III. Sozialismus ohne Basis

In Ermangelung der notwendigen gesellschaftlichen Voraussetzungen wurde der Aufbau des Sozialismus zu einer Aufeinanderfolge sich wiederholender Krisen. Jeder Versuch, den Kurs zu ändern, führte tiefer in die Sackgasse, jedes Mittel, um eine Lücke zu schließen, riß eine noch größere, ohne daß die Aussicht auf grundlegende Besserung bestand. Als er von außen nicht mehr gestützt wurde, löste sich schließlich 1989/90 der ganze Staat auf.

1. Die Wendung zum „Neuen Ökonomischen System“

Nachdem der Rückschlag von 1953 verkraftet war, beschloß die SED auf ihrem 5.Parteitag 1958 als ökonomische Hauptaufgabe, den Pro-Kopf-Verbrauch der BRD bei allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern bis 1961 zu erreichen und zu übertreffen. Weil die Werktätigen anhand der gesellschaftlichen Praxis ihre eigenen Schlußfolgerungen über die angebliche Überlegenheit des Sozialismus zogen und mit den Füßen abstimmten, mußte stattdessen 1961 die Berliner Mauer gebaut werden. Sie konnte zwar die weitere Massenabwanderung von Arbeitskräften unterbinden, die DDR jedoch nicht lebensfähig machen.

1964 war die staatliche Existenz der DDR noch einmal bedroht, als Chruschtschow angesichts der sowjetischen Landwirtschaftskrise den Versuch unternahm, Armee und Rüstung zu reduzieren, um die freiwerdenden finanziellen Mittel in den Agrarsektor zu investieren. Aufgrund der Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik hing eine solche Politik von der Lösung der deutschen Frage ab, denn nur dann war die Auflösung der Militärblöcke zu erreichen, die eine Reduzierung der Rüstungsausgaben ermöglichte. Nach der Abdankung Adenauers, des entschiedensten Gegners jeder Wiedervereinigungspolitik, im Jahre 1963 schien auf westdeutscher Seite die Möglichkeit dazu gegeben. Um keine schlafenden Hunde zu wecken, versuchte Chruschtschow, die Bedingungen für einen Verkauf der DDR durch persönliche Abgesandte auszuloten. Der unmittelbare Anlaß für seinen Sturz war darum „ein Auftritt von Chruschtschows Schwiegersohn Adshubej in West-Berlin, wo dieser leichtsinnigerweise mitgeteilt hatte, daß wir (die Sowjetunion; H.K.) sehr wohl auf eine Vereinigung der beiden Deutschlands eingehen könnten. Die DDR-Führung protestierte daraufhin entrüstet bei ihren sowjetischen Freunden, und aus diesem Funken entstand dann der große Brand“, der Chruschtschows Ende herbeiführte. [67] Armee und Schwerindustrie ersetzten ihn durch Breschnew. Erneut hatte die DDR ihre Schlüsselrolle für die Beibehaltung oder Veränderung der Blockstruktur Europas unter Beweis gestellt. Sie konnte sich zwar nicht auf ihr Staatsvolk, um so sicherer aber auf die sowjetische Armee verlassen.

Zum Zeitpunkt von Chruschtschows Sturz hatte Ulbricht bereits eine Wendung zur Ökonomie vollzogen. Das Scheitern der 1958 verkündeten ökonomischen „Hauptaufgabe“ und der Mauerbau hatten bewiesen, daß der bloße Besitz der Staatsmacht nicht ausreichte, um den Sozialismus aufzubauen. Ulbricht selber faßte dies in die Worte: „Die These vom Vorrang der Politik hat zeitweise auch bei uns dazu geführt, daß die politischen Zielstellungen und bestimmte Wünsche bei der Festlegung der ökonomischen Aufgaben vorherrschten … Aber in der Tat haben jetzt ökonomische Aufgaben den Vorrang.“ [68] Das Resultat der neuen Vorrangstellung war das „Neue Ökonomische System“ (NÖS). Dessen Kern bestand darin, das vorwiegend administrativ ausgerichtete Wirtschaftssystem in ein ökonomisches System der Planung und Lenkung (deshalb auch NÖSPL) unter Beachtung des Wertgesetzes umzuwandeln. Die Betriebe erhielten größere Selbständigkeit, wurden auf wirtschaftliche Rechnungsführung umgestellt und mußten mit der Kategorie des Gewinns arbeiten. Zugleich lenkte der Staat die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung, indem er seine Investitionen auf die vorrangige Förderung von Schlüsselindustrien (Elektronik, Chemie) konzentrierte. Mit Hilfe der Kybernetik sollte die „zweite wissenschaftlich-technische Revolution“ bewältigt werden und eine explosionsartige Entfaltung der Produktivkräfte erfolgen. Die noch vorhandenen Klein- und Handwerksbetriebe wurden nicht weiter verstaatlicht.

Mit der Theorie vom Sozialismus als einer relativ selbständigen sozialökonomischen Formation, einem eigenen Stadium mit eigenen Gesetzmäßigkeiten wurde das NÖS ideologisch abgesichert und begründet. Diese Theorie richtete sich gegen die Positionen der KPdSU, wo Anfang der 60er Jahre der unmittelbar bevorstehende Übergang zum Kommunismus propagiert wurde und sogar in das Parteiprogramm von 1961 Eingang fand. Die Grundzüge des NÖS wurden in dem 1969 erschienenen Buch „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“ niedergelegt. Es wurde nach Ulbrichts Sturz wieder eingezogen.

