5.8. bis 16.9.2025
Klaus Dallmer, 5.8.2025
Kommentar zum Artikel „Eine neue Weltordnung, eine jämmerliche Bourgeoisie und die Selbstaufgabe der Linken“
Tolle Bourgeoisie gesucht?
1. Karuscheit und Schröder verallgemeinern den Rückzug der USA aus der Ukraine zu einer allgemeinen Rückzugsbewegung, weil die USA nicht mehr die Stärke hätten, ihre Vormachtstellung aufrecht zu erhalten. Meiner Meinung nach setzen sie alles daran, ihre Vormachtstellung dennoch aufrechtzuerhalten, auch wenn sie ökonomisch unterminiert sind; umso schärfer werden die Konflikte. Der Rückzug aus der Ukraine ist ein taktischer, weil im Moment nicht mehr zu erreichen ist und Russland von der Seite Chinas losgelöst werden muss – also kann man sich weitere Ausgaben sparen. Die Vorherrschaft über Europa, so K/S, hätten sich die USA gerade noch einmal mit dem Ukrainekrieg gesichert, aber „mit der neuen Präsidentschaft Trump hat Europa seinen bisherigen Stellenwert für die USA verloren“??. Warum? Tiefschürfende Analyse ist das nicht. Wir sehen da gerade ein Hin und Her, weil den USA Europa eben nicht gleichgültig sein kann. Sparen müssen die USA schon, und darum halsen sie den Europäern die Ausgaben auf.
2. Die deutsche Bourgeoisie war „nicht in der Lage gewesen, die Herrschaft im Staat zu übernehmen“??
a) Im Kaiserreich ist sie Juniorpartner des Junkertums geblieben?? Da nimmt jemand die Form für den Inhalt. Die Unterordnung nach 1848 wandelte sich unter der Hand mit dem enormen industriellen Aufstieg, der England überholte. Unter den alten Regierungsformen wurde die Bourgeoisie zur wirtschaftlich und sozial herrschenden Klasse; der Krieg um ihren „Platz an der Sonne“ war der Expansionskrieg der souveränen imperialistischen deutschen Bourgeoisie.
b) In der Weimarer Republik hat sie die parlamentarische Republik bekämpft, und sonst nichts gemacht?? Sicher war ein Großteil der Bourgeoisie antiparlamentarisch (Rathenau z. B. nicht), aber dennoch war sie die herrschende Klasse, die ihre Herrschaft zwar verdeckt, aber direkt ausgeübt hat (siehe August Thalheimer).
c) Und im Dritten Reich hat sie nur „als Handlanger des Nationalsozialismus fungiert“? Thalheimer (und nicht nur er) war da anderer Meinung: die Bourgeoisie hat sich dem Faschismus formal unterordnen müssen, weil sie nicht mehr selbst regieren konnte, und herrschte nun vermittels des faschistischen Terrors offen, aber indirekt. Und setzte ihre alten imperialistischen Eroberungsbestrebungen um so radikaler um.
Die Aussage, dass die deutsche Bourgeoisie erst nach 1945 an Hand der Amerikaner zur Souveränität gekommen ist, hat somit keinerlei Grundlage.
Adenauer und die USA brachten einen „Minderheitsflügel aus der katholischen Zentrumsbewegung“ an die Macht? Hier wird die Bourgeoisie als gesellschaftliche Klasse mit ihren parlamentarischen Ausdrücken verwechselt. War der schwerindustrielle Teil weg? Hat er sich aufgelöst, ist er ausgewandert, hat er sein Vermögen verschenkt? Aus der politischen Benachteiligung dieses nationalistischen Teils der Bourgeoisie durch die USA leiten K/S eine Distanz zur Nation und eine Bindung an die USA ab, beide eingeschrieben in das „Erbgut“ der sich neu formierenden Bourgeoisie. Hier braucht man nur ins kommunistische Manifest zu gucken, um das mit der enormen Flexibilität der Bourgeoisie zu widerlegen. Da zählen letztlich nur Geschäftsinteressen und weder Freundschaft noch Erbgut noch Nation.
An der deutschen Spaltung hat die Bourgeoisie mitgewirkt, weil die USA sie vor der Enteignung gerettet haben, aber stets den Anspruch auf die Gebiete aufrechterhalten, die sie in ihrem Krieg verloren hatte. Der Stalin-Plan zur deutschen Neutralität war ihr schlicht zu gefährlich. Und die USA brauchten den antisozialistischen Vorposten und hätten ihn notfalls auch gegen die Bourgeoisie erzwungen. Und der arme Ulbricht in seiner Abhängigkeit wird auch noch missverstanden: Erst als der westdeutsche Weg feststand, wurde der Sozialismus von oben eingeleitet, vorher wurden die Ansätze unterbunden.
K/S beklagen das Nicht-Zustandekommen des deutschen Nationalstaats, dessen Idealbild für sie anscheinend ein neutraler Staat unter einer emanzipierten Bourgeoisie ist. Auch die Wiedervereinigung sei nicht in diesem Sinne genutzt worden: „Eine selbstbewusste nationale Bourgeoisie hätte die Gelegenheit ergriffen, um mit dem Friedensvertrag die Neutralität des vereinten Deutschlands durchzusetzen und durch den Austritt aus der Nato die Vormundschaft der USA abzuschütteln“. Aha, die deutsche Bourgeoisie soll den dicken Maxe markieren, links Wasserstoffbomben, rechts Wasserstoffbomben, aber das ficht sie nicht an? Mag sein, dass einzelne Bougeois bei Banketten solche Ansichten äußerten, aber eine Bourgeoisie richtet sich nicht nach Idealvorstellungen, auch nicht nach denen von K/S. Angesichts der überragenden Bedeutung der Wirtschafts- und Militärbeziehungen zu den USA wäre ein NATO-Austritt Deutschlands oder der ganzen EU gegen die eigenen Kapitalinteressen gewesen. Der westeuropäische Wirtschaftsraum ist zwar ökonomisch stark, hat aber nur eine kümmerliche Atombewaffnung (zum Glück). Den freiwilligen NATO-Austritt von der Bourgeoisie zu erwarten ist absurd – man kann das zwecks Verbreitung von Klarheit fordern, aber durchsetzen wird das erst die Arbeiterklasse können.
Wiedererstarken und Aufstieg der deutschen Bourgeoisie konnten sich nur unter dem atomaren Schutz der USA und mit Einbindung in die NATO vollziehen. Trotzdem gab es in einer Art Doppelstrategie Versuche, zu größerer Eigenständigkeit zu kommen: z.B. Montanunion, EU, Bundeswehr. Die Geschäfte mit Russland gehören dazu, und die USA haben sie unterbunden, weil die Vereinigung des Eurasischen Kontinents eine große Gefahr für sie darstellten. K/S reduzieren die Emanzipationsbestrebungen der deutschen Bourgeoisie auf diese Beziehungen zu Russland, die nun gescheitert und mit der „Flucht“ unter den Schutzschirm der USA beendet seien (als wäre die Bourgeoisie jemals außerhalb dieses Schirms gewesen). Scholzens 100 Milliarden, deren Konzept schon in der Schublade lag, können so auch nur verstanden werden als Bemühung, den USA zu schmeicheln, und nicht auch als Versuch, zu größerer imperialistischer Eigenständigkeit zu kommen – und auch nicht die jetzige Aufrüstung in ihrem Doppelcharakter.
Der Ostlandritt des deutschen Imperialismus fand bisher friedlich durch partnerschaftliche Ausdehnung von EU und NATO statt, bis zur Ukraine. Das EU-Assoziierungsabkommen hat den bewaffneten Konflikt eingeleitet. Es war ein imperialistisches Instrument und keineswegs „lächerlich“. Die USA spielen nun nicht länger mit, und die EU kann nach der Ukraine nur dann Moldau und Georgien verspeisen, wenn sie militärische Stärke unterhalb der Atomschwelle beweist. Und in den zentralasiatischen Staaten hat unser reisefreudiger Bundespräsident, stets auf der Suche nach Betätigungsmöglichkeiten für unser demokratisches deutsches Kapital, ja auch schon vorgefühlt.
Dass die USA daran arbeiten, EU und Russland gegeneinander in Stellung zu bringen, wie K/S bemerken, ist nun nicht gänzlich neu. Die EU rüstet auf, weil sie Russland nun womöglich allein unter Druck setzen muss, und nicht um die „militärische Überlegenheit Russlands“ auszugleichen. Welche militärische Überlegenheit? Konventionell ist die EU allein jetzt schon Russland überlegen, und atomar kann die EU nicht mit Russland gleichziehen. Gemeinsames Interesse der EU und der USA dürfte sein, Russland totzurüsten bis zum Staatszerfall.
