II. Der Sieg des linken Sektierertums

Seit der steckengebliebenen Revolution von 1848 mußte in Deutschland die Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution zu Ende geführt werden. Nur indem die Arbeiterklasse in einem breiten Klassenbündnis die Führung einer demokratischen Volksrevolution übernahm, öffnete sich der Weg zur Macht und für den späteren Übergang zum Sozialismus. Diesen Kernpunkt der revolutionären Strategie hatte die Weimarer KPD nicht begriffen und war deswegen weder fähig, die Hegemonie über das Proletariat zu erringen, noch erst recht die proletarische Hegemonie über die Volksmassen. Auf dem Boden zuerst der „Offensivtheorie“ und sodann des Kampfs „Klasse gegen Klasse“ organisierte sie den blinden Sturmlauf des linken Flügels der Arbeiterklasse zum Sozialismus und führte die Arbeiterbewegung von der Novemberrevolution bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung in eine Niederlage nach der anderen. [29] Sogar die antifaschistisch-demokratische Orientierung des VII.KI-Weltkongresses mußte der KPD-Führung durch die Auswechselung des Politbüros aufgezwungen werden. [30] Lenins Warnung vor dem „linken Radikalismus“, der „Kinderkrankheit im Kommunismus“, blieb ein unerfülltes Vermächtnis an die deutschen Genossen. Nach 1945 vollstreckten die deutschen Kommunisten, die unter der Oberhoheit der UdSSR in der sowjetischen Besatzungszone die Macht übernahmen, mit Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht an der Spitze die Politik, mit der sie seit 1918 großgeworden waren.

1. Die Abwendung vom demokratischen Kampf

Nach dem 2.Weltkrieg stand die Vollendung der bürgerlichen Revolution vorerst in Form des antifaschistisch-demokratischen Kampfes auf der Tagesordnung. Den Rahmen für diese Politik formulierte der Aufruf des ZK der KPD vom 11.Juni 1945 an das deutsche Volk: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.“ Anfang der 30er Jahre war die KPD nicht bereit gewesen, die vorhandene parlamentarische Republik gegen den Nationalsozialismus zu verteidigen. Angesichts der 12-jährigen NS-Herrschaft und der Schwäche der Arbeiterbewegung forderte sie jetzt selber die Errichtung einer solchen Republik.

In dem Aufruf fehlte nicht nur jeder Hinweis darauf, welche Rolle die Arbeiterklasse bei der Errichtung der neuen Republik und in ihr spielen sollte, sondern auch jede Benennung eines weitergehenden Ziels über den Parlamentarismus hinaus. Darin spiegelte sich die von Grund auf fehlende programmatische Klarheit der KPD-Führung wider. Sie hatte in den Jahren des Moskauer Exils ihre Niederlagen nicht wirklich aufgearbeitet, sondern nur an der Oberfläche korrigiert. Den demokratischen Kampf begriff sie in Form der antifaschistischen Politik als vorübergehende Taktik, nicht jedoch als strategischen Schlüssel für das Herankommen an den Sozialismus. Der Aufruf war unter dem Einfluß der sowjetischen Kommunisten zustandegekommen. [31] Über die vorgegebene Orientierung auf eine demokratische Republik hinaus konnte die KPD-Führung keinen eigenständigen programmatischen Beitrag vorweisen. Nahm man die Programmatik des Aufrufs beim Wort, konnte es daher scheinen, daß die demokratische Republik zum Selbstzweck und die KPD eine bürgerliche Arbeiterpartei geworden war. In Wirklichkeit zeigte sich darin der aufgesetzte Charakter der Umorientierung.

Durch die Auflösung des alten Staatsapparats, die Aufteilung der großen Rittergüter („Junkerland in Bauernhand“) und die Verstaatlichung der Schwerindustrie wurden in der sowjetischen Besatzungszone zentrale demokratische Aufgaben zunächst realisiert. Dann zeigte sich, daß die Westmächte die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Nationalstaats hintertrieben. Darum rückte die nationale Frage, der Kampf um die Einheit Deutschlands, zunehmend in den Mittelpunkt. Der demokratische Kampf mußte von der antifaschistischen zur nationaldemokratischen Orientierung umgestellt werden. Das war die Probe aufs Exempel.

Bei einem Besuch der SED-Führung im Juli 1947 betonte Stalin die Langfristigkeit der nationaldemokratischen Aufgabenstellung: „In der Frage der Einheit Deutschlands müssen wir schrittweise weiterkommen, allen Widerständen zum Trotz. Nur dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, daß der Kampf, der um diese Einheit zu führen ist, schnell gewonnen sein wird. Er kann 5, 6 oder gar 7 Jahre dauern.“ [32] Diese langfristige Orientierung verfocht Stalin bis zu seinem Tod. Ihr folgend, gab er der SED-Führung im März 1948 den Rat, die „Trennlinie zwischen ehemaligen Nazis und Nichtnazis aufzuheben“, die Entnazifizierungskommissionen aufzulösen, den ehemaligen NSDAP- Mitgliedern die aktiven und passiven Bürgerrecht zurückzugeben und ihnen sogar die Gründung einer eigenen Partei zu gestatten. [33]. Die Gründung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) kam der Aufforderung Stalins formal entgegen; mangels tieferer Einsicht der SED spielte die Partei jedoch keine größere Rolle.

