71)

  • H.Berth, P.Förster. Y.Stöbel-Richter, F.Balk, E.Brähler: Arbeitslosigkeit und psychische Belastung. Ergebnisse einer Längsschnittstudie 1991 bis 2004. in: Zeitschrift für Medizinische Psychologie. Jg.15/ Nr.3, 2006, S.111-116