Richtig ist, dass die Europäer jetzt gesichtswahrend kaum aus dem Ukrainekrieg rauskommen, wenn die USA ihre Unterstützung zurückfahren.
K/S sagen einerseits, dass die NATO sich nicht auflösen wird und andererseits kommt der deutschen Bourgeoisie angeblich das außen- und sicherheitspolitische „Fundament“ abhanden. Das Fundament ist das Geschäft. Das ist mit der US-Zollpolitik am Schwanken. Ob die Bindung an die USA hält, wird sich zeigen, wenn die USA den Ausstieg aus dem China-Geschäft verlangen.
K/S rekurrieren auf ihre Analyse des Ukraine-Krieges (Eroberungskrieg, Zarenreich) und verwechseln damit die Staatsideologie mit den wirklichen Interessen (Präventivkrieg gegen NATO-Raketen an der russischen Grenze). Sie reißen auch noch Lenins aus der Not geborene Nationalitätenpolitik, die schon Rosa Luxemburg zerpflückt hatte, aus dem Zusammenhang, und tun so, als müsste sich das russische Mafiaregime eigentlich an Lenins Vorgaben halten. Die Selbstbestimmung der Völker ist die Selbstbestimmung der herrschenden Klassen. Wenigstens kommen K/S zu einer richtigen Schlussfolgerung: Sturz der jeweiligen Regierungen, der Hauptfeind steht im eigenen Land.
Kommentare zu den folgenden Darstellungen der richtigen eigenen Politik und der falschen der anderen spare ich mir; da ist viel Richtiges dran. Wenn allerdings die „Selbstbestimmung“ dazu führt, dass Russland den Donbass und die Krim wieder hergeben soll, geht der Krieg weiter bis zum Zusammenbruch der Ukraine.
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Heiner Karuscheit, 11.August 2025
Lieber Klaus Dallmer,
Zu deiner Kritik: Zur aktuellen Situation, speziell zu den Fragen der Außenpolitik, will ich an dieser Stelle nichts sagen. Das geplante Treffen Trumps mit Putin zum Ukraine-Krieg und die lärmende Abwesenheit der Europäer dokumentieren u.E. zur Genüge den tatsächlichen Einfluss Deutschlands und der anderen europäischen Mächte.
Wesentlich beruht die von dir zurückgewiesene Charakteristik der deutschen Bourgeoisie als einer „jämmerlichen“ Klasse auf einer langjährigen (mittlerweile Jahrzehnte) dauernden Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, die wir als Geschichte von Klassenkämpfen begreifen, in deren Verlauf wir zu weitgehend anderen Einschätzungen zur Rolle und zum Charakter der Bourgeoisie gelangt sind, als dies im vorherrschenden Weltbild der Marxisten der Fall ist.
Neben den „Aufsätzen zur Diskussion“ findet sich die (langwierige und holperige) Entwicklung unserer Positionen u.a. in eigenständigen Publikationen wie „Vom Klassenkompromiss zum Krieg“ (Kaiserreich und 1.Weltkrieg), „Die verlorene Demokratie“ (zur Weimarer Republik) sowie „Der deutsche Rassenstaat“ (zum Nationalsozialismus), alle erschienen im VSA-Verlag Hamburg. Für den Fall, dass du dich näher damit auseinandersetzen willst, steht als komprimierte Zusammenfassung der erste Teil des kürzlich erschienenen Buchs „Der deutsche Rassenstaat“ im Anhang.
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Klaus Dallmer, 13.8.2025
Kritik am Imperialismusartikel
Liebe azd-Redaktion,
Leider hat nun auch Euer Artikel zum Imperialismus meine Kritik hervorgerufen; ich darf sie Euch in der Folge mitteilen:
Karuscheit & Schröder meinen, die Arbeiterbewegung sei vom Krieg überrascht worden. Wie verträgt sich das mit den vorangegangenen Konferenzen und Antikriegsdemonstrationen? Überrascht wurden die meisten Linken davon, dass die sozialdemokratischen Parteien sich in den patriotischen Wahn einordneten; R.L. hatte es vorausgesehen, war aber trotzdem am Boden zerstört, Jean Jaures wurde erschossen, Lenin war überrascht.
K&S unterschlagen in der Folge, dass die angeblich „ökonomistische“ Interpretation des Marxismus zwei gegnerische Flügel hatte: die den Kladderadatsch abwartende Fraktion (hinter der sich die Reformisten verbargen) und die, die die Revolution befördern wollten um Rosa Luxemburg.
Weil die Funktionselite des Kaiserreichs sich weiter aus dem Adel rekrutierte (in Regierung und Armee, als Überbleibsel des Klassenkompromisses), sehen K&S unter dem radikal gewachsenen Kapitalismus die „fortdauernde Vorherrschaft des Junkertums“ und behaupten eine Festigung der „Herrschaft einer vorbürgerlichen, junkerlich-agrarischen Klasse“ trotz des „Siegeszuges des Kapitalismus“. Wer herrscht denn nun? Die Grundlage des Adels waren die Abgaben der leibeigenen Bauern, die existierte schon lange nicht mehr. Der Adel hatte sich noch in Armee und Staatsapparat gehalten, aber zu sagen, dass er herrschte, zeigt ein völliges Unverständnis der Funktionsweise von Klassenherrschaft. Nachtigall, ick hör dir trapsen: es soll bewiesen werden, dass 1918 eine bürgerliche Revolution war.
Um Luxemburgs Auffassung, dass die kapitalistische Produktionsweise auf ihrer eigenen Basis nicht zur erweiterten Reproduktion fähig ist, streiten sich noch immer die Gelehrten – klar ist aber, dass die Kapitalakkumulation die Konkurrenz verschärft und letztendlich zum Krieg um Ressourcen und Märkte als Lösung treibt – oder ist das ökonomistischer Unsinn und die Akkumulation könnte friedlich immer größer werden und ewig weiter gehen?
Einerseits sagen K&S, dass hinter den kriegsvorbereitenden Krisen die Bourgeoisie steckte und ihr Hunger auf Kolonien (Marokko), und das Junkertum daran kein Interesse hatte – dann aber wird aus den Reibereien zwischen adliger Funktionselite und Bourgoisie abgeleitet, dass der junkerliche Militäradel keine andere Möglichkeit mehr als die Flucht in einen Krieg sah, um seine Vormachtstellung zu behaupten; der Feudalismus ging daran, „seine Herrschaft durch einen großen Sieg des preußisch-deutschen Heers erneut zu befestigen“. Der Adel, der keine ökonomische Basis mehr hat, befestigt seine „Herrschaft“ entgegen den Interessen der Bourgeoisie, die ja nur die Macht des akkumulierten Kapitals auf ihrer Seite hat? Das ist nach K&S anscheinend eine „klassenpolitische Erklärung“, die ja auf die Ökonomie anscheinend keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht.
Die Hilferdingsche und dann Leninsche Auffassung von der Aufhebung der Konkurrenz durch Monopole und Kartelle, die zum Ende des technischen Fortschritts und dann zum „sterbenden Kapitalismus“ führen müsse, halte auch ich für falsch. Lenin hat Oberflächenerscheinungen zsammengestellt – Luxemburg hat immerhin den Imperialismus aus der Kapitalakkumulation abgeleitet. Lenins These von der Bestechung als Ursache des Reformismus ist natürlich Unsinn – die sozialparnerschaftliche Bindung an das Wohlergehen des Unternehmens besteht so lange, wie die Arbeiterklasse nicht revolutionär wird. Zur relativen Besserstellung von Arbeiterschichten (Wert der Ware Arbeitskraft) sind keine Extraprofite von Monopolen notwendig. Diese Bindung an die Interessen der Bourgeoisie fand in den verschiedenen Ländern nach den landesspezifischen Traditionen statt. Aus der Kollaboration der SPD-Führung mit der Heeresleitung aber die „Verpreußung“ der Arbeiterbewegung abzuleiten, ist ein nettes Bonmot, mehr aber nicht. SPD-Führung und OHL haben sich verbunden, weil ein Weitergehen der Revolution beide in ihrer Existenz bedroht hätte – die Revolutionäre mussten daher ermordet werden. Und sie konnten ermordet werden, weil das Gros der Arbeiterklasse zusah und sich weiter an das Wohlergehen der Betriebe band.