Die Mehrheit der SED-Führung war entschlossen, ungeachtet der Frage nach der Etappenbestimmung und der nach außen hin verfochtenen Politik der nationalen Einheit so schnell wie möglich zum Sozialismus überzugehen. Schließlich lehrte der Marxismus-Leninismus den Niedergang des (Monopol-) Kapitalismus, während der Sozialismus eine höhere Gesellschaftsordnung repräsentierte. Wenn der Sozialismus schon nicht in ganz Deutschland möglich war, mußte man ihn wenigstens in der sowjetischen Besatzungszone mithilfe der dort zur Verfügung stehenden Staatsmacht aufbauen, auch wenn die Massen noch nicht so weit waren. Dank der Überlegenheit der neuen Gesellschaftsform würden sie sich im Nachhinein von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugen; außerdem würde das neue, sozialistische Teildeutschland auf den Rest der Nation ausstrahlen. In diesen Auffassungen war von Beginn an angelegt, den Weg zum Sozialismus statt durch die Politik durch den Einsatz des Machtapparats und der Propaganda zu suchen – durch die Errichtung einer Erziehungsdiktatur.

Eine solche Politik konnte sich, wie schon in der Weimarer Republik, auf die „Basis“ der Partei stützen. Dort hatte die demokratische Umorientierung der Volksfrontpolitik und des Neuanfangs nach 1945 von Anfang an wenig Rückhalt gehabt. „Im Gegensatz zu vielen während des Moskauer Exils getroffenen Einschätzungen, wonach die mit den Beschlüssen der Brüsseler und Berner Konferenz vollzogene Abkehr von einem Sowjetdeutschland bei den Mitgliedern in Deutschland auf große Zustimmung gestoßen sei, wurde diese Forderung wieder laut. Zahlreiche Berichte der Ulbricht-Mitarbeiter registrierten vor allem Widerstand gegen die Moskauer Sicht deutscher Realitäten.“ Ulbricht selber mußte bei seiner Rückkehr nach Deutschland angesichts weitverbreiteter Forderungen nach sofortiger Einführung des „Sowjetsystems“, sprich des Sozialismus, konstatieren, daß „die Mehrheit unserer Genossen sektiererisch eingestellt ist“. [34] Es dauerte nicht lange, da stand er an der Spitze dieser Sektierer und suchte das Bündnis mit den sowjetischen Linken gegen Stalin.

Als der amerikanische Außenminister Marshall Anfang Juni 1947 den nach ihm benannten Plan zur wirtschaftlichen Erneuerung Europas verkündete, wurden in der ostdeutschen Bevölkerung Hoffnungen auf Dollarhilfe und eine bessere Versorgung geweckt, die durch den Nicht-Beitritt der Sowjetunion zunichte wurden. Gegenüber diesen Verlockungen verstärkten sich in Vorbereitung auf den 2.Parteitag der SED die „sozialistischen“ Tendenzen in der Partei. „An vielen Orten machten sich ‚Unverständnis für die Blockpolitik‘ (man ist gezwungen, den bürgerlichen Parteien viele Zugeständnisse gegen die Grundsätze unserer Partei zu machen) und ‚eine bauernfeindliche Stimmung‘ bemerkbar. ‚Es gab viele Reden darüber, daß es jetzt einen Sinn hätte, aus der sowjetischen Besatzungszone eine Sowjetrepublik zu bilden, infolgedessen eine Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung der Zone zu erreichen wäre.'“ [35] Diese Strömungen fanden in der SMAD und insbesondere in Oberst Tulpanow einen eifrigen Förderer. Bereits Anfang Mai 1947 unterstellte er das Faktum der Spaltung Deutschlands, kündigte auf dieser Grundlage die Entwicklung der SBZ nach gesellschaftspolitischen Gesetzmäßigkeiten an, die sich von Westdeutschland unterschieden, und forderte als Konsequenz „eine drastische Hebung des Niveaus der organisatorischen und ideologischen Arbeit der Partei – einen Wechsel im Stil der Parteiführung“. [36] Vom Sommer 1947 an, schreibt Loth, gewannen „in der SMAD wie in der SED diejenigen Funktionsträger an Einfluß, die mit der Vorstellung von der Vollendung einer bürgerlichen Revolution schon immer besonders wenig anzufangen wußten. … Kampf für die Demokratie war für sie gleichbedeutend mit Kampf für den Sozialismus.“ [37]

Zwei Monate nach dem 2.Parteitag vom September 1947, der formal das bisherige Programm der bürgerlich-parlamentarischen Orientierung bekräftigt hatte, forderte Ulbricht dazu auf, aus der SED eine „Partei neuen Typs“ zu machen, wie von Tulpanow gefordert. Das bedeutete, den „Sozialdemokratismus“ auszumerzen und die Sowjetunion zum Vorbild zu erklären – in dem Sinne, daß der (sowjetische) Sozialismus das nächste Ziel sein sollte. Gestützt auf die SMAD wurde der in der SED organisierte sozialdemokratische, rechte Flügel der Arbeiterbewegung in den nächsten Monaten administrativ ausgeschaltet. So war bis Mitte 1948 „- jedenfalls in der Vision Tulpanows, Ulbrichts und ihrer Parteigänger – aus der Partei der Einheit Deutschlands unversehens die Avantgarde der proletarischen Revolution geworden, aus der führenden Rolle, die sie bei der Herbeiführung der Einheit spielen sollte, wurde nunmehr der Anspruch auf Hegemonie, aus der Vollendung der bürgerlichen Revolution der Durchbruch zur sozialistischen Revolution abgeleitet“. [38]

