V. Die Lösung der deutschen Frage zwischen den Lagern

Die Wahlen bedeuteten noch nicht automatisch die Wiedervereinigung. Diese mußte mit den Siegermächten des 2.Weltkriegs ausgehandelt werden. Sie beanspruchten noch mehr als 40 Jahre nach Kriegsende alliierte Vorbehaltsrechte in Bezug auf „Deutschland als Ganzes“, hatten Truppen in Stärke von fast einer Million auf deutschem Boden stationiert, mehr als Bundeswehr und NVA zusammen, und hatten nach wie vor keinerlei Interesse an der Einheit Deutschlands. Wie war es dann möglich, daß die Wiedervereinigung so rasch erfolgte – Wahl hin, Wahl her?

Für die Linke ist die Antwort so einfach wie ihr Zwei-Lager-Weltbild: „der“ Imperialismus hat den Sozialismus (zumindest die Sowjetunion) besiegt und die DDR durch eine bürgerliche Konterrevolution geschluckt. Diese Erklärung hat allerdings den Schönheitsfehler, daß die Widersprüche zwischen den beteiligten Mächten so offenkundig waren, daß von einer Politik „des“ Imperialismus keine Rede sein kann. Aber die Linke läßt sich dadurch nicht irritieren, sondern hat auch darauf eine Antwort gefunden, die der vorherigen zwar entgegengesetzt, aber an Überzeugungskraft ebenbürtig ist: es war „der deutsche Imperialismus“, der allen anderen Mächten seinen Willen aufzwang. Wer allerdings nicht an Wunder glaubt, steht vor der Aufgabe, rational zu erklären, wie die deutsche Einheit gegen die Siegermächte des 2.Weltkriegs zustandekam. Kaum leichter zu beantworten ist die Frage nach den Ursachen für die fortgesetzte NATO-Mitgliedschaft Deutschlands, die keineswegs selbstverständlich war. Schließlich wurden mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit alle zwischenzeitlich eingegangenen Bündnisverpflichtungen der beiden deutschen Teilstaaten hinfällig und hat die deutsche Bourgeoisie kein überzeitliches Interesse an der Nato-gestützten Anwesenheit der USA in Europa. Außerdem war die Sowjetunion, der historische Gegner der NATO, 1989/90 noch keinesfalls von der Bühne abgetreten. Hier liegt darum das eigentliche Geheimnis der Ereignisse. Die Fragen hängen engstens miteinander zusammen; ihre Auflösung führt in das Jahr 1952/53 zurück und schließt den Kreis zum Untergang der Sowjetunion.

1. Die deutsche Bourgeoisie zwischen NATO und KSZE

Zwar stand die Wiedervereinigung im Bonner Grundgesetz und wurde in Sonntagsreden beschworen, aber bei der Entwicklung in der DDR spielte die deutsche Bourgeoisie zunächst keine Rolle. Nur in den Phantasien der Linken brütete sie Tag und Nacht über Revanchismus, Imperialismus und die Eroberung der DDR. In der Realität hatte sie sich nach Adenauers Triumph am 17.Juni 1953 mit der Spaltung abgefunden. Seit Anfang der 70er Jahre basierte die westdeutsche Entspannungspolitik darauf, die Grenzen in Europa auch offiziell anzuerkennen und auf dieser Grundlage durch die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion den deutschen Handlungsspielraum gegenüber den USA zu vergrößern. Diese Ostpolitik wurde auch nach der sogenannten „Wende“ von 1982 durch Kohl fortgesetzt, allen Märchen der Linken zum Trotz. [120]

Die sprunghafte Entwicklung im Schlüsselmonat November 1989 zwang alle Akteure zur Neubestimmung ihrer Position. Nachdem Modrow in seiner Regierungserklärung eine „Vertragsgemeinschaft“ beider deutscher Staaten vorgeschlagen hatte, antwortete Kohl am 29.11.1989 im Bundestag mit einem Zehn-Punkte-Programm, das vorher mit keiner der Weltkriegs-Siegermächte, den Verantwortlichen für „Deutschland als Ganzes“, abgesprochen worden war. Neben der Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit, die auf jeden Fall beibehalten werden sollte (Punkt 2) bot die Bundesregierung an, „Hilfe und Zusammenarbeit umfassend auszuweiten„, dies allerdings nur, „wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird.“ (Punkt 3) Darüber hinaus erklärte sie sich „auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung … zu schaffen.“ (Punkt 5). Die „künftige Architektur Deutschlands“ müsse sich einfügen „in die künftige Architektur Gesamteuropas“, die Kohl unter Berufung auf Gorbatschow mit dem Aufbau eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ umschrieb (Punkt 6). In Punkt 7 erwähnte er die Europäische Gemeinschaft und sprach sich für ihre Erweiterung nach Osten aus – was Frankreich nicht wünschte. Sodann nannte er als „ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur“ den „KSZE-Prozeß“, den es voranzutreiben und zu nutzen gelte (Punkt 8).

Zur Bündniszugehörigkeit Deutschlands findet sich keine Aussage, und das, obwohl Kohl darauf hinwies, daß sein 10-Punkte-Programm „die gesamteuropäische Entwicklung“ und die „Ost-West-Beziehungen“ umfaßte (Punkt 10). Die NATO wurde lediglich am Ende erwähnt (Punkt 10), mit dem lobenden Hinweis auf die Erklärung des Brüsseler Gipfels vom Mai d.J., auf dem die Versammelten das obligatorische Lippenbekenntnis für die deutsche Wiedervereinigung abgegeben hatten. Die Vereinigten Staaten wurden nur im Zusammenhang des bevorstehenden Treffens zwischen Bush und Gorbatschow genannt, das Kohl mit der Aufforderung kommentierte, „die Nuklearpotentiale der Großmächte auf das strategisch erforderliche Minimum“ zu reduzieren (Punkt 9). Letzteres bedeutete die Forderung, alle nichtstrategischen Waffensysteme mittlerer und kurzer Reichweite zu vernichten, die den deutschen Handlungsspielraum einengten, während ihr Verschwinden das Gewicht der Nichtnuklearmacht Deutschland automatisch erhöhte. Diese Forderung richtete sich auch an Großbritannien und Frankreich.

Die 10 Punkte waren ein verklausuliertes Angebot an die Sowjetunion: wenn sie die Wiedervereinigung zuließ, würde Deutschland die KSZE zum Forum eines sich vertiefenden Bündnisses mit der UdSSR machen und sich von der NATO verabschieden. Diese Möglichkeit sahen auch die Verbündeten. „Westliche Partner wiesen denn auch auf Defizite des ‚Zehn-Punkte-Planes‘ hin. Zum einen fehle eine Aussage zur polnischen Westgrenze; zum andern werde die Bündnisfrage ausgespart.“ [121] Dabei war das Angebot so formuliert, daß die Bundesregierung sich alle Handlungsmöglichkeiten eröffnete, sich aber auf nichts definitiv festlegte – ein Meisterwerk der Diplomatie. Die Nichterwähnung der NATO signalisierte die Stoßrichtung auf eine Art und Weise, die einen jederzeitigen Rückzug ohne Gesichtsverlust ermöglichte. Nicht einmal die Wiedervereinigung wurde als unbedingtes, konkretes Ziel genannt, da Kohl sich lediglich „bereit“ erklärt hatte, eine Konföderation einzugehen – wenn die Gegenseite dies wollte. Damit wurde deutlich gemacht, daß die BRD nicht auf Konfrontation aus war. Nachdem dieser Versuchsballon aufgestiegen war, mußten die anderen Akteure reagieren.

2. Sowjetische Zwei-Lager-Politik bis zum Untergang

Das A und O der sowjetischen Politik war die Aufrechterhaltung der DDR als selbständiger Staat unter der Kontrolle der UdSSR. Noch bis Ende 1989 gingen Gorbatschow und Modrow von der Weiterexistenz der DDR aus und empfanden den Vorstoß Kohls im 10-Punkte-Programm darum als Affront. Dann wurde der Zusammenbruch der SED-Herrschaft unübersehbar, und Anfang 1990 war auch der sowjetischen Führung klar, daß die stattfindende Entwicklung ein nicht zu verhindernder, „objektiver Prozeß“ war, wie Gorbatschow sich zu diesem Zeitpunkt selber ausdrückte. Wie aber sollte man damit umgehen?

Der ehemalige sowjetische Botschafter in Deutschland und stellvertretende Außenminister Kwizinskij ist der festen Überzeugung, „daß Deutschland aus der NATO oder zumindest aus deren Militärorganisation ausgetreten wäre, wenn man das deutsche Volk entschieden genug vor die Wahl gestellt hätte: nationale Einheit oder NATO.“ [122] Eine solche Orientierung bot sich umso mehr an, als Kohls 10-Punkte-Programm die Offenheit der Bundesregierung für die Frage der NATO signalisiert hatte. Dabei hätte man auch eine umfassende Wirtschaftskooperation zur Modernisierung der sowjetischen Industrie verhandeln können. Man mußte also mit der außenpolitischen Grundlinie der letzten Jahrzehnte brechen und dort wiederanknüpfen, wo Stalin aufgehört hatte – man mußte die deutsche Karte spielen. Statt dies zu tun, verhielt sich die sowjetische Führung wie gelähmt. Noch im Mai 1990, als die Verhandlungen über die deutsche Einheit bereits in vollem Gang waren, gab es in Moskau keinen abgestimmten Plan über das Vorgehen, wie Kwizinskij mitteilt, sondern jede Menge Illusionen. „Die Tatsache, daß unsere Truppen immer noch in der DDR standen, wurde auf merkwürdige Weise mit der Vorstellung verbunden, wir könnten im Grunde die Bedingungen der Wiedervereinigung diktieren, den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und die Bildung einer Konföderation der beiden Staaten durchsetzen.“ [123]

Das hilflose Gezappel hing mit der Furcht vor der Armee zusammen. Anfang Dezember 1989 bemerkte Gorbatschow bei einem Besuch des französischen Staatspräsidenten Mitterand: „Helfen Sie mir, die deutsche Wiedervereinigung zu vermeiden, sonst werde ich durch einen Militär abgelöst.“ [124] Seine Bemerkung verdeutlicht, wer die wahre Herrschaft über die Sowjetunion innehatte. Diese Herrschaft war Ende 1989 nach der Niederlage in Afghanistan aber angeschlagen. 1953 hatte die Rote Armee der sowjetischen Regierung die Deutschlandpolitik auf den Straßen Ostberlins mit dem Bajonett diktiert, jetzt war sie dazu nicht mehr in der Lage. Das festzustellen, hätte indes Kampf bedeutet, und dazu war Gorbatschow nicht der Mann, so wenig wie die Intelligenz, die er mit Perestrojka und Glasnost hinter sich versammelte. Indem er dem Konflikt auswich und wie gewöhnlich den Weg des geringsten Widerstands ging, setzte sich in dem „surrealistischen Wust von Ideen“, [125] wie die deutsche Frage zu lösen sei, die bewährte Richtung durch. Das war die Zwei-Lager-Politik in ihrer letzthin gültigen Form der Absprachen zwischen den beiden „Supermächten“.

Statt auf den hohl gewordenen Supermachtstatus zu verzichten, die deutsche Einheit mit der deutschen Bourgeoisie zu verhandeln und die USA aus Europa herauszubugsieren, verhandelte Gorbatschow über die Köpfe der deutschen Bourgeoisie hinweg mit der amerikanischen Regierung. Das hatte zur Konsequenz, daß er sich auf die Bedingungen der Amerikaner einlassen mußte. Und da deren Hauptanliegen der Verbleib Deutschlands in der NATO war, um die Hegemonie über Europa zu behalten, war die fortgesetzte NATO-Mitgliedschaft des geeinten Deutschland unvermeidbar. „In der Folge mußten Michail S. Gorbatschow und die Seinen jedoch bald erkennen, daß alle Fortschritte im Verhältnis zu der anderen Supermacht an Zugeständnisse in den Deutschlandproblemen geknüpft waren. Weiterer Rüstungsabbau, substantielle amerikanische Hilfen in der schwierigen Perestrojka waren nur zu erhoffen, wenn die Sowjetführung sich in der Deutschlandfrage beweglich zeigte. In angemessener Erkenntnis der wirklichen sowjetischen Prioritäten erfolgte dann im Sommer 1990 das Eingehen auf die amerikanischen Konzepte. Auf den Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Bush und Gorbatschow wurden die wesentlichen Lösungsformeln gefunden, die den Weg zur Wiedervereinigung frei machten, und zwar, wie sich am Kalender einfach zeigen läßt, jeweils bevor Bundeskanzler Kohl oder Außenminister Genscher später, etwa auf dem hierzulande berühmten Kaukasustreffen im Juli 1990, Zusagen der russischen Seite einholen konnten.“ [126] Auf dem Boden der Zwei-Lager-Politik war es auch nur folgerichtig, daß der Löwenanteil der deutschen Finanzhilfe nicht produktiv eingesetzt wurde, sondern das sowjetische – später russische – Militär ihn für den Bau von Offizierswohnungen erhielt.

Damit erging es der Sowjetunion nicht besser als dem Buridanschen Esel. Am Anfang der Zwei-Lager-Politik stand die linksradikale Überschätzung der eigenen Kräfte, und unter der Fahne dieser Politik marschierten die Sowjets weiter, bis die letzten Kräfte schwanden. Am Ende stand daher nicht allein die bürgerliche Wiedervereinigung Deutschlands und dessen Mitgliedschaft in der NATO, sondern bald darauf die Auflösung des Warschauer Pakts und schließlich der UdSSR selber.

3. Die USA: Sieg im Kampf um die Hegemonie in Europa

Die Amerikaner wurden hauptsächlich von der Angst um ihre Vormacht in Europa umgetrieben. „Die Vereinigten Staaten mußten darum besorgt sein, daß ein wiedervereinigtes Deutschland der 41 Jahre alten Allianz den Rücken zukehren könnte und so den Platz Amerikas in der Zukunft Europas gefährden könnte.“ [127] Noch vor der Wiedervereinigung hatten sie registrieren müssen, daß die Auflockerung der Blockteilung Europas ihre Stellung schwächte und die der Deutschen stärkte. Als Gorbatschow sich 1987 bereiterklärte, sämtliche Mittelstreckenraketen abzuziehen, blieb den USA nichts anderes übrig, als das Gleiche zu tun. Nur mit Zustimmung der deutschen Bourgeoisie konnte sie diese Waffensysteme im Westen stationieren; die deutsche Bourgeoisie hatte aber nur so lange ein Interesse daran, wie sie ein Gegengewicht gegen die SS 20 benötigte.

Mit den atomaren Kurzstreckenraketen wiederholte sich das Problem. „Die USA waren im Frühjahr (1989) noch entschlossen, das LANCE-Nachfolge-Modell einzuführen; von Verhandlungen über die Reduzierungen von Kurzstreckenwaffen wollten sie schon gar nichts wissen.“ [128] Am 21.April 1989 beschloß die Bonner Koalition jedoch ohne vorherige Konsultation der NATO-Vormacht, die Entscheidung über die Modernisierung zu verschieben. Nachdem die US-Regierung zunächst äußerst erbost reagiert hatte, bemerkte sie, daß sie der Bundesregierung die Raketen nicht aufzwingen konnte und jeder Versuch, Druck auszuüben, die BRD Gorbatschow weiter in die Arme treiben würde. Die Amerikaner vollzogen daraufhin „eine Neuorientierung und einen grundsätzlichen Wandel in ihrer Einstellung zu ihren westdeutschen Verbündeten.“ [129] Statt die Entspannungspolitik weiter zu sabotieren und damit Gefahr zu laufen, ihr größtes Opfer zu werden, beschlossen sie, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Die KSZE, bis dahin ein Reiz- und Schimpfwort in Washington, sollte nun zum Forum werden, um die amerikanischen Interessen einzubringen. Plötzlich konnten die amerikanischen Politiker „sich sogar mit Genschers Begriff von den kooperativen Sicherheitsstrukturen anfreunden. Die Zeit lag hinter ihnen, in der ein Henry Kissinger die Einschätzung der KSZE vorgab: ‚Sie ist unschädlich, aber unsinnig.'“ Als der US-Präsident nach dem Brüsseler NATO-Gipfel vom Mai 1989 die Bundesrepublik besuchte, brachte er den Umschwung auf den Punkt. „In seiner Rede in Mainz ernannte Präsident Bush die Deutschen in einer ebenso frühen wie kühl kalkulierten Erkenntnis ihres politischen Gewichts zu Partnern in der Führungsrolle („partners in leadership“).“ Das Angebot zur Partnerschaft verfolgte die Absicht, „die amerikanischen Möglichkeiten zur Mitgestaltung dieser Entwicklung zu sichern“ [130] – sprich den Entspannungsprozeß bei der Auflockerung der Blockteilung mitzusteuern.

Diese bereits im Frühjahr 1989 vollzogene Umorientierung bestimmte das Vorgehen der USA auch beim Prozeß der Wiedervereinigung. Die erste Probe aufs Exempel lieferte die Reaktion auf Kohls überraschendes 10-Punkte-Programm. Während Briten und Franzosen mit offener Kritik reagierten, ebenso die Sowjets, der eigentliche Adressat des Versuchsballons, erhielt der amerikanische Präsidentensprecher die Weisung, der Presse die amerikanische Unterstützung des unbekannten Plans mitzuteilen. „Wir wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, nicht informiert zu sein. Wir standen ja schließlich hinter der Wiedervereinigung.“ [131] Die Amerikaner traten an die Spitze des Zugs zur Wiedervereinigung, um ihn in den NATO-Bahnhof einlaufen zu lassen. „Die Vereinigten Staaten offerierten Führerschaft, indem sie sich früh entschlossen hatten, für die deutsche Einheit einzustehen, und indem sie dies deutlich und häufig Kohl wissen ließen.“ [132] Die Gegenleistung dafür war der Verbleib in der NATO. Anfang Dezember 1989 stellte Bush „als direkte Antwort auf den Vorstoß des westdeutschen Kanzlers“ – gemeint ist das 10-Punkte-Programm vom 29.November – einen Vier-Punkte-Plan vor, in dem er die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands „zur unabdingbaren Voraussetzung der amerikanischen Unterstützung für den späteren Vereinigungsprozeß“ machte. [133] Außenminister Baker bekräftigte diese conditio sine qua non am 12.Dezember 1989 vor dem Presseclub in Berlin, indem er forderte, daß „die Wiederherstellung der Einheit im Rahmen der anhaltenden Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der NATO und einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft und unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der alliierten Mächte erfolgen sollte.“ [134]

Die amerikanische Politik hatte Erfolg, weil die Sowjetunion die Wiedervereinigung anfangs um keinen Preis zulassen wollte, obwohl der Zerfall der DDR bereits in Gang war, und Gorbatschow anschließend nicht fähig war, die Zwei-Lager-Supermachtpolitik zu beenden und die deutsche Karte zu spielen. Unter dieser Voraussetzung vereinbarten Bush und Kohl, daß die USA im Tausch gegen den Verbleib Deutschlands in der NATO die schnellstmögliche Wiederherstellung der Einheit Deutschlands durchsetzen würden. An diese Abmachung hielten sich beide Seiten. „Das amerikanische Team um Präsident Bush hatte sich früh entschlossen, der Politik des deutschen Bundeskanzlers, rasch zur Vereinigung zu gelangen, energisch zu folgen. Dies geschah nicht aus besonderer Liebe zu den Deutschen. Das amerikanische Konzept bestand vielmehr darin, die Russen unter Dampf zu halten, sie sollten möglichst keine Besinnungspause haben. Sonst wären diese – so Baker gegenüber Schewardnadse bei dessen Abschiedsbesuch – womöglich auf die Idee gekommen, nicht haltbare Positionen früh aufzugeben und einen ‚großen Deal‘ anzubieten: Zustimmung zur Vereinigung, wenn das neue Deutschland aus der NATO ausscheidet. Im ersten Halbjahr 1990 waren die Russen zu einer solchen Rochade erkennbar noch nicht in der Lage, aber das hätte sich bei einer klarsichtigen Lageanalyse in Moskau ja ändern können. (…) Hätte sich die sowjetische Führung im Frühsommer 1990 mit einem dramatischen Appell an die Deutschen gewendet: ‚Nationale Einheit oder NATO-Mitgliedschaft eines Teildeutschland‘ – so wäre das Ergebnis wenig zweifelhaft gewesen. Dem Durchschnittsdeutschen hätte die NATO-Mitgliedschaft bei weitem weniger bedeutet, als dies bei den außenpolitischen Eliten des Westens der Fall war. Ohne Deutschland wäre aber die NATO weitgehend entwertet gewesen. (…) Um mithin ihre sicherheitspolitische Führungsposition in Europa auch in der nachkommunistischen Transformationsphase zu halten, entschlossen sich die Amerikaner zu einer energischen, aktiven Wiedervereinigungspolitik.“ [135]

Schluß: Die kleinbürgerlichen Erben des linken Radikalismus

Was Stalin zu Beginn der 50er Jahre gegen die Zwei-Lager-Theoretiker über den Daseinszweck des westlichen Militärbündnisses festgestellt hatte: ‚kein Krieg gegen die Sowjetunion, sondern amerikanische Vorherrschaft über Europa‘, bestätigte sich am Ausgang des Kalten Kriegs noch einmal. Nach dem 2.Weltkrieg hatten die Amerikaner die Spaltung Deutschlands betrieben, um mithilfe der NATO-Mitgliedschaft der BRD ihre Hegemonie über (West-) Europa zu sichern. Jetzt traten sie aus demselben Grund für die deutsche Wiedervereinigung ein. Beidemale war die Politik der Nachfolger Stalins dafür verantwortlich, daß sie ihr Ziel erreichten. Anfang der 50er Jahre trieben sie die deutsche Bourgeoisie durch den Aufbau des Sozialismus in der DDR mit Hilfe Ulbrichts in die Arme der amerikanischen Spalter, und 1989/90 sorgte die Unentschiedenheit Gorbatschows dafür, daß die Bourgeoisie das neue, vereinte Deutschland noch vor seiner Geburt an die USA verkaufte und ihre Blößen dabei nicht nur mit einem sowjetischen Feigenblatt verhüllen, sondern sich auch noch als Führerin einer nationaldemokratischen Revolution spreizen konnte.

Das Ende der Lagerteilung Europas ließ alle Fragen wieder ans Tageslicht treten, um die Stalin seinerzeit mit seinen linken Gegnern gerungen hatte, bis sein Tod ihnen die Gelegenheit verschaffte, ihre Politik in die Tat umzusetzen. Dabei zeigte sich, daß ihr Versuch, die Geschichte zu überholen, den Imperialismus mithilfe der Zwei-Lager-Politik in die Knie zu zwingen und im Galopp den Kommunismus zu erreichen, in allem das Gegenteil bewirkt hatte: die Sowjetunion bezahlte den Triumph der Parteifeinde Stalins mit ihrer Auflösung, und nicht weniger hoch war der Preis, den der Kommunismus in Deutschland entrichten mußte.

Nach dem 2.Weltkrieg hatte Stalin den deutschen Genossen den Rat gegeben, im nationaldemokratischen Kampf um die Einheit, Unabhängigkeit und Demokratisierung Deutschlands an die Spitze zu treten. Diese Politik der Vollendung der bürgerlichen Revolution hätte zwar den Verlust der Staatsmacht in Ostdeutschland bedeutet, aber das neue bürgerliche Deutschland an die Seite der Sowjetunion geführt, die Stellung der Kommunisten in ganz Deutschland gestärkt und die internationale Kräftekonstellation zugunsten des Sozialismus verschoben. Den deutschen Kommunisten war das Banner des demokratischen Kampfes jedoch wie schon 1918 und 1933 zu armselig. Die SED-Führung beschloß stattdessen 1952 die Einführung des Sozialismus – ohne die Arbeiterklasse. Dieser Sieg kostete mehr als alle vorangegangenen Niederlagen; er trennte die Kommunisten von der Arbeiterklasse und führte in den vollständigen Untergang. Durch die Preisgabe des nationaldemokratischen Kampfes und die Spaltung Deutschlands zugunsten des sozialistischen Aufbaus im Osten räumte die SED das Feld für die Bourgeoisie und gab ihr die Gelegenheit, 1989 die Führung der Massen auf dem Weg zur deutschen Einheit zu übernehmen. Die Novemberrevolution von 1989 in der DDR und die darauffolgende Wiedervereinigung vollendeten die Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland – gegen die SED und gegen den Marxismus.

Die historische Zäsur von 1989 bedeutet einen qualitativen Bruch auch für die deutsche Linke. Noch bevor die staatliche Einheit vollzogen wurde, fanden die Linken in Ost und West zur ideologischen Einheit. Als die Arbeiterklasse in Leipzig und anderen Städten die Forderung nach Wiedervereinigung erhob, bemerkte Modrow empört, daß sich jetzt „die Straße“ der deutschen Einheit bemächtigt habe. [136] Das sah die überwältigende Mehrheit der Linken genauso. Während die Arbeitermassen die Intellektuellen beiseiteschoben und auf den Straßen Politik machten, stellte sich die Avantgarde der Intelligenz, die Linke, krakeelend an den Straßenrand. „Gegen die BRD-igung der DDR“, „Nie mehr ‚Deutschland erwache'“, „Heim ins Reich – Nein danke“ oder „Kohlfreie DDR in den Grenzen von ’49“ waren ihre geistreichen Parolen. Mit Bananen und Apfelsinen verspotteten die Linken die anschwellende Massenbewegung, ohne zu merken, daß sie die materiellen Triebkräfte jeder Revolution herunter- und sich selber lächerlich machten. Auf der Basis der Gegnerschaft gegen die Arbeiterklasse hat sich ihre ost-westliche Einheit seither weiter vertieft. Gemeinsam begreift man die Wiederherstellung des Nationalstaats nicht als objektiven geschichtlichen Prozeß, sondern als Produkt der Wühlarbeit des Imperialismus. Auf dem Boden der Kritischen Theorie stehend, beschimpft man das Proletariat entweder offen als nationalchauvinistisch oder entschuldigt es hoheitsvoll als verführt, so daß es gegen die eigenen Interessen handelte. Die Inhaltsleere dieser Erklärung des DDR-Untergangs hält sich in etwa die Waage mit der Arroganz der Aussage, daß nur die Intelligenz klug genug ist, die Manipulation durch die Bourgeoisie zu durchschauen.

Diese Linke hat mithilfe der Kritischen Theorie das Erbe des Linksradikalismus angetreten, der die hinter uns liegende Epoche der Arbeiterbewegung nicht allein als „Kinderkrankheit“ prägte, sondern ihr historisches Scheitern verursachte. Im Unterschied zu früher existiert das linke Sektierertum heute allerdings nicht als spontaner Ausdruck einer revolutionären Bewegung von Teilen des Proletariats, sondern vollständig jenseits davon. Unter dem Banner der revolutionären Phrase ist diese Linke zur Speerspitze eines radikalen Flügels der lohnabhängigen, kleinbürgerlichen Mittelschichten geworden – gegen die Arbeiterklasse. Wer die Programmatik für die kommenden Klassenkämpfe des Proletariats entwickeln und den Boden für die künftige Verbindung von Sozialismus und Arbeiterbewegung legen will, muß dies in Abgrenzung von der Linken tun. Insofern fällt die Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit in eins mit der überfälligen Kriegserklärung an die Linke. Diese Abrechnung ist die erste Bedingung, um im nächsten Jahrhundert zu vollbringen, woran der deutsche Kommunismus in diesem gescheitert ist: die sozialistische Revolution.