1. Einige Gedanken zur sozialen Dynamik des Krieges
Krieg warf im 20. Jahrhundert die soziale Frage auf. Dabei entwickelte der Krieg eine eigene soziale Dynamik. Keine Regierung konnte einen lang andauernden Krieg ohne die Unterstützung der Massen führen, seit in Europa spätestens seit der Jahrhundertwende überall Armeen auf Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht bestanden. Schon Lenin schrieb, daß durch den Krieg „alle politischen und sozialen Einrichtungen mit Feuer und Schwert einer Prüfung unterworfen werden“.
Die gesamte rechte Bewegung und vor allem die Nazis wurden durch die Jahre des 1. Weltkrieges geprägt. Die klassenübergreifende Volksgemeinschaft im Schützengraben, wo Arbeiter und Bürger in der gleichen Uniform nebeneinander lagen, wurde zum Idealbild der Gesellschaft erhoben. Der Krieg spielte in dieser „Frontsoldatenideologie“ eine zentrale Rolle, da nur in ihm das ganze Volk in gleichrangige Soldaten verwandelt würde. „Kriege sind für Hitler die Revolutionen gesunder Völker. Deshalb nennt er den Krieg ‘stärkste und klassischste Ausprägung des Lebens’.“ [172] Der Krieg war für Hitler nicht nur Mittel zur Durchsetzung des bäuerlichen Massenstaates, sondern Teil des Ziels selbst. Ludendorffs Buch „Der totale Krieg“ zeigt beispielhaft diese Vorstellung. Auch wenn Hitler Ludendorff schon mal als „Freimaurer“ bezeichnete, dürften die Thesen des Buches mit Hitlers Auffassungen übereinstimmen: „die Zeiten der Kabinettskriege (sind) vorbei, d. h. von Kriegen, die von der Regierung mit ihren Heeren geführt“ werden. [173] Seit dem 1. Weltkrieg sah Ludendorff die Zeit der „Welt- und Volkskriege“ gekommen, die nur noch als „totaler Krieg“ zu führen seien. Den berühmten Satz von Clausewitz, daß der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, drehten Männer wie Hitler und Ludendorff um: „Alle Theorien von Clausewitz sind über den Haufen zu werfen. Krieg und Politik dienen der Lebenserhaltung des Volkes, der Krieg ist aber die höchste Äußerung völkischen Lebenswillens. Darum hat die Politik der Kriegsführung zu dienen.“ [174] In der Friedenszeit hätte die Politik deshalb die Aufgabe, auf den Krieg vorzubereiten. Ludendorff formulierte im Gegensatz zu Hitler, der nach 1933 in der Öffentlichkeit vorsichtig war, offen das Kriegsprogramm. Der totale Krieg wäre die totale Mobilisierung des Volkes. Dazu müßte eine soziale Öffnung der Armee stattfinden, um diese im Volk zu verwurzeln. Armee, Wirtschaft und Volk müßten unter den Befehl eines „Feldherren“ gestellt werden, der sich nur von dem Gesamt-, nicht vom Einzelinteresse leiten ließe. So sah also die Volksgemeinschaft im Schützengraben in der militaristischen Welt Hitlers und Ludendorffs aus.
Der Krieg schuf die gesellschaftliche Situation, in der die nationalsozialistischen Ziele umgesetzt werden konnten, die zuvor aus bündnispolitischen Gründen auf die lange Bank geschoben wurden. Der Krieg war z. B. für Goebbels das Mittel, durch den Sieg über die anderen Völker die eigene Gesellschaft zu revolutionieren. Er bezeichnete ihn deshalb als „Klassenkampf der Völker“. Am Vorabend des 2. Weltkrieges schrieb er, daß „die Auseinandersetzungen, die heute Europa durchzittern, (…) vielmehr in ihrem Wesen die gleichen geblieben sind, die ehedem im Rahmen unseres Volkes und heute noch im Rahmen vieler anderer Völker ausgetragen werden (…) Denn das, was sich augenblicklich in Europa abspielt, ist tatsächlich eine Art von Völkerklassenkampf, und dieser Völkerklassenkampf findet seine eigentliche Ursache in der Tatsache, daß die einen Nationen augenblicklich alles besitzen, während die anderen nichts eigen nennen können.“ [175]
In der Realität brachte der Krieg andere soziale Veränderungen mit sich, wie die folgenden Kapitel zeigen. Zum Teil waren die Veränderungen Nebenprodukte des Krieges, die die Machthaber nicht beabsichtigten. Die soziale Dynamik des Krieges entwickelte sich nicht erst 1939, sondern schon mit den Kriegsvorbereitungen, die bekanntlich 1933 begannen. Einige seien hier benannt: Durch die Aufrüstung brauchte die Industrie immer mehr Arbeitskräfte. Landarbeiter, ausländische Arbeiter, aber auch immer mehr Frauen strömten in die Fabriken. Für alle drei Gruppen hatten die NS-Ideologen eigentlich andere Pläne. Die Millionenmasse der Industriearbeiter, vor allem in der Rüstungsindustrie, stieg zum wichtigsten Faktor der politischen Stabilität auf. Die Gewinnung der Arbeiter wurde wichtiger als die Befriedigung des Mittelstandes, der für Sozialpolitik viel geringere Spielräume als die Großindustrie hatte. Die soziale Öffnung der Armee, besonders des Offizierskorps, wurde unausweichlich. Mit der unbeliebten Junkerarmee konnte man langfristig keinen Krieg führen. Durch die Modernisierung der Armee wie Einführung moderner Panzertechnik und größere Bedeutung der Luftwaffe wurde Fachwissen wichtiger als Titel und Herkunft. In den modernen Waffengattungen reichten weder die oft traditionellen Kriegsvorstellungen der Junker noch die ihrer ungebildeten Landarbeiter aus. Die Modernisierung der Armee veränderte ihr soziales Antlitz. Auch in der Großindustrie mußte der Staat stark genug sein, um die kapitalistischen Einzelinteressen im Sinne der Kriegsführung zurückzudrängen.