Auf sich allein gestellt konnte die DDR die von Ulbricht anvisierte Entwicklung nicht realisieren, und das sozialistische Lager war aufgrund seiner Zurückgebliebenheit nicht in der Lage, die erforderliche Unterstützung zu geben. Um die ostdeutsche Wirtschaft auf Weltniveau zu bringen, mußte die einseitige Ausrichtung der DDR-Wirtschaft auf die RGW-Staaten gelockert und die Zusammenarbeit mit der westdeutschen Industrie intensiviert werden. In der BRD gab es zu der Zeit größere gesellschaftliche Umbrüche. 1966/67 deutete eine vorübergehende Wirtschaftskrise das Ende des „Wirtschaftswunders“ an; die Jugend- und Studentenbewegung gegen Notstandsgesetze und Vietnam-Krieg erschütterte die obrigkeitliche Nachkriegsruhe der Adenauer-Ära, und mit den Septemberstreiks 1969 schien die Arbeiterbewegung wiederzuerwachen. Nach der großen Koalition von Dezember 1966, in der Willy Brandt als Außenminister eine „Neue Ostpolitik“ begann, kam 1969 eine sozialliberale SPD-FDP Koalition an die Macht. Das schienen günstige Bedingungen auf Seiten des Gegners, um aus der 1961 offenkundig gewordenen Defensive des Sozialismus herauszukommen. Gleichzeitig schienen die NÖS-Erfolge das eigene Lager zu befähigen, erneut zur Offensive überzugehen, die Ulbrichts Element war. „Ulbricht war nicht für Erstarrung, er war für Bewegung, er war für Dynamik, auf wirtschaftlichem und auch auf politischem Gebiet.“ [69] Gestützt auf das NÖS entwickelte er einen „Meisterplan“, der den umfassenden Sieg des Sozialismus versprach. Dieser Plan ist nirgends schriftlich fixiert, sondern läßt sich nur aus einzelnen Versatzstücken der Politik rekonstruieren, die eine gemeinsame Stoßrichtung erkennen lassen.

2. Das Scheitern eines „Meisterplans“

Der erste Teil des Plans richtete sich auf die Bundesrepublik. Ulbricht war überzeugt, daß die Entfaltung der Produktivkräfte durch das NÖS das bisherige Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten umkehren würde. In einem Brief von 1969, worin er die sowjetische Führung zur Lieferung von mehr Rohstoffen aufforderte, schrieb er: „Wir hatten ihnen bereits mitgeteilt, daß wir in der Zeit des Perspektivplanes 1971-1975 die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung über das westdeutsche kapitalistische System beweisen müssen. Das ist das Haupterfordernis, um auf die westdeutschen Werktätigen Einfluß zu nehmen“. [70] Das große sozialistische Lager im Rücken, würde die DDR in der Lage sein, eine Vorbildrolle für die westdeutschen Werktätigen zu übernehmen und die „spätkapitalistische“ – also niedergehende – Bundesrepublik zum Sozialismus zu führen. 1968 ließ er deshalb die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten im Sozialismus in die Verfassung schreiben. Eine deutsch-deutsche Konföderation sollte ein Zwischenschritt dorthin sein. Alles deutet darauf hin, daß er „einem (waghalsigen) Stufenplan folgte: anerkannte Zweistaatlichkeit, wirtschaftlicher Aufschwung durch deutsch-deutsche Zusammenarbeit (vielleicht sogar unter dem Dach einer Konföderation), Überholen des Weststaates -: gesamtdeutsche (sozialistische) DDR.“ [71] Zwar scheiterte 1966 ein bereits vereinbarter Redneraustausch mit der SPD an den Kalten-Kriegs-Relikten der Adenauerzeit, aber kaum war die sozialliberale Koalition an der Macht, vereinbarte Ulbricht zwei Regierungstreffen zwischen Stoph und Brandt im März und Mai 1970 in Erfurt und Kassel – sehr zum Mißfallen der sowjetischen Führung, die er vor vollendete Tatsachen stellte.

Der zweite Teil seines Plans richtete sich auf das sozialistische Lager. Um die westdeutsche Wirtschaft nach Osten zu orientieren, günstigere Entwicklungsbedingungen für die RGW-Staaten zu schaffen, aber auch um die eigene Stellung zu festigen, sollte die DDR als Mittelsmann für den Handelsausbau zwischen UdSSR und BRD tätig werden. „Ökonomisch aber besaß die DDR in der Sowjetunion sehr günstige Positionen. Sollte es nicht möglich sein, diese Vorzugsrolle gegenüber der Bundesrepublik auszunutzen, um entscheidender Vermittler für den Einstieg von BRD-Wirtschaftsunternehmen in das große Geschäft mit der UdSSR zu werden? Daß Ulbricht genau in dieser Richtung dachte, bestätigt sein engster wirtschaftspolitischer Mitarbeiter: ‚In dieser Lage wurde es sinnvoll, politische Wege zu einer Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten zu erkunden, die zu ökonomischer und wissenschaftlich-technischer Kooperation mit beiderseitigem Vorteil führen könnte, d.h. sowohl mit nützlichen Folgen für die Wirtschaft der DDR und damit für ein höheres Lebensniveau ihrer Bevölkerung, als auch mit günstigen Chancen für die BRD-Industrie, im Zusammenwirken mit der DDR den Markt der UdSSR zu erschließen.'“ [72] Entscheidend war, das NÖS in allen RGW-Staaten durchzusetzen, um deren Stagnation zu überwinden. So wie die DDR die Bundesrepublik, würde dann das ganze sozialistische Lager das Lager des Kapitalismus überrunden.