Auf der 10. Parteivorstands-Tagung am 12./13.Mai 1948 verkündete Wilhelm Pieck „eine strategische Änderung unseres Kampfes, die sich aus den Veränderungen in der politischen und staatlichen Situation in Deutschland ergibt“. Den Westen Deutschlands schätzte er als „Militärdiktatur“ in vollständiger Abhängigkeit von den Westmächten ein und verkündete als Perspektive für den sowjetisch besetzten Ostteil, daß dieser sich „als selbständiges staatliches Gebilde“ mit einer „Planwirtschaft nach sozialistischen Grundsätzen“ entwickeln werde. [39] Ulbricht seinerseits forderte auf der Parteivorstandssitzung am 15./16.September 1948: „Unsere Aufgabe ist es, den Weg der völligen Beseitigung und Liquidierung der kapitalistischen Elemente sowohl auf dem Lande wie in den Städten zu beschreiten. Diese Aufgabe ist, kurz gesagt, die des sozialistischen Aufbaus.“ [40] Gleichzeitig wurde die Auffassung eines „besonderen deutschen Wegs zum Sozialismus“ (über eine gesamtdeutsche parlamentarische Republik), die bis dahin Gemeingut der SED gewesen war und von Anton Ackermann nach wie vor vertreten wurde, als opportunistisch gebrandmarkt. Semjonow schreibt die Bestrebungen, schon 1948 zum Sozialismus überzugehen, vornehm zurückhaltend einigen „Hitzköpfen“ in der SED zu. Er nennt auch die sowjetische Triebkraft dieses Versuchs, nämlich Tulpanow, der „auf Aktivtagungen der SED erklärte, in der sowjetischen Besatzungszone sei nun der Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum Aufbau des Sozialismus und zur Errichtung der Diktatur des Proletariats gekommen.“ [41] Es waren jedoch nicht nur die vorübergehenden Aufwallungen einer Handvoll Hitzköpfe, wie der Autor beschönigend schreibt, sondern die Ziele der ganzen Parteiführung, die mit der Durchsetzung einer „Partei neuen Typs“ fest verankert waren und die Rückendeckung der sowjetischen Linken hatten.

Der Tod Shdanows im Jahre 1948, die anschließenden Parteisäuberungen in Leningrad und die damit verbundene Abberufung Tulpanows warfen diese Bestrebungen vorübergehend zurück. Auf der anderen Seites spielte ihnen die von den Westmächten und Konrad Adenauer verfolgte Spaltungspolitik in die Hände. Angesichts des Unterfangens, aus den westlichen Besatzungszonen einen separaten deutschen Weststaat zu machen, erklärte Stalin noch im August 1948 in einer Besprechung mit den Botschaftern der drei Westmächte, daß sich die Sowjetunion von den Westmächten nicht dazu bringen lassen wollte, „in der Ostzone eine neue Regierung zu bilden“. [42] Nach Gründung der BRD war die nachfolgende Staatsgründung der DDR jedoch unumgänglich. Für die Separatpolitik der SED bedeutete dies einen großen Schritt vorwärts.

2. Wehrfrage und nationale Frage.

Die Gründung der Bundesrepublik 1949 hatte zwiespältige Auswirkungen. Vertiefte sie einerseits die nationale Spaltung, so öffnete sie andererseits trotz Fortgeltung des Besatzungsrechts neue Handlungsspielräume für die deutsche Bourgeoisie, eine eigenständige nationale Politik auch gegen die Absichten der westlichen Siegermächte zu betreiben. Dieser Widerspruch wuchs mit jedem Jahr, weil die Siegerherrschaft über Deutschland umso schwerer zu legitimieren war, je länger der Krieg zurücklag. Die durch den Korea-Krieg forcierte Wehrfrage und die daran gekoppelte Bündnisfrage trieben die Dinge Anfang der 50er Jahre auf eine Entscheidung zu. [43]

Im März 1952 ließ Stalin den westlichen Alliierten eine Note überreichen, worin die Wiedervereinigung Deutschlands bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung gegen die Verpflichtung zur Neutralität vorgeschlagen wurde. Formell an die Westmächte gerichtet, handelte es sich um ein unverhülltes Angebot an die deutsche Bourgeoisie und brachte die Adenauer-Regierung in äußerste Bedrängnis. Bedingung für die Einheit war neben der Neutralität der Verzicht auf die Polen zugeschlagenen deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße (wie sich erneut, diesmal abschließend, in den 2+4-Verhandlungen im Jahr 1990 herausstellte). Die Bourgeoisie als nichtagrarische Klasse konnte den Verlust der überwiegend landwirtschaftlichen Ostregionen verschmerzen. Adenauer betonte aber bei jeder Gelegenheit die Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen von 1937, gerade weil er um den untrennbaren Zusammenhang von Gebietsverzicht und Wiedervereinigung wußte. Je lauter man die Ostgebiete reklamierte, desto sicherer konnte man die Wiedervereinigung verhindern.

