IV. Die nationaldemokratische Revolution von 1989

Die Revolution, die die DDR zu Fall brachte, verlief in zwei Phasen, die ineinander übergingen, sich aber mit unterschiedlichen Inhalten und sozialen Trägern deutlich voneinander unterscheiden. In der ersten, „nur-demokratischen“ Phase kämpfte die Intelligenz um die Beteiligung an der Macht in einer erneuerten DDR und führte dabei Teile des Proletariats an; in der zweiten Phase trat die Arbeiterklasse nach vorn, stellte die soziale Frage in nationalem Gewand und führte mit der Forderung nach Wiedervereinigung das Ende der DDR herbei. Die Stadt Leipzig wurde zum Sturmzentrum der Bewegung. Die Hauptstadt Ostberlin kam hierfür nicht in Frage; sie war gegenüber den anderen Landesteilen bevorzugt und die Staatsangestellten konzentrierten sich hier. Im Norden des Landes, wo die moderneren Industrien lagen, hielt sich die Unzufriedenheit der Arbeiter in Grenzen. Im Süden der Republik dagegen, in den alten Industrieregionen von Dresden über Chemnitz, Zwickau und Jena bis Leipzig und Halle, massierte sich das Proletariat, war der wirtschaftliche Niedergang am stärksten und außerdem die Selbständigkeit und der Einfluß der Evangelischen Kirche groß. Am 25. September brach zum erstenmal eine Montagsdemonstration von der Nikolai-Kirche in Leipzig auf. Sie wiederholte sich fortan jede Woche und gab der Bewegung bis zum Schluß die Richtung vor.

1. Ein kleinbürgerliches Vorspiel

Die Bürgerbewegung, die die erste Phase in der Öffentlichkeit bestimmte, vertrat eine Fraktion der Intelligenz, nämlich die Intelligenz außerhalb der SED. Sie wurde klassisch repräsentiert durch die Intellektuellen, Künstler und Pastoren des „Neuen Forum“, daneben der „Demokratische Aufbruch“, die Initiative „Demokratie Jetzt“ oder die entstehende ostdeutsche SPD. [98] Die Intellektuellen rieben sich nicht hauptsächlich an den materiellen Verhältnissen, sondern an der obrigkeitsstaatlichen SED-Herrschaft, an der entwürdigenden Gängelei und Bespitzelung. Die Produktionsbedingungen waren ihnen so fremd wie die sozialen Interessen der Arbeiter. Sie hatten demokratische, aber keine sozialen Forderungen und stritten nicht gegen die DDR, sondern für deren Demokratisierung, für eine „bessere DDR“ bzw. die „Erneuerung des Sozialismus“. Die verschiedenen Gruppen begriffen sich „als autonome Teile einer pluralistischen, doch mehrheitlich demokratisch-sozialistischen Bürgerbewegung.“ [99] Der kleinbürgerliche Sozialismus, den sie verfochten, zielte darauf ab, der alten Gesellschaft einen neuen Überbau aufzusetzen, mehr nicht. Die offene Fälschung der Kommunalwahlergebnisse im Mai 1989 gab ihrem Aufbegehren Schubkraft. Ihre Leitparole war der Ruf „Wir sind das Volk“.

Währenddessen bildete sich auch innerhalb der SED ein ebenfalls hauptsächlich von Intellektuellen getragener „Perestrojka“-Flügel heraus. „Perestrojka“ und „Glasnost“ waren in der DDR wie in der UdSSR die Parolen der Intelligenz. Um Künstler und Kulturwissenschaftler „gruppierte sich der informelle ‚Perestrojka‘-Flügel, eine regionen- und zum Teil auch schichtenübergreifende innerparteiliche Opposition. Ihre Sprecher kamen aus dem seit den Siebzigern ausgefächerten ‚Kulturleben‘, waren Schriftsteller (vor allem -innen), Theater- und Filmleute oder hatten sich in der Pop- und Liedermacherszene einen Namen gemacht. Sie wollten einen Umbau nach dem Verständnis Gorbatschows und hatten in ihm eine (zunächst) kaum angreifbare Berufungsinstanz.“ [100]