Der Zusammenbruch der alten Ordnung in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland ist nur sekundär darauf zurückzuführen, dass sie „sich einer bürgerlichen Revolution bis dahin erfolgreich widersetzt hatten“, sondern auf die Kriegsniederlage dieser Länder (Russlands Niederlage gegenüber Deutschland). Im Aufbauschen dieser herrschaftsstrukturellen Gründe setzten K&S auch noch das hochindustrialisierte Deutschland mit dem russischen Zarismus gleich. Da sträubt sich mindestens ein Haar.
Dann kommen K&S zum vorgefassten Ziel ihrer Ableitung, der Charakterisierung der deutschen Novemberrevolution als bürgerlich. Realiter waren die Matrosen auf Schiffen zusammengepferchte Arbeiter, und der Klassencharakter der Arbeiter- und Soldatenräte ist eindeutig. Die Bourgeoisie zog nach ihrem verlorenen Krieg den Kopf ein und war zunächst nicht zu sehen. Sie hat mit dieser Revolution nichts zu tun. Die Arbeiterbewegung spaltete sich auf in die Minderheit der Revolutionäre und die Mehrheit der Reformisten, die den Fortschritt vom Parlament erwartete und an ihre Sozialpartner gebunden blieb. Die proletarische Revolution entmachtete sich beim Reichsrätekongress selbst und die Bourgeoisie konnte ihre Herrschaft nach den Massenmorden durch SPD und Freicorps wieder festigen und fortsetzen. Das Ergebnis der im Reformismus steckengebliebenen proletarischen Revolution war die bürgerliche Republik. Nach K&S lag das Scheitern der Novemberrevolution aber am falschen Konzept der Revolutionäre, denen nicht klar war, dass eine bürgerliche Revolution anstand und die sich deshalb kontraproduktiv revolutionär verhielten (das haben Revolutionäre so an sich). Deshalb konnten angeblich die alten Strukturen (Adel im Militär) weiterbestehen und die bürgerliche Revoluion war gescheitert. Das Proletariat hätte Hegemon einer bürgerlich-demokratischen Revolution im Bündnis mit dem Kleinbürgertum sein müssen. Und damit haben K&S die Realität quietschend auf das alte Etappenmodell zurechtgebogen, was ja von Anfang an Ziel ihrer „Analyse“ war.
In St. Petersburg waren es im Februar 1917 keine bürgerlichen Massen, die über die Neva das Stadtzentrum stürmten. Der Arbeiter- und Soldatenrat trat seine eroberte Macht ab bürgerliche Duma-Abgeordnete. Mehrheitlich war der A&S-Rat menschewistisch, aber auch die Bolschewiki waren gemäß dem Etappenmodell überzeugt, dass zunächst eine bürgerliche Republik anstehen würde. So haben wir auch hier eine proletarische Revolution, die im Reformismus stecken bieb – zunächst. Russland hatte die Besonderheit einer weit zurückgebliebenen industriellen Entwicklung, und die schwache Bourgeoisie war mehrheitlich nicht aus dem Handelskapital, sondern aus dem Adel hervorgegangen. Hauptproblem war die Lage der Bauern, die die große Mehrheit darstellten und unter elender Abhängigkeit von adligen Grundbesitzern dahinvegetierten. Die Landbesetzungen konnte die Bourgeoisie den Bauern nicht freigeben, weil sie viel zu schwach und Fleisch vom Fleische des Adels war – sie wäre mit weggefegt worden. Somit war eine bürgerliche Revolution unmöglich. Der trotz seiner Theorieschwächen politisch hellsichtige Lenin hat das in seinen Aprilthesen begriffen und das Ruder in Richtung Machtübernahme des Proletariats herumgerissen. Es sollte noch sechs Monate dauern, bis die Arbeiterklasse praktisch gelernt hatte und es im gesellschaftlichen Mainstream klar war, dass die Bourgeoisie weder den Krieg beenden (wegen ihrer Verschuldung beim französischen und englischen Kapital) noch die Landfrage lösen konnte. Diese Aufgaben fielen somit dem kleinen Proletariat zu. Erst als die Forderung „Alle Macht den Räten“ die Mehrheit hatte, hat der Petersburger A&S-Rat unter Führung von Swerdlow und Trotzki die Macht wieder in die eigenen Hände zurückgenommen und damit die proletarische Revolution vollendet – für die nach dem alten Etappenmodell keine Grundlage bestand. Auch die russische Revolution konnte somit in keiner Phase bürgerlich sein.
Russland war das einzige Land, wo das Etappenmodell (erst bürgerliche Revolution, dann sozialistische) eine Berechtigung zu haben schien – Lenin musste es mit seinen Aprilthesen ad acta legen, also vor 108 Jahren. K&S halten noch heute daran fest. Und sie glauben, mit der Kritik an Lenins Imperialismustheorie den Imperialismus als Grund des kapitalistischen Ausdehnungsstrebens überhaupt erledigt zu haben. Das ist – gelinde gesagt – eine Analysebeschränkung. Wer an solch praktisch widerlegter Abfolge von Gesellschaftsformationen, die beim Entwicklungsstand der Produktivkräfte zu Marx‘ Zeiten ihre Berechtigung hatte, verhaftet bleibt, kann die Realität nicht erfassen und so auch nicht den gegenwärtigen – deutsch getriebenen – europäischen Imperialismus.
Bei weitergehendem Interesse kann ich Euch meine Bücher zur russischen Oktober- und deutschen Novemberrevolution empfehlen.
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Heiner Karuscheit, 22.8.2025
Lieber Klaus Dallmer,
Du schreibst zu Beginn deiner Auseinandersetzung mit dem Artikel zur „Kritik der Leninschen Imperialismustheorie“ (in AzD 98): „Karuscheit & Schröder meinen, die Arbeiterbewegung sei vom Krieg überrascht worden. Wie verträgt sich das mit den vorangegangenen Konferenzen und Antikriegsdemonstrationen? Überrascht wurden die meisten Linken davon, dass die sozialdemokratischen Parteien sich in den patriotischen Wahn einordneten; R.L. hatte es vorausgesehen, war aber trotzdem am Boden zerstört, Jean Jaures wurde erschossen, Lenin war überrascht.“
Für jeden Anhänger des revolutionären Marxismus ist es nach wie vor eine Herausforderung zu begreifen, wie es 1914 nicht nur zu einem Weltkrieg kam, sondern die sozialdemokratisch geführte Arbeiterbewegung in fast allen kriegsführenden Ländern auf die Seite „ihrer“ Regierung trat – entgegen der vorangegangenen Beschlüsse der 2.Internationale.
Gemeinhin wird dafür ein schleichender Sieg des bürgerlichen Reformismus verantwortlich gemacht, den die linken Revolutionäre (bis auf Lenin) zu wenig beachtet haben. Befasst man sich jedoch konkret mit den Umständen des „patriotischen Wahns“ von 1914, zeigt sich ein anderer Zusammenhang. Dieser wird offenbar, wenn wir auf die Marokko-Krise von 1911 blicken, die bereits drei Jahre vor dem Weltkrieg an die Schwelle eines Kriegs führte, der dann aber nicht stattfand.
Ursprung dieser Krise war der Versuch der deutschen Außenpolitik (Kiderlen-Wächter), Frankreich zur Abtretung seiner mittelafrikanischen Kolonien an das Deutsche Reich zu nötigen (deutsches Mittelafrika-Projekt). Im Gegenzug wollte Berlin die französischen Kolonialansprüche in Nordafrika anerkennen. Als Paris auf den angebotenen „Deal“ nur zögerlich reagierte, entsandte Berlin ein Kanonenboot nach Marokko (Panthersprung nach Agadir), um die Ernsthaftigkeit seiner Ambitionen zu unterstreichen.
Das deutsche Vorgehen ließ Großbritannien befürchten, dass ein Einknicken Frankreichs zu einer weiteren Stärkung der ohnehin bereits halbhegemonialen Stellung Deutschlands auf dem europäischen Festland führen würde. Deshalb ließ es seine Schlachtflotte auslaufen, was eine unverhohlene Kriegsdrohung gegenüber dem Kaierreich bedeutete. Angesichts des scheinbar unmittelbar bevorstehenden Zusammenstoßes ließ Russland wiederum verlautbaren, dass es einen Krieg um Kolonien nicht als Bündnisfall im Sinne des 1894 abgeschlossenen Bündnisvertrags mit Frankreich ansehen würde.