Zu diesem Zweck mußte die DDR als ökonomisch fortgeschrittenstes Land eine Vorreiterrolle auch gegenüber der Sowjetunion übernahm, deren Staatsführung von Ulbricht bei jeder Gelegenheit über die Vorzüge des NÖS belehrt wurde. [73] Die Politbüro-Mehrheit, die ihn 1971 stürzte, begründete die Notwendigkeit seiner Absetzung u.a. mit dem von ihm erhobenen Führungsanspruch: „Nicht nur intern, sondern auch in offiziellen Veranstaltungen kam beim Genossen W.Ulbricht eine gewisse Überheblichkeit im Verhältnis zur Sowjetunion und den anderen Ländern der sozialistischen Gemeinschaft zum Ausdruck. Die DDR sollte nach dem Willen des Genossen W.Ulbricht das Modell für den Sozialismus sein. Der Übergang vollzog sich bei ihm offiziell mit der Formulierung, daß die Sowjetunion nur das Grundmodell sein könne.“ [74]

Dieses miteinander verzahnte außen- und wirtschaftspolitische Programm war ein Luftschloß. Erstens führte es in ein unlösbares Dilemma: die geplante Entfernung vom RGW und Entwicklung der Produktivkräfte mit westdeutscher Hilfe würde unweigerlich zur Annäherung an die BRD führen. Dem durch ideologische Abgrenzung zu begegnen, ja sogar ernsthaft daran zu glauben, Westdeutschland auf den Weg des Sozialismus zu bringen, hieß davon auszugehen, daß nicht der Hund mit dem Schwanz, sondern der Schwanz mit dem Hund wedelt. Zweitens mußte dieser Plan schon an der Sowjetunion scheitern. Dieselben Kräfte, die Ulbricht 1952 gerufen hatte, um gegen Stalin den Sozialismus in der DDR einzuführen, ließen es nicht zu, daß er jetzt den Vorposten des sozialistischen Lagers durch eine illusionäre Politik in Gefahr brachte. Die UdSSR war gerade dabei, die Grundzüge und Grenzen der Entspannungspolitik in Europa festzulegen. An diesen Rahmen hatten sich die anderen Warschauer-Pakt-Staaten zu halten. Nach Abschluß des Moskauer Vertrags mit der BRD teilte Breschnew im August 1970 der ohne den kranken Ulbricht angereisten SED-Spitze mit: „Die DDR ist nicht nur eure, sie ist unsere gemeinsame Sache. (…) Es gibt, es kann und es darf zu keinem Prozeß der Annäherung zwischen der DDR und der BRD kommen.“ Und um auch den letzten Schwerhörigen zu überzeugen, holte er kurz den großen Knüppel hinter dem Rücken hervor, den die Sowjets besaßen, um die DDR nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen: „Wir haben unsere Truppen bei ihnen. Das ist gut so und wird so bleiben.“ [75]

Ulbrichts Stellung im Politbüro wankte aber auch unabhängig vom sowjetischen Eingreifen. Bis dahin hatte er immer eine Mehrheit des Politbüros hinter sich gehabt und konnte seine sektiererische Sozialismuspolitik deswegen durchsetzen, weil er die „linken“ Vorstellungen der ganzen Führung verkörperte. Jetzt verlor er diese Mehrheit. Der Grund dafür war seine Wirtschaftspolitik, genauer gesagt die innenpolitische Instabilität, in die sie zu münden drohte. Gerd Schürer, als Nachfolger Apels seit 1965 Vorsitzender der staatlichen Plankommission, schreibt über die zweite Hälfte der 60er Jahre: „Die immer wieder von Walter Ulbricht vertretene Forderung nach Plänen mit einer jährlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität von 10 bis 12 Prozent, der wir auf Grund der realen Ressourcen nicht entsprechen konnten, garantierte uns permanente Kritik (…) Die Tragik dieser Periode von 1966 bis 1970 besteht darin, daß sich die Parteiführung zwar endlich den echten Problemen des Wachstums der Arbeitsproduktivität durch wissenschaftliche, ingenieurtechnische und arbeitsorganisatorische Leistungen zugewandt hat, sich aber durch Übertreibungen, Halbwissen und sogar Schaumschlägerei neue hausgemachte Probleme schuf, die zum Hemmnis wurden. Wort und Tat gingen immer weiter auseinander und die Stimmung der Menschen verschlechterte sich rapide.“ [76] 1970 waren die Reserven der DDR-Wirtschaft aufgebraucht. Zwar hatte das NÖS in Teilbereichen zu hohen Produktivitätszuwächsen geführt, aber gleichzeitig waren die Disproportionen zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen so groß geworden, daß es zu Produktionsstörungen kam. Die vom NÖS vorgesehene Einschränkung der Konsumentwicklung zugunsten höherer Investitionen in Schlüsselindustrien weckte Befürchtungen vor einem neuen 17.Juni. Versorgungsschwierigkeiten hatten bereits zu Unmut in der Arbeiterschaft geführt.

