2. Kampf im Westen – Rücken frei für den Siedlungskrieg

Phase der „friedlichen“ Revisionspolitik

Die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands schien in den Anfangsjahren in erster Linie auf die Revision des Versailler Vertrages ausgerichtet zu sein. Die letzten Regierungen der Weimarer Republik konnten durch die Stresemannsche „Schaukelpolitik“ zwischen West und Ost einige Lockerungen des Vertrages erzielen, ohne allerdings die Grenzen zu verändern. Hitler und der NSDAP gelang es hingegen, innerhalb von 6 Jahren die Pariser Nachkriegsordnung grundlegend zu zerstören, und das nicht durch Krieg, sondern durch eine Mischung aus geschicktem Verhandeln, Erpressungen und dem Ausnutzen der Widersprüche zwischen England, Frankreich und der Sowjetunion. Die erste spektakuläre Entscheidung war der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund, dessen Satzung Teil des Versailler Vertrages war. Einen Erfolg erzielte Hitler mit dem deutsch-britischen Flottenabkommen vom 18. Juni 1935, das ein Verhältnis der Seestreitkräfte beider Länder von 35 zu 100 vorsah. Der Einmarsch der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland im März 1936 sowie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht brachen den Versailler Vertrag völlig offen.

Hitlers Planung ging auf. Das Empire fühlte sich der Nachkriegsordnung nicht mehr verpflichtet und damit stand Frankreich isoliert da. Englands „appeasement“- Politik stellte die Sicherung des Friedens in Europa über alles andere. Durch die Bedrohung des Kolonialreiches durch Japan im Fernen Osten und durch Aufstände im Nahen Osten hatte die britische Regierung alle Hände voll zu tun und fürchtete, ein Krieg in Europa würde das Ende des Empire bedeuten. Mit territorialen Zugeständnissen an Deutschland glaubte man das richtige Friedensmittel gefunden zu haben. Frankreich, ohne britische Unterstützung hilflos, schloß 1936 einen Bündnisvertrag mit der Sowjetunion, konnte dadurch die Nachkriegsordnung aber nicht retten.

Mit der Wiedereingliederung des Saarlandes per Volksentscheid verbuchten die Nazis den nächsten Erfolg und konnten sich trotz aller Proteste 1938 an die Einverleibung von Österreich wagen. Wieder griff Großbritannien nicht ein. Der Anschluß Österreichs begeisterte die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und Österreich. Schon 1918 hatten beide Parlamente die Vereinigung beschlossen. Die Siegermächte verboten daraufhin die Umsetzung des Beschlusses. Mit der Annexion Österreichs fiel wieder eine Säule des Versailler Vertrages.

Die Einverleibung des Sudetenlandes durch das Münchener Abkommen war der letzte Schritt der „friedlichen“ Revisionspolitik. Als Folge des Abkommens mehrten sich im englischen Königreich die Stimmen, die in dem Machtzuwachs Deutschlands eine größere Gefahr für das Empire sahen als in einem Krieg auf dem europäischen Kontinent. Trotzdem wurde die militärische Eroberung der „Resttschechei“ noch hingenommen.

In dieser Phase verschleierten die Nazis ihre außenpolitischen Ziele demagogisch. Hitler sprach nur vom Frieden und wiederholte, Deutschland stelle nun keine territorialen Forderungen mehr. In der deutschen Bevölkerung stieg sein Ansehen durch die außenpolitischen Erfolge, da alle vorigen Regierungen an der Revision Versailles‘ gescheitert waren. Die nationalsozialistische Terrorherrschaft dehnte sich auf immer größere Teile Europas aus. Für die Nationalsozialisten bildete die internationale Stärkung Deutschlands nur die Brücke für den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Die Tatsache, daß diese territorialen Gewinne ohne Krieg vonstatten gingen, verdankte Hitler dem Stillhalten Englands und Frankreichs. Die waghalsige Politik Hitlers, die bei militärischen Gegenmaßnahmen gescheitert wäre, setzte sich durch.
Der gescheiterte Deal mit dem Empire