2. Wendepunkt : Die Entmachtung der Schwerindustrie
„Und es darf keinen Zweifel geben: Entweder die sogenannte freie Wirtschaft ist fähig, diese Probleme zu lösen, oder sie ist nicht fähig, als freie Wirtschaft weiterzubestehen.“ (Hitler anläßlich der Eröffnung der Internationalen Automobilausstellung 1937) [176]
Aufstieg der IG-Farben
1936 kam es zu einer ersten Veränderung im Verhältnis zwischen Großindustrie und NSDAP. Mit dem Forcieren der Aufrüstung wurde der Mangel an Rohstoffen immer akuter. Um trotzdem die Kriegsvorbereitungen im gleichen Tempo voranzutreiben, versuchte man zum einen, den Balkan als ökonomische Interessensphäre zu erschließen, und zum anderen, die fehlenden Waren im Inland zu produzieren. Die große Mehrheit der Industriellen hatte aber weder an der synthetischen Herstellung von Kautschuk und Benzin noch an der Erschließung der deutschen Erzvorkommen Interesse, da diese Projekte unrentabel waren und die Kosten weit über den Weltmarktpreisen lagen. Hitler zog aus dem 1. Weltkrieg die Lehre, nie wieder von ausländischen Lieferungen abhängig zu sein, und wollte deshalb die Autarkie herstellen, ob es den Industriellen nun paßte oder nicht.
Schließlich fand sich die IG-Farben, um die synthetische Produktion von Kautschuk und Benzin ins Leben zu rufen. Die IG-Farben war einer der Konzerne gewesen, die am Ende der Weimarer Republik noch auf die Präsidialdiktatur anstelle auf Hitlers Machtantritt setzten. Nun fanden NS-Regime und der Chemiekonzern zusammen und die IG-Farben stieg bald zu einem der mächtigsten Konzerne in Deutschland auf.
Schacht trat ab 1935 für eine „Rüstungspause“ ein, um durch mehr Warenexport Devisen zu beschaffen und die Währung zu stabilisieren. Das Tempo der Aufrüstung heizte die Inflation nämlich mächtig an. Außerdem weigerte er sich, wie große Teile der Schwerindustrie, den Plänen der synthetischen Treibstofferzeugung zuzustimmen und forderte eine „realistische Wirtschaftspolitik“. Schacht war keineswegs gegen die Aufrüstung und gegen den Krieg. Er war aber der Meinung, die Fortsetzung der bisherigen Wirtschaftspolitik würde in einer Krise enden.
Die IG-Farben wurde durch die neue Zusammenarbeit mit dem Parteiapparat zum Anhänger einer beschleunigten Aufrüstung und stellte nun ihre besten Kräfte für die Planung des Krieges zur Verfügung. Auf Grundlage des IG-Farben-Materials stellte Hitler 1936 seine 4-Jahresplan-Denkschrift zusammen. Innerhalb von 4 Jahren sollte Deutschland durch diesen Wirtschaftsplan für den Krieg einsatzbereit sein. IG-Farben-Direktor Karl Krausch wurde neben Göring zum mächtigsten Mann der Behörde. [177] Er schlug Hitler in seiner 4-Jahresplan-Denkschrift vor, „eine wehrwirtschaftliche Neuorganisation zu schaffen, die den letzten Mann und die letzte Frau, die letzte Produktionseinrichtung und Maschine sowie den letzten Rohstoff der Erzeugung der kriegswichtigen Produktion zuführt und alle Arbeitskräfte, Produktionseinrichtungen und Rohstoffe in einen straff militärisch geführten wirtschaftlichen Organismus eingliedert.“ [178] In diesem Zusammenhang forderte Krausch die „Blitzkriegsstrategie“ als konzeptionelles Erfordernis, da Deutschland wegen der knappen Ressourcen keinen langen Krieg führen könne. Auch Göring sah den 4-Jahresplan nicht als planwirtschaftliches Element in der Wirtschaft, sondern als Kriegsvorbereitung. Für ihn war der 4-Jahresplan „letzten Endes nichts anderes, als die höchste und äußerste Zusammenballung und Zusammenfassung all der wirtschaftlichen Kräfte, um die Rüstung des Reiches zu kräftigen und auszugestalten.“ [179]
Um diesem Anliegen näher zu kommen, bildete er 1936 den „Gutachterausschuß zur Rohstoff- und Devisenlage“, dem Krupp, Thyssen, Flick, Schacht, Vögel, Blessing, Pleiger usw. beisaßen. Das „Amt für deutsche Roh- und Werkstoffe“ war hingegen zu über 80 % mit Mitarbeitern der IG-Farben besetzt. [180] Der Aufstieg der IG-Farben zeigte sich im Zusammenhang mit dem 4-Jahresplan unaufhaltsam. Albert Pietzsch aus dem Umfeld der IG-Farben von den Münchner Elektro-Chemischen Werken wurde Leiter der Reichswirtschaftskammer. Der von der Schwerindustrie dominierte „Generalrat der deutschen Wirtschaft“ wurde umgebildet und der 4-Jahresplanbehörde untergeordnet. [181] Fast alle staatlichen Gremien, in denen Industrielle saßen, waren von der IG-Farben dominiert. Auch auf wirtschaftlicher Ebene konnte der Konzern seine Stellung ausbauen. 1939 arbeiteten bei der IG-Farben 25 % der Beschäftigten der gesamten deutschen Chemieindustrie, sie tätigte 40 % der Investitionen, hatte 33 % des Kapitals und 66 % des Exports der Chemieindustrie. [182]
Das vorläufige Bündnis zwischen Kapital und Nationalsozialismus bestand nach dem Beginn des 4-Jahresplanes in erster Linie zwischen IG-Farben und NSDAP. Die Schwerindustrie trat in den Hintergrund. Die ungleichen Partner hatten aus unterschiedlichen Gründen zusammengefunden. Hitler brauchte die IG-Farben, um die wirtschaftlichen Ressourcen für einen langen Siedlungskrieg zu haben. Der Konzern sah durch die Zusammenarbeit mit den Nazis die Chance, neue Produktionszweige auf Staatskosten zu erschließen und durch den Krieg riesigen Gewinn zu machen. Langfristig verfolgten Krausch und Hitler völlig unterschiedliche Ziele. Auch die Vertreter der IG-Farben konnten nur solange in staatlichen Positionen arbeiten, wie es im Interesse der Ziele der Nazis lag.