Anfang September öffnete die ungarische Regierung die Grenze zu Österreich. Als daraufhin Mengen von Flüchtlichen den Weg über Ungarn in die BRD nahmen, setzte die DDR am 3.Oktober den paß- und visafreien Grenzübertritt zur CSSR außer Kraft und versperrte damit den Weg nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Darum versuchten Tausende von DDR-Flüchtlingen, über die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau die Einreise in die BRD zu erzwingen. Die Fernsehbilder diskreditierten die Honecker-Regierung zutiefst, zumal am 7.Oktober der 40.Jahrestag der DDR-Gründung anstand. Am Vorabend der Feier defilierte die FDJ mit einem Fackelzug an Honecker und seinem Gast Gorbatschow vorbei. Die massenhaften Rufe „Gorbi, Gorbi“ zeigten ihre Symathien an. Vor allem im Süden des Landes, aber auch in Magdeburg, Potsdam oder Berlin gab es, häufig unter Ausnutzung der Jubelveranstaltungen, Demonstrationszüge gegen die SED, die von der Polizei auseinandergeknüppelt werden mußten. Es wurde unübersehbar, daß die Herrschaft in der bisherigen Art und Weise nicht aufrechtzuerhalten war. Aber was sollte an ihre Stelle treten? Für die „chinesische“ Lösung fehlten der Regierung die Machtmittel. Die ostdeutsche Jugend verlangte nach „Gorbi“ statt nach Waffen zur Verteidigung des Sozialismus. Weil die sowjetische Armee in den Kasernen blieb, tat es die Volksarmee ihr nach, und weitere Bataillone standen nicht zur Verfügung, denn „weder in den ‚Kampfgruppen‘ noch in der ‚Volkspolizei‘ gab es nach dem Echo auf ihr hartes Eingreifen in den ersten Oktobertagen wirkliche Bereitschaft, für den offenbar bankrotten Staat die Köpfe hinzuhalten.“ [101] Da die bewaffnete Lösung also ausfiel, blieb nur die friedliche Lösung. Am 17.Oktober zwang das Politbüro Honecker zum Rücktritt und wählte Egon Krenz an seiner Stelle zum Generalsekretär.

Krenz verkörperte den Versuch des alten Partei- und Staatsapparats, die DDR durch ein Bündnis mit dem Perestrojka-Flügel der SED und darüber mit der ganzen Intelligenz zu stabilisieren. Die Ausreisewelle aus der DDR ging jedoch ebenso weiter wie die mittlerweile Hunderttausende mobilisierenden Demonstrationen gegen die SED-Herrschaft. Darum mußte auch Krenz weitergehen. „Um seine Macht zu erhalten, ergriff Krenz … die Flucht nach vorne. In der Hoffnung, die DDR-Bevölkerung damit für sich zu gewinnen, öffnete der DDR-Staatsratsvorsitzende dann tatsächlich ohne Rücksprache mit dem Kreml am 9.November 1989 die Berliner Mauer.“ [102] Vier Tage später, am 13.November, bildete Modrow anstelle von Stoph eine neue Regierung. Modrow „galt in seiner Partei seit längerem als ‚Reformer‘ und als ein Positionsinhaber dazu, der ‚bescheiden‘ geblieben war, in Dresden ‚auf Platte‘ wohnte (im DDR-Deutsch Bezeichnung für aus Fertigteilen montierte Wohnhäuser) und seinen Tatendrang nicht bei Korn und Jagd, sondern beim Laufen und Schwimmen befriedigte.“ [103] In seiner Regierungserklärung begrüßte er „die demokratische Erneuerung des gesamten öffentlichen Lebens“ und kündigte Maßnahmen zur Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit an. Das MfS wurde in „Amt für Nationale Sicherheit“ umgetauft (bald „Nasi“ genannt) und von einem Stellvertreter Mielkes übernommen.