Hitler hielt noch immer an Großbritannien als Wunschpartner fest. 1937 kam es zu einem Treffen zwischen Ribbentrop und Churchill. Churchill berichtete über Ribbentrops Vorschläge: Der „Kern seiner Ausführungen war, daß Deutschland die Freundschaft mit England anstrebe (…)- Es sei aber unerläßlich, daß England Deutschland in Osteuropa freie Hand einräume (…) Von der britischen Völkergemeinschaft und dem Empire verlangte man nur, daß sie sich nicht einmischten.“ [264] Der „Führer“ war sich allerdings nicht ganz sicher, ob England darauf wirklich eingehen würde. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Weizsäcker notierte zu Hitlers Überlegungen: „Augen stark auf Osten gerichtet. England wird voraussichtlich noch einer Demonstration unserer militärischen Gewalt bedürfen, ehe es nachgibt und uns den Rücken frei läßt nach Osten.“ [265] Neu war der Gedanke, das Empire durch militärische Gewalt zu dem „Kompromiß“ zu zwingen. In einer Besprechung mit der Führung der Wehrmacht am 5.11.1937 sprach Hitler deshalb zum ersten Mal von einem Krieg gegen beide europäischen Westmächte. [266]

Hitler hatte aber keine Kriegsziele im Westen. Er wollte weder ein vereinigtes Europa unter deutscher Herrschaft noch Elsaß-Lothringen annektieren. Im August 1939 äußerte Hitler wieder intern: „Alles was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet, wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, um dann nach seiner Niederlage mich mit versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden.“ [267]

Mit der Garantieerklärung an Polen stellten sich die Westmächte zum ersten Mal gegen die deutsche Expansion. Hitler, der glaubte, Polen „friedlich“ zum deutschen Vasallenstaat machen zu können, sah sich nun vor eine neue Situation gestellt. Jetzt mußte er sich tatsächlich mit Rußland verständigen, um den Rücken für den Schlag gegen den Westen frei zu haben. Durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939 gewannen beide Staaten Zeit. Der territoriale Kern des Vertrages war die Teilung Polens. Wie Jugoslawien, die Tschechoslowakei und Rumänien zimmerten die Siegermächte im Versailler Vertrag Polen aus Resten des deutschen, österreichischen und russischen Reichs zusammen, um dem deutschen Drang nach Osten Einhalt zu gebieten. Polen betrieb unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg aber nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen die Sowjetunion eine aggressive Expansionspolitik. Später arbeitete Polen mit Nazi- Deutschland zusammen, war aber nicht bereit, Danzig und den Korridor freizugeben. So hatten 1939 Deutschland und die SU ein Interesse daran, diese Stütze des Versailler Vertrages zu zerschlagen, und die Sowjetunion bekam ihre alten Gebiete bis zur Curzon-Linie wieder. Stalin war zu dem Pakt mit dem größten Feind bereit, da die Westmächte nicht auf sein Angebot zu einem kollektiven Sicherheitssystem gegen Deutschland eingingen. Deutschland vernichtete Polen als Staat und ging damit weit über die Revisionspolitik hinaus. Polen diente damit nicht nur als Aufmarschgebiet gegen die Sowjetunion, sondern war auch als wichtiges deutsches Siedlungsgebiet vorgesehen.