Unter diesen Umständen hätte Deutschland keinen Zweifrontenkrieg führen müssen und angesichts der Überlegenheit des preußischen Heeres zu Lande eine fast sichere Siegesaussicht gegen Frankreich gehabt. Die Bourgeoisie – Industrie, rechte und linke Liberale, die bürgerliche Presse – forderte in dieser Situation mehr oder minder einhellig, den Fehdehandschuh aufzunehmen und gegen Frankreich / Großbritannien in den Krieg zu gehen.
Doch der Krieg kam nicht zustande, denn der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg weigerte sich, die Herausforderung anzunehmen. Stattdessen pfiff er seinen Staatssekretär Kiderlen-Wächter zurück und vereinbarte in der Marokkofrage einen (für Deutschland mageren) Kompromiss. Sein Zurückweichen trug ihm von bürgerlicher Seite den Vorwurf der Feigheit sowie eine tiefsitzende Feindschaft ein, die bis zu seinem Sturz 1917 andauerte.
Angesichts dieser Umstände stellt sich die zentrale Frage, warum das Reich damals nicht in den Krieg gegangen ist, sondern dies erst drei Jahre später tat, als die Ausgangslage viel ungünstiger war, weil jetzt ein Zweifronten-Krieg geführt werden musste. Warum war das so?
Der Grund dafür resultierte aus der Machtverteilung im preußisch-deutschen Reich, d.h. aus der weitgehend souveränen Machtstellung des Militärs, das außerhalb der Verfassung stand. 1911 war zwar die Bourgeoisie entschlossen, in den Krieg zu gehen, und mit ihr de Marine, die traditionell die „bürgerliche“ Waffengattung war. Anders sah es jedoch mit dem junkerlich-preußischen Militäradel aus, der das Heer kommandierte. Ohne dessen Kriegsbereitschaft war nicht daran zu denken, in einen Krieg zu gehen. Warum aber sollte das ostelbische Junkertum bereit sein, für die afrikanischen Kolonialambitionen des Bürgertums ins Feld zu ziehen? Selbst wenn er gewollt hätte (was nicht der Fall war), konnte Bethmann Hollweg 1911 keinen Krieg beginnen, wie von der Bourgeoisie gefordert – er hätte diesen Schritt gegenüber der Heeresleitung nicht durchsetzen können.
Hinzu kam, dass die Arbeiterbewegung einen solchen Krieg nicht mittragen würde. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr gab es allerorten die von dir benannten Kundgebungen und Massendemonstrationen gegen den Krieg. Dasselbe war in Frankreich und abgeschwächt in Großbritannien der Fall. Für einen imperialistischen Krieg um Kolonien gab es keine Mehrheiten und keine Zustimmung in der europäischen Arbeiterbewegung.
Das bekräftigte auch der Kongress der 2.Internationale im November 1912 in Basel, der die internationale Solidarität des Proletariats sowie den Kampf gegen den Krieg zum Thema hatte. Neben der Erwähnung der damaligen Konflikte auf dem Balkan betonte das verabschiedete Manifest: „Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Deutschland auf der einen, und England und Frankreich auf der anderen Seite, würde die größte Gefahr für den Weltfrieden beseitigen“. Die Erklärung wiederholte also die Konstellation des Kolonialkonflikts der Marokkokrise als entscheidende Kriegsgefahr.
Wie aber kam es dann 1914 zu einem Krieg, dessen Zustandekommen im Gegensatz zu 1911 keine vergleichbaren Massenaktionen der sozialistischen Arbeiterbewegung Europas hervorrief, sondern im Gegenteil in ihre Ünbertritt auf die Seite der Herrschenden mündete?
Die Antwort darauf ergibt sich aus der seit 1909 bestehenden innenpolitischen Krise des Kaiserreichs, die sich nach 1911 zuspitzte, indem die Angriffe auf die außerverfassungsmäßige Stellung des Militärs und damit auf die entscheidende Machtbastion des Junkertums als Inhaber der bewaffneten Macht immer weiter zunahmen. Die Stationen sind hier nicht im einzelnen nachzuzeichnen, sie sind in dem Buch „Vom Klassenkompromiss zum Krieg“ nachzulesen, ebenso bei H.A.Winkler, der einer der wenigen deutschen Historiker ist, die die Ursache für den deutschen Weg in den Weltkrieg nicht in außenpolitischen Gegensätzen sehen, sondern in der Zuspitzung der innenpolitischen Widersprüche. Der Wahlsieg der SPD 1912 spielte dabei eine gewichtige Rolle, weil er den Tendenzen zur Parlamentarisierung des Reichs einen erheblichen Schub gab.
Angesichts dieser Entwicklung musste das ohnehin im Abstieg befindliche Junkertum um seine Zukunft fürchten, mit der Folge, dass der Militäradel, der 1911 noch keine Kriegsneigung gezeigt hatte, nunmehr auf einen Krieg drängte, weil er keinen anderen Weg mehr sah, als seine bedrohte Machtstellung durch einen großen Sieg des von ihm kommandierten Heeres vor dem drohenden Untergang zu retten – wie das Bismarck vierzig Jahre zuvor durch die Reichseinigungskriege schon einmal gelungen war.
Die Bourgeoisie ging auf diesem Weg mit, denn sie sah die Möglichkeit, ihre 1911 vergeblich angestrebten Ziele jetzt doch noch zu erreichen. Das bedeutete, dass die maßgeblichen Klassenkräfte, die Träger des 1870 gegründeten Reichs, die Regierung gemeinsam zum Krieg drängten.
Damit kam alles auf die Arbeiterbewegung an, denn angesichts der von ihr mittlerweile erlangten Stärke und Stellung war ein Krieg nur zu führen, wenn die Arbeiterschaft mitmachte, und das hieß, wenn die SPD zustimmte. Diese Zustimmung war aber nur zu haben, wenn es gegen Russland ging.
Seitdem die europäische Revolution 1848/49 durch das Eingreifen des Zarismus außer von preußischen von russischen Truppen niedergeschlagen worden war, waren Marx und Engels geschworene Gegner des zaristischen Russlands gewesen. Zwar hatten sich inzwischen die machtpolitischen Gewichte in Europa verschoben, aber die SPD hielt an damals begründeten Russlandfeindschaft fest. Um die nationale Zuverlässigkeit der als vaterlandslos geltenden SPD unter Beweis zu stellen, verkündete der Parteivorsitzende Bebel in seinen Reichstagsreden bis zu seinem Tod 1913 regelmäßig, dass er in einem Krieg mit Russland noch selber „die Flinte auf den Buckel nehmen“ würde. Während die SPD-Führung also einerseits einen Krieg um Kolonien als imperialistisch ablehnte, befürwortete sie gleichzeitig die Vaterlandsverteidigung gegen den Zarismus.
Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie, Luxemburg eingeschlossen, traten dieser lange vor dem August 1914 propagierten Vaterlandsverteidigung nicht entgegen. Teils waren sie selber davon überzeugt, vor allem aber schien ein Krieg mit Russland derart fernliegend, dass es nicht lohnte, deswegen einen innerparteilichen Streit zu führen. Schließlich resultierte die maßgebliche Kriegsgefahr aus der Kolonialpolitik des Imperialismus, wie es von Kautsky über Bebel bis Luxemburg Konsens war und wie das die Marokkokrise gerade erst gezeigt hatte. Gleichzeitig gab es zwischen Berlin und Moskau weder ökonomisch noch außenpolitisch ernsthafte Gegensätze, so dass ein Krieg zwischen den beiden Staaten realitätsfern schien.
Aber um die Sozialdemokratie für die Unterstützung eines Kriegs zu gewinnen, musste auf der Gegenseite Russland stehen, und diese Kriegskonstellation war nur mit Hilfe der verbündeten Habsburgermonarchie zustande zu bringen, die infolge des Zerfalls des Osmanischen Reiches im Ringen mit Russland um die Vorherrschaft auf dem Balkan lag.
Bis dahin hatte die deutsche Diplomatie bei den sukzessiven Balkan-Krisen mäßigend auf Wien eingewirkt, um keinen Bündnisfall eintreten zu lassen, getreu dem noch von Bismarck ausgegebenen Motto, dass der ganze Balkan nicht die Knochen eines einzigen preußischen Grenadiers wert sei. In der Julikrise 1914 (nach der Ermordung des k.u.k. Thronfolgerpaares durch einen serbischen Nationalisten) gab Berlin dem Verbündeten jedoch freie Hand mit dem Ergebnis, dass Wien am 28.Juli dem Königreich Serbien den Krieg erklärte, woraufhin Russland als Schutzmacht Serbiens am 31.Juli die Generalmobilmachung anordnete.