Gegen den Versuch, die alte Herrschaft in neuer Fasson fortzusetzen, gingen die Demonstrationen und Kundgebungen weiter, ergriffen immer mehr Menschen und weiteten sich auf immer mehr Städte aus. Am 1.Dezember strich die Volkskammer die Führungsrolle der „Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ aus Artikel 1 der DDR-Verfassung, während der gleichzeitige Antrag auf Streichung des Sozialismus keine Mehrheit fand – beides ein Zeichen für die mittlerweile etablierte Hegemonie des „linken“ Kleinbürgertums über die Volkskammer. Am 5.Dezember 1989 mußte Modrow dann das MfS auflösen. Als der bis dahin noch existente Kern der alten Staatsmacht zerschlagen wurde, stand nur noch die Intelligenz hinter der DDR, und diese Basis war zu luftig.

2. Die Arbeiterklasse übernimmt die Straße

Bis hierhin gingen Bürgerbewegung und die immer stärker werdende Arbeiterbewegung zusammen. Schon im Oktober hatten zunehmend Lehrlinge und junge Facharbeiter aus den Betrieben die Reihen der Leipziger Montagsdemonstrationen gefüllt, „mehr noch als Schüler und Schülerinnen der Erweiterten Oberschulen“. [104] Die Arbeiterjugend lief unter den Parolen der Bürgerbewegung mit, d.h. unter Führung der Intelligenz. Aber während man noch gemeinsam demonstrierte, Druck auf die Regierung ausübte und für die weitere Demokratisierung des Landes stritt, hatte sich die Bewegung bereits in die Tiefe entwickelt und die Mitte des Proletariats ergriffen. Für das Proletariat war die Forderung nach mehr Demokratie kein Selbstzweck (wie scheinbar für die Intelligenz, die daran ihren Machtbeteiligungsanspruch koppelte), sondern Mittel zum Zweck. Das Hauptinteresse der Arbeiter galt besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen, und die sahen sie in der DDR immer weniger gewährleistet. Anstatt durch die Öffnung der Mauer von der Zukunft der DDR überzeugt zu werden, wurden die 13 Millionen Menschen, die in den ersten 14 Tagen danach die BRD besuchten, durch den Vergleich mit eigenen Augen vom Gegenteil überzeugt, zumal gleichzeitig die Veröffentlichung der realen Statistikzahlen die vollständige Zerrüttung der DDR-Wirtschaft belegte. Vor diesem Hintergrund führte die Regierungserklärung der neuen Regierung den endgültigen Umschwung herbei.

Modrow plädierte für eine Wirtschaftsreform, die die Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaftseinheiten erweitern und das Leistungsprinzip durchsetzen sollte. Außerdem kündigte er an, „Ökonomie und Ökologie mehr als bisher in Übereinstimmung zu bringen“ – das war der Brückenschlag zur alternativen Intelligenz. Außenpolitisch erteilte Modrow allen ebenso „unrealistischen wie gefährlichen Spekulationen über eine Wiedervereinigung eine klare Absage“. Beide deutsche Staaten sollten wichtige Pfeiler für das „gemeinsame europäische Haus“ bilden, wie Gorbatschow sein Angebot einer vertieften sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit unter dem Dach der KSZE umschrieb. Zu diesem Zweck bot Modrow eine „Vertragsgemeinschaft“ an, die weit über die bisherige „Verantwortungsgemeinschaft“ der beiden deutschen Staaten hinausgehen sollte. Durch den Abschluß einer Vielzahl von Kooperationsverträgen sollte sowohl wirtschafts- als auch außenpolitisch die Zusammenarbeit vertieft werden. Ergänzt durch die ebenfalls angekündigte Rechtsstaatlichkeit sollte das Resultat ein „besserer Sozialismus“ sein. [105] Das war das von Honecker verweigerte Programm der sowjetischen Regierung, das Modrow jetzt nach Absprache mit Gorbatschow als Perspektive der DDR vortrug. Seine reale Substanz war die Annäherung an die BRD im Auftrag der Sowjetunion und in den von ihr gesteckten Grenzen. Als Gegenleistung sollte die BRD die Wirtschaft der DDR sanieren und darüber hinaus die ökonomischen Reformen in der UdSSR unterstützen.

Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Bürgerbewegung mit dem Neuen Forum an der Spitze boten dazu keine Alternative, denn sie waren so gut wie nicht vorhanden, da man wesentlich innenpolitisch-demokratische Ziele verfocht. Auf dem Boden eines moralisierenden Antikapitalismus traten die Vertreter – bzw. großenteils Vertreterinnen – der Bürgerbewegung für einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus oder die Verbindung von Marktwirtschaft und Sozialismus ein. Außenpolitisch wollten sie genauso wie die Regierung möglichst dicht bei der Sowjetunion und auf Distanz zur Bundesrepublik bleiben. Gemeinsam verfochten Modrow und die Bürgerbewegung also das Programm eines „Perestrojka-Sozialismus“, der auf eine diffuse Mischung von sozialistischen Idealen mit marktwirtschaftlichen Elementen hinauslief und vor allem die Erhaltung der DDR bezweckte.

Unter diesen Umständen gewann in der Arbeiterklasse mehr und mehr die Einsicht Raum, daß die Kleinbürger in und außerhalb der SED keine Perspektive hatten. Die DDR war bankrott, ebenso das jahrzehntelange Beispiel Sowjetunion. Jetzt mußte man sich nicht nur offen von der BRD finanzieren lassen, sondern war klar, daß man sich an der westdeutschen sozialen Marktwirtschaft orientieren würde, verbunden mit dem Versprechen, daß künftig alles besser würde. Diese Antwort kannten die Arbeiter. 40 Jahre lang war ihnen versprochen worden, die BRD in kürzester Zeit zu überholen, während in Wirklichkeit der Abstand immer größer wurde. Nunmehr näherte man sich schamhaft dem Kapitalismus an und taufte das Kind „besserer Sozialismus“. Dann war es konsequenter, direkt zur Marktwirtschaft überzugehen (lieber das Original als eine schlechte Kopie). Das aber hieß deutsche Wiedervereinigung. Schon vor der Wende hatte Otto Reinhold, der Rektor der ZK-Akademie für Gesellschaftswissenschaften, in einem Interview auf die Frage, welche Existenzberechtigung denn eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen BRD haben könnte, kurz und bündig geantwortet: „keine“. [106] Das sahen die Arbeiter genauso. Zwar war allen die Arbeitslosigkeit im Westen bekannt, aber dieses Problem nahm man in Kauf und hoffte individuell, daß es einen nicht treffen würde. Daneben gab es andere Illusionen, aber insgesamt war die Entscheidung rational; sie entsprach der Situation. Die Parolen der Montagsdemonstration vom 4.Dezember „Wiedervereinigung Ja, sozialistische Armut Nein“ und „Wir leben nur einmal. Darum Ja zur Wiedervereinigung“ [107] formulierten die elementaren Motive für den Aufbruch des Proletariats.