Mit der Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland wurde die Auseinandersetzung im Westen unvermeidlich. Der Sinn des Krieges im Westen war für Hitler, wie schon gesagt, Großbritannien zu zwingen, seine Bündnisbedingungen anzunehmen, und nicht, das Empire zu zerstören. Goebbels, der im Unterschied zu Hitler gerne das Ende des Empire erlebt hätte, notierte in sein Tagebuch den Unmut über diese Politik. Am 20.10.39 hieß es :“In Indien rumort es gegen England. Wir müssen versuchen, die ganze Welt gegen die feigen Londoner Kriegstreiber mobil zu machen.“ [268] Und über Hitlers Politik notierte er: „Unter der Bedingung, daß England ‘aus Europa heraus’ gehe und Deutschland seine ‘Kolonien abgerundet’ zurückerhalte, sei er sofort zum Frieden mit London bereit. Er wolle England gar nicht vernichten und auch sein Empire nicht zerstören.“ [269] In diesem Sinne richtete Hitler am 9. Juni 1940 einen „Friedensappell“ an Großbritannien. Die britische Regierung sagte aus den schon genannten Gründen ab. Goebbels notierte: „Der Führer will Englands Antwort im Augenblick noch nicht wahrhaben.“ [270] Goebbels sah im britischen Staat die Herrschaft der verhaßten „Plutokratie“, die für ihn den Hauptfeind darstellte anstelle des Bolschewismus. Am 29. Juni 1940 schrieb er: „Wir warten, warten. Wann endlich geht der Führer gegen England los?“ [271] Der „Führer“ sorgte durch seinen Befehl dafür, die deutschen Truppen vor Dünkirchen zu stoppen, so daß 370.000 britische Soldaten auf die Insel gebracht werden konnten und damit ein wichtiger Teil der britischen Armee gerettet wurde. Aber weder solche Geschenke, noch der deutsche Bombenterror gegen London und Coventry im November 1940 konnten Großbritannien zu dem Deal: Sicherung des Empire gegen „freie Hand im Osten“ bewegen. Zu bedrohlich war das nationalsozialistische Deutschland geworden.

Der deutsche Außenminister Ribbentrop, der wie das Auswärtige Amt eine andere Programmatik vertrat, versuchte währenddessen, seinen „Kontinentalblock“ gegen das Empire zu schmieden. Hitler ließ ihn dabei in dem Glauben gewähren, daß ein zusätzlicher Druck Großbritannien doch noch zum Einlenken zwingen würde. Am 22. Mai 1939 unterzeichneten Deutschland und Italien den „Stahlpakt“. Dieser Vertrag besiegelte die faschistische Waffenbrüderschaft und die Neuaufteilung Europas. Eine Bedrohung des gesamten britischen Königreiches erwuchs daraus allerdings noch nicht. Nach langen Verhandlungen trat Japan im September 1940 dem Dreimächtepakt bei. Ribbentrop versicherte Japan zum wiederholte Mal, daß Deutschland im Fernen Osten keine Interessen habe. Durch die deutschen Erfolge in Europa verlor Japan seine großen Bedenken gegen den deutsch- sowjetischen Nichtangriffspakt.

Gegen wen der Antikominternpakt wirklich gerichtet war, verkannten die damaligen Akteure nicht. Der amerikanische Botschafter in Tokio, Joseph C. Grew, schrieb zum Bündnis: „Der Antikommunismus ist lediglich das Panier, unter dem sich die ‘Habenichtse’ zusammenschließen. Die Bedrohung Englands ist sehr real und unmittelbar einleuchtend, bedenkt man, daß durch Japans Verbindung mit der Achse Berlin-Rom die ‘life-line’ des britischen Imperiums von der Nordsee durch das Mittelmeer bis jenseits Singapurs bedroht ist.“ [272] Auch der italienische Außenminister Ciao trug in sein Tagebuch ein, der Antikomintern-Pakt sei in Wirklichkeit „antibritisch“. [273]

Ribbentrop versuchte, die antibritische Front um die Sowjetunion zu erweitern. Das „weltpolitische Dreieck“ sollte sich in ein „weltpolitisches Viereck“ verwandeln. Der deutsche Außenminister umriß vor einem japanischen Gast seine Zielsetzung: „Bei der neuen Weltordnung würde Japan in Ostasien, Rußland in Asien, Deutschland und Italien in Europa zu bestimmen haben, und auch in Afrika würden ausschließlich Deutschland und Italien, vielleicht mit einigen anderen Interessenten die Vorherrschaft ausüben.“ [274] Auch Goebbels, der Ribbentrops Strategie nahe stand, sprach sich für ein Bündnis mit Rußland aus. Er schrieb am 28.9.40 in sein Tagebuch: „Jetzt müssen wir Rußland und die Türkei noch nach Berlin bringen. England muß von allen Seiten eingekreist werden. Die Lords sollen in ihrem eigenen Fett ersticken.“ [275] Ribbentrop bot deshalb in seinem Brief am 13. Oktober Stalin sowie Molotow während seines Berlinbesuches den Beitritt zur antibritische Allianz an. [276]