Damit konnte die Reichsregierung verkünden, dass die miteinander verbündeten Russland und Frankreich das friedliebende Deutschland überfallen wollten. Am 1.August erklärte das Kaiserreich Russland und zwei Tage später Frankreich den Krieg (wie Bethmann später in einem vertraulichen Gespräch äußerte, habe er den deutschen Kriegseintritt „gefingert“).
Zwar gab es im Vorfeld des Kriegsausbruchs auch Friedenskundgebungen, die aber lange nicht so massenhaft ausfielen wie 1911. Nach der russischen Mobilmachung konnte die SPD-Führung dann begründen, dass die Arbeiter das Vaterland gegen den barbarischen Zarismus verteidigen müssten, wie August Bebel dies bis zu seinem Tod verfochten hatte, so dass die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten am 4.August den von der Regierung beantragten Kriegskrediten geschlossen zustimmen.
Damit kommen wir zurück zur Fragestellung des Anfangs. Die Linken wurden von der Entwicklung vollständig überrumpelt. Sie hatten weder für das Zustandekommen des Kriegs noch erst recht für den reibungslosen Übergang der Sozialdemokratie auf die Seite der Regierung eine Erklärung.
Für ihre Hilflosigkeit waren drei miteinander verknüpfte Ursachen verantwortlich:
– Zum einen waren sie fixiert auf kapitalistisch-imperialistische Kriege um Kolonialgebiete. Dass ein Krieg Anfang des 20.Jahrhunderts aus anderen Gründen als aus den ökonomischen Interessen der Bourgeoisie geführt werden konnte, war für sie undenkbar.
– Zum zweiten resultierte diese Gedankensperre daraus, dass sie auf das Voranschreiten des Kapitalismus fixiert waren und die Ungleichzeitigkeit von ökonomischer Entwicklung und politischer Herrschaft negierten, Deshalb erkannten sie nicht, dass in Deutschland (ebenso wie in Russland und Österreich-Ungarn) weiterhin vorbürgerlich-adelige Kräfte das letzte Wort der Macht besaßen.
– Zum dritten hatten sie nicht wahrhaben wollen, dass die deutsche Sozialdemokratie für den Fall eines Kriegs mit Russland immer schon die Vaterlandsverteidigung propagiert hatte – der Vorwurf des „Verrats“ führte ins Leere.
Es brauchte Wochen, bis Lenin als erster die politischen Konsequenzen aus dem Krieg zog und für alle kriegführenden Länder gleichermaßen den Sturz der jeweiligen Regierung forderte. Damit war indes noch nicht erklärt, wie der Krieg zustande gekommen war und welchen Charakter er trug. Diese Erklärung lieferte Lenin anschließend mit seiner Imperialismusschrift, indem er den Imperialismusbegriff von der Kolonialpolitik löste, ihn ökonomisch auf die Monopoltheorie Hilferdings stützte und mit der grundsätzlichen Tendenz zu Fäulnis und Aggression verknüpfte.
Letztlich resultierten die seinerzeitigen Irrtümer auf einem ökonomisch verkürzten Verständnis des Marxismus, das auch die Monopol- und Imperialismustheorie Lenins bestimmte und bis heute das Denken vieler Marxisten prägt.
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Klaus Dallmer, 26.8.2025
Lieber Genosse Karuscheit,
dass Militär, Kaiser und Bourgeoisie die Sozialdemokratie brauchten, um den Krieg vom Zaune zu brechen, beschreibst Du völlig richtig, und auch, dass der einzige Weg dazu war, eine Situation der „Verteidigung“ gegen Russlands Aggression herbeizuführen. Dazu haben Kaiser und Bethmann-Hollweg Österreich heimlich grünes Licht für seinen Krieg gegen Serbien gegeben. Das kannst Du auch ausführlich in meinem Buch nachlesen. Völlig falsch ist dagegen, dass die Linke gegen Bebels traditionelle Einstellung, die Flinte gegen den Zarismus nehmen zu wollen, nichts getan hätte. Rosa Luxemburg hat z.B. 1906 im Zuge der Debatte um die russische 05er Bebel entgegnet, dass ein Krieg gegen Russland ein Krieg gegen die revolutionären russischen Arbeiter sei, und diese Position hat die Linke in den Jahren ihrer immer stärker anwachsenden Antikriegsarbeit durchgehalten.
Du hast nun zwar Lenins Imperialismusanalyse abgeschüttelt, nicht aber seine Auffassung von den verschiedenen „Ideologien“, die in die Arbeiterklasse hereingetragen werden. Der Reformismus ist keine bürgerliche Theorie, deren Verbreitung die Linke nicht beachtet hätte – der ganze jahrelange Kampf der Linken dagegen ist Dir anscheinend fremd – sondern Ausdruck der reformistischen Praxis der Gewerkschaften und der SPD. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Wer das nicht gemerkt und den jeweils marxistisch verkleideten Rechtfertigungen von Karl Kautsky geglaubt hat, ist Lenin. Deshalb fiel er aus allen Wolken, als der wirkliche Charakter der deutschen Sozialdemokratie offensichtlich wurde. In Russland gab es diese reformistische Praxis nicht. Deshalb konnte Lenin sich das nur mit „Hereintragen“ feindlicher Ideologie erklären, so wie auch allmähliche Lernprozesse der Massen in Klassenkämpfen um ihre Lebensbedingungen unter der zaristischen Terrorherrschaft nicht möglich waren. Auch seine Auffassung, der Kommunismus müsse der Arbeiterklasse von außen gebracht werden, hat hier ihre Wurzeln (und teilweise russische Berechtigung).
Kurzer Exkurs:
Erste Gewerkschaften entstanden in der Revolution1848 als Unterstützungskassen, dann waren sie verboten, dann entstanden sie wieder, während der Sozialistengesetze waren sie wieder verboten, trotzdem wuchsen sie immer weiter an. Es waren harte Kämpfe um Lohn und Arbeitsbedingungen, in denen die Arbeiterklasse sich ihre Organisationen geschaffen hat. Friedrich Ebert z.B. stand als Streikführer auf schwarzen Listen der Unternehmer.
1900 gab es 680.000 Gewerkschaftsmitglieder,
1914 hatten die Gewerkschaften 2,5 Millionen Mitglieder.
Gleichzeitig entwickelte sich der politische Arm der Arbeiterbewegung, die SPD, mit marxistischer Orientierung. Sie hatte 1900 720.000 Mitglieder (damals also noch mehr als die Gewerkschaften) und 1914 kurz vor dem Krieg eine Million.
Nach den Sozialistengesetzen konzentrierte sich die SPD stark auf die Wahlen, und gab es einen rapiden Anstieg der Wahlerfolge. Bei der Wahl 1912 bekam die SPD 35% der Stimmen und war mit 110 Sitzen die stärkste Fraktion im Reichstag.
Aber wie sah es im Inneren der Arbeiterbewegung aus?
Die gewerkschaftlichen Kämpfe waren Streik – Stillhalteabkommen – Streik – Stillhalteabkommen. Die Arbeiter waren weiterhin vom jeweiligen Betriebswohl abhängig, sie gingen höchstens theoretisch darüber hinaus. Sie diskutierten in den Arbeiterbildungsvereinen und in den Kneipen, wie der sozialistische Zukunftsstaat wohl aussehen würde – aber nicht, wie man ihn erkämpfen könne.
Die SPD erwartete den Zusammenbruch des Kapitalismus, den großen „Kladderadatsch“. Karl Kautsky sagte, die SPD sei eine revolutionäre Partei, aber keine Revolution machende Partei.
Nach der russischen Revolution von 1905 kam es zur Debatte um den Generalstreik, den die Gewerkschaften ablehnten aus Sorge um die Kassen, um die Legalität, und um mögliche Radikalisierungen, die ihnen das Heft des Handelns aus der Hand nehmen würden. Die SPD knickte ein und verzichtete auf ihren politisches Vorrang – über Streiks hätten die Gewerkschaften zu entscheiden.
Rosa Luxemburg fand begeisterte Zustimmung auf den Arbeiterversammlungen, aber ihre Apelle zur Nutzung aller Mobilisierungsmöglichkeiten trafen bei den Führungen von Partei und Gewerkschaften auf Ablehnung. Massenhafte Lernprozesse und Radikalisierungen wollte man nicht. Die „Praktiker“ wussten besser, was „möglich“ war.
Mit dem Mund wollte man den Sozialismus, aber die Praxis war reformistisch: kurz vor dem Krieg hatten die Gewerkschaften über 12.000 Tarifverträge zu verwalten, außer in der Schwerindustrie waren sie eingespielte Sozialpartner.