Die „Reichswerke“ und der Widerstand der Schwerindustrie
Hjalmar Schacht, der den Aufstieg der IG-Farben mißtrauisch verfolgte und durch die 4- Jahresplanbehörde seine Macht als Wirtschaftsminister beschnitten sah, wurde immer unzufriedener mit der Entwicklung. Zum Bruch mit Hitler sollte es durch den Aufbau der Reichswerke Hermann Göring kommen. In Salzgitter wurden die Göring-Werke gegründet, um die dortigen Erzvorkommen zu erschließen. Die Schwerindustrie stellte sich gegen dieses unprofitable Vorhaben. Die Unternehmer befürchteten Absatzschwierigkeiten des neu gewonnenen Erzes nach Abflachen des Rüstungsbooms. Außerdem war der Import aus dem Ausland sowieso um ein Vielfaches billiger. Schacht wollte den Widerstand der Schwerindustrie organisieren und war überzeugt, “ daß sein Einspruch ein solches Projekt (…) zu Fall“ bringen könnte. [183] Pleiger, Chef der Reichswerke, beschwerte sich darauf über die „Sabotage“ der „Wirtschaftsgruppe der eisenschaffenden Industrien“. [184] Aller Widerstand nutzte nichts. Die Erzlagerstätten der anliegenden Unternehmen enteignete der Staat, zahlte allerdings Entschädigung. [185]
Im Zuge dieser Kämpfe trat Schacht im November 1937 zurück und räumte 1939 auch seinen Posten als Reichsbankpräsident. Auch wenn der Vertreter der Banken noch bis 1943 Reichsminister ohne Geschäftsbereich blieb, hatte der einst so mächtige Mann seinen Einfluß gänzlich verloren. Laut SS-Ideologe Ohlendorf galt er ab 1938 intern als Parteifeind. Im Zusammenhang mit dem Aufstand am 20.Juni 1944 wurde er verhaftet und ins KZ Ravensbrück gebracht. Auch Fritz Thyssen traf ein ähnliches Schicksal wie Schacht. 1938 emigrierte er aus Deutschland, da er im „Dritten Reich“ nicht den Staat sah, den er vor Augen gehabt hatte, als er vor 1933 Millionen an die NSDAP spendete. Nach seiner Verhaftung 1941 wurde auch er in einem Konzentrationslager interniert.
Schacht schrieb nach dem Krieg voller Verbitterung über Göring: „Eines seiner tollsten Stücke war die Errichtung der Hermann-Göring-Werke (…) Jedem Laien mußte es einleuchten, wieviel kostspieliger die Verarbeitung eines höchstens 30%igen Erzes gegenüber einem 45%igen sein muß (…) Dieser Mehraufwand blieb bei Göring ohne Eindruck.“ [186] Der Staat hatte bewiesen, auch gegen die Profitinteressen des Kapitals handeln zu können. Schacht und die Schwerindustrie gaben klein bei. Die Reichswerke wurden zum größten schwerindustriellen Konzern in Europa. 1942 lieferte die „Reichswerke AG“ 43 % der deutschen Eisenerzproduktion und beschäftigte über 600.000 Arbeiter. [187] Mit einem Nominalkapital von 2,8 Milliarden Reichsmark stand sie an der Spitze aller deutschen Konzerne. [188] Über 70 % der Aktien waren in Händen des Staates.
Damit war eine neue Politik eingeleitet. Staatskonzerne reprivatisierte man nicht mehr, sondern schuf mächtige Aktiengesellschaften mit staatlicher Mehrheit. Die Schwerindustrie an Ruhr und Rhein verlor ein ganzes Stück an Bedeutung. Der Staat hatte die Abhängigkeit von ihr beseitigt. Die Nazis führten ihren ehemaligen Gönnern die Macht des Staates vor Augen. Schacht hatte mit seinem Widerstand gegen die Göring-Werke die Machtfrage gestellt und verloren. Da, wo die Unternehmer nicht im Interesse der kleinbürgerlichen Massenbewegung handelten, wurde Zwang angewandt oder der Staat übernahm die Aufgaben. Die Nazis hatten sich von ihren Bündnispartnern emanzipiert.
3. Der Angriff auf die Junker
„Wir haben die linken Klassenkämpfer liquidiert, aber leider haben wir dabei vergessen, auch den Schlag gegen rechts zu führen. Das ist unsere große Unterlassungssünde.“ [189] (Hitler am 24. Februar 1945)
Die Nazifizierung der Wehrmacht
Wie stand es nach 1933 mit der politischen Stellung der von Darre und Hitler so gehaßten preußischen Elite? Viele Positionen im Staatsapparat und in der Landwirtschaft büßten sie gleich 1933 ein. Die letzte Bastion, die ihnen blieb, war die Reichswehr. Die Generalität hatte anfangs große Freiräume bei der Führung der Armee. Hitlers außenpolitisches Ziel, den Versailler Vertrag zu sprengen und aufzurüsten, lag allein schon aus beruflichen Gründen im Interesse der Soldaten. Reichswehrminister von Blomberg, der ab 1935 Oberbefehlshaber der in „Wehrmacht“ umbenannten Armee war, integrierte das Heer in den NS-Staat. Nach dem 30. Januar erklärte Blomberg: „Jetzt ist das Unpolitische vorbei, und es bleibt nur eins: der nationalen Bewegung mit Hingabe zu dienen.“ [190] Schon am 28. Februar 1934 erließ Blomberg für die Wehrmacht einen „Arierparagraphen“, ohne daß Hitler es bereits verlangt hätte. [191] Wegen seiner Anbiederung an den nationalsozialistischen Staat erhielt von Blomberg den Spitznamen „Gummilöwe“ und „Hitlerjunge Quex“. Als Ausdruck der Anerkennung der starken Stellung der Armee formulierte Hitler 1934 die „Zwei-Säulen-Theorie“: „Die Staatsführung (…) wird von zwei Säulen getragen: politisch von der in der nationalsozialistischen Bewegung organisierten Volksgemeinschaft, militärisch von der Wehrmacht.“ [192] Darüber hinaus erklärte er die NSDAP zum „alleinigen politischen Willensträger der Nation“ und die Wehrmacht zum einzigen „Waffenträger“. Damit erweckte er den Eindruck, daß die Armee als eigenständiger Machtfaktor bestehen bleiben sollte und nicht unter das Kommando der Partei gestellt würde. Zudem war die „Zwei-Säulen-Theorie“ eine Bestätigung, keine SA- oder SS-Kaderarmee neben der Wehrmacht aufstellen zu wollen. Die Generäle nahmen Hitler zunächst seinen Kniefall ab.