Die sowjetische Führung war sich jedoch im Klaren darüber, daß das nationalsozialistische Deutschland die Hauptgefahr darstellte und der Rest der deutschen Führung ganz andere Ziele verfolgte. Hitler blockierte Ribbentrops Politik nicht, um die sowjetische Führung von seinen wirklichen Zielen abzulenken. Bald beendete er jedoch die Bündnisbemühungen seines Außenministers, und der Traum vom Ende des Empire war ausgeräumt.
Kriegspolitik im Westen – Revision des Versailler Vertrages?

Betrachten wir wieder den deutschen Krieg im Westen. Nach der Niederlage Polens bereitete Deutschland alles zur Niederwerfung Frankreichs und zum militärischen Aufzwingen des deutschen Angebots an Großbritannien vor. Eine wichtige strategische und wehrwirtschaftliche Basis bildete dazu Skandinavien. Am 3. Oktober 1939 verfaßte Raeder die Denkschrift „Gewinnung von Stützpunkten in Norwegen“. Großadmiral Raeder vertrat die Auffassung, Norwegen zu besetzen und Flottenstützpunkte für den Krieg gegen Großbritannien zu errichten. [277] Angesicht der sich abzeichnenden Besetzung Narviks durch die Briten gab Hitler am 1. März 1940 die Weisung „Weserübung“, in der er die Besetzung Norwegens und Dänemarks befahl. „Hierdurch sollen englische Übergriffe nach Skandinavien und der Ostsee vorgebeugt, unsere Erzbasis in Schweden gesichert und für Kriegsmarine und Luftwaffe die Ausgangsstellung gegen Dänemark und England erweitert werden.“ [278] Weder Dänemark noch Norwegen gliederte die Besatzungsmacht an das deutsche Reich an.

Es folgte der schnelle Sieg über Frankreich. Hielt Hitler nun an seiner Programmatik, den Westen niederzuschlagen, um den Siedlungskrieg führen zu können fest, oder beseitigte er die letzten Reste der französischen Nachkriegsordnung? In Belgien annektierte Deutschland ein über 200 km2 großes Gebiet, das über die im Versailler Vertrag Belgien zugeschlagenen Gebiete hinausging. Der „Waffenstillstandsvertrag“ mit Frankreich sah da schon ganz anders aus. Die Wehrmacht besetzte Nordfrankreich. Aber statt mit Pauken und Trompeten die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens zu feiern, wurde überhaupt keine Grenzverschiebung vorgenommen. Das Vichy-Frankreich, das sich über den Rest des Landes erstreckte, blieb unabhängig und wurde nicht besetzt. Frankreich behielt sogar zum Entsetzen aller deutschen Kolonialpolitiker sein Kolonialreich, in dem sich weiterhin über 200.000 Mann starke Kolonialtruppen befanden. Auch die französische Flotte und Luftwaffe demobilisierte man lediglich. Die Nazis wollten ein Frankreich, das sich der deutschen Expansion nach Osten nicht in den Weg stellte und Deutschland die Herrschaft über Kontinentaleuropa überließ. Trotz der Möglichkeit dazu dachten sie nicht an die Schaffung eines deutschen Kolonialreiches in Afrika durch Aneignung des französischen Besitzes.

Erst als die alliierten Truppen 1942 in Algerien landeten und mit Vertretern von Vichy-Frankreich vereinbarten, daß die französischen Truppen keinen Widerstand leisten würden, okkupierten die deutschen Truppen ganz Frankreich, da die Alliierten Frankreichs Empire als Ausgangsbasis gegen Deutschland nutzten.

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