Hinzu kam die bedrohliche Entwicklung in den sozialistischen Nachbarländern. Der Prager Frühling von 1968 lag noch nicht lange zurück, und im Dezember 1970 demonstrierte der polnische Arbeiteraufruhr, wie instabil die Machtverhältnisse im Osten waren. Das gab den Ausschlag. Die Mehrzahl der Politbüromitglieder war unter diesen Umständen nicht länger bereit, Ulbrichts waghalsigen Kurs weiter mitzutragen. Suchte Breschnew aus außenpolitischen Gründen einen Ersatz für ihn, so suchten sie diesen aus innenpolitischen Gründen. Nicht Manns genug, offen gegen ihn anzutreten, wandten sie sich unter der Regie Honeckers heimlich an Breschnew und baten ihn in einem Schreiben vom 21.Januar 1971 um Schützenhilfe: „Wir berücksichtigen dabei auch bestimmte Lehren aus den Ereignissen in Volkspolen und in der CSSR.“ [77] An das außenpolitische Eigeninteresse der Sowjetunion erinnerten sie mit dem kriecherischen Hinweis, durch Ulbrichts „persönliche Linie“ würde „ständig der zuverlässige Ablauf des zwischen der KPdSU und der SED koordinierten Vorgehens und der getroffenen Vereinbarungen gegenüber der BRD gestört.“ [78] Durch das koordinierte Zusammengehen der ostdeutschen Speichellecker mit ihrem sowjetischen Oberherrn wurde Ulbricht im April 1971 gezwungen, als Erster Sekretär der Partei zurückzutreten. Bald darauf isoliert und verbittert gestorben, verstand er bis zuletzt nicht, daß er nur geerntet, was er selbst gesät hatte.

3. Ulbrichts Tragik

In einer Besprechung der Ulbricht-Biographie von Podewin weist Sahra Wagenknecht den an Ulbricht gerichteten Vorwurf des Voluntarismus zurück. Sie preist die „Lebensgeschichte dieses kompromißlosen Strategen und brillanten Taktierers, dieses jung überzeugten Kommunisten und noch als Greis lernwilligen Reformators, dieses machtpolitischen Praktikers mit langem Atem und ungebrochenen Idealen“. Ulbrichts „hochgesteckte Ziele“ waren für sie „alles andere als irreale Wunschvorstellungen“, [79] sondern entsprachen einer realitätstüchtigen Sozialismuspolitik. Sie tut ihrem Vorbild zugleich zu viel und zu wenig Ehre an. Wollte sie Ulbricht ernsthaft gerecht werden, dann hätte sie neben den alles überschattenden politischen Fehlern die persönliche Tragik dieses Mannes herausarbeiten müssen, der sein Leben in der Tat der Sache des Sozialismus verschrieben hatte – und letztlich das Gegenteil alles dessen erreichte, was er wollte. Er wollte die deutsche Arbeiterklasse so schnell wie möglich zum Sozialismus führen – und organisierte ihre tiefste, Jahrzehnte andauernde Niederlage. Er kämpfte für die Befreiung der Massen aus Not und Unterdrückung – und wurde zum Geburtshelfer einer Erziehungsdiktatur, die sich auf die Entmündigung und kleinliche Gängelei der Massen stützte. Er verstand sich als Anhänger des dialektischen und historischen Materialismus – und machte den Marxismus zu einer leblosen Ideologie.

Um dieses Lebensschicksal verstehbar zu machen, hätte Wagenknecht herausarbeiten müssen, in welchem Maße Ulbricht nicht nur durch die Schule der KPD gegangen, sondern auch durch die sowjetischen Erfahrungen der 30er und 40er Jahre geprägt war. In seinem jahrelangen Exil in der Sowjetunion erlebte er persönlich mit, mit welcher Begeisterung die Massen in scheinbar unaufhaltsamem Sturmlauf die Industrialisierung und Kollektivierung bewältigten und anschließend den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland erfochten, das zuvor fast ganz Europa unterworfen hatte. All das beeindruckte ihn wie die ganze damalige Generation von Kommunisten zutiefst, ohne daß er begriff, was diesen Erfolgen zugrundelag. Er begriff nicht, daß Stalin in den 20er Jahren bis zuletzt (gemeinsam mit Bucharin, gegen die Linken Trotzki, Sinowjew und Kamenew) an der Neuen Ökonomischen Politik festgehalten und sich erst an die Spitze des gewagten Aufbruchs getellt hatte, als nicht nur einzelne Vortrupps, sondern die Massen der Arbeiterklasse angesichts der Getreiderationierung in den Städten gegen die NÖP revoltierten und den Sturm auf das Getreide der Kulaken verlangten. Er verschloß die Augen davor, daß die gewaltigen Erfolge bei der Industrialisierung und Kollektivierung in den 30er Jahren nur deshalb erzielt wurden, weil Stalin die Ziele des Großen Sprungs begrenzte und die Linke bis aufs Messer bekämpfte („Große Säuberung“), um zu verhindern, daß die Bauern durch eine utopische Agrarpolitik in einen allgemeinen Bauernaufstand getrieben wurden. Genausowenig begriff er, daß der sowjetische Arbeiter- und Bauernstaat den deutschen Überfall nur deswegen überstanden hatte, weil Stalin die militärische Auseinandersetzung nicht als „sozialistischen“ Krieg zur Sicherung und Ausbreitung der Diktatur des Proletariats führen ließ, sondern einen großen Schritt zurück machte und den „Großen Vaterländischen Krieg“ proklamierte.