Am 2.8.1934 starb der prominenteste Junkervertreter Hindenburg. Die NSDAP vereinigte das Amt des Reichspräsidenten und Reichskanzlers in einer Person. Der Oberbefehl über die Streitkräfte blieb trotzdem weiter dem Reichskriegsminister von Blomberg vorbehalten. Die Nazis wagten also noch nicht, die preußische Elite anzugreifen. Die Nazifizierung der Armee schritt dennoch weiter voran. Blomberg ließ am 2.8.34 ohne gesetzliche Grundlage die Wehrmacht auf Hitler vereidigen. Mit diesem Eid hatten sich die deutschen Soldaten dem Nationalsozialismus und vor allem dem Führerstaat zu unterwerfen.
Widerspruch meldete die Armeeführung aus ganz anderen Gründen an. Der Nichtangriffspakt mit Polen 1934 paßte den adligen Generälen gar nicht. Durch die Gründung des ihnen verhaßten Staates und durch die Annexion von Schlesien hatten sie nach dem 1. Weltkrieg viele Rittergüter verloren. Das Junkertum war schon in der Weimarer Republik am entschiedensten für die Zerschlagung Polens eingetreten. [193] Der Einzige, der taktische Bedenken gegen Hitlers offensive Außenpolitik gegen den Westen hegte, war Generalstabschef Beck. Er äußerte schon im Mai 1934 Kritik an der Aufstellung eines 300.000-Mann-Heeres. Dies könnte in internationaler Hinsicht „tatsächlich der Tropfen sein, der das Faß zum Überlaufen bringt.“ [194]
Die starke, unabhängige Stellung konnte die Wehrmachtsführung bis 1938 behaupten. Die sogenannte Blomberg-Fritsch-Krise brachte eine entscheidende Wende. Um diese Krise wurden in der Nachkriegszeit verschiedene Legenden gesponnen. Von Blomberg verwickelte sich in einen Heiratsskandal. Seine Frau, Luise Gruhun, war bei der Polizei wegen Sexfotos aktenkundig und kam nicht aus den gehobenen Kreisen. Dieser Skandal war Anlaß für die Entlassung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht. In der Bundesrepublik entwarfen Historiker nach dem Krieg die Legende, der Heiratsskandal sei von Göring und Himmler inszeniert worden, um Blomberg und Fritsch als Gegner der expansiven Außenpolitik loszuwerden. Die beiden Journalisten Janßen und Tobias widerlegten dieses Märchen und setzten sich in der neueren Geschichtsforschung mit ihrer Darstellung durch. Für Hitler gab es überhaupt keinen Grund, sich von seinen Schützlingen zu trennen. Mit der aggressiven Außenpolitik waren sowohl Fritsch als auch von Blomberg einverstanden. Zum Beispiel verfaßte Blomberg auf Wunsch Hitlers 1937 „Weisungen für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht“, die einen „Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei“ [195] vorsahen. Fritsch legte in einem Rundschreiben an alle Kommandierenden Generäle vom 19. August 1935 dar: „Nach meiner festen Überzeugung ist Deutschlands Zukunft auf Gedeih und Verderb mit dem Nationalsozialismus fest verbunden. Wer schädigend gegen den nationalsozialistischen Staat handelt, ist ein Verbrecher.“ [196] Hitler mußte sich auf Druck der Generalität von seinem „Hitlerjungen Quex“ trennen, weil sie durch Blombergs Heirat ihren Ehren- und Heiratskodex verletzt sah. So notierte auch Goebbels in sein Tagebuch: „Die Helldorf bringt mir den Akt, Frau Generalfeldmarschall Blomberg. Die Haare stehen einem zu Berge (…) Die schwerste Krise des Regimes seit der Röhm-Affäre. Ich bin ganz zerschmettert. Der Führer sieht aus wie eine Leiche.“ [197]
Auch wenn Hitler die Affäre nicht inszenierte und über den Skandal entsetzt war, stand er doch am Ende als Gewinner da. Den Oberbefehl über die Wehrmacht bekam er jetzt auch faktisch in die Hand und hatte den Freiraum der Armee enorm eingeschränkt. Der Ausgang der Blomberg-Fritsch-Krise war der erste große Sieg der nationalsozialistischen Massenbewegung über die alte aristokratische Elite.
Die Wehrmacht und die Aggression
Die Führung der Wehrmacht billigte aus ihrer alten wilhelminischen Tradition heraus grundsätzlich eine aggressive Außenpolitik und nahm den Krieg als Mittel zur Durchsetzung „deutscher Interessen“ billigend in Kauf. Als Hitler 1938 von der „friedlichen“ Sprengung zur militärischen Lösung überging, konnte er sich der Unterstützung der Mehrheit der Armee sicher sein. Widerstand brachte dieser Politik nur ein kleiner Kreis um Beck entgegen, der ein Angreifen der Westmächte und eine verheerende Niederlage für Deutschland befürchtete. Beck verfaßte am 16. Juni 1938 eine Denkschrift, die vor dem Angriff auf die Tschechoslowakei warnte. Ein Überfall würde in einer allgemeinen Katastrophe enden, da es zum „sofortigen Eingreifen Frankreichs und damit auch Englands gegen uns führen würde (…)“. [198] Zusammen mit von Witzenleben, Befehlshaber des Berliner Wehrkreises (3), Generalleutnant Carl Heinrich von Stülpnagel und einigen anderen Militärs aus der zweiten Reihe plante Beck für den Fall des Angriffs einen Staatsstreich. Das Münchener Abkommen machte diese Aktion aber zunichte, da nun der Anlaß zum Losschlagen fehlte. Danach zerfiel die Opposition, da Hitler in der Wehrmacht durch die außenpolitischen Erfolge große Prestigegewinne erzielte. Beck trat nun als Generalstabschef zurück.
