Die Revolutionen 1917

Alfred Schröder

Die unverstandenen Revolutionen

Russland im Jahre 1917

„Entgegen den Vorstellungen der Ereignishistoriographie erweist sich nicht der bolschewistische Oktober, sondern der ‚demokratische Februar‘ als der kritische Punkt im Jahr 1917“, schreibt W. Hedeler in einer Sammelrezension1 zu den aktuellen Neuveröffentlichungen zu den russischen Revolutionen.2 Und dies völlig zu Recht.

Während die marxistische Linke die Februarrevolution bis heute nur als Vorspiel des Oktobers sieht, betrachtete die bürgerliche Geschichtsschreibung mehrheitlich den Februar als einzige wirkliche russische Revolution, deren demokratische Entwicklungsmöglichkeiten durch den bolschewistischen Staatsstreich im Oktober beendet wurden.

„Die Februarrevolution hatte kein Glück in der sowjetischen Geschichtsschreibung“3, schrieb D. Anin vor über 40 Jahren und man kann ergänzen, auch bei der marxistischen Geschichtsschreibung außerhalb der Sowjetunion blieb die Behandlung der Februarrevolution zumeist im Schatten des Oktobers. Dabei liegt im Verlauf und Ergebnis der Februarrevolution 1917 der Schlüssel zum Verständnis des gesamten Revolutionsjahres.

1. Wer machte die Februarrevolution?

»Angesichts der Tatsache, schreibt Pipes, dass die Februarrevolution häufig als ein Aufstand der Arbeiter dargestellt wird, muss betont werden, dass sie zuerst und vor allem eine Meuterei von Bauern im Soldatenrock war, die von den Behörden aus Sparsamkeitsgründen in völlig überbelegten Kasernen in der Hauptstadt des Landes untergebracht worden waren – in den Worten eines Augenzeugen wie ‚Zunder neben einem Pulverfass‘.“4 In der Nacht vom 26. zum 27. Februar waren die weitere Entwicklung der seit Tagen andauernden Streiks und Demonstrationen der Arbeiter und damit die Zukunft der Revolution völlig offen. Die Soldaten hatten am 26. Februar – wie befohlen – Waffen eingesetzt, mit Toten und Verletzten als Ergebnis. Würden die Truppen auch an den kommenden Tag scharf schießen, waren die Streiks und Demonstrationen nicht fortzuführen; der Arbeiteraufstand hätte in einer blutigen Niederlage geendet. Vom Verhalten der Soldaten hing also der Ausgang der Revolution ab. Am kommenden Tag, dem 27. Februar, schossen die Soldaten nicht mehr auf die Demonstrierenden, sondern auf ihre Offiziere und begannen sich mit den Arbeitern zu verbrüdern. Es war das Überlaufen der bäuerlichen geprägten Garnison, das den Sieg der Arbeiter im Februar ermöglichte.

Aber was war der entscheidende Grund für dieses Überlaufen? Bislang hatte der bäuerliche Soldat auf die Bürden und Zumutungen des zaristischen Regimes und des Krieges mit individueller Desertation aus der Armee reagiert. Jetzt war er über mehrere Tage hinweg mit den revolutionären Arbeitern konfrontiert, und im direkten Kontakt mit der Arbeiterbewegung eröffnete sich ihm eine neue, organisierte Form des Protestes gegen das zaristische Regime, um seiner rechtlosen Lage und dem mörderischen Krieg zu entkommen. Die fortwährende Einflussnahme der Arbeiter/innen auf die Bauernsoldaten, die allerorten zu hörende politische Agitation, der andauernde Druck der demonstrierenden Massen, dies alles führte zum Umschwung in den Regimentern und verhalf der Revolution zum Durchbruch. Die Februarrevolution war deshalb »zuerst und vor allem« ein proletarischer Aufstand, dessen Sieg aber nur durch das Überlaufen der bäuerlichen Armee (nicht der Generale des Hauptquartiers5) möglich wurde.

Der Preis des Sieges war die Dominanz des Kleinbürgertums in den Sowjets. Am deutlichsten wird dies, wenn wir uns die Entstehung und das politische Gesicht des Sowjets anschauen.

2. Das politische Gesicht des Sowjets

Am Abend des 27. Februar gründete sich in Petrograd als neues Machtzentrum des Landes der Sowjet der Arbeiterdeputierten, aus dem nach wenigen Stunden der Arbeiter- und Soldatensowjet hervorging, der das weitere politische Geschehen des Revolutionsjahres prägen sollte. „Der spontan eingebrachte Vorschlag, die Revolutionsarmee und das Proletariat der Hauptstadt zu vereinigen und eine einheitliche Organisation zu bilden, die fortan Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten heißen sollte, wurde unter stürmischen Beifall angenommen“, so schildert Suchanow den Verlauf der entsprechenden Sitzung.6

Da der Sieg der Revolution nur durch das Überlaufen der bäuerlichen Armee gesichert war, spielten die Soldaten die entscheidende Rolle in dem Sowjet. Dies wurde sowohl in den ersten Maßregeln des Sowjets als auch in seinem Wahlverfahren deutlich. „Der Petersburger Sowjet glich in den ersten Wochen seines Bestehens einer riesigen permanenten Arbeiter- und Soldatenversammlung. Die Delegiertenzahl wuchs mit jedem Tage; in der ersten Märzwoche betrug sie etwa 1200, in der zweiten Märzhälfte stieg sie auf nahezu 3000. Davon waren etwa 2000 Soldaten und nur 800 Arbeiter, obwohl die Gesamtzahl der Petersburger Arbeiterschaft die der Garnisonssoldaten um das Zwei- bis Dreifache überstieg.“7

Die Dominanz der Soldaten spiegelt sich auch in den Beschlüssen des Sowjets wider. Mit seinem ‚Befehl Nr. 1‘ verfügte er die Bildung von gewählten Soldatenkomitees in allen militärischen Einheiten von der Kompanie aufwärts, die Unterstellung der Truppenteile in allen politischen Angelegenheiten unter den Sowjet und die Gewährung aller bürgerlichen Freiheitsrechte für die Soldaten. Die Befehle der vom Duma-Komitee eingesetzten militärischen Kommission, die das Oberkommando über die Garnison beanspruchte, sollten nur dann befolgt werden, wenn sie zu den Befehlen und Beschlüssen des Sowjets nicht im Widerspruch standen. „Damit besaß der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat die faktische Verfügungsgewalt über die Garnison“.8