Am 13.November ertönte der Ruf „Deutschland! Deutschland!“ zum erstenmal auf einer Montagsdemonstration, fand aber noch keine größere Resonanz. „Daneben suchte sich eine aus Produktionsarbeitern bestehende Transparentträger-Gruppe mit dem Ruf Wiedervereinigung jetzt! Gehör zu verschaffen. Das Demonstrationsumfeld schwieg noch, und der Massenruf blieb aus.“ [108] Nach der Bildung der Regierung Modrow setzte dann der Umschlag ein. Am 20. November war die Leipziger Montagsdemonstration noch unentschieden, und am 27.November wies sie einen anderen Klassencharakter auf. Die „einfachen Menschen“ bestimmten jetzt nicht nur ihr soziales Gesicht, sondern auch die politischen Parolen, neben „Deutschland, Deutschland“ insbesondere die Zeile aus einem Text von Johannes R.Becher, der zwar Nationalhymne der DDR war, aber schon lange nicht mehr gesungen wurde: „Deutschland einig Vaterland“. „Eine Masse von Arbeitern, Angestellten, Handwerkern, in der Mehrzahl ‚kleine Leute‘, darunter viele Jugendliche aus den Betrieben, auch das Gros der Restgeneration der Alten war es, die sich über alle politische Konvention und Tabus auf beiden Seiten der Mauer hinwegsetzten und dieses Deutschland einig Vaterland hinausschrien“. [109]

Damit war der Damm gebrochen. „Durch eine neue Mehrheitsbildung auf den Straßen änderte die Revolution im November ihre Grundrichtung: sie wurde zur nationalen Revolution, in der Systemwechsel und ‚Wiedervereinigung‘, teils schon verstanden als Vereinigung der Deutschen in europäischer Perspektive, zum erklärten Ziel der Straßendemonstrationen wurde. (…) Die Bürgerbewegung spaltete sich jetzt in DDR-Verbesserer, die mehrheitlich eine Erneuerung des Landes mit einem Maximum an Demokratie anstrebten, und in Befürworter der Einheit“. [110] Am 11.Dezember 1989 wurden 2.000 Demonstrationsteilnehmer in Leipzig über ihre Meinung zur Wiedervereinigung befragt. Von 100 Meistern waren 54 „sehr dafür“ und 36 „mehr dafür als dagegen“, bei Facharbeitern lauteten die Zahlen 39 und 34. Bei Studenten waren es 4 und 17, wohingegen 55 „sehr dagegen“ waren. „Von den auf den Demonstrationen befragten Studenten ist die zentrale Losung der Demonstrierer, nämlich Deutschland einig Vaterland!, zu diesem Zeitpunkt am deutlichsten verneint worden.“ [111] Was Leipzig vormachte, pflanzte sich anschließend in den anderen Städten fort, und damit war das Schicksal der DDR besiegelt. „Am Wendepunkt der Revolution in der DDR entschied sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen die hauptsächlich von Intellektuellen vertretene Alternative eines demokratischen und marktwirtschaftlichen Sozialismus, d.h. gegen die Alternative einer anderen, einer erneuerten DDR.“ [112]

Durch das Auftreten des Proletariats wurde der Kampf um die Demokratisierung der DDR zur nationaldemokratischen Revolution. Dabei war das Aufwerfen der nationalen Frage durch die sozialen Interessen der Arbeiter bedingt und begrenzt. Die Arbeiterklasse stellte die soziale Frage in nationaler Form, und deshalb ging der Nationalismus nicht in die Tiefe. Die Versuche rechter Gruppen, die Oder-Neiße-Grenze zu Polen in Frage zu stellen, fanden keinerlei Resonanz, sehr zum Leidwesen der Linken, die nur darauf warteten, ihrer Frustration über den Verlauf der Bewegung neue Nahrung zu geben. Der proletarische Massenaufbruch war spontan. Spätestens seit 1952/53 ohne politische Führung, ordnete sich das Proletariat erst im Nachhinein der Führung durch die westdeutsche Bourgeoisie unter, weil es dazu keine Alternative gab.