Beim Überfall auf Polen starteten die Nazis die Aggression mit Zustimmung der gesamten Wehrmachtsführung. [199] Mit der Zerschlagung des verhaßten Staates des Versailler Vertrages war die Armee einverstanden. Bei der Planung des Überfalls im Westen hegten die Generäle hingegen Bedenken. Nicht, daß sie gegen einen Angriff auf den alten Erzfeind Frankreich gewesen wären. Sie hielten Hitlers Pläne für zu „kühn“ und glaubten nicht an einen schnellen Sieg. Ende 1939 vertrat das OKH die Auffassung, “ im Westen noch auf Jahre hinaus den Krieg nur verteidigungsweise führen zu können“ [200]. Hitler wandte sich daraufhin in einer Denkschrift am 9. Oktober gegen die Bedenken des OKH und bekräftigte die Absicht, noch im Herbst im Westen anzugreifen. Nachdem der „Führer“ ein Machtwort gesprochen hatte, verstummten die Zweifel, und die Aggression wurde weiter vorbereitet.
Beck versuchte unterdessen weiter, in der Wehrmacht eine Opposition zu sammeln. Becks Nachfolger Halder ließ sich von der Notwendigkeit eines Staatsstreiches nicht überzeugen. Halder wollte sich nicht zu einem neuen „Kapp-Putsch“ drängen lassen. „Nach seiner Einschätzung war keine breite Basis für ein Losschlagen vorhanden, da die Truppe nach wie vor an den ‘Führer’ glaube.“ [201] In dieser Äußerung spiegelte sich das Dilemma des militärischen Widerstands wieder. Ein Staatsstreich der Militärs hätte in der Bevölkerung keine Basis gefunden. Die alte aristokratische Elite war bei den breiten Massen nicht gerade beliebt. Die Einzigen, die noch ein gewisser Mythos umgab, waren Hindenburg und Ludendorff.
Nach der verheerenden Niederlage Frankreichs war Hitler endgültig als der „größte deutsche Feldherr“ bei den Soldaten etabliert. Das „Unternehmen Barbarossa“, der „Kommissarbefehl“ und damit der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurde von allen führenden Generälen gebilligt. Erst am 20. Juni 1944 meldete sich der Widerstand zurück.
Von der Junker- zur Volksarmee
Nachdem der Staatsapparat 1933 für die kleinbürgerliche Elite geöffnet war, kam mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Armee an die Reihe. Die überwiegend adeligen Offiziere hatten im Kaiserreich und der Weimarer Republik ausgeklügelte Verordnungen geschaffen, um das Offizierskorps ihrer Schicht vorzubehalten. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1936 wurden Forderungen nach der sozialen Öffnung der Armee laut. Nun strömten Arbeiter und Leute aus der einfachen Bevölkerung in die Armee, die vorher nur vom Berufssoldatentum geprägt war. Die Nazis wollten im Sinne ihres Massenstaates die Armee in eine nationalsozialistische Volksarmee umwandeln.
Im diesem Kontext sprach auch der Reichskriegsminister Blomberg 1937: “ Im 20. Jahrhundert wird jedem Volksgenossen (…) die Offizierslaufbahn erschlossen (…) Ich erblicke in der schrittweisen Durchführung des Leistungsprinzips ohne Rücksicht auf Herkunft, Stand und Geldbeutel des Vaters eine wichtige Forderung des neuen deutschen Sozialismus.“ [202] Doch die soziale Öffnung des Offizierskorps und Kaders der Wehrmacht ließ zunächst auf sich warten. Hitler wandte sich in seinen „Tischgesprächen“ mehrfach gegen Heiratsordnungen, Moralvorstellungen und mangelnde Aufstiegschancen in der Wehrmacht. [203]“Neben unerhört Gutem war in der deutschen Armee unerhört viel Veraltetes. Daraus ist die Sozialdemokratie geboren worden, was nie geschehen wäre, wenn nicht Heer und Marine alles getan hätten, um den Arbeiter dem Volk zu entfernen. [204] Um „den Arbeiter“ in die „Volksgemeinschaft“ wieder zu reintegrieren, wollten die Nazis auch ihm Aufstiegschancen in der Armee bieten.
Auch aus innenpolitischen Gründen mußte die NSDAP die Armee umgestalten. Auch wenn es bei der Außenpolitik nicht viele Konflikte gab, paßte den Nazis das überwiegend preußisch-monarchistische Gedankengut der Generalität nicht. So schrieb Goebbels z. B. am 28. Oktober 1937 in sein Tagebuch: „Die Wehrmacht wird ein Staat im Staate. Das darf nicht sein. Die Generalität hat politisch nichts zugelernt und wird auch nie etwas hinzulernen.“ Und noch einmal am 2. November 1937: „In der Wehrmacht sind immer noch monarchistische Tendenzen bemerkbar. Der Führer ist wütend darüber (…) Sie wollen einen Staat im Staate. Und sind schon weit damit gekommen.“ [205] Der durchschlagende Angriff auf die Junkerarmee ließ trotzdem bis zum 2. Weltkrieg auf sich warten. Noch trauten sich die Nazis nicht. Alle Mechanismen und Schutzregelungen, die die Dominanz der ostelbischen Junker und ihrer Söhne seit über 100 Jahren sicherten, blieben bis zum 2. Weltkrieg erhalten: Die Heiratsordnung der Offiziere erlaubte die Ehe erst ab 27 Jahren, und die Frau mußte aus einer wohlhabenden Familie kommen. Die Beförderung wurde nicht nach Leistung, sondern nach dem Dienstalter vollzogen. Es gab einen richterlichen Ehrenkodex und psychologische Tests, die die Instrumente des Militärs zur Sicherung ihre Vormachtstellung waren. [206]