Dem Wesen der Sache nach war dieser Arbeiter- und Soldatenrat ein kleinbürgerlich-bäuerlicher Rat. Die auch zahlenmäßig abgesicherte Vorherrschaft der Garnison über die Petrograder Arbeiter war Ausdruck der Hegemonie der von städtischen Kleinbürgern geführten Bauern, die der Zarismus in den Soldatenrock gesteckt hatte. Dies war, zugespitzt ausgedrückt, die „demokratische Diktatur des Kleinbürgertums über das Proletariat und die Bourgeoisie.“

Der durchgängig verwendete Begriff des „Arbeiter- und Soldatenrats“ war damals (und ist es ebenso heute noch) geeignet, diesen klassenpolitischen Kern zu vernebeln. Er war kein Sowjet des Petrograder Proletariats, sondern ein Sowjet, in dem die Delegierten des Proletariats eine Minderheit bildeten. Das von ihm gebildete Exekutivkomitee konstituierte sich aus den Kadern der ’sozialistischen und radikalen Intelligenzija‘, den Vertretern der aufständischen Regimenter sowie den Mitgliedern der Zentralen Arbeitergruppe des Kriegsindustriekomitees9.

Die daraus resultierenden Konsequenzen schildert Suchanow mit beeindruckenden Sätzen: „Die unmittelbare Beteiligung der Armee an der Revolution war nichts anderes als eine Form der Einmischung der Bauernschaft in den revolutionären Prozess gewesen. (…) Jetzt war die Bauernschaft in graue Militärmäntel gekleidet. Das war der erste Punkt. Außerdem fühlte sie sich als Hauptheld der Revolution. Sie stand … nicht abseits, sondern beugte sich hier mit dem vollen Gewicht ihrer Masse und dazu noch mit dem Gewehr in der Hand über die Wiege der Revolution. Und sie erklärte: Ich bin der Herr nicht nur des Landes, nicht nur des russischen Staates, nicht nur der nächsten Periode der russischen Geschichte, ich bin der Herr der Revolution, die ohne mich nicht hätte vollzogen werden können.“10

Diese Tatsache ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Revolution, denn die den Sieg der Februarrevolution sichernde bäuerliche Armee bestimmte letztendlich den politischen Kurs des Sowjets. Die Vorherrschaft der bäuerlichen Soldaten über den Sowjet bedeutete die Vorherrschaft der Bauernschaft über die Revolution. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Ihre Ursache liegt in den historischen Unterschieden zwischen Russland und Westeuropa.

3. Die Besonderheiten der russischen Entwicklung

Die Klassen

Die Februarrevolution bringt die Besonderheiten Russlands gegenüber Westeuropa besonders deutlich zum Ausdruck. An zwei wesentlichen Punkten gilt es sie herausarbeiten, wenn es darum geht, das Revolutionsjahr zu verstehen. Hier sind an erster Stelle das andere, durch die russische Geschichte geprägte politische Gesicht und Gewicht der Klassen zu benennen und die Besonderheiten des zaristischen Staatsapparates zu beachten.

Beginnen wir mit den Gesellschaftsklassen. Gewöhnlich wird die gesellschaftliche Schichtung im zaristischen Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts als ein noch etwas unentwickeltes Abbild der uns aus Westeuropa bekannten Klassen dargestellt. Mag dies in einzelnen Punkten zutreffen, so ist diese Ansicht doch im Wesentlichen falsch.

Die russische Bourgeoisie ist sowohl ökonomisch als auch politisch schwach.11 Dazu ist sie auch noch politisch in drei Flügel zersplittert: den schwerindustriellen Flügel (Schwerpunkt Petersburg), der durch Abhängigkeit von Staataufträgen konsequent zaristisch war12, die Leichtindustrie (Textilindustrie; Schwerpunkt Moskau) war überwiegend oktobristisch13 und der liberale Landadel und die freien Berufe der Städte bildeten die Basis der Kadetten.

Die russische Bauernschaft, die große Mehrheit der russischen Bevölkerung (80 Prozent) hatte ein völlig anderes ökonomisches Fundament und damit auch ein völlig anderes politisches Gesicht als die westeuropäischen Bauern. Die Mehrzahl der russischen Bauernschaft war entgegen aller bürgerlichen und marxistischen Statistiken nicht der mittelalterlichen Umteilungsgemeinde, dem Mir, der Dorfgemeinde, entwachsen14 und hatte auch gar nicht die Absicht, dies zu tun. Die Bauern wollten das Land des Adels, aber nicht um es unter sich aufzuteilen und „freie kapitalistische Farmer“ zu werden, wie die Marxisten annahmen15, sondern um das Privateigentum an Land abzuschaffen und den Besitz des Adels innerhalb der Dorfgemeinde umzuteilen, entweder nach Anzahl der Arbeitskräfte oder der Familienmitglieder. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, da die Landaufteilung einen bürgerlichen, warenproduzierenden Bauernstand mit Klassendifferenzierung hervorbringt; die regelmäßige Umteilung nach Arbeits- oder Verbrauchsnorm, wie sie das russische Dorf kannte, genau dies verhindern soll. Ohne diesen Unterschied zu sehen, ist aber der Oktober nicht zu verstehen.

Das russische Proletariat16 – eine absolute Minderheit der Bevölkerung (je nach Schätzung zwischen 3 und 4 Millionen) – ist nicht wie im Westen Europas aus der Handwerkerschaft entstanden, sondern direkt aus der Bauernschaft, und es besaß auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch enge Bindungen an das Dorf. Zugleich war es in den russischen Metropolen in Großbetrieben konzentriert, was ihm ein deutlich stärkeres politisches Gewicht verlieh, als es zahlenmäßig zu erwarten war und zu einer schnelleren Radikalisierung beitrug.

Der zaristische Staat

Im Gegensatz zu vielen landläufigen Meinungen war der zaristische Staatsapparat schwach entwickelt.17 Dies hatte ökonomische und historische Gründe. Zum einen war es schwierig, in einem zurückgebliebenen Agrarland mit riesiger Ausdehnung eine effiziente Bürokratie zu rekrutieren, denn es fehlten entwickelte Städte mit einem Bürgertum, das im Westen Europas mit seinen Beamten die absoluten Monarchien stützte. Und ökonomisch vermochte das agrarisch geprägte Russland keine entwickelte Bürokratie zu finanzieren.