3. Zwei Flügel der Intelligenz

Als die Arbeiterklasse die Straße übernahm, hatte das Kleinbürgertum ausgespielt. Seine zwei Flügel stellten am Ende die letzten Mohikaner, die zusammen mit der Sowjetunion für die Erhaltung der DDR kämpften. Nachdem in Leipzig die Rufe nach der Wiedervereinigung immer lauter geworden waren, meldeten sich die beiden Flügel am 26.November gemeinsam zu Wort. Es waren „eher loyal-kritische Intellektuelle wie etliche von denen, die seit dem Sommer 1989 mit Mut und Phantasie den Umbau der DDR verlangt und die SED das Fürchten gelehrt hatten. ‚Für unser Land‘, unter diesem Titel appellierten am 26.November Prominente aus beiden Gruppen (unter anderen Stefan Heym und Friedrich Schorlemmer) an die Ostdeutschen, sich für einen eigenständigen Staat zu engagieren, für die Möglichkeit von Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Freizügigkeit und Bewahrung der Umwelt. Andernfalls drohe der ‚Ausverkauf unserer moralischen und materiellen Werte‘ sowie ‚über kurz oder lang‘ die Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik.“ [113] Egon Krenz schloß sich dem Aufruf an; er war schließlich ebenfalls für die Aufrechterhaltung der DDR. Seine Unterschrift unter den Aufruf war ein Friedens-, wenn nicht Unterwerfungsangebot des Staatsapparats an die Bürgerbewegung. Nur war Krenz ebenso kompromittiert wie die Kräfte, die er vertrat. Darum ging niemand auf das Angebot ein. Der letzte Versuch des Machtapparats, sich zu retten, schlug fehl, weil er keine Macht mehr verkörperte. Am 5.Dezember mußte Modrow das umgetaufte MfS auflösen.

Damit hörte das Bündnis zwischen dem Perestrojkaflügel der SED und dem alten Staatsapparat auf zu existieren, weil die eine Hälfte der Partnerschaft aufhörte zu existieren. Am 16.Dezember 1989 beschlossen die anwesenden SED-Delegierten auf einem außerordentlichen Parteitag die Weiterexistenz der SED unter dem Namen „SED – Partei des demokratischen Sozialismus“. An die Stelle von dem Wendehals Krenz, dem Repräsentanten des gescheiterten Bündnisversuchs zwischen Staatsapparat und Intelligenz, trat der wendige Rechtsanwalt Gysi. Er konnte die zurückgebliebene SED-Intelligenz besser als sein Vorgänger repräsentieren. Die Entwicklung der sozialen Zusammensetzung der Mitgliedschaft folgte den Wenden der Führung. Im Juli/August 1989 hatte die SED bereits 14.000 Austritte zu verzeichnen gehabt, überwiegend Arbeiter, zählte allerdings immer noch mehr als 2 Millionen Mitglieder; [114] Anfang Oktober waren es 100.000 Austritte. Bis hierher konnten die Verluste auf das Konto Honeckers geschrieben werden. Aber nach dessen Abtritt ging es weiter. „Die Mitgliedschaft hat sich durch zwei große Austrittswellen verändert. Bei der ersten Welle verlor die damalige SED den größten Teil der Arbeiter und einfachen Angestellten. In einer zweiten Welle verließen die Staatsfunktionäre von Wirtschaft und Verwaltung sowie das Offizierkorps die Partei. Übriggeblieben sind vor allem verschiedene Intelligenz- und Angestelltenschichten.“ [115] Auf diese Weise wurde die SED als PDS zu dem, was sie bis heute ist: eine ostdeutsche Kleinbürgerpartei unter Führung der Intelligenz.