Durch den Zweifrontenkrieg brauchte man eine riesige Armee und mußte die hohen Verluste an der „Ostfront“ ersetzen können. In dieser Situation konnte Hitler die Umwandlung der Wehrmacht in eine Volksarmee durchführen. Der Umfang des aktiven Offizierskorps stieg innerhalb nur weniger Jahre von 3.852 (1935) auf 42.709 (1943). [207] Die Zahl der Reserveoffiziere im Apparat der Wehrmacht stieg von ca. 50.000 (1936) auf über 250.000 (1943). Gegen den Willen vieler Generäle wurde das Offizierskorps der Wehrmacht nun geöffnet. Ab 1941 wurden die psychologischen Tests und die reaktionäre Heirats- und Familienordnung für die Offiziere völlig abgeschafft. 1942 konnte die Beförderung nach Leistung in den meisten Heeresteilen durchgesetzt werden. Die soziale Zusammensetzung der Wehrmacht änderte sich schlagartig: „Ließen sich noch 62,9 % der Offiziersanwärter der Jahre 1928/1930 den sozial gehobenen Schichten zuordnen, während nur 36 % dem mittleren Bürgertum und 0,4 % den Unterschichten entstammten, so hatte sich Ende 1942 das Verhältnis radikal verändert: Nur noch 21 % ließen sich jetzt der oberen Kategorie zuordnen, während 51 % der mittleren und 28 % der unteren entstammten.“ Der Anteil der Offiziersbewerber aus dem Stadt- und Landproletariat stieg von 0 % (1936) auf 9 % bis Ende 1942. [208]
Hitler begrüßte es, daß „diese Wehrmacht von Monat zu Monat nationalsozialistischer wird (…) wie alle Vorrechte, Klassenvorteile usw. immer mehr beseitigt werden.“ [209] Am 30.9.1942 verkündet er in einer Rede stolz: „wenn sie die Beförderung unserer jungen Offiziere sehen, hier beginnt der Einbruch der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft in vollem Umfang. Es gibt keine Vorrechte der Geburtsurkunden (…) Es ist wirklich eine alte Welt zum Einsturz gebracht worden.“ [210] Die alte Elite war damit weitgehend entmachtet. Hitler revidierte jetzt auch die „Zwei-Säulen-Theorie“. In Wahrheit sei die Wehrmacht, „was 1934 als Parole noch unverstanden geblieben wäre, (…) Funktionsträgerin der Partei“ [211] und stehe nicht als Säule neben ihr. Damit waren die neu geschaffenen Machtverhältnisse auf den Punkt gebracht.
Die Einführung der „NS-Führungsoffiziere“ beschnitt weiter die Macht der Generalität. Die NSFO sollten „das Einvernehmen mit der NSDAP als Trägerin des politischen Willens herstellen“. Die NSFO unterstanden dem jeweiligen Truppenbefehlshaber, ihre Auswahl wurde aber in Zusammenarbeit mit dem Leiter der Reichskanzlei Martin Bormann getroffen. [212] Hitler, der immer Stalins Armeesäuberungen bewunderte, scheint sich diese Regelung vom sowjetischen Kommissarprinzip abgeguckt zu haben.
Obwohl sich die soziale Zusammensetzung der Armee änderte, blieb die Spitze der Wehrmacht, wenn auch der Partei untergeordnet, noch in den Händen der alten Elite. Hitler stellte deshalb rückblickend unzufrieden fest: „In Ermangelung der Elite, wie sie uns vorschwebte, mußten wir uns mit dem vorhandenen Menschenmaterial begnügen. Das Ergebnis sieht danach aus! Dadurch, daß die geistige Konzeption mit der praktisch möglichen Verwirklichung nicht übereinstimmte, wurde aus der Kriegspolitik eines revolutionären Staates, wie das Dritte Reich, notwendigerweise eine Politik reaktionärer Spießbürger. Unsere Generäle und unsere Diplomaten sind mit wenigen Ausnahmen Männer von gestern, die den Krieg ebenso wie die Politik einer überlebten Zeit führen.“ [213]
Die radikalste soziale Veränderung, die der Nationalsozialismus hervorbrachte, war die Entmachtung der Junker. Vor 1933 dominierte die preußische Elite noch den Staatsapparat und konnte ihn immer wieder für ihre Belange einsetzen. Damit war es nach der Machtübernahme der NSDAP vorbei. Mit der sozialen Öffnung der Armee verlor das Junkertum die letzte Bastion im Staatsapparat und so auch das letzte Stück politischer Macht. Wie auch die Auflösung der Fideikommisse im Jahr der Blomberg-Fritsch-Krise zeigte, war die NSDAP stark genug, sich gegen ihren alten Bündnispartner zu richten. Mit dem Ende der Osthilfe und des Fideikommis war auch der Untergang der maroden Rittergüter nur noch eine Frage der Zeit. Den endgültigen ökonomischen Todesstoß versetzten den Junkern schließlich die sowjetische Besatzungsmacht und die Arbeiterparteien durch die Bodenreform nach dem 2. Weltkrieg. Vergessen sollte man dabei aber nicht, daß sie politisch von Hitler und dem Nationalsozialismus entmachtet wurden.
4. Auf dem Weg zum SS-Staat
Die Prätorianergarde der Bauernschaft
Die SS stellte die neue Elite des „3. Reiches“ dar. Ihr Aufstieg begann mit der Zerschlagung der SA und setzte sich unaufhaltsam bis zum Kriegsende fort. Die nach rassistischen und politischen Kriterien ausgesuchten Elitesoldaten sollten an die Stelle der alten Führungsschicht treten und stellten den Keim des neuen bäuerlich-kleinbürgerlichen Massenstaat in dem noch von Kompromissen geprägten „Vorkriegs“-Staat dar.