Bebels alte Parole „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ hatte sich stark aufgeweicht. Die SPD war im Reichstag, in Landtagen und Stadtverordnetenversammlungen vertreten, sie konnte politisch Einfluss nehmen auf Sozialgesetzgebung, Arbeitsschutz, Schul- und Sozialpolitik. Aber von Bürgermeister- oder anderen Regierungsämtern wurde sie ausgeschlossen. (Diese mangelnde Anerkennung lastete schwer auf den „vaterlandslosen Gesellen“, und so wuchs das Wohlverhalten, das sie später auch in Regierungsämter geführt hat, nur dann eben ohne Sozialismus.) Teilweise kam es zur Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien, auch bei Finanzbewilligungen, 1913 stimmte die SPD sogar dem Finanzierungsmodus einer Rüstungsvorlage zu.
Ab 1906 bekamen Reichstagsabgeordnete 3000 Mark Diäten pro Jahr (heute etwa 150.000 € nach Kaufkraft).
August Bebel war Präsident des sächsischen Landtages.
Die Linken in der SPD waren total in die Minderheit geraten. Und nicht zu vergessen: SPD- und Gewerkschaftsmitglieder waren eine Minderheit in der Arbeiterschaft, es gab auch viele Arbeiter in den Flotten- und Kriegervereinen.
Wenn die Führungen von SPD und Gewerkschaften gegen den drohenden Krieg etwas hätten ausrichten wollen, hätten sie sich für das Risiko von Verbot und Verhaftung entscheiden müssen. Das wollten sie nicht. Ende Juli folgten noch Hunderttausende den Aufrufen der SPD zu Demonstrationen gegen den Krieg – am 4. August stimmte die Partei im Reichstag den Kriegskrediten zu und fiel damit dem Widerstand der eigenen Leute in den Rücken. Die Arbeiterbewegung brach zusammen.
Nicht falsche Auffassungen in der Sozialdemokratie waren die Ursache für ihr Einknicken, sondern ihre erfolgreiche reformistische Praxis. Die Arbeiterbewegung war fokussiert auf einen Krieg um Kolonialgebiete? Klar war, dass die Gier nach Kolonien einer der Kriegsgründe werden würde, aber doch nicht, dass er dort stattfinden würde!
Du widersprichst Dir auch noch selbst: Wenn die Sozialdemokratie mit ihrer Gegnerschaft gegen den Zarismus für den Krieg gebraucht wurde (was richtig ist), war ein Krieg „nur“ gegen Frankreich und England eben nicht möglich, und diese Einsicht werden auch Teile der Bourgeoisie gehabt haben. Dass allein das Junkertum den Rückzug 1911 wollte, halte ich deshalb für unwahrscheinlich, eben weil es zwar die militärische Funktionselite stellte, aber keine herrschende Klasse mehr war. Möglich ist, dass die Militärs die bessere Einsicht hatten, dass es ohne die Sozialdemokratie und die Mobilisierung ihrer Russlandfeindschaft eben nicht ging. Widersprüche zwischen Militär und Bourgeoisie belegen keine Herrschaft des Junkertums. Schlieffen hat übrigens seinen eigenen Plan wegen zu schwacher Kräfte schon vor dem Krieg für unrealistisch gehalten. Generalstabschef von Moltke forderte im Frühjahr 1914 das Auswärtige Amt auf, kurzfristig den Krieg herbeizuführen – die Militärführung befürchtete, bei weiterem Abwarten werde die Aufrüstung Russlands das Kräfteverhältnis zugunsten der Entente verschieben.
Statt bei bürgerlichen Historikern die Bestätigung für Deine These von der Herrschaft des Junkertums zu suchen, solltest Du Dich lieber mit der Herausbildung des deutschen Kommunismus beschäftigen – da kann ich die Schriften von Rosa Luxemburg dringend empfehlen: „Sozialreform oder Revolution“, „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, „Massenstreik und Gewerkschaften“, „Die Krise der Sozialdemokratie“. Und Paul Frölich: „Zehn Jahre Krieg und Bürgerkrieg, Band 1, Der Krieg“
Einen ausführlichen Überblick gibt mein Buch. Du musst es bei Interesse selbst bestellen – meine Erfahrung besagt, dass geschenkte Bücher nicht gelesen werden.
Eine Klasse, deren materielle Grundlage der Vergangenheit angehört, zur herrschenden zu erklären, verträgt sich mit meinem Verständnis von Marxismus jedenfalls nicht.
Solidarische Grüße, Klaus Dallmer
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Heiner Karuscheit, 6.September 2025
Lieber Genosse Dallmer,
Zu deiner Mail vom 26.August: Du erklärst es für „völlig falsch …, dass die Linke gegen Bebels traditionelle Einstellung, die Flinte gegen den Zarismus nehmen zu wollen, nichts getan hätte. Rosa Luxemburg hat z.B. 1906 im Zuge der Debatte um die russische 05er Bebel entgegnet, dass ein Krieg gegen Russland ein Krieg gegen die revolutionären russischen Arbeiter sei.“
Ich nehme an, du beziehst dich mit dieser Aussage auf Luxemburgs Rede auf dem SPD-Parteitag 1906 „zum Verhältnis von Partei und Gewerkschaften“. Dort hatte Bebel in seiner Eröffnungsrede sinngemäß gesagt, dass das Proletariat nichts machen könne, wenn es zu einem Krieg käme. Ihm entgegnete Luxemburg unter Berufung auf die französischen Genossen: „ich hoffe, auch das deutsche (Proletariat) wird Mut genug finden, zu sagen: „Es darf nicht gegen unseren Willen geschehen.‘“ (Gesammelte Werke Band 2, S.173.)
Meinst du diese Aussage? Darin steht allerdings nichts zu Russland bzw. den revolutionären russischen Arbeitern, sondern lediglich allgemein, dass ein Krieg nicht ohne Zustimmung des Proletariats geführt werden dürfe. Ansonsten habe ich für die fragliche Zeit nichts gefunden. Wenn ich etwas übersehen habe, lasse ich mich gerne belehren.
Darüber hinaus konnte ich zu diesem Problem nur eine andere einschlägige Stelle finden, und zwar in Luxemburgs Rede über „die weltpolitische Lage“ vom 27.Mai 1913. Dort sagte sie: „Genosse Bebel, der so viel Ausgezeichnetes, manchmal aber auch, wie jeder Mensch, weniger Ausgezeichnetes gesagt hat, hat ja einmal im Reichstage erklärt, er wolle bei einem Verteidigungskriege trotz seiner alten Tage noch die Flinte auf den Buckel nehmen.“ (GW 3, S.214)
Von Russland war dabei wiederum keine Rede, stattdessen fuhr sie gegen Bebel gerichtet fort, dass die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg fehl am Platze sei. Entscheidend sei vielmehr, dass heutige Kriege „eine Folge des Imperialismus“ seien, und fügte zur Erläuterung hinzu: „Die Triebkraft dieser Kriege ist das Bestreben, die noch nicht vom Kapitalismus erreichten Gebiete aufzuteilen.“
Damit bezog sie sich auf ihre eigene Imperialismustheorie, der zufolge moderne Kriege der kapitalistischen Mächte untereinander aus dem ökonomischen Zwang resultierten, zwecks ausreichender Mehrwertrealisierung Territorien als Absatzmärkte zu erobern, die noch nicht vom Kapital durchdrungen waren. Das heißt, ein aktueller Krieg Deutschlands war für sie nur vorstellbar als Krieg um koloniale („noch nicht vom Kapitalismus erreichte“) Gebiete. In dieser Theorie hatte ein Krieg mit Russland keinen Platz, weil es hier keine solchen Gebiete zu erobern gab.
Das Rätsel des 4.August
In diesem Zusammenhang unterliegst du m.E. einem Irrtum, wenn du schreibst, „Ende Juli (1914) folgten noch Hunderttausende den Aufrufen der SPD zu Demonstrationen gegen den Krieg“. Tatsächlich gab es zu dieser Zeit Antikriegskundgebungen, darunter die größte in Berlin mit 100.000 Teilnehmern, die aber nicht zu vergleichen waren mit den Massenkundgebungen drei Jahre zuvor anlässlich der Marokkokrise, als Millionen von Arbeitern auf die Straße gingen.
Meinst du nicht, dass die Unterschiede damit zusammenhängen könnten, dass die revolutionäre Linke (wie die gesamte SPD) fixiert war auf „imperialistische“ Kriege um koloniale Territorien, während ein Krieg mit Russland als fernliegend erschien?