Wenige Wochen nach der Stalin-Note, im April 1952, war die SED-Führung in Moskau. In der Lageerörterung zu Beginn der Sitzung gab Stalin zunächst die oben zitierte Einschätzung ab, daß das geplante westliche Militärbündnis sich im Kern „nicht gegen die Sowjetunion“ richten würde, sondern die amerikanische Vorherrschaft über Europa zum Ziel hatte. [44] Anschließend ging es u.a. um die Umwandlung von Bereitschaftseinheiten der Volkspolizei in eine reguläre Armee als Reaktion auf die drohende Aufrüstung des westlichen Deutschland. Dies ist verschiedentlich als Abkehr Stalins von der deutschen Vereinigungspolitik interpretiert worden. Dafür spricht nichts. Auf dem Boden seiner Deutschlandstrategie stellt sich die Erörterung vielmehr „als mögliche Vorbereitung eines DDR-Beitrags für die von der Sowjetunion vorgeschlagenen nationalen Streitkräfte eines einheitlichen militärisch neutralen deutschen Staates“ dar. [45] Im Zuge der Wiedervereinigung wären die östlichen Truppen ein Teil der künftigen Armee des unabhängigen (bürgerlichen) Deutschland und gleichzeitig ein Garant für dessen Neutralität geworden. Alles andere widerspräche nicht nur der in den „Ökonomischen Problemen“ vorgenommenen Analyse und der Wiedervereinigungsnote, sondern auch dem Auftreten Stalins auf dem 19.Parteitag der KPdSU wenige Monate danach. Davon abgesehen war in dem Gespräch von einer Hinnahme der Eigenexistenz der DDR, geschweige denn vom künftigen Aufbau des Sozialismus keine Rede. Da die SED-Führer sich nichts sehnlicher als dies wünschten, hätte Pieck jede Andeutung in dieser Richtung schriftlich fixiert. Aber nichts davon findet sich in den Notizen. Im Gegenteil forderte Stalin die deutsche Delegation am Ende des Gesprächs noch einmal ausdrücklich auf: „Einheit, Friedensvertrag – weiter agitieren“. [46]

In den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung machte sich die fehlerhafte Stellung der Kommunisten zur SPD besonders bemerkbar. Die mit der Gründung der SED verknüpfte Auflösung der SPD in der sowjetischen Besatzungszone im Jahre 1946 hatte sich von Anfang an negativ auf die politischen Handlungsmöglichkeiten in ganz Deutschland ausgewirkt. Sie gab der antikommunistischen Parteiführung unter Kurt Schumacher die Handhabe, alle östlichen Initiativen zu blockieren. Darum plädierte Stalin schon beim ersten Besuch der neuen Parteiführung im Januar/Februar 1947 für eine Wiederzulassung der SPD. Angesichts des Zögerns der deutschen Genossen stellte er die entscheidende Frage: „Ob SED Angst hat vor SPD – man muß sie politisch schlagen“. [47] Durch diese Strategie „sollte einerseits der Widerstand Kurt Schumachers gegen gesamtdeutsche Repräsentationen jeder Art unterlaufen werden; zum anderen sollten die westlichen Besatzungsmächte dazu gebracht werden, im Gegenzug die SED als zusätzliche Partei in ihren Zonen zuzulassen. Wenn es schon nicht möglich war, die Vereinigung der Arbeiterparteien in den Westzonen durchzusetzen, sollte auf diese Weise doch wenigstens eine Spaltung der Schumacher-Partei erreicht und das ärgste Hindernis auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verständigung beseitigt werden. (…) Mit der Wiederzulassung der SPD hoffte Stalin wohl auch die Zustimmung der Parteien aller vier Zonen zur Durchführung eines ‚Volksentscheides über die Bildung des Einheitsstaates mit demokratischer Selbstverwaltung der Länder und Gemeinden‘ zu gewinnen, wie ihn die SED seit dem 1.März 1947 propagierte“. [48] Die vergebliche Aufforderung Stalins an die SED-Führung, die SPD politisch zu schlagen, legte den Finger in die tödliche Wunde der SED. Mangels einer realitätstauglichen Programmatik konnte sie ihre Ziele nicht durch Politik, sondern nur durch Administration erreichen.

Die Wehrfrage stellte die SPD vor eine Zerreißprobe. Die Parteiführung unter Kurt Schumacher war nie aus prinzipiellen Gründen gegen eine Wiederbewaffnung Deutschlands, im Gegenteil. Als der Korea-Krieg kurzfristig die bewaffnete „Abrechnung mit dem Kommunismus“ näherrücken ließ, trat Schumacher für eine deutsche Aufrüstung in einem Ausmaß und unter Bedingungen ein (feste Kriegszielgarantien der angelsächsischen Atommächte), die eine militärische Lösung der deutschen Frage unzweideutig sicherstellten und garantierten, daß die Entscheidungsschlacht mit dem Kommunismus, wie der sozialdemokratische Parteivorsitzende forderte, „zwischen der Weichsel und dem Njemen“ geführt werden konnte. „Die Rede war von 60-70 Divisionen der USA und Großbritanniens und etwa ebensoviel westdeutschen Divisionen (…): die Sozialdemokratie verlangte mit ihrer Militärkonzeption eine … Aufrüstung, deren Umfang eine sichere Erfolgsgarantie im erwarteten Krieg gegen die Sowjetunion gab und die mit festen Zusicherungen an die Deutschen verknüpft werden sollte. Sonst würde sie Nein sagen.“ [49] Diese Konzeption hatte, wenn überhaupt, nur während der ersten Monate des Korea-Kriegs Erfolgsaussichten. Als sich das Kriegsglück in Asien gegen die USA wendete, wurden die amerikanischen Kriegspläne für Europa begraben, und Mitte 1951 stand fest, daß die westdeutsche Aufrüstung nicht das Mittel zur militärischen Lösung der deutschen Frage, sondern zur definitiven Westbindung der BRD sein sollte. Darum schwenkte die SPD auf das angedrohte „Nein“ um. Nun entdeckte sie, daß Aufrüstung und Wiedervereinigung im Gegensatz zueinander standen und wandte sich gegen die ausgehandelten Verträge, unter Mobilisierung auch des Pazifismus. In dieser Phase entstand das Bild von der friedliebenden, gegen den Revanchismus Adenauers und der Bourgeoisie ankämpfenden Sozialdemokratie, das bis heute das Geschichtsbild der Linken prägt.