Ulbricht interpretierte alle diese Ereignisse nach „links“, so wie sich auf der Oberfläche darstellten. Ihm schien es, als ob mithilfe des Staates jegliche Politik realisiert werden könne. Darum befaßte er sich über Jahre hinweg aufs intensivste mit der Staatsfrage, um den Aufbau des Sozialismus in der DDR organisieren zu können. [80] 1952 trat er aus der Deckung, weil der Verlust der Staatsmacht in Ostdeutschland drohte. Als er dann nach seinem Sieg über Stalin registrieren mußte, daß der bloße Einsatz der Staatsmacht zusammen mit der Ausgabe wegweisender Parolen nicht ausreichte, glaubte er, in der Ökonomie den Schlüssel gefunden zu haben, um den Sozialismus durch eine neue industrielle Revolution zu fundieren. Mit derselben Energie, mit der er sich zuvor mit der Staatsfrage beschäftigt hatte, stürzte er sich in den sechziger Jahren auf ökonomische Fragen, so daß Wagenknecht ihn als einen „noch als Greis lernwilligen Reformator“ bewundert. Und nicht nur, weil die Verhältnisse ihn dazu zwangen, sondern auch weil er von seinem Naturell her gar nicht anders konnte, trat er bei der Ausarbeitung des NÖS erneut die Flucht nach vorn an und wollte in einem Spagat ohnegleichen zwischen Westdeutschland und der Sowjetunion versuchen, als neue Führungsmacht des sozialistischen Lagers die BRD zum Sozialismus und das sozialistische Lager zum großen Sieg zu führen. Mit anderen Worten: sein letztes Programm faßte noch einmal den ganzen Mann zusammen.

Hätte man dies entwickelt, wäre klar geworden, warum Ulbrichts Ende ausgerechnet bei seinem größten Kraftakt kam, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Wagenknecht ist zu einer solchen Untersuchung nicht fähig, weil sie mit Ulbrichts Sektierertum ihre eigenen Anschauungen vertritt (allerdings hätte ein Ulbricht sich nicht in der PDS organisiert). Sie versteht sich selbst als revolutionäre Kämpferin gegen den Strom und verteidigte deshalb in der Vergangenheit Stalin gegen die Angriffe der PDS-Führung, ohne vor dem Vorwurf des „Stalinismus“ zurückzuweichen. In der Tat feiert sie aber mit dem von Ulbricht herbeigezwungenen „Aufbau des Sozialismus“ den Beitrag, den ihr Vorbild im Kampf gegen Stalin und für den Niedergang der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung leistete. Sie repräsentiert die Fortsetzung des gescheiterten Linksradikalismus, der heute nur noch als ideologische Strömung jenseits der Arbeiterklasse existiert, gestützt allenfalls auf radikalisierte Teile der Intelligenz. Der Bruch mit diesen Überzeugungen ist nicht allein überfällig, um die Geschichte der DDR zu begreifen. Er ist vor allem notwendig, um dem Kommunismus eine neue Perspektive zu geben.

4. Der Konsum als Kern der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“

Honecker grenzte sich gegen seinen Vorgänger von „links“ ab. Unter dem NÖS sei „der kapitalistische Sektor in der Wirtschaft ständig erweitert“ worden, kritisierte er im ZK der SED. „Die Zahl der Arbeitskräfte in diesem Sektor stieg laufend an.“ [81] Er warf Ulbricht vor, durch die vorrangige Förderung ausgewählter Industrien die „planmäßig proportionale Planung und Entwicklung und die Stabilität der Volkswirtschaft der DDR“ vernachlässigt zu haben. 1972 wurden die noch mehr als 5.000 halb staatlich-halb privaten Industriebetriebe und die etwa 1.600 industriell produzierenden Produktionsgenossenschaften der Handwerker (PGH) verstaatlicht. Sie hatten 1971 mit ca. 12% der industriell Beschäftigten ca. 10% der industriellen Bruttoproduktion erwirtschaftet. [82]. Die Maßnahme wurde vom Politbüro im „Neuen Deutschland“ u.a. mit der Notwendigkeit „der Beseitigung von gewissen Erscheinungen der Rekapitalisierung in unserer Republik“ begründet. [83] Im Zusammenhang mit der Einstellung des NÖS wurde Ulbrichts Theorie vom Sozialismus als eigenständigem Stadium mit eigenen Gesetzmäßigkeiten ebenfalls zurückgenommen und der Sozialismus, wie in der Sowjetunion vorgeschrieben, als bloßes Durchgangsstadium zum Kommunismus definiert. Schließlich ließ Honecker die Wiederherstellung der deutschen Einheit aus der Verfassung streichen, erklärte die Fortexistenz der Nation für ein bürgerliches Relikt und taufte die DDR zur „sozialistischen Nation“ um.