Um dabei nicht falsch verstanden zu werden: mir geht es nicht darum, Rosa Luxemburg etwas am Zeug zu flicken. Mir geht es vielmehr darum, zwei Dinge zu verstehen, die der revolutionäre Marxismus von heute nach wie vor wie eine schwärende Wunde mit sich herumschleppt.
- a) warum ließen sich die Arbeitermassen, die 1911 noch durchgängig gegen einen Krieg um Kolonien gewesen waren, 1914 so rasch von der Vaterlandsverteidigung gegen Russland überzeugen? Dein Hinweis auf die „erfolgreiche reformistische Praxis“ gibt darauf keine Antwort, denn diese Praxis lag bereits 1911 vor – und trotzdem war damals die große Mehrheit der Sozialdemokratie (incl. der Parteiführung) und der Arbeiterschaft gegen den Krieg.[1]
b) warum war die revolutionäre Linke angesichts der Kriegskonstellation so lange sprach- und hilflos?
Diese Dinge sind nicht zu klären, ohne die Fehler und Versäumnisse der damaligen Linken zu benennen. Schließlich hat Luxemburg selber verlangt: „Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.“
Die materielle Grundlage des Junkertums
Damit will ich zu der Frage kommen, die m.E. den Kern unserer Differenzen (und den tiefsten Grund von Luxemburgs Irrtümern) bildet. Am Ende deiner Antwort vom 26.August schreibst du über das von uns zur herrschenden Klasse im Kaiserreich erklärte Junkertum: „Eine Klasse, deren materielle Grundlage der Vergangenheit angehört, zur herrschenden zu erklären, verträgt sich mit meinem Verständnis von Marxismus jedenfalls nicht.“
Genau hier liegt der Hase im Pfeffer, denn die junkerlichen Gutswirtschaften Ostelbiens trugen keinen kapitalistischen Charakter. Die originäre „materielle Grundlage“ der preußischen Herrschaftsklasse war nichtbürgerlich und gehörte im Kaiserreich noch keineswegs der Vergangenheit an.
Die agrarischen Großgüter basierten nicht auf freier Lohnarbeit, vielmehr standen die Gutsarbeiter in persönlicher Abhängigkeit von ihren junkerlichen Gutsherren, die in den ostelbischen Agrarbezirken zugleich Inhaber der Polizeigewalt sowie der unteren Gerichtsbarkeit waren und gegenüber dem Gesinde das Züchtigungsrecht hatten. Friedrich Engels bezeichnete deshalb die Arbeitsverhältnisse auf den großen Gütern als „halbe Leibeigenschaft“, also nicht als freie Lohnarbeit, die bekanntlich Voraussetzung und Grundlage der bürgerlichen Produktionsweise ist. Die Triebkraft der Agrarproduktion auf den großen Gütern Ostelbiens war nicht die Verwertung des Werts, sondern die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stellung des Gutsbesitzers und seiner Familie.
Kautsky und die SPD standen diesen Zuständen verständnislos gegenüber. Ohne die Agrarverhältnisse jemals untersucht zu haben, gingen sie davon aus, dass „die kapitalistische Entwicklung“ die junkerlichen Gutswirtschaften mittlerweile umgewälzt hätte. Indem dort der Agrarkapitalismus Einzug gehalten habe, seien die Junker neben der industriellen und der Handelsbourgeoisie zu einer (agrarischen) Fraktion der Bourgeoisie geworden. Im Staat und vor allem im Militär mochten sie zwar aus traditionellen Gründen noch dominieren, aber das betraf nur die Ebene der Personen und änderte nichts an den durchgängig kapitalistischen Verhältnissen – so die sozialdemokratische Überzeugung.
Eine vor- und nichtkapitalistische Großgutswirtschaft
Die von den Theoretikern der SPD nicht geleistete Untersuchung wurde von bürgerlichen Wissenschaftlern vorgenommen, so von Max Weber, dem bekannten Sozialwissenschaftler, der eine großangelegte Enquete über die „Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ durchführte.
Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die alten gutswirtschaftlich-vorbürgerlichen Verhältnisse durch den Kapitalismus zwar langsam aufgelöst wurden, aber die Arbeitsverfassung auf den Gütern dem Wesen nach weiterhin auf Verhältnissen persönlicher Abhängigkeit beruhte, also nichtkapitalistisch war. Webers Zeitgenosse, der Ökonom Werner Sombart, brachte diese Zustände auf den Punkt: „Die Junker als soziale Klasse sind … nichts anderes als die Vertreter einer vor- und antikapitalistischen Großgutswirtschaft.“ (Die Nachweise hierzu stehen in dem Buch „Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg“, S.53ff)
Wie ging die Bebel-SPD nun mit den öffentlich publizierten Forschungsergebnissen um? Ganz einfach – sie reagierte nicht darauf, denn sie widersprachen ihren ideologisch vorgegebenen Annahmen. Schließlich hatte Kautsky die bürgerliche Revolution mit der Reichseinigung für erledigt erklärt, und in Kürze erwartete man den von Bebel angekündigten „Kladderadatsch“ der bürgerlichen Gesellschaft, an dessen Ende der Sozialismus und die Herrschaft der Sozialdemokratie stehen würden. In dieser Vorstellung störten die Untersuchungen der sozialen Basis des Junkertums nur, denn aus ihnen ergab sich, dass die Junker keinen Teil der bürgerlichen Klasse bildeten, sondern trotz aller Auflösungserscheinungen der ostelbischen Agrarwelt nach wie vor eine eigene Klasse (in mancher Hinsicht auch Kaste) mit eigenen Interessen bildeten. Aber anstatt sich mit den Fakten auseinanderzusetzen, zogen es die Köpfe der SPD es vor, diese getreu dem Morgensternschen Motto: „nicht sein kann, was nicht sein darf“, zu ignorieren.
Ebenso tut dies die Linke. Entgegen aller empirischen Befunde hält sie bis heute an der damals von der SPD in die Welt gesetzten Konstruktion einer gemeinsamen industriell-agrarischen kapitalistischen Ökonomie fest, verbunden mit der Behauptung, dass das Junkertum zu einer Abteilung der Bourgeoisie geworden sei.
Die Bourgeoisie – eine herrschende Klasse ohne bewaffnete Macht?
Du selber schreibst dazu weiter, dass das Junkertum „zwar die militärische Funktionselite stellte, aber keine herrschende Klasse mehr war.“ Wenn aber die Bourgeoisie die herrschende Klasse war – was für eine Herrschaft soll das gewesen sein? Bereits in Preußen hatte die Bourgeoisie versucht, das Militär qua Haushaltsrecht dem Parlament zu unterstellen, war damit aber gescheitert. Dasselbe versuchte sie bei der Reichsgründung, wurde aber von Bismarck zurückgeschlagen.
Das heißt, die vom junkerlichen Militäradel kommandierte Armee stand nicht nur außerhalb der Verfassung; die Militärführung konnte bei einer Störung der öffentlichen Sicherheit aus eigenem Recht den Ausnahmezustand verhängen und Waffen einsetzen. Die Armee war aber das maßgebliche Organ der bewaffneten Macht im Kaiserreich. Was für eine Herrschaft der Bourgeoisie soll das dann gewesen sein, wenn die „herrschende Klasse“ nicht über die bewaffnete Macht verfügte?
Die von der SPD negierten Klassenrealitäten hatten elementare politische Konsequenzen, denn das Junkertum führte einen Überlebenskampf. Ökonomisch rutschten die getreideproduzierenden Gutswirtschaften immer mehr in eine Krise, und politisch massierten sich vor dem Weltkrieg die Angriffe auf das preußische Dreiklassenwahlrecht, das die junkerliche Vorherrschaft (im Bündnis mit der Schwerindustrie) in dem deutschen Hegemonialstaat sicherte.
1870 hatte Bismarck die Stellung der Junker mit Hilfe der Reichseinigungskriege durch die Siege der von ihnen geführten Armee noch einmal gesichert. Seinerzeit war damit ein progressives Ziel verbunden gewesen, nämlich die Schaffung eines deutschen Nationalstaats. Jetzt blieb erneut nur ein Krieg übrig, um ihre Klassenexistenz zu retten, nur war damit kein progressives Ziel mehr zu erreichen. Der Krieg, in den sie die Regierung 1914 gemeinsam mit der Bourgeoisie drängten, war für sie der letzte Ausweg vor dem Untergang – ein Machtsicherungskrieg.