SED und KPD konnten den Eiertanz der SPD zu keinem Zeitpunkt ausnutzen. Daran war nicht allein die Nichtzulassung der SPD in der DDR, sondern vor allem die Doppelbödigkeit der SED-Politik schuld. Während sie nach außen hin Wiedervereinigungspropaganda betrieb, arbeitete sie in Wirklichkeit auf die Spaltung Deutschlands hin, um im Osten den Sozialismus zu errichten.

3. Aufbau des Sozialismus statt Einheit Deutschlands

Die sowjetische Note vom März 1952 setzte die SED-Führung und ihre Verbündeten unter Zugzwang. Ihre Realisierung hätte den Verzicht auf den angestrebten Sozialismus in der DDR und für die sowjetische Armee die Preisgabe ihres militärgeographisch wichtigsten Vorpostens in Mitteleuropa bedeutet. Die gemeinsame Antwort darauf war der Übergang zum Sozialismus. Im Juli 1952, vier Monate nach der „Stalin-Note“ und drei Monate nach der April-Unterredung mit Stalin in Moskau, beschloß die 2.Parteikonferenz der SED (9.-12.Juli 1952) diese Aufgabenstellung und vollendete damit die Spaltung Deutschlands von Osten aus. Das bedeutete den offiziellen Bruch mit der bisherigen Linie und eine offene Kampfansage an Stalin.

In seiner Grundsatzrede auf der Parteikonferenz begründete Ulbricht die Notwendigkeit der neuen Politik als erstes mit der Zwei-Lager-Theorie. Er konstatierte die Spaltung der Welt „in das Lager des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus und das Lager des Imperialismus“. Durch die „Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Weltsystems“ sei das Lager des Imperialismus „von unversöhnlichen inneren Widersprüchen zerrissen“, ja es gebe „eine noch nie dagewesene Verschärfung dieser Widersprüche“. Aus eben dieser Feststellung hatte Stalin geschlußfolgert, daß zwischenimperialistische Auseinandersetzungen wahrscheinlicher seien als ein Krieg zwischen „Imperialismus“ und „Sozialismus“. Ulbricht zog die entgegengesetzte Schlußfolgerung, daß die Imperialisten, statt miteinander zu kämpfen, versuchen würden, „einen Ausweg aus diesen Widersprüchen durch die Vorbereitung eines neuen Kriegs zu finden, den sie vor allem gegen die sozialistische Sowjetunion, gegen die Deutsche Demokratische Republik und die Länder der Volksdemokratie zu führen beabsichtigen.“ Warum ausgerechnet eine noch nie dagewesene Verschärfung der zwischenimperialistischen Widersprüche dazu führen sollte, sich gemeinsam gegen einen Dritten zu einigen, blieb das Geheimnis des Referenten. Er begründete die absonderliche, geradezu Shdanowsche Logik seiner Schlußfolgerung nicht näher, sondern erörterte davon ausgehend die Entwicklung der DDR.

Zunächst gestand er eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten ein, um sodann fortzufahren: „Es besteht kein Zweifel, daß nicht alle Schwierigkeiten auf der bisherigen Stufe unserer demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung gelöst werden konnten. Die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung sowie das Bewußtsein der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen sind jedoch jetzt so weit entwickelt, daß der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe geworden ist. Auf dem Wege der sozialistischen Entwicklung werden wir alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden“. [50] Erneut findet sich kein Argument, das näher ausführen würde, warum die sozialistische Entwicklung in der Lage sein sollte, die offenen Probleme der demokratischen Etappe zu bewältigen. Stattdessen formulierte Ulbricht mit diesen Sätzen das Handlungsgesetz seiner Politik, das darin bestand, unlösbare Schwierigkeiten nicht durch organisierten Rückzug, sondern einen Sprung auf die nächste Stufe zu überwinden.

Zur Schaffung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus beschloß die Parteikonferenz, den Aufbau der Schwerindustrie zu Lasten der Konsumgüterproduktion zu forcieren. Die selbständigen Bauern sollten in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengefaßt, die Handwerker sowie das kleine und mittlere Kapital durch die Verschärfung des Klassenkampfs zurückgedrängt werden, indem der bisher „antifaschistisch-demokratische“ Staat ab jetzt die Diktatur des Proletariats ausübte. „Die Deutsche Demokratische Republik“, erklärte Ulbricht, „ist in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe eine Macht der Arbeiter und Bauern, in der die führende Rolle der Arbeiterklasse gehört. Der Staat der Deutschen Demokratischen Republik führt erfolgreich die Funktionen der Diktatur des Proletariats aus. Das heißt, er löst die Grundaufgabe der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus – den Aufbau der wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen des Sozialismus sowie die Unterdrückung der volksfeindlichen Kräfte – und organisiert den Schutz der Heimat.“ [51] Die Aufkündigung des demokratischen Bündnisses bedeutete den Übergang zum Kampf „Klasse gegen Klasse“, der das Proletariat allen anderen Klassen und Schichten – der Lassalleschen „einen reaktionären Masse“ – gegenüberstellte. Mit dieser Politik in der Zwischenkriegszeit vollständig gescheitert und untergegangen, ging die SED nunmehr daran, sie gestützt auf die von den Sowjets empfangene Staatsgewalt als „Aufbau des Sozialismus“ zu realisieren.