Im Zentrum der neuen Politik stand die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. „Die ‚Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‘ wurde auf dem VIII.Parteitag 1971 beschlossen und stellt Honeckers politischen und ökonomischen Gegenentwurf zur Ulbrichtschen Politik dar. (…) Vor dem Hintergrund der Kritik der Parteibürokratie an den Unwägbarkeiten des Ulbrichtschen Ökonomismus und dem damit verbundenen Konsumverzicht der Bevölkerung repräsentiert die Belebung der Sozialpolitik die Gegenbewegung der Parteibürokratie. (…) Kernstück des sozialpolitischen Programms war die planmäßige Steigerung der Realeinkommen (und damit der Konsumquote), Anhebung der Mindestlöhne und Mindestrenten, Erhöhung der Produktion von Konsumgütern und Dienstleistungen, Ausbau der ‚gesellschaftlichen Konsumtionsfonds‘ (Bildung, Qualifizierung, Kindereinrichtungen etc.) und die ‚Lösung der Wohnungsfrage“. [84]

Hatte Ulbricht zuvor 10-12% Produktionssteigerungen verlangt, so verlangte Erich Honecker nunmehr 3-4% jährliche Konsumsteigerungen von den Wirtschaftsplänen, ohne Rücksicht auf die Entwicklung der Produktion. „Diesmal ging es nicht um übersteigerte Wünsche zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität von 10 bis 12 Prozent jährlich, sondern nunmehr war es die Summe der Forderungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik, die bei solid geplantem Wirtschaftswachstum die Bilanzen überforderten“, [85] stellt Gerhard Schürer dazu fest. Peitsche dieser Entwicklung war neben dem Prager Frühling von 1968 und den polnischen Unruhen 1970/71 der sprunghafte Ausbau des Sozialstaats in der BRD unter der SPD-geführten sozialliberalen Koalition sowie der dort trotz einer ersten Welle der Arbeitslosigkeit 1974/75 weiterhin steigende Lebensstandard der Werktätigen. Auf diese Weise gelang es zwar zeitweise, die weitere Öffnung der Konsumschere zwischen Ost und West zu verlangsamen, aber nur auf Kosten des Produktionskörpers.

Im Wohnungsbau, einem Herzstück der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sollte durch das 1971 aufgelegte Bauprogramm die Wohnungsfrage „als soziales Problem“, so Honecker 1975, bis 1990 gelöst sein. Die Neubauten wurden auch in großem Maßstab errichtet, mit einer durchschnittlichen Wohnungsgröße von 46m2. Da die Mieten aber weit unter den Kostenmieten festgesetzt wurden, war die Folge, daß der Staat umso höhere Kosten für die Unterhaltung hatte, je mehr Wohnungen er baute. Die Konsequenz war, daß zur gleichen Zeit die alten Wohnviertel verfielen, weil es für ihre Instandhaltung kein Geld gab. [86]

In einigen Regionen, vor allem im Norden der Republik, gab es bestandsfähige Industrien wie den Schiffsbau. In der Masse aber verfiel die industrielle Basis der DDR, weil die Umlenkung der gesellschaftlichen Mittel auf die Konsumgüterproduktion nicht einmal die einfache, geschweige denn die erweiterte Reproduktion möglich machte. „Die Akkumulation wurde immer restriktiv gehandhabt, weil Honecker mit dem Versprechen angetreten war, das Leben der Menschen wird besser werden.“ [87] Obwohl zuletzt fast 9% aller in der Industrie Tätigen mit Instandhaltungsarbeiten beschäftigt waren, [88] verfielen die Produktionsanlagen. Weil Vorprodukte ausfielen oder mangelhaft waren, geriet die ganze Produktionskette ins Stocken und gab es immer häufiger Leerlauf an den Arbeitsplätzen. Mit der Maschinerie verrotteten die Transport- und Kommunikationsmittel von der Eisenbahn bis zum Straßen- und Telefonnetz.

Parallel zum Verfall der produktiven Basis stieg die Staatsschuld. Bereits Ende der 70er Jahre war die DDR mit über 20 Mrd. Valutamark im kapitalistischen Ausland verschuldet. Durch die Sanktionen des Westens aufgrund der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13.Dezember 1981 verschlimmerte sich die Lage. Anfang der 80er Jahre stand die DDR vor dem ökonomischen Kollaps, der durch zwei von dem bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß vermittelte Kredite von insgesamt knapp 2 Mrd. DM abgewendet mußte – also durch weitere Verschuldung. Das Motiv der westdeutschen Politiker war die Sicherstellung der Entspannungspolitik, denn „sie wußten auch, daß die im Herbst anstehende Umsetzung des NATO-Nachrüstungsbeschlusses die Gefahr einer neuen politischen Eiszeit in Mitteleuropa barg, die zuallererst die deutsch-deutschen Beziehungen erkalten lassen würde.“ [89] Nach einer unter Leitung Schürers Ende Oktober 1989 entstandenen „Analyse der ökonomischen Lager der DDR mit Schlußfolgerungen“ betrug die Auslandsverschuldung 1989 rund 49 Milliarden Valutamark. „Es wurde mehr verbraucht, als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde. (…) Das bedeutet, daß die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruht“. Zur Vermeidung einer weiteren Verschuldung wäre dieser Analyse zufolge eine Rückführung der Konsumtion um 25-30% erforderlich gewesen. [90]