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11.09.2025 Heiner Karuscheit
Lieber Genosse,
Gerade habe ich nach einigen Mühen dein Buch über die Meuterei auf der „Deutschland“ bekommen, bin bisher aber nur dazu gekommen, das Vorwort und deine Vorbemerkung zu lesen (der Rest kommt noch). Dabei bin ich über den Klappentext des Buchs gestolpert, weshalb ich spontan noch etwas zu meiner letzten Mail nachschieben will.
Der Text (den du wahrscheinlich selber verfasst hast) beginnt mit „Die deutsche Sozialdemokratie passte sich zu Anfang des letzten Jahrhunderts der Expansionspolitik der herrschenden Klassen des Kaiserreichs mehr und mehr an“. Diese Feststellung verwischt nach meinem Dafürhalten das Grundproblem, über das wir gerade diskutieren: die „Expansionspolitik der herrschenden Klassen“ – das war der Kolonialimperialismus der Bourgeoisie, deren Hauptziel ein großes Kolonialreich in Mittelafrika war.
Das Junkertum dagegen hatte genug mit den eigenen Gütern zu tun, genauer gesagt mit der „Leutenot“, diese Güter zu bewirtschaften, weil viele Landarbeiter es vorzogen, ihrer halben Leibeigenschaft durch die Abwanderung in die Industrie des Westens zu entfliehen. Expansionspläne Richtung Osten stellten hier im Weltkrieg lediglich einige Vertreter des Kleinbürgertums auf – Vorläufer der nationalsozialistischen Siedlungspolitik. So diente auch der von der OHL diktierte Frieden von Brest-Litowsk (wenn man ihn genauer studiert) wesentlich der Stärkung Preußens als deutscher Hegemonialstaat durch die Schaffung formal unabhängiger, monarchisch regierter Kleinstaaten im Osten, die z.T. in Personalunion mit der preußischen Krone verbunden werden sollten.
An die koloniale Expansionspolitik der Bourgeoisie aber hat die Sozialdemokratie sich nicht angepasst, diese wurde im Gegenteil von der Sozialdemokratie bekämpft; das ist eben das Besondere an der Marokko-Krise von 1911, als Millionen von Arbeitern den Aufrufen der SPD folgten und gegen die Kolonialkriegsforderungen der Bourgeoisie (gegen Frankreich und Großbritannien) auf die Strasse gingen (ich habe dir dazu den Link zu Bebel geschickt, der gegen die Kolonial- und Schlachtflottenpolitik der deutschen Bourgeoisie sogar mit der britischen Regierung konspirierte).
Du entwickelst zu recht die Abkehr der SPD von revolutionären Positionen und den Übergang zum Reformismus. Nur war das kein bürgerlicher Reformismus, dh kein schleichender Sieg Bernsteins, wie die gängige linke Geschichtsschreibung den „Verrat“ vom 4.August 1914 erklärt. Zwar gingen die Gewerkschaften zur Zusammenarbeit mit dem Kapital über, dh. zur Sozialpartnerschaft (was die Schwerindustrie als entscheidender Industriezweig verweigerte). Ansonsten hatte das Hineinwachsen in den Staat aber eine andere Folge, weil dieser Staat, das preußisch-deutsche Kaiserreich, kein bürgerlicher Staat war, sondern ein von Preußen beherrschter Obrigkeits- und Beamtenstaat. Dementsprechend war die Folge nicht die Verbürgerlichung, sondern die Verpreußung der Sozialdemokratie, materiell fundiert dadurch, dass ein Großteil der sozialdemokratischen Funktionäre in den Arbeitersozialversicherungen (die von Bismarck zu dem Zweck geschaffen worden waren, die Arbeiter an den monarchischen Staat heranzuführen) sowie anderen staatlichen oder halbstaatlichen Institutionen arbeitete.
In der Novemberrevolution schlug sich dies in zwei verschiedenen Bündnissen nieder: dem Stinnes-Legien-Abkommen (der Gewerkschaftsführung mit der Bourgeoisie) sowie dem machtpolitisch entscheidenden Ebert-Groener-Pakt (der SPD-Führung mit dem Militäradel).
Ich will hierzu nichts weiter ausführen, um unsere Diskussion nicht mit noch mehr Themen zu befrachten. Worauf es mir ankommt, ist vielmehr, den Blick dafür zu schärfen, dass erst die Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Klassenkräften – Junkertum und Bourgeoisie – ein vollständiges Verständnis der Gründe für die Niederlage der revolutionären Arbeiterbewegung ermöglicht.
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Klaus Dallmer, 16.September 2025
Betreff: Nachtrag
Lieber Genosse Karuscheit,
die Auseinandersetzungen zwischen Luxemburg und Bebel bezüglich Russland kumulierten auf dem Essener Parteitag 1907. Das findet sich nicht in den gesammelten Werken, dazu muss man das Protokoll lesen. Dass die Russlandfeindschaft der SPD von den Herrschenden für den Krieg benutzt werden kann, hat die Linke sehr wohl auf dem Schirm gehabt. Und natürlich äußerte sich die Konkurrenz der an die gegnerischen Grenzen stoßenden Kapitalakkumulation im Kampf um die Kolonien – die Kolonien waren deshalb aber nicht Ursache.
Die Basis der Herrschaft des Adels waren die Abgaben der Leibeigenen, mit denen Söldnerheere für den Lehnsherren unterhalten wurden. Das war schon jahrhundertelang durch das Eindringen der Geldwirtschaft aufgeweicht, und die Staatenkonkurrenz verlangte die Abschaffung der Leibeigenschaft (in Preußen ab 1807). Das Fortbestehen der Kommandogewalt der ostelbischen Junker über die Bauern ist deshalb als letztes Überbleibsel ihrer untergehenden Macht zu sehen. Selbstredend waren die Junker für „ihre“ Bauern die herrschende Klasse – das heißt aber nicht, dass sie es für die Gesellschaft waren. Sie produzierten für den kapitalistischen Markt.
Im Internet findest Du leicht den Vergleich des ökonomischen Gewichts von Junkertum und industriellem Kapital, wie auch der Zahl der Beschäftigten.
Die Bourgeoisie war 1849 unter die Fittiche des Adels gekrochen, weil sich das aufkommende Proletariat auf diese Weise gut niederhalten ließ. Die inneren Gewichte dieses Klassenkompromisses haben sich durch die Industrialisierung extrem verschoben – übrig blieb die Vorherrschaft des Adels in Verwaltung und Militär. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass die Bourgeoisie diese adlige Funktionselite benutzte, um in ihrem Sinne regieren zu lassen. Das würde heißen, dass sie indirekt herrschte.
Für völlig falsch halte ich es nach wie vor, daraus abzuleiten, dass der Adel die herrschende Klasse gewesen sei, deren notwendigen Sturz die Linke nicht auf dem Schirm gehabt habe, und dass sie eine Art Volksfrontpolitik hätte anwenden müssen. Wie bereits gesagt, hat die russische Revolution bereits die Deiner Theorie zugrundeliegende Vorstellung der Etappenabfolge (erst bürgerliche Herrschaft, dann sozialistische) als überholt zu den Akten gelegt (Annahme, die zu Marx‘ Zeiten noch ihre Berechtigung hatte). Die Niederlage der Novemberrevolution liegt daran, dass die große Masse des Proletariats ihr Heil von Reformen innerhalb des Kapitalismus erwartete, und das war Resultat der jahrzehntelangen reformistischen Praxis der Arbeiterbewegung.
Den Artikel in „Z“ habe ich übrigens als eine äußerst freundlich formulierte, aber vernichtende Kritik an Deiner Position gelesen.
Ich habe den Eindruck, Du meinst, eine theoretische Entdeckung gemacht zu haben, und biegst Dir die Geschichte selektiv zum Beweis zurecht. Natürlich kannst Du dahinter nicht zurück.
Eine Fortsetzung dieser Debatte ist für mich unfruchtbar.
Mit besten Grüßen
Klaus Dallmer
Ps: Die Volksfrontpolitik hat spätestens im Spanischen Bürgerkrieg ihren konterrevolutionären Charakter bewiesen.
[1] August Bebel hat sogar geheime Verbindung zur britischen Regierung aufgenommen, um diese vor der deutschen Kolonialpolitik und Schlachtflottenrüstung zu warnen und zu Gegenmaßnahmen aufzufordern! (siehe hierzu die Rezension in: https://kommunistische-debatte.de/?page_id=1511) Das war derselbe Bebel, der bis zu seinem Tod 1913 den Verteidigungskrieg gegen Russland propagierte und dem die SPD im August 1914 folgte.