Ideologisch stand die SS wie keine andere Organisation für die Besiedlung des Ostens und den Blut- und Bodenwahn. Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS, war schon als Jugendlicher von dieser Idee besessen. Er schloß sich im jungen Alter der sogenannten Atamanenbewegung an. Diese Bewegung ging aus der Bündischen Jugend hervor und sah in der Neuverwurzelung des Menschen im Boden ein Mittel zur „Volksgesundung“. Himmler notierte 1921 in sein Tagebuch: „Das weiß ich bestimmter jetzt als je, wenn im Osten wieder ein Feldzug ist, so gehe ich mit. Der Osten ist der (?) Wichtigste für uns (…) Im Osten müssen wir kämpfen und siedeln.“ [214] Diesen Grundgedanken betonte Himmler bis zu seinem Tod immer wieder. „Das deutsche Volk war ein Bauernvolk und muß es in seiner Grundsubstanz wieder werden. Der Osten soll dazu dienen, diese bäuerliche Seite des deutschen Volkes zu stärken (…)“ [215] Durch den Siedlungskrieg in Rußland und Polen sollte Deutschland teilreagrarisiert werden, um die Moderne zu überwinden und die Industrie zum Hilfsinstrument des Bauernreiches zu machen. In diesem Kampf sah sich die SS als rassische Elite der „Germanen“. Die SS gründete Institute, um überall germanische Siedlungen zu suchen und so die mittelalterliche Ostsiedlung wieder aufnehmen zu können. Im Kampf um die „Reinheit der Rasse“ spielten die Bauern die zentrale Rolle, von denen Millionen für den „Ritt nach Osten“ vorgesehen waren. Himmler betonte in einem Aufsatz: „Ich darf versichern, daß es kein Zufall ist, daß der Reichsbauernführer des Deutschen Reiches seit Jahren als Führer der SS angehört, sowie es kein Zufall ist, daß ich von Abstammung, Blut und Wesen Bauer bin und dem Reichsbauernrat angehöre.“ Die Schutzstaffel sähe den Bauern als „besten Kamerad und Freund“ an. [216]
Die SS brach fast vollständig mit der konservativen Ideologie des Kaiserreiches und der Weimarer Republik. Neben den Kommunisten und bürgerlichen Demokraten wurde die christliche Kirche als Hauptfeind angesehen. Im SS-Plan zur „Erschließung des germanischen Erbes“ von 1938 hieß es deshalb: “ Wir leben im Zeitalter der endgültigen Auseinandersetzung mit dem Christentum. Es liegt in der Sendung der Schutzstaffel, dem deutschen Volk im nächsten Jahrhundert die außerchristlichen Grundlagen der Lebensführung und Lebensgestaltung zu geben.“ [217] Die „außerchristlichen Grundlagen“ waren die Siedlungs- und Rassenideologie, die alle Lebensbereiche der Deutschen bestimmen sollten. Wenn es auch richtig ist, daß sich die Kirche bei den Nazis anbiederte und viele Geistliche Sympathien für die Bewegung hatten, war das umgekehrt kaum der Fall. Leute wie Himmler und Hitler ließen die Kirche aus bündnispolitischen Gründen vorerst bestehen. Nach dem Krieg war aber ihre Zerschlagung vorgesehen. „Mit dem Christentum als einer ‘perversen und lebensfremden Weltanschauung’, ‘dieser größten Pest, die uns in der Geschichte anfallen konnte’, müsse man eben noch fertig werden, lautete Himmlers unabdingbare Forderung.“ [218] Damit lag Himmler voll auf Hitlers Linie, der in seinen „Tischgesprächen“ wiederholt die Zerschlagung der Kirche nach dem Krieg angekündigt hatte und ihr Vermögen für die Siedlung einsetzen wollte.
Der Antisemitismus und der Rassismus der SS waren eng mit dem Siedlungsgedanken verbunden. Durch Krieg und auf Grundlage der Vernichtung der „slawischen“ Völker und Juden sollte der Raum für die deutschen Siedler frei gemacht werden. Der „Generalplan Ost“ konkretisierte später diese Vorstellungen. Nicht zufällig übernahm die SS das Konzentrationslagersystem.
Bei der rassistischen Bauernideologie war es kein Wunder, daß sich die Mannschaften der SS vor allem aus landwirtschaftlichen Gebieten rekrutierten. Die Führungsspitze setzte sich dagegen hauptsächlich aus Akademikern zusammen, die von der „Rassenwissenschaft“ besessen waren. Ende 1938 waren 12.000 Akademiker Mitglied der SS. [219] Adelige stellten 9 % der Führungskräfte ab dem Oberst und waren damit relativ gut vertreten. Auch bei den Nürnberger Prozessen fiel der hohe Akademikeranteil bei den angeklagten SS-Führern auf. [220] Eine Untersuchung der sozialen Zusammensetzung der Führerkorps der Waffen-SS zeigte deren hauptsächlich mittelständische Prägung, wobei die Mehrheit aus dem gehobenen Mittelstand kam. [221] Viele dieser Mittelständler oder Intellektuellen konnten auf eine gescheiterte Karriere in der Weimarer Republik zurückblicken und vertraten mehr aus „Idealismus“ als aus sozialen Gründen den Siedlungsgedanken.
Nun zu den einfachen SS-Männern. 1937 schätzten SS-Statistiker den Anteil der Bauern nur auf 9 %. [222] Zu diesem Zeitpunkt war die SS noch eine relative kleine Organisation. Der Siedlungsgedanke war ohne den dazu gehörigen Krieg reine Theorie und wurde von vielen Deutschen als Spinnerei angesehen. Doch mit dem Krieg gegen Polen und die Sowjetunion konnte damit begonnen werden, Himmlers und Hitlers „Jugendträume“ in die Realität umzusetzen. Die Landfrage stellte sich für die SS- Männer nun konkret. Heinz Höhne meinte, daß 90 % der Führer der SS-Verfügungstruppen bäuerlicher Herkunft waren. „Die Verfügungstruppe konnte nie das Bürgertum und die Großstädter für sich engagieren, die VT blieb eine Bauern- und Handwerkerarmee. In Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Franken und an der Saar trat fast jeder dritte Bauernsohn in die VT oder später in die Waffen-SS ein.“ [223] Die Waffen-SS bot den Bauernsöhnen neue Aufstiegschancen. Zur Ausbildung richtete die SS sogenannte Junkerschulen ein. Dass über 40 % der Besucher der SS-Junkerschulen kein Abitur hatten, [224] zeigte, für wen die neuen Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen wurden.
Die SS stellte die Prätorianergarde der Bauernschaft dar. Sie war die Organisation der Siedlung, auf der der neue Herrenmensch gedeihen sollte. Die SS verstand sich als politische und rassische Avantgarde im Kampf für den bäuerlich dominierten Rassenstaat. Mit diesem Programm gelang es der Organisation, mit der Unterstützung von Hitler entscheidende Machtpositionen zu erkämpfen.