Der Reichweite der Linienänderung hätte es entsprochen, einen Parteitag einzuberufen und im Vorfeld eine gründliche Diskussion über die Konsequenzen zu führen, die mit dem Übergang in die neue, sozialistische Etappe verbunden waren. Nichts davon wurde realisiert. Anstelle eines Parteitags wurde eine Parteikonferenz veranstaltet, und eine Diskussion fand weder in der Partei noch in der Öffentlichkeit statt. „Selbst das ZK wurde erst kurz vor der Konferenz informiert, bis zu diesem Zeitpunkt waren wir alle, auch das Zentralkomitee, ahnungslos.“ [52] Die deklarierte Diktatur des Proletariats berief sich auf eine Klasse, die nicht einmal vorab darüber informiert wurde, daß ihre Herrschaftsordnung erichtet werden sollte. Der Bewußtseinsstand der Arbeiter war offenbar so hoch entwickelt, daß sie gar nicht zu wissen brauchten, was sie wollten.

Die sowjetische Reaktion auf die Beschlüsse der Parteikonferenz ist nur indirekt erkennbar. In einer Stellungnahme der Regierung von Anfang Juni 1953, also etwa ein Jahr später, wird festgestellt, das Politbüro der KPdSU habe die Beschlüsse zum Aufbau des Sozialismus am 8.Juli 1952 gebilligt. [53] Es besteht kein Grund, diese Feststellung zu bezweifeln. Sie dokumentiert, daß die Mehrheit des sowjetischen Politbüros gegen Stalins Strategie war und der SED Rückendeckung für ihren Kurs auf den Sozialismus und die Spaltung Deutschlands gab. [54] Die Antwort Stalins erfolgte wenige Monate später auf dem 19.Parteitag der KPdSU, als er in seiner Parteitagsrede den Vorrang des Kampfes um nationale Unabhängigkeit statt um den Sozialismus forderte und das Politbüro durch ein Präsidium ersetzen ließ.

4. Ein aufgezwungener „neuer Kurs“

Als Reaktion auf die von der SED im Juli 1952 beschlossenen Maßnahmen schwoll die Fluchtwelle aus der DDR an. Zu hunderttausenden verließen die Angehörigen der zu Feinden erklärten Klassen und Schichten den Staat der soeben ausgerufenen Diktatur des Proletariats. Binnen Jahresfrist zeigte sich, daß das beschlossene Sozialismusprogramm nicht realisierbar war. Anstatt den Rückzug einzuleiten, ergriff die SED-Führung die Flucht nach vorn. Am 14./15.Mai 1953 forderte sie, die Arbeitsnormen der Arbeiter um mindestens 10% anzuheben. Zwei Wochen später, am 28.Mai, faßte die Regierung einen entsprechenden Beschluß. Von der Lohnseite aus betrachtet hieß dies, daß die Löhne um 10% und mehr gekürzt wurden. Nach den anderen Schichten sollte nun auch die Arbeiterklasse für den sozialistischen Aufbau herangezogen werden.

Noch bevor dieser Beschluß sich auswirkte, machten sich die nach Stalins Tod eingetretenen Veränderungen in der Sowjetunion bemerkbar. Aufgrund des zwischen den führenden Politikern geschlossenen Waffenstillstands hatte Chruschtschow als Vertreter der „Linken“ in der Partei die Macht übernommen, während die Regierung von Malenkow und Berija geführt wurde. Malenkow war Regierungschef, aber Berija als sein Stellvertreter der eigentliche starke Mann, der sich als Innenminister auf die Kampfverbände des Innenministeriums, die „zweite Säule“ der bewaffneten Macht neben der Armee, stützen konnte. In seinem Bestreben zur Ausschaltung des Einflusses der Militärs stand die deutsche Frage mit innerer Logik im Zentrum.

Ende Mai 1953 wandte sich die sowjetische Regierung an die SED-Führung. [55] Die schriftliche Stellungnahme beginnt mit den Worten, daß „infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie … in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden“ ist. Als Hauptursache der entstandenen Lage wurde kritisiert, daß „gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen.“

Es folgte eine Kritik an der beschleunigten Entwicklung der schweren Industrie, der Einschränkung der Privatinitiative und der übereilten Schaffung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften, mit der Konsequenz: „Zur Gesundung der politischen Lage in der DDR und zur Stärkung unserer Positionen sowohl in Deutschland selbst, als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene und zur Sicherstellung und Ausbreitung der Basis einer Massenbewegung für die Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden, unabhängigen Deutschlands ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung folgender Maßnahmen zu empfehlen“:

  • Rückabwicklung der bereits gegründeten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften;
  • eine „breite Heranziehung des Privatkapitals“; zu diesem Zweck sollte die Besteuerung der Privatunternehmer gelindert und ihnen mehr Rohstoffe, Heizmittel und Kredite zugestanden werden, allerdings ohne eine „Konzentrierung in großem Ausmaß“ zuzulassen;
  • Revision des Fünfjahrplans durch Drosselung des überspannten Tempos beim Aufbau der Schwerindustrie, stattdessen die „schroffe Vergrößerung“ der Produktion von Massenbedarfswaren und Lebensmitteln, um schon in der nächsten Zeit das Kartensystem aufzuheben;
  • Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Wahrung der Bürgerrechte;
  • Überprüfung der verhängten Gerichtsurteile und Änderung der politischen Strafgesetzgebung;
  • Einstellung der Verfolgung von Intellektuellen und Geistlichen;
  • als „eine der wichtigsten Aufgaben“: Änderung der politischen Arbeit durch Ausrottung der Elemente von nackter Administrierung.