Um die dringend benötigten Westimporte zu finanzieren, wurde der außerhalb des Plans agierende Bereich der „Kommerziellen Koordinierung“ unter Alexander Schalck-Kolodkowski kontinuierlich ausgebaut, der mit allen Mitteln der Schieberei und Spekulation für Devisen zu sorgen hatte. „Für das Schicksal der von schwierigen inneren und äußeren Bedingungen hart gebeutelten DDR war auch dieser Weg der Devisenbeschaffung lebenswichtig, und zwar in erster Linie zur Aufrechterhaltung des gegenüber dem Standard der BRD ohnehin begrenzten Konsums seiner Bürger.“ [91] Der Verweis auf den im Vergleich mit Westdeutschland „begrenzten Konsum“ der DDR-Bürger beleuchtet das von der SED-Führung selbstgeschaffene Dilemma, aus dem es schließlich keinen Ausweg mehr gab. Der Sozialismus stand 1952 weder objektiv auf der Tagesordnung noch war er subjektiv begründet; er basierte nicht auf der eigenen politischen Entscheidung der Arbeiterklasse, sondern wurde ihr übergestülpt. Darum war die Opferbereitschaft der Massen, ihre Begeisterung für die erforderliche Produktionsschlacht zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, gering entwickelt. In Ermangelung eines „Gesellschaftsvertrags“ mit der Klasse war die SED gleichzeitig gezwungen, den Sozialismus ökonomisch zu legitimieren, durch dauerhaft größere Konsummöglichkeiten als im Kapitalismus. Daran hatte die Führung zunächst auch keinen Zweifel, lehrte doch der Marxismus-Leninismus, daß der (Monopol-) Kapitalismus seinem Ende zuging und die Befreiung der Produktivkräfte aus ihren kapitalistischen Schranken alle Springquellen des Reichstums sprudeln lassen würde.

Aber die Realität kannte sich in den Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus nicht aus. Während die ökonomische Entwicklung in der UdSSR erlahmte, erlebte der Kapitalismus eine jahrzehntelange Prosperitätsperiode. Die falsche Grundentscheidung von 1952 produzierte so eine Kette aufeinanderfolgender Niederlagen. 1953 mußten sowjetische Panzer den Sozialismus gegen die aufbegehrende Arbeiterschaft durchsetzen; 1961 mußte die Mauer gebaut werden, um die Ausblutung der DDR zu verhindern; 1970/71 scheiterte Ulbricht mit seinem illusionären NÖS-Programm, und Anfang der 80er Jahre war die DDR bereits ökonomisch am Ende, auch wenn die Staatsmacht erst ein paar Jahre später zusammenbrach. Diese bittere Erfahrung hält einen Großteil der deutschen Linken nicht davon ab, allen Ernstes zu behaupten, daß nicht die BRD das heimliche Vorbild für die DDR war, sondern umgekehrt. „In der BRD, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern, war es die DDR, die als ‚dritter Verhandlungspartner‘ mit am Tisch saß, wenn es um Arbeiterrechte und sozialen Fortschritt ging.“ [92] Diese programmatische (!) Aussage stellt den Leser (und die lesende Genossin ebenso) vor eine schwere Entscheidung, was er mehr bewundern soll – das Ausmaß an ideologischer Realitätsverkennung oder die atemverschlagende Haltung gegenüber der Arbeiterklasse: nachdem man sie im Osten jahrzehntelang irregeführt, bevormundet und geschurigelt hat, will man ihr jetzt im Westen weismachen, sie habe ihren Lebensstandard nicht der eigenen Arbeit und Kampfkraft, sondern zur Hälfte der gescheiterten SED-Politik zu verdanken.

5. Das Ende der Honecker-Regierung

Wie überzeugt die SED-Führung selber von der Anziehungskraft ihres Staates war, demonstriert die Entwicklung der Staatssicherheit. Je weiter der Sozialismus voranschritt, desto umfangreicher wurde ihr Apparat. Von 4.500 Mitarbeitern im Jahr 1951 wuchs er über 14.900 (1962), 48.800 (1972) bis hin zu 91.000 hauptberuflichen Mitarbeitern 1989. Hinzu kamen die informellen, seit 1984 ca. 140.000 Mitarbeiter. [93] Der Ausbau verschlang immer mehr der sowieso knappen Ressourcen, ebenso wie die Nationale Volksarmee, deren Anforderungen wegen der Verbundenheit mit der sowjetischen Armee stets vorrangig erfüllt werden mußten.

Das ehemalige Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig führte seit den 70er Jahren Untersuchungen über die Stimmungslage in der Bevölkerung durch. Seinerzeit unter Verschluß gehalten – wahrscheinlich, um die westlichen Kapitalisten bei ihren Lohnerhöhungen nicht zu irritieren -, wurden sie nach dem Ende der DDR veröffentlicht, mit dem Ergebnis: „Höhere Bildungsschichten hatten wesentlich positivere Einstellungen zur DDR, zum sozialistischen System als solche mit niedrigen Abschlüssen. Kinder aus Intelligenzfamilien waren viel positiver eingestellt als die aus Arbeiterfamilien … Der Arbeiter- und Bauernstaat wurde also von den angeblich tragenden Schichten, den Arbeitern und Bauern, unterdurchschnittlich akzeptiert. Natürlich auch von Handwerkern und anderen Selbständigen. Studenten hatten in jeder Beziehung ein deutlich positiveres Verhältnis zur DDR und zum Sozialismus als junge Arbeiter/Lehrlinge. Diese Unterschiede haben sich in den 80er Jahren ebenfalls noch vergrößert.“ [94]