Der doppelte Staatsapparat
Wären die Nazis nicht auf das Bündnis mit Kapital und Junkertum angewiesen gewesen, hätten sie einfach den alten Staatsapparat zerschlagen können. Doch Hitler entschied sich für die schleichende Entmachtung der alten machthabenden Klassen. Die NSDAP begann darum schon ab 1933, neben dem alten Staatsapparat parallel einen neuen aufzubauen: den SS-Staat.
Als erstes wurde ein Dualismus zwischen Justiz und SS-Polizei geschaffen, der sich auch im Strafrecht widerspiegelte. Die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 ermächtigte die Polizei, Verhaftungen und Freiheitsstrafen ohne richterliche Entscheidung vorzunehmen. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 konnte die politische Führung mißliebige Richter einfach absetzen. Damit war die Gewaltenteilung aufgehoben. Justiz und Polizei verloren an Einfluß. Ab 1939 verkündete man, Erschießungen auch ohne Gerichtsurteil vorzunehmen, „weil die Gerichte (…) den besonderen Verhältnissen des Krieges sich nicht gewachsen zeigten“. [225] Die SS durfte jetzt auch offiziell nach Lust und Laune verhaften und morden.
„Der Aufstieg der SS und Arbeitsfront ging mit dem Abstieg der SA und der Partei einher.“ [226] Den Aufstieg der SS im „Dritten Reich“ kann man an der persönlichen Karriere des SS-Chefs Himmler nachvollziehen. 1934 ernannte ihn Hitler zum Chef des mächtigen Sicherheitsdienstes, der Gestapo. 1936 wurde Himmler „Reichsführer der SS“ und Chef der Polizei. 1937 begann Himmler die Ordnungspolizei mit der SS auch personell zu verschmelzen. [227]
Auch in der Planung der Siedlung behielt die „Prätorianergarde“ der Bauernschaft die Oberhand. Himmler wurde 1941 Beauftragter der NSDAP für Volkstumsfragen. Ihm unterstand damit die „Ostsiedlung“. Sein Aufstieg krönte 1943 seine Ernennung zum Reichsinnenminister. Später übernahm er noch die Leitung der Raketenfertigung und sorgte dafür, daß die SS das Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) dominierte. Im Zuge des 2. Weltkrieges wurde der Reichsführer der SS der mächtigste Mann neben Hitler.
Den größten Beitrag zum Aufbau des dualen Staatsapparats stellte aber der Aufbau der Waffen-SS dar. Der Nationalsozialismus begnügte sich nicht damit, die Wehrmacht Schritt für Schritt von einer Junker- in eine Volksarmee zu verwandeln. Mit der Waffen-SS stellte er einfach eine zusätzliche nationalsozialistische Elitearmee neben der „alten“ Wehrmacht auf. Auch das geschah, um die Generalität nicht zu verprellen, nicht auf einen Schlag, sondern nahm einen langen Zeitraum in Anspruch. Der erste Schritt war die Schaffung von Waffen-SS-Schulen außerhalb des Zugriffs der Wehrmacht. Aus den gesagten bündnispolitischen Gründen mußte Hitler den Aufbau der Waffen-SS mehrfach bremsen. Der Armeeführung blieben die Absichten der SS nicht verborgen. Fritsch sagte am 1. Februar 1938, „daß das Verhältnis der SS-Verfügungstruppen zum Heer ein sehr kühles, wenn nicht ablehnendes sei. Man kann sich den Eindrucks nicht erwehren, daß die ablehnende Haltung gegen das Heer in der SS- Verfügungstruppe geradezu gefördert wird“. [228]
Mit dem Krieg nahm die NSDAP auf die Generalität keine Rücksicht mehr. Die Waffen-SS wurde zur Massenarmee und schnellte von 100.000 Mann 1940 auf 220.000 Ende 1941. 1943 waren es schließlich 540.000 Mann und Ende 1944 sogar 910.000. [229] Der bäuerlichen Massenarmee traten aber nicht nur Deutsche bei. Die sogenannten Volksdeutschen stellten 1943 ein Viertel der Waffen-SS, [230] und auch Niederländer und Skandinavier waren häufig vertreten, die man mit Siedlungsversprechen anwarb. Spätestens 1943 waren die Divisionen der Waffen-SS zur Kerntruppe der deutschen Ostfront geworden. Diese Tatsache war sicherlich ein Grund, warum der Vernichtungskrieg so erbarmungslos geführt wurde. Der Oberbefehlshaber des Ersatzheeres wurde am 20. Juni 1944 Himmler. Damit hatte er auch in der Wehrmacht eine wichtige Position inne.
Zusammengefaßt bestand der doppelte Staatsapparat in der Dualität von Waffen-SS und Wehrmacht, sowie zwischen der alten übernommenen Justiz und dem SD und der Polizei in SS-Händen auf der anderen Seite. Wirtschaftspolitisch stand auf der einen Seite das RWM bis 1937 mit Hjalmar Schacht als Vertreter der Banken und Großindustrie an der Spitze. Den nationalsozialistischen Gegenpol bildete die Vierjahresplanbehörde von Göring, die den Keim der zukünftigen Staatswirtschaft darstellte, in der der einzelne Kapitalist als Eigentümer im Interesse der Staates zu wirtschaften hatte. Auch im Bildungswesen existierten neben dem bürgerlichen Schulsystem die NAPOLAs und Adolf-Hitler-Schulen.
Durch den doppelten Staatsapparat gab es zwangsläufig viele Kompetenzüberschneidungen und Machtkämpfe. Viele Institutionskonflikte dauerten bis zum Ende des NS-Staates an. Die Macht der Junker, aber auch der Schwerindustrie, schränkte der neue Teil des Staatsapparates enorm ein. Auch wenn der alte Staatsapparat unter dem Kommando der NSDAP stand, entsprachen seine privilegierten Repräsentanten aus den besitzenden Schichten und ihre konservativen oder monarchistischen Weltanschauungen nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen. In den SS-Organisationen herrschte schon die neue Elite, die sich hauptsächlich aus dem Kleinbürgertum rekrutierte. Die Nazis wollten die Macht ihres Apparats immer weiter ausdehnen und den alten Staatsapparat spätestens nach dem Krieg ganz verschwinden lassen.