Anschließend wurde noch einmal dazu aufgefordert, die „Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus … als unrichtig zu betrachten, da sie die Parteiorganisationen der SED zu unzulässig vereinfachten und hastigen Schritten sowohl auf dem politischen als auch auf dem wirtschaftlichen Gebiet treibt.“ Stattdessen wurde als Hauptaufgabe der „Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage“ herausgestellt und die „total feindliche Politik“ der SED gegenüber der SPD verworfen. Damit gehe die SED daran vorbei, daß die SPD gegen die Bonner Verträge (der deutschen Westbindung) und die Wiederbewaffnung sei. Zum Abschluß appellierte der Brief erneut an die weltpolitische Verantwortung der ostdeutschen Kommunisten, indem er auf den Zusammenhang zwischen der deutschen Frage und der „friedlichen Regelung der internationalen Grundprobleme“ hinwies.

Die ebenso zutreffende wie vernichtende Kritik an der linkssektiererischen SED-Politik richtete sich im gleichen Atemzug gegen die Besatzungspolitik der sowjetischen Armee, die den bewaffneten Rückhalt für den Aufbau des Sozialismus bildete. Semjonow sowie der Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland, der spätere Verteidigungsminister Gretschko, wurden angewiesen, „die bestehenden Mängel in der Ausübung des Besatzungsregimes zu beseitigen“ und die Interessen der Zivilbevölkerung möglichst wenig zu beeinträchtigen, insbesondere alle durch sowjetische Truppen besetzten Bildungsanstalten, Krankenhäuser und Kulturstätten zu räumen. Gleichzeitig wurde die unter militärischem Oberbefehl stehende SKK aufgelöst; Semjonow sollte künftig als „Hoher Kommissar“ im Auftrag der Regierung die Interessen der SU wahrnehmen. [56] Das war eine Kriegserklärung an die Armee. Darüber hinaus brachte Semjonow, der in der SED-Führung Herrnstadt und Zaisser anstelle von Ulbricht favorisierte, in den Tagen vor dem 17. Juni den Gedanken einer Regierung mit bürgerlichem Vorzeichen, d.h. mit dem Vertreter einer bürgerlichen Partei an der Spitze, ins Spiel.

Angesichts der vehementen Kritik sah die SED-Führung sich gezwungen, Selbstkritik zu üben. Am 6.Juni beschloß das Politbüro einen „neuen Kurs“, den das „Neue Deutschland“ am 11.Juni veröffentlichte. Er bestand im wesentlichen darin, die meisten der im vergangenen Jahr beschlossenen Maßnahmen zurückzunehmen und den in den Westen Geflüchteten Wiedergutmachung anzubieten, wie in der sowjetischen Stellungnahme verlangt. Was indessen nicht revidiert wurde, war der Beschluß zur Einführung des Sozialismus. Der SED-Spitze war bekannt, daß die Machtverhältnisse in Moskau keineswegs stabil waren, und sie spielte auf Zeit. Darum wurden auch keine personellen Konsequenzen gezogen, insbesondere Ulbricht nicht abgewählt. Soweit er persönlich angegriffen wurde, richtete sich die Kritik gegen seine „administrativen Methoden“, d.h. nicht gegen sein politisches Programm, sondern gegen die Formen seiner Umsetzung. Schließlich entsprach der Übergang zum Sozialismus dem gemeinsamen Willen der SED-Führung. Auch die Erhöhung der Arbeitsnormen wurde durch den „Neuen Kurs“ nicht zurückgenommen. Diese Frage war im Brief der sowjetischen Regierung nicht erwähnt worden; sie wurde allerdings von Semjonow in einer Sitzung mit dem Politbüro aufgeworfen. [57] Die SED-Führung ging darauf nicht ein. Wenn sie gezwungen wurde, die anderen Schichten zu schonen, mußte der sozialistische Aufbau auf Kosten der Arbeiter fortgeführt werden.

Die Arbeiterschaft hatte den Sozialismusbeschluß vom Sommer des vergangenen Jahres hingenommen. Sie war zwar nicht gefragt worden, aber andererseits davon auch nicht konkret betroffen, weil sich die Verschärfung des Kurses zunächst nur gegen die anderen Schichten richtete. Erst jetzt, ein knappes Jahr später, wurden die Arbeiter mit den praktischen Konsequenzen konfrontiert, indem ihre Arbeitsnormen erhöht wurden – wiederum ohne sie zu fragen. Resultat war, daß zur gleichen Zeit, als das „Neue Deutschland“ den „Neuen Kurs“ mit dem Versöhnungsangebot an die anderen Schichten verkündete, die ersten Arbeiter ihre Lohnabrechnungen auf Basis der neuen Normen erhielten. Das waren die Bauarbeiter, deren Löhne dreimal im Monat im Abstand von 10 Tagen ausgezahlt wurden. Während sie noch im „Neuen Deutschland“ lasen, daß Bauern, Handwerker, Intellektuelle und Geistliche Wiedergutmachung erhielten, stellten sie fest, daß ihre Löhne um 10% und mehr gekürzt worden waren. Die Bauarbeiter der Ostberliner Stalin-Allee reagierten als erste. Sie legten am 15.Juni die Arbeit nieder und machten sich am 16.Juni auf den Weg zu Ministerpräsident Grotewohl. Die Resolution, die sie verabschiedeten, forderte die Rücknahme der Normerhöhungen, und verwies darauf, der neue Kurs habe „nur den Kapitalisten, nicht aber den Arbeitern etwas gebracht“. [58] Diese Feststellung traf den Kern der Dinge. Den Bauarbeitern folgten immer weitere Teile des Proletariats, bis in den meisten Großbetrieben gestreikt wurde. „Träger der Bewegung waren Arbeiter. Sie lösten die Unruhen nicht nur aus, sie stellten auch die Masse der Demonstranten.“ Der alte und neue Mittelstand dagegen blieb zu Hause. „Die Mittelschichten und die Intelligenz hielten sich zurück.“ [59] Die Handwerker, Bauern und die Kirchen waren durch den „neuen Kurs“ zufriedengestellt worden, so daß sie keinen Anlaß sahen, auf die Straße zu gehen, und die Angestellten und Intellektuellen waren von den Normerhöhungen wesentlich nicht betroffen.

Als die Arbeiterschaft auf den Plan trat, versuchte insbesondere das Ostbüro der SPD, die Unruhen anzuheizen. Im Unterschied dazu unternahmen die Bundesregierung und die westlichen Besatzungsmächte nichts, um die Lage zu verschärfen; sogar die Wiederholung einer Brandrede des Westberliner DGB-Chefs wurde von den amerikanischen Rundfunkchefs des RIAS untersagt. [60] Weder Adenauer noch die USA wollten einen Krieg provozieren, erst recht hatten sie kein Interesse an der Wiedervereinigung, die sich möglicherweise aus den Ereignissen entwickeln konnte. Das hinderte die SED nicht daran, ihren vielen Geschichtsklitterungen eine weitere hinzuzufügen und das Gegenteil zu behaupten.

5. Der 17. Juni 1953 – ein Pyrrhussieg über die Arbeiterklasse

Die Unruhen gaben der sowjetischen Armee die Gelegenheit, die Kriegserklärung Berijas zu beantworten. Am 17.Juni schickte sie ihre Panzer in Ostberlin auf die Straßen und zerschlug die Demonstrationen. Berija selber wurde am 26.Juni verhaftet. Anfang Juli behandelte das ZK der KPdSU seinen Fall. Ihm wurde vorgeworfen, daß er gegen den Aufbau des Sozialismus in der DDR und für ein neutrales, bürgerliches Gesamtdeutschland eingetreten war. Malenkow, der als Vorsitzender des Ministerrats den Beschluß der Regierung von Ende Mai mitzuverantworten hatte, bezeichnete Berija wegen dessen „Kurs auf ein bürgerliches Deutschland“ als „bürgerlichen Renegaten“. [61] Chruschtschow charakterisierte ihn als „Agent des Imperialismus“. [62] Der schließlich verabschiedete Beschluß des ZK beschuldigte ihn, „den Weg des Aufbaus des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen und Kurs zu nehmen auf die Umwandlung der DDR in einen bürgerlichen Staat, was einer direkten Kapitulation vor den imperialistischen Kräften gleichgekommen wäre.“ [63] Berijas Aburteilung galt zugleich der Politik Stalins, der von einigen Rednern auch direkt angegriffen wurde. Der 20.Parteitag bereitete sich vor.

Molotow, den Stalin 1949 als Außenminister abgelöst hatte, lieferte in seiner Rede auf dem ZK-Plenum die theoretische Begründung für die neue Politik: „Für uns Marxisten war und bleibt es klar, daß es … unter den Bedingungen der imperialistischen Epoche eine Illusion wäre, von der Perspektive ausgehen zu wollen, ein bürgerliches Deutschland würde sich gegenüber der UdSSR friedliebend oder neutral verhalten können.“ [64] Er gab damit einer ganzen Generation künftiger Marxisten die Denkregeln vor: an die Stelle der konkreten Untersuchung der kapitalistischen Länder trat der Grundsatz von „dem“ kriegstreiberischen Imperialismus, an die Stelle der konkreten Wahrheit das abstrakte Prinzip. Aufgrund seiner prinzipienfesten Haltung gegenüber der „opportunistischen“ Politik Stalins war Molotow unmittelbar nach Stalins Tod wieder Außenminister geworden und konnte in dieser Funktion dafür sorgen, daß die Zwei-Lager-Theorie auch umgesetzt wurde.

Nach außen blieb die sowjetische Deutschlandpolitik unter Malenkow als Regierungschef zwar offiziell weiter Wiedervereinigungspolitik, aber es war allen politisch Verantwortlichen in Ost und West klar, daß sie keine Substanz hatte. Nachdem 1955 im Anschluß an den Nato-Beitritt der BRD der Warschauer Pakt gegründet und die „zwei Lager“ somit die Form entgegenstehender Militärblöcke angenommen hatten, erklärte Chruschtschow im September 1955, daß nur die Deutschen selbst die Frage der Wiedervereinigung lösen könnten. [65] Damit war das Ende der Einheitspolitik unzweideutig klargestellt, weil die in der DDR herrschenden Deutschen die staatliche Einheit der Nation auf der einzig realistischen, nämlich bürgerlich-demokratischen Grundlage definitiv nicht wollten.

Die Ereignisse des Jahres 1952/53 entzogen im Osten wie im Westen all jenen Kräften den Boden, die gegen Adenauer für ein einheitliches, demokratisches Deutschland eingetreten waren. Adenauers Politik war sowohl in der deutschen Bourgeoisie als auch in der eigenen Partei heftig umstritten, seine Stellung