Die Intelligenz war in vielfacher Hinsicht privilegiert und identifizierte sich mit der DDR – wenngleich nicht unbedingt mit der gegebenen Herrschaftsform. Sie wandte sich vor allem gegen die mit dem Umfang der Stasi wachsende Unterdrückung und Bevormundung. Die Arbeiterklasse wandte sich über die politische Bevormundung hinaus gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie u.a. ein Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit vom November 1988 über das „Stimmungsbild“ unter den Werktätigen enthüllt. Die Stimmung werde „immer stärker geprägt durch kritische Meinungsäußerungen über die Um- und Durchsetzung der ökonomischen Politik der Partei“. Westreisende würden „euphorische Schilderungen“ über Warenangebot und Dienstleistungen sowie „Zustand und Produktionsabläufe in Unternehmen und Betrieben in der BRD“ abgeben; man verlangte nach einer „offenen Diskussion, um die Schwachstellen besonders in der Volkswirtschaft aufzudecken“. [95] Die Unterschiede, die sich lange vorher andeuteten, machten sich in der Revolution von 1989 geltend.

Das Ende der Honecker-Herrschaft kam im Gefolge der Veränderungen in der Sowjetunion. Dort hatte der Niedergang von Wirtschaft und Gesellschaft seit Mitte der 80er Jahre zu Reformen unter den Parolen von „Perestrojka“ und „Glasnost“ durch den 1985 an die Macht gelangten Gorbatschow geführt. Außerdem wirkte sich die Niederlage der Roten Armee in Afghanistan auf das Verhältnis zu den osteuropäischen Bruderländern aus. Das Militär war nicht länger in der Lage, die bewaffnete Herrschaft über die Staaten des Warschauer Pakts zu garantieren. Neue, zeitgemäßere Formen der Hegemonie waren unumgänglich, und das bedeutete u.a. die Aufhebung der Breschnew-Doktrin von der beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten. Damit im Zusammenhang erschlossen sich neue Perspektiven für die KSZE-Politik der sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit, die seit Anfang der 80er Jahre durch die Mittelstreckenraketenrüstung auf Eis lag. 1987 erklärte Gorbatschow sich zur vollständigen Abrüstung der sowjetischen SS-20-Raketen bereit, nötigte dadurch auch die USA zum Verzicht auf ihre Cruise Missiles und Pershings und öffnete die Tür zu einer neuen Stufe der Entspannungspolitik. Dabei spielte die DDR eine besondere Rolle. Die sowjetische Führung dachte nicht daran, sie preiszugeben und eine Wiedervereinigung ins Auge zu fassen (Gorbatschow: „vielleicht in 100 Jahren“). Aber die DDR konnte eingesetzt werden, um Westdeutschland näher heranzuziehen.

Honecker stand dieser Politik entgegen. Er hatte noch unter Breschnew gegen die Stationierung neuer atombestückter Raketen auf DDR-Territorium opponiert, weil dadurch sein eigenständiger Handlungsspielraum eingeengt wurde (deshalb auch hatte die SED der kirchlichen Friedenspolitik Freiräume gewährt). Diesen Handlungsspielraum wollte er durch Gorbatschow nicht beschneiden lassen – er wollte seine eigene und nicht die russische Entspannungspolitik machen. Außerdem wandte er sich gegen die zunehmend marktwirtschaftliche Wendung der Wirtschaftsreformen in der UdSSR. Er lehnte also die Perestrojka-Politik im Ganzen ab. „Daß vom neuen Kurs der KPdSU Gefahr ausging, hatte die SED-Führung mithin schon relativ früh erkannt, jedoch – so Honecker nach seinem Sturz – ‚keinesfalls gedacht, daß sich die Entwicklung so rasch vollziehen, der Zusammenbrach so rasch kommen würde.'“ [96] Seinerzeit hatte Honecker Ulbrichts Sturz und den Wiederanschluß an die sowjetische Außenpolitik betrieben, weil der Spagatkurs seines Vorgängers zwischen UdSSR und BRD die DDR in Gefahr brachte. Jetzt sah er dieselbe Gefahr durch die Politik Gorbatschows drohen. In die Enge getrieben, bemühte er sich u.a. um eine Annäherung an China. Die SED-Führung verbesserte nicht nur die Kontakte, sondern verurteilte die Demokratiebewegung der chinesischen Studenten als „Konterrevolution“ und verteidigte das blutige Vorgehen der Armee am 4.Juni auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. In böser Vorahnung der kommenden Ereignisse forderte die Volksbildungsministerin Margot Honecker die ostdeutsche Jugend auf, den Sozialismus „mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“. [97]

Damit wiederholte sich die Situation von 1970/71. Honecker stand der Sowjetunion außenpolitisch im Weg und verlor zur gleichen Zeit innenpolitisch seinen Rückhalt in der SED-Führung, weil eine Mehrheit realisierte, daß die bisherige Herrschaftsform nicht aufrechtzuerhalten war. Auch die Konsequenz war zunächst die gleiche: Krenz löste ihn als Generalsekretär ab. Dann allerdings stellte sich heraus, daß die weitere Entwicklung im Unterschied zu den 70er Jahren nicht mehr zu steuern war. Indem die sowjetischen Truppen das Dasein der DDR nicht länger garantierten, verlor die DDR ihren letzten Existenzgrund. Im Unterschied zu den übrigen osteuropäischen Staaten ging hier 1989 nicht nur eine Herrschaftsform unter, sondern der ganze Staat.