Die Lösung oder, besser ausgedrückt, die behelfsmäßige Lösung des Zarismus bestand über Jahrhunderte darin, dem landbesitzenden Erbadel die Verwaltung des Landes zu übertragen. Die Reformen von 1861 (Abschaffung der Leibeigenschaft) unterminierten dieses Fundament und zwar nicht nur ökonomisch. Sie hatten auch entsprechende politische Folgen, denn der Zarismus verlor seine einzige sichere Klassenbasis, den landbesitzenden Erbadel. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde es für die Basis der zaristischen Herrschaft eng, es blieb nur der eigentliche Staats- und Gewaltapparat, also Beamtenschaft, Polizei und Armee. Und um den war es nicht gut bestellt, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte das Zarenreich nur über eine viertel Million Beamte. Das war für die inzwischen fünftgrößte Industriemacht der Welt deutlich zu wenig, zumal dieser Apparat vorsintflutliche Züge trug.

Seine Angehörigen waren keine Staatsbediensteten, sondern persönliche Diener des Zaren. Auf ihn, nicht auf den russischen Staat, schworen sie ihren Eid. Sie unterstanden auch nicht dem Gesetz, denn »die Gesetze werden für die Untertanen geschrieben, nicht für die Behörden«, so ein Polizeichef des Zaren.

Und um den Bildungstand des durchschnittlichen zaristischen Beamten war es ebenso erbärmlich bestellt wie mit der Bezahlung, so dass zu der mangelnden Qualifikation die Korruption geradezu notwendig hinzutrat. So war der Gewaltapparat des zaristischen Staates im Gegenteil zur landläufigen Meinung schwach entwickelt.18 Mit der Februarrevolution 1917 verschwand dieser Staatsapparat inklusive der Polizei fast vollständig von der Bildfläche. Miljukow, der Führer der Kadetten beschrieb dies folgendermaßen:

„Die innere Zersetzung fand zunächst in der vollkommenen Vernichtung sämtlicher vorrevolutionären Organe der Staatsgewalt ihren Ausdruck. Gleich von den ersten Tagen der Märzrevolution an waren sämtliche Beamten der früheren zaristischen Verwaltung einfach verschwunden, von den obersten Stellen bis hinab zu den untersten. Ein Versuch wurde vom Fürsten Lwow, dem Premier und Innenminister, gemacht, die Semstwoleute an die Stelle jener Beamten treten zu lassen scheiterte. … Aber dieser neue Stab der lokalen Selbstverwaltungskörperschaften (musste) sehr bald vor den «Sowjets» oder anderen Organen der »revolutionären Demokratie zurücktreten.“19

Mit dem Sieg der Februarrevolution war der zaristische Staatsapparat zerschlagen (ganz anders als anderthalb Jahre später in Deutschland, wo die Sozialdemokratie den preußischen Beamtenstaat vor der Revolution rettete). In Russland gab es ab März 1917 keine andere bewaffnete Gewalt mehr als die Bajonette der Bauernarmee. Aus ihren Gewehrläufen entsprang die politische Macht, und es war der Sowjet, der diese Gewehre letztendlich kommandierte.20 Dies bestimmt das Geschehen des Revolutionsjahres.

Der geschilderten ökonomischen Schwäche und politischen Zersplitterung der besitzenden Klassen stand im März 1917 die im Sowjet organisierte Masse der Bauernschaft und des in den Metropolen auch zahlenmäßig bedeutenden Proletariats gegenüber. Beide organisiert und zusammengeschlossen im Sowjet, allerdings mit kleinbürgerlicher Majorität und Führung. Dies verdeutlicht, dass es an einem gesicherten gesellschaftlichen Fundament für die Aufrichtung einer stabilen bürgerlichen Herrschaft in Russland fehlte.21

4. Wer hat die Macht im Staat?

Ganz anders sieht dies die marxistisch geprägte Geschichtsschreibung. Für sie ist es eine unumstößliche Tatsache, dass mit der Februarrevolution die russische Bourgeoisie an die Macht kam. So schreibt Hans Hautmann: „Durch die Februarrevolution wurde die russische Großbourgeoisie für acht Monate zur herrschenden Klasse. Ihrer politischen Einstellung nach war sie oktobristisch-kadettisch.“22

Und Stefan Bollinger in seinem Buch „Oktoberrevolution“ führt gleich die Autorität Lenins für diese Einschätzung ins Feld. „Für Lenin war klar: ‚Die Arbeiter und Soldaten haben die Revolution gemacht. Aber die Macht hat zunächst, wie das auch in anderen Revolutionen der Fall war, die Bourgeoisie an sich gerissen (…). Nicht die Reichsduma – die Duma der Gutsbesitzer und der Reichen –, sondern die aufständischen Arbeiter und Soldaten haben den Zaren gestürzt. Aber die neue, die Provisorische Regierung wurde von der Reichsduma ernannt.‘23 … All dies änderte nichts an der Tatsache, dass es die ewig gestrigen Kreise waren, die in der Revolution die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“24

Ohne zaristischen Staatsapparat, ohne nennenswerte eigenständige Machtbasis, eine verschwindende Minderheit der russischen Gesellschaft repräsentierend, allein gestützt auf die Duma und den zaristischen Generalstab, soll die russische Bourgeoisie, „den Zaren zur Abdankung“ gedrängt haben25 und „die Macht an sich gerissen“ haben. Ein Wunder an Tatkraft und Entschlossenheit, das sich die russische Bourgeoisie selbst nicht zutraute.26 Bollingers Geschichte der Februarrevolution ist eine „sozialistische Märchenstunde“ für die tatsächlich „ewig gestrigen Kreise“ der „marxistischen Orthodoxie“.

Und er erzählt dieses Märchen gestützt auf eine gänzlich unorthodoxe Zitierweise Lenins. Abgeschnitten von gesicherten Informationen über die konkreten Fakten der Februarrevolution – noch im Schweizer Exil verweilend –formuliert Lenin die von Bollinger zitierte Einschätzung zum Verlauf der Februarrevolution. In Petrograd angekommen, nun im Besitz gesicherterer Informationen, revidiert er diese Einschätzung öffentlich. „Erst hier an Ort und Stelle erfuhren wir, dass der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Macht an die Provisorische Regierung abgetreten hat. Der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten ist die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats und der Soldaten; die Mehrheit der Soldaten besteht aus Bauern. Das eben ist die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Diese ‚Diktatur‘ aber hat mit der Bourgeoisie ein Übereinkommen getroffen.“27 Dies kommt der historischen Wirklichkeit schon näher als die von Bollinger28 zitierte Einschätzung aus dem Schweizer Exil. Und es trifft trotzdem noch nicht den Kern der Sache. „Die Mehrheit der Soldaten besteht aus Bauern“, das ist korrekt. Dass diese „Bauern-Soldaten“ zusammen mit „sozialpatriotischen“ Arbeitern auch die Mehrheit des Sowjets stellen, dass sie und ihre politische Parteien (Sozialrevolutionäre und rechte Menschewiki) das politische Gesicht und Programm des Sowjets bestimmen, dass damit nicht die Diktatur des „Proletariats und der Soldaten“ – wie Lenin formuliert –, sondern die Diktatur der Soldaten (Bauern) im Bündnis mit den „sozialpatriotischen“ Teilen der Menschewiki aufgerichtet wird, das eben formuliert Lenin nicht. Ihn interessiert mehr, dass diese Sowjetmehrheit eine „Macht … von demselben Typus, wie es die Pariser Kommune von 1871 war“,29 ein „Übereinkommen“ mit der Bourgeoisie getroffen hat, um derselben die Regierung zu überlassen.

5. Die Rolle von Bourgeoisie und Generalstab

Die Überbewertung der Rolle der Bourgeoisie und des Generalsstabs während der Februarrevolution durchzieht die bürgerliche Geschichtsschreibung und wird von Bollinger kritiklos übernommen. So schreibt Hildermeier in dem APuZ-Heft zur russischen Revolution: „Hinter dieser ‚Provisorischen Regierung‘ stand ein sogenanntes Duma-Komitee aus führenden Parlamentsabgeordneten der liberalen Parteien, das sich am Ende der Streikwoche, als die alte Herrschaft faktisch schon zusammengebrochen war, gebildet hatte, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Dies konnte nur mit Zustimmung des Oberkommandos der Armee geschehen. Die Generäle waren zu dem Entschluss gekommen, dass die Monarchie nicht mehr in der Lage sei, die unerlässliche Stabilität im Hinterland zu gewährleisten. Letztlich hatten sie mit ihrem Votum den widerstrebenden Zaren zum Thronverzicht gezwungen und das Duma-Komitee ermuntert, die Macht zu übernehmen. … Mithin opferten die Generäle, die gewiss keine Revolutionäre waren, die Monarchie für das Überleben der Nation.“30 Wenn man in der Fortsetzung des Weltkrieges eine Garantie für „das Überleben der Nation“ sieht – wie Hildermeier es formuliert – ist zumindest der letzte Satz des Zitats zutreffend.

Der Rest der Darstellung unterschlägt das jeweils Wesentliche der Ereignisse. Die führenden Kräfte der Duma organisierten zusammen mit den Alliierten und führenden Köpfen des Generalstabs eine Verschwörung zum Sturz Nikolaus II. Ziel dieser Verschwörung war die Abdankung des Zaren und seiner noch verhassteren Frau, die tatsächlich entscheidenden Einfluss auf die Regierungsgeschäfte ausübte, durch ein anderes, weniger verhasstes Mitglied der Zarenfamilie.31 Alle an diesem Komplott beteiligten Kräfte wollten nicht die Monarchie, sondern nur den konkreten Monarchen, nicht den Zarismus, sondern nur Nikolaus II samt Gattin stürzen. Dass sie bereit gewesen wären, die Monarchie zu stürzen – wie Hildermeier es formuliert – ist nicht belegbar und durch ihr weiteres politisches Agieren im Revolutionsjahr auszuschließen.32

Die genannten Kräfte betrieben die Verschwörung mit zwei Zielsetzungen:
Erstens, um die Gefahr eines Separatfriedens mit Deutschland auszuschließen und den Weltkrieg effektiver führen zu können als der Zar und seine Regierung es bisher verstanden hatten.33
Zweitens, um der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung und Armee zuvorzukommen, d.h. um genau das zu vermeiden, was in der Februarrevolution wirklich wurde.

Das gemeinsame Projekt der Verschwörer, unter dem Schutz der personell erneuerten Romanow-Dynastie eine bürgerlich beeinflusste Kriegsregierung34 zu installieren, scheiterte. Die Revolution kam der Verschwörung zuvor und fegte den Zarismus und seinen Staatsapparat beiseite. Und mit der Verschwörung scheiterte auch der Traum der Bourgeoisie, gestützt auf die 300hundertjährige Tradition des Zarismus, gestützt auf einen intakten zaristischen Staatsapparat samt Armee, sich einen Weg in die Regierung und zur Beteiligung an der Macht zu bahnen.

Nicht aus den Händen eines neuen Zaren und seiner Generalität erwuchs dem Duma-Komitee die Möglichkeit einer Regierungsbildung, sondern nur mit dem Programm und der Billigung des Sowjets. Oder wie Miljukow es so treffend an dem Tag, als die Revolution in Petrograd gesiegt hatte, formulierte: „Aber wir strebten nicht auf dem Weg über die Revolution zur Macht. Wir haben den Weg abgelehnt, es war nicht unser Weg.“35 Die Revolution war für die russische Bourgeoisie ein „größeres Übel“ als es die ehemalige zaristische Ordnung darstellte. Ihre führenden Köpfe – wie bereits ausgeführt – wussten um die politische und gesellschaftliche Schwäche ihrer Klasse.

Es ist politische Taschenspielerei, die gescheiterte Verschwörung zum Sturz des Zaren aufgrund der Bildung der Provisorischen Regierung im März 1917 zu einer erfolgreichen Verschwörung umzudeuten, weil (vermutlich) in beiden Fällen dasselbe Duma-Komitee die neue Regierung zu bilden gehabt hätte. Genau dies aber macht Bollinger, wenn er schreibt: „Verhängnisvoll (war es) im Jahre 1917 auch deshalb, weil die ’neuen‘ politischen Akteure nicht verstanden, warum es zu den Unruhen kam, in deren Ergebnis eine ‚Palastrevolution‘ der bestehenden bürgerlichen Duma-Parteien möglich wurde.“36 Nein, die Provisorische Regierung kam nicht als Ergebnis einer „Palastrevolution“ und mit intaktem zaristischen Staatsapparat und Armee zu ihrem Amt, sondern nach der siegreichen Revolution über den Zarismus und der Auflösung seines Staatsapparates auf Wunsch und mit dem Programm des Sowjets. Dies erklärt ihre Schwäche, ihre fast vollständige Abhängigkeit vom Sowjet mit seiner kleinbürgerlich geprägten Mehrheit.

6. Die Juli-Ereignisse

Besonders deutlich wird der Klassencharakter des Sowjets während der Juli-Ereignisse. Nach gängiger marxistischer Geschichtsschreibung endete mit den Juli-Ereignissen die Doppelherrschaft von Sowjetführung und Provisorischer Regierung und ging allein an die Bourgeoisie über. „Damit war die Macht in Russland völlig an die konterrevolutionäre Regierung übergegangen und die Periode der Doppelherrschaft beendet.“37

Was geschah wirklich im Juli? Noch während der am 16. Juni begonnene Sowjetkongress tagte, drängten die Petrograder Arbeiter und verschiedene radikale Regimenter die bolschewistische Partei zu einem „Auftritt“ auf den Straßen der Hauptstadt gegen die Provisorische Regierung und die Sowjetmehrheit. Die Mehrheit der Arbeiterschaft Petrograds war bereit, die Provisorische Regierung zu stürzen und die gesamte Macht dem Sowjet zu übertragen. Dieser Meinung waren auch die in Kronstadt stationierten Matrosen der Baltischen Flotte. Besonders anschaulich schildet dies Suchanow. „Die Putilow-Arbeiter sind da, dreißigtausend Mann, sie sind äußerst aggressiv, … sie verlangen nach Zereteli (rechter Führer der Menschewiki; A.S.) … Einer der Arbeiter, ein klassischer Sanscoulotte mit Arbeitermütze und kurzer, blauer Bluse ohne Gürtel, mit einem Gewehr in der Hand, sprang auf die Rednertribüne. Er zitterte vor Aufregung und Wut, fuchtelte mit dem Gewehr und stieß mit heftiger Stimme … aus: ‚Genossen! Wie lange müssen wir Arbeiter den Verrat noch dulden?! Ihr seid hier zusammengekommen, beratet euch, schließt Abmachungen mit der Bourgeoisie und den Gutsbesitzern … Ihr seid damit beschäftigt, die Arbeiterklasse zu verraten. Dann wisst also, die Arbeiterklasse wird dies nicht dulden! Wir sind hier dreißigtausend Putilow-Arbeiter, keiner fehlt! … Wir werden unseren Willen durchsetzen! Merkt Euch, es soll keine Bourgeoisie mehr geben! Alle Macht den Sowjets! … Wir werden auf Eure Kerenski und Zereteli nicht hereinfallen.“38 Wohlgemerkt, die Massen marschieren zum Sowjet, nicht zum Sitz der Provisorischen Regierung. 39 Sie fordern vom Sowjet die Machtergreifung.

Gespalten war dagegen die Stimmung innerhalb der Garnison der Hauptstadt. Einzelne radikale Regimenter standen mit an der Spitze der revolutionären Massenbewegung, aber die Mehrheit der Garnisonstruppen war weder bereit, den Umsturz zu unterstützen noch die ungeliebte Provisorische Regierung zu verteidigen. Sie blieben während der Juli-Aktionen erst einmal passiv in ihren Kasernen. Gleichzeitig standen die Fronttruppen und einzelne Garderegimenter in Petrograd40 noch weitgehend hinter der Sowjetführung.

Die Bourgeoisie hatte mit dem Kern der Juli-Ereignisse nichts zu schaffen; denn dies war der Machtkampf zwischen dem Proletariat der Hauptstadt, den Kronstädter Matrosen und den ihnen nahestehenden Truppenteilen einerseits, sowie der Masse der Bauernschaft im Land und der Armee, verkörpert durch den tagenden Sowjetkongress, andererseits. Es war eine Auseinandersetzung innerhalb der sog. „revolutionären Demokratie“, zwischen der proletarischen Avantgarde einerseits und dem über Russland und seine Armee herrschenden Kleinbürgertum, vertreten durch die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, andererseits.

Suchanow dazu: „Die ‚Aufständischen‘ forderten eine Diktatur des Sowjets zur Erfüllung ihres unabdingbaren Programms: Frieden, Brot und Land. Die ‚Treuen‘ dagegen erkannten den Sowjet zwar auch als Diktatur an, aber ohne Vorbehalt; sie folgten nur blindlings den blinden Führern und waren bereit alle Befehle zu erfüllen. Befahl der Sowjet, ihn selbst nicht als Staatsgewalt anzuerkennen … nun, die ‚Treuen‘ akzeptierten es ohne Widerrede, denn der Sowjet war doch ihr Diktator und ihre Staatsgewalt!“41 Hier wird es treffend auf den Punkt gebracht. Die Sowjetführung mag der Provisorischen Regierung „unbeschränkte Vollmachten und unbeschränkte Macht“ zusichern, was nach den Juli-Ereignissen auch geschieht, aber es ist der Sowjet, von dem diese Macht ausgeht. Und im Oktober nimmt er diese Macht in seine eigenen Hände – mit einer anderen Mehrheit.

Die Juli-Demonstrationen versetzten die Sowjetführung in Panik. Kerenski reiste an die Front, u. a. um verlässliche Truppen nach Petrograd zu schaffen, und der Justizminister bekundete – vermutlich im Einvernehmen mit Kerenski –, „Dokumente“ zu besitzen, die Lenin als deutschen Spion enttarnen würden. Dadurch wurde die Stimmung innerhalb der passiven Regimenter gekippt.42 Der nächste logische Schritt der Sowjetführung war der Versuch, ihre politische Basis vom Sowjet zu lösen und nach rechts zu erweitern. Dies sollte mit der Moskauer Staatsberatung geschehen, die dann direkt zur Kornilowiade führte. Dies kann der Leser im nachfolgend abgedruckten und kommentierten Text von N. Bucharin lesen.

7. Der Oktober

Im September-Oktober 1917 zogen die Bauern die Lehren aus den acht Monaten der politischen Herrschaft des Kleinbürgertums und seiner politischen Interessenvertretung. Sie zogen sie sowohl praktisch als auch politisch: praktisch, indem sie massenhaft begannen, sich das Land zu nehmen und von der Front zu desertieren; politisch, indem sie sich der Partei zuwandten, die bereit war, ihnen das Land zu garantieren und den Krieg zu beenden. Dies war das Programm der Bolschewiki, die zu diesem Zeitpunkt bereits die Mehrheit des russischen Proletariats hinter sich vereint hatten.

Mit der Abwendung der Bauernschaft vom Bündnis mit der Bourgeoisie, mit ihrer Loslösung aus der kleinbürgerlich geprägten Führung der alten Sowjetmehrheit, eröffnete sich dem russischen Proletariat die Möglichkeit, die Staatsmacht zu ergreifen und zu behalten. Die Bolschewiki hatten zu diesem Zeitpunkt die große Mehrheit des Proletariats für ihre Forderungen gewonnen. Jetzt war es möglich, das zu verwirklichen, was im Juli nicht gelungen war: die kleinbürgerliche Hegemonie des Zentralen Exekutivkomitees des Sowjets zu brechen und die politische Macht in den Händen der siegreichen proletarischen Minoritätenrevolution, der neuen Sowjetregierung, zu konzentrieren.

Die Machteroberung im Oktober konnte somit der Form nach als „angekündigter Staatsstreich“ durchgeführt werden, dem Inhalt nach war sie Ausdruck der Abwendung der Mittelschichten, im Kern der Bauernschaft, von einer Kooperation mit der Bourgeoisie. Im Oktober war die bewaffnete Bauernschaft, war die Armee nicht mehr bereit, die Provisorische Regierung zu verteidigen. Die Regierung musste nicht gestürzt, sondern nur verhaftet werden.

Um diese Macht zu stabilisieren, um dauerhaft zum Hegemon der Revolution zu werden, war aber ein weiterer Schritt notwendig, die Übernahme des rückwärtsgewandten, antikapitalistischen bäuerlichen Agrarprogramms. Dies war von zentraler Bedeutung für den Sieg des Oktoberumsturzes im ganzen Land.

Mit der Übergabe des Bodens an die Bauern zur ausgleichenden Bodennutzung wurde zugleich die politische Dominanz der in der Armee und im Sowjet organisierten Bauernschaft über die Revolution gebrochen, denn mit der Umsetzung der Landumteilung löste sich die Armee auf43 und damit letztendlich auch die Vorherrschaft der Bauern-Soldaten über die Sowjets. Die sich auf das Proletariat stützende Macht der Bolschewiki konnte so ihre Herrschaft sichern.

Der Preis für die proletarische Machtergreifung war eine antikapitalistische, rückwärtsgewandte Agrarrevolution, die jeden direkten Weg zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft versperrte. Lenin und weitere bolschewistische Führer – keineswegs alle – waren bereit, diesen Preis zu zahlen. Über die Rechnung hatten sie im Oktober noch keine Klarheit.44 Sie wollten die Fackel der Revolution „in den Pulverkeller des alten bluttriefenden Europa werfen“, wie Bucharin es ausdrückte. Der von der russischen Revolution ausgestellte Scheck sollte von der proletarischen Revolution im Westen eingelöst werden. Warum dieser Scheck 1918 in Deutschland nicht eingelöst wurde, entwickelt der Genosse Karuscheit in seinem neuen Buch „Die verlorene Demokratie“.45

Zum Schluss der Versuch, das Neue unseres Ansatzes zur russischen Revolution in drei Thesen zusammenzufassen:

  1. Bedingt durch die Besonderheiten Russlands war die Februarrevolution keine bürgerliche Revolution, wie wir sie aus der Geschichte Westeuropas kennen. Weder wollte die russische Bourgeoisie diese Revolution noch war sie eine Triebkraft der Februarrevolution. Sie stand der Revolution offen feindlich gegenüber und fürchtete die Revolution mehr als den Zarismus. Die Februarrevolution hat ihren Ursprung in einer Revolte der Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch das Überlaufen der bäuerlich geprägten Regimenter der Hauptstadt siegen konnte. Ihr Ergebnis war ein kleinbürgerlich-bäuerlich geprägter Sowjet, der das politische Geschehen des Revolutionsjahres bestimmte.
  2. Die Bourgeoisie kam nach der Februarrevolution mit Unterstützung dieses Sowjets zwar an die Regierung, war aber 1917 niemals im Besitz der politischen Macht. Die Macht lag beim Sowjet, dessen führende Parteien – SR und rechte Menschewiken – aus Mangel an einem eigenständigen politischen Programm zu den Fragen von Land und Frieden fortwährend ein Bündnis mit der Bourgeoisie suchten. Der durchgängig verwendete Begriff der Doppelherrschaft verdunkelt, wo die tatsächliche Macht lag, nämlich beim Sowjet.
  3. Die Oktoberrevolution war keine „große sozialistische Revolution“, sondern ein bolschewistischer Aufstand, getragen von der Arbeiterklasse, und damit eine Minoritätenrevolution. Der Sieg dieses Aufstandes war – wie im Februar 1917 – abhängig von der Unterstützung bzw. Duldung der bewaffneten und in den Sowjets organisierten Bauernschaft. Der Preis der bolschewistischen Machtergreifung war deshalb die Umsetzung des rückwärtsgewandten bäuerlichen Agrarprogramms der „schwarzen Umteilung“, das die russische Sozialdemokratie und allen voran Lenin 20 Jahre lang als utopisch, reaktionär und slawophil kritisiert hatte. Zugleich brach die Umsetzung dieser Agrarreform die bäuerliche Vorherrschaft über den Sowjet und die russische Revolution. Während die Agrarreform jeden direkten Weg zum Aufbau des Sozialismus ausschloss, sicherte sie zugleich die politische Macht des Proletariats und der Bolschewiki.

—————————————-

Berliner Debatte Initial Nr. 28

Eine breitere Vorstellung bürgerlicher und linker Neuveröffentlichungen zum Revolutionsjahr ist für eine spätere AzD-Nummer geplant.

David Anin: Die russische Revolution von 1917; München 1976, S. 22

4 Pipes 1992, S. 483

5 Diesen Unterschied verwischt die bürgerliche Geschichtsschreibung gerne, allen voran Manfred Hildermeier in seinen aktuellen Aufsätzen zum 100 Jahrestag. Siehe dazu u.a. APuZ Nr. 34-36, S. 11. Die Februarrevolution siegte nicht, weil sie von der Generalität unterstützt wurde. Das Gegenteil ist wahr: die Generalität war ebenso wie das Duma-Komitee ein Gegner der Volksrevolution.

Suchanow 1967, S. 70

7 Anweiler 1958, S. 131

8 Siehe Alfred Schröder und Heiner Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917; Hamburg 2017, S. 89-90 (künftig zitiert als: Schröder/Karuscheit)

Patriotische Vaterlandsverteidiger vom rechten Flügel der Menschewiki

10 Schröder/Karuscheit, S. 204f.

11 „1913 machte ausländisches Kapital etwa 41 Prozent der in der Industrie und Bankwesen getätigten Gesamtinvestitionen aus. Eine mögliche Sorgenquelle war das Ausmaß des Handelsvolumens mit Deutschland, das sich per Valuta auf etwa 40 Prozent des gesamten Außenhandels belief. Die staatlich geförderte Industrialisierung wurde finanziell durch den Getreideexport abgesichert …“ (Stephen A. Smith: Revolution in Russland, Darmstadt 2017, S. 47)

12 „Die entscheidenden Sektoren der Schwerindustrie und des Transportwesens hingen von staatlichen Aufträgen, Subventionen und Vorzugszöllen ab, weshalb die Unternehmer, die oftmals Ausländer waren, hier kaum mehr taten als sich über bürokratische Kontrollen zu beschweren. In St. Petersburg waren die Besitzer der Fabriken für Metallverarbeitung und Maschinenbau zusammen mit den Großbankiers recht gut organisiert, vor allem um ihren Einfluss auf Regierungskreise bemüht, statt politische Reformen oder die Modernisierung der Produktionsverhältnisse zu unterstützen.“ (Stephen A. Smith: Revolution in Russland, Darmstadt 2017, S. 49-50)

13 Oktobristisch: auf dem Boden des Oktober-Manifestes des Zaren von 1905 stehend. „Die Textilfabrikanten in der Moskauer Industrieregion bildeten den einflussreichsten Sektor der einheimischen Kapitalisten; sie waren in der Führung ihrer Betriebe eher konservativ und paternalistisch. Viele entstammten einer Familie von Altgläubigen. Anders als die Eisen- und Stahlfabrikanten waren sie nicht von staatlichen Aufträgen abhängig und unterstützten nach 1905 die Forderung nach politischen Reformen.“ (Stephen A. Smith: Revolution in Russland, Darmstadt 2017, S. 49)

14 „An der Wende zum 20. Jahrhundert waren etwa drei Viertel des in bäuerlichem Besitz befindlichen Landes, darunter fast die Hälfte des Ackerlands, einer einzigartigen Form von Verwaltung unterworfen, in der die Haushaltsvorstände das der Gemeinschaft gehörende Ackerland periodisch neu unter die betreffenden Haushalte aufteilten. Des Weiteren entschied diese Dorfversammlung darüber, wann die Haushalte pflügen, säen, ernten oder Heu machten sollten. Solche Art von kollektiver Kontrolle hatte den Zweck, unwägbare Umweltrisiken zu minimieren und dafür zu sorgen, dass die Armen nicht zur Belastung wurden. Die Dorfversammlung war auch für die Steuerzahlung der Haushalte verantwortlich und musste Recht und Ordnung aufrechterhalten.“ (Stephen A. Smith: Revolution in Russland, Darmstadt 2017, S. 37-38)

15 „Somit haben sich die Bauern klar und entschieden gegen die alte Dorfgemeinde, für freie Genossenschaften und für die Bodennutzung durch Einzelpersonen ausgesprochen. Dass das tatsächlich die Stimme der Gesamtbauernschaft ist, kann nicht bezweifelt werden, denn auch der Entwurf der Trudowikigruppe erwähnt die Dorfgemeinde mit keiner Silbe.“ (LW Bd. 13, S. 285)

16 Das russische Proletariat war als Ergebnis staatlicher und ausländischer Investitionen in wenigen industriellen Zentren und dort wiederum in Großbetrieben konzentriert; über die Hälfte der Arbeiter arbeitete in Betrieben von mehr als 500 Personen. Obwohl es mit 3-4 Mio. nur eine absolute Minderheit der zwischen 165 und 175 Mio. zählenden Bevölkerung Russlands ausmachte, war es durch seine Ballung in den politischen und industriellen Zentren (in erster Linie Petersburg und Moskau) ein wesentlicher politischer Faktor. Dieses Proletariat ging nicht wie in Westeuropa aus Handwerk und städtischen Unterschichten hervor, sondern aus der Bauernschaft, was erhebliche politische Folgen hatte. … Bis zur Agrarreform 1906 war fast jeder städtische Arbeiter noch Mitglied der Dorfgemeinde und hatte dort Anspruch auf ein Stück Land.“ (Schröder/Karuscheit, S. 37)

17 siehe dazu: Schröder/Karuscheit, S. 55 ff.

18 So schreibt Stephen A. Smith: “ es ist augenfällig, wie schwach die Polizeikräfte tatsächlich waren … Da Polizisten sehr viel kostenträchtiger waren als Soldaten, ließ das Regime gefährlichere Aufruhrversuche durch die Armee niederschlagen. Insofern war die Regierungsgewalt im zaristischen Russland zu wenig durchschlagkräftig und die Bürokratie zu schwächlich, als dass von einem Polizeistaat … gesprochen werden könnte.“ (Stephen A. Smith, Revolution in Russland, Darmstadt 2017, S. 30)

19 P. Miljukow: Rußlands Zusammenbruch, Erster Band, Berlin 1925, S. 40

20 „Denn man darf nicht vergessen, dass faktisch in Petrograd die Macht in den Händen der Arbeiter und Soldaten liegt; Gewalt wendet die neue Regierung gegen sie nicht an und kann sie auch nicht anwenden: gibt es doch weder eine Polizei noch ein vom Volk getrenntes Heer, noch ein allmächtig über dem Volke stehendes Beamtentum. Das ist eine Tatsache.“ (Briefe über die Taktik, April 1917; LW 24, S.28;) Es fehlt der Satz, dass dieses Heer ein bäuerliches ist, und damit die Macht kleinbürgerlich dominiert ist. Genau dies ist aber das Wesen der Sache, das Lenin nicht herausarbeitet.

21 „Die Bourgeoisie oktobristisch-kadettischen Typs braucht die Monarchie als Haupt der Bürokratie und der Armee zum Schutz der Privilegien des Kapitals gegen die Werktätigen.“ (Briefe aus der Ferne, März 1917; LW 23, S. 319). Die Bürokratie und die Polizei waren zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr existent und die politische Macht entsprang den Gewehrläufen der bäuerlichen Armee. Die Bourgeoisie „oktobristisch-kadettischen Typs“ war zu diesem Zeitpunkt bereits bar jeden Schutzes durch die Monarchie.

22 Hans Hautmann, http://www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Hautmann_1_17.pdf. In gekürzter Form auch abgedruckt in den Marxistischen Blättern, Sonderausgabe 1917-2017

23 LW 23, S. 359. Suchanow, ein Teilnehmer an den Verhandlungen zur Bildung der Provisorischen Regierung schildert dies gänzlich anders: „Es war an der Zeit, eine gemeinsame Sitzung (des Exekutivkomitees des Sowjets) mit dem Dumakomitee zu organisieren, um eine Provisorische Regierung zu gründen und ihr Programm festzulegen.“ (Suchanow, S. 122). Zur Zusammensetzung der Regierung beschloss das Exekutivkomitee: „Der letzte Punkt – die personelle Zusammensetzung der Regierung – wurde ohne jegliche Schwierigkeit entschieden. Es wurde beschlossen, sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen und es der Bourgeoisie zu überlassen, die Regierung nach Gutdünken zu bilden.“( Suchanow S. 122) Zuvor hatte es eine heftige Auseinandersetzung im Exekutivkomitee gegeben, ob eine Koalitionsregierung des Sowjets mit den Vertretern des Duma-Komitees gebildet werden sollte. Dies wurde mehrheitlich abgelehnt. (Suchanow, S. 119). Auch hier ist bedeutsam, dass der Sowjet nicht nur das Programm der Regierung beschließt, sondern sich ebenso befugt sieht – wenn auch nur negativ – ihre Zusammensetzung zu bestimmen.

24 Stefan Bollinger: Oktoberrevolution, Berlin 2017, S. 10/11

25 Die führenden Köpfe der russischen Bourgeoisie wollten ebenso wie der zaristische Generalstab und die Alliierten eine Abdankung Nikolaus‘ II., aber nicht um den Zarismus zu stürzen, sondern um ihn zu erhalten. Der Sturz des Zaren wurde betrieben, um den Zarismus zu retten. Diese Nuance lässt nicht nur Bollinger, sondern auch Hildermeier in seinen verschiedenen Veröffentlichungen zu diesem Thema außer acht (siehe u.a. APuZ 34-36, 2017, S. 11).

26 Miljukow „glaubte ganz einfach nicht, dass irgendeine Regierung lebensfähig wäre und dem Druck des Sowjets (…) standhalten könnte, falls nicht das traditionelle Schwergewicht der Monarchie für sie in die Waagschale gelegt würde.“ (siehe dazu Schröder/Karuscheit, S. 40)

27 Stadtkonferenz der SDAPR/B im April 1917; LW 24, S. 128

28 Stefan Bollinger sollte als „Mitglied der historischen Kommission beim Parteivorstand“ der Linkspartei seinen Lenin besser kennen und dessen Irrtümer – von denen es 1917 genug gab –eher als Annäherungen an die gesellschaftliche Realität des Revolutionsjahres darstellen, als sie zur Zitatquelle eigener Fehleininterpretationen der russischen Entwicklung zu missbrauchen.

29 Über die Doppelherrschaft; LW 24, S. 20-21

30 APuZ Nr. 34-36; S. 11

31 Zu den verschiedenen Komplotten und Plänen siehe Schröder/Karuscheit; S. 18-30

32 Siehe dazu die Bemühungen Miljukows und Gutschkows zur Erhaltung der Monarchie (Schröder/Karuscheit, S. 38-40) sowie die Stellung des Generalstabs beim Kornilowputsch.

33 Der ganze Ablauf der Ereignisse während der Februar-März-Revolution zeigt deutlich, dass die englische und die französische Botschaft mit ihren Agenten und ‚Verbindungen‘, die seit langem die verzweifelten Anstrengungen machten, ’separate‘ Übereinkünfte und einen Separatfrieden zwischen Nikolaus dem Zweiten (und dem letzten, wie wir hoffen und erstreben) und Wilhelm dem Zweiten zu verhindern, zusammen mit einem Teil der Generalität und des Offizierskorps der Armee sowie der Petersburger Garnison eine direkte Verschwörung organisierten, und zwar besonders mit dem Ziel der Absetzung Nikolaus Romanows.
Machen wir uns keine Illusionen. Begehen wir nicht den Fehler …. einen Schleier über die Verschwörung der englisch-französischen Imperialisten mit den Gutschkow und Miljukow (zu werfen), die das Ziel hatte, den ‚Oberkrieger‘ Nikolaus Romanow abzusetzen und ihn durch energischere, frischere und fähigere Krieger zu ersetzen. (Briefe aus der Ferne, März 1917; LW 23, S. 316-317)

34 Eine „Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens“ war die Formulierung Miljukows.

35 Suchanow, S. 64

36 Stefan Bollinger: Oktoberrevolution, Berlin 2017, S. 10

38 Suchanow, S. 445-446

39 Suchanow schreibt zur Rolle der Regierung während der Juli-Ereignisse: „Was unsere sogenannte Regierung im Marienpalais unternahm, war selbstverständlich völlig uninteressant. Sie war eine gänzlich unbedeutende Größe und ein hilfloser Spielball der Ereignisse. Sie musste still sitzen bleiben und darauf warten, was die sowjetischen Führer oder die Volksmassen mit ihr zu tun beschlössen.“ (Suchanow, S. 422)

40 Semjonow- und Preobrashenskij-Regiment, bekannt reaktionäre Garderegimenter

41 Suchanow, S. 452

42 Schröder/Karuscheit, S. 71

43 Der wenige Monate später folgende Abschluss eines Separatfriedens mit Deutschland war die notwendige Folge des Bodendekrets. Mit dem Bodendekret hat man faktisch die Armee aufgelöst, ihre formelle Auflösung Anfang 1918 war nur die Anerkennung einer Tatsache.

44 Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man keine Klarheit über das ökonomische und politische Gesicht der russischen Bauernschaft besaß.45Heiner Karuscheit: Die verlorene Demokratie. Der Krieg und die Republik von Weimar; VSA, Hamburg 2017