Seit Ende 1989 nahmen die überall aus dem Boden sprießenden „Runden Tische“ das, was von der DDR-Staatsmacht noch existierte, unter ihre Kontrolle, „moderiert“ von Kirchenvertretern. Der zentrale runde Tisch der DDR konstituierte sich am 7.Dezember in Berlin. An den „Runden Tischen“ versammelte sich das Spektrum aller alten und neuen politischen Organisationen und Bewegungen, die Vertreter der ehemaligen Blockparteien mit der SED an der Spitze ebenso wie die der Bürgerbewegung, der „Vereinigten Linken“ oder des „Unabhängigen Frauenverbands“. Dem Wesen nach übte hier die Intelligenz die Hegemonie aus, die sie auf der Straße bereits verloren hatte. In dieser Zeit kamen sich ihre beiden verfeindeten Fraktionen näher. Sie befaßten sich in den folgenden Monaten bis zur Volkskammerwahl am 18.März 1990 gemeinsam mit der Fortsetzung der Demokratisierung, bis hin zur Erarbeitung eines schönen neuen Verfassungsentwurfs. Da die Sitzungen regelmäßig vom Fernsehen übertragen wurden, konnte sich in dieser Zeit jeder, der bis dahin noch unentschieden war, von der wortreichen Perspektivlosigkeit der Diskutanten überzeugen. Das Ergebnis war insbesondere für die Bürgerbewegung schrecklich. Wolf Biermann bemerkte über die Kämpfer für eine bessere DDR: „Es gibt nur zwei Minderheiten, die noch an einem sozialistischen Versuch interessiert sind: die Machthaber von gestern und ihre bevorzugten Opfer von gestern: linke Christen und radikale Linke.“ [116] Sie selber registrierten ihre Isolierung indessen als letzte.

Die Märzwahlen 1990 besiegelten das Ende der DDR. „Wer die Einheit wollte, sie als Weg aus dem Mangel begriff und in ‚richtigem‘ Geld das Vehikel sah, für den wurde die Antwort auf die Frage zum Entscheidungskriterium, welche der konkurrierenden Parteien am fähigsten sei, es zu den günstigsten Bedingungen zu beschaffen.“ [117] Das Wahlergebnis zeichnete die stattgefundene Klassenbewegung nach. Die „Allianz für Deutschland“ aus CDU, Demokratischem Aufbruch und Deutscher Sozialer Union erfocht mit ihrem Wiedervereinigungsprogramm einen grandiosen Wahlsieg mit 48,1% der Stimmen. Allein 58% der Arbeiter stimmten für sie. Die bürgerliche Wahlforschung nennt die nüchternen Gründe dafür: „Die Arbeiter hatten von der Verlängerung der jetzigen Verhältnisse am meisten zu befürchten, nämlich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen zu sein. Von der raschen Übernahme bundesdeutscher Regeln glaubten sie, am meisten erhoffen zu können, nämlich am Wohlstand des westdeutschen Alltags auf schnellstem Wege teilzuhaben. Die Allianz für Deutschland bot hier die glaubwürdigste Alternative.“ [118] Den Bund freier Demokraten, der ebenfalls für die schnellstmögliche Wiedervereinigung eintrat, wählten 5,3%. Den Gegenpol vertraten die beiden Fraktionen der Intelligenz, die eine stillschweigende „Allianz für die DDR“ bildeten. „PDS und Bündnis 90 sind zur Vertretung der alten Eliten und der sogenannten ‚Intelligenz‘ geworden, aber auch der Facharbeiterschaft in den neuen Industriestädten des Nordens. Auch wenn sie sich in Geschichte und Organisationsstruktur tiefgreifend unterscheiden, liegen sie dicht beieinander, was Motivation und Mentalität ihrer Wähler betrifft.“ [119] Die PDS erhielt 16,3 %, Bündnis 90 ganze 2,9% und die Grünen 1,9% der Stimmen. Die SPD, der viele einen Wahlsieg prophezeit hatten, war zerrissen zwischen der Nationalpolitik des greisen Willy Brandt („Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“), der im Westen seiner eigenen Partei isoliert war, und der „postnationalen“ Politik des Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, der die Toscana der DDR vorzog und sich weigerte, in Ostdeutschland Wahlkampf zu machen. Sie erhielt 21,9% der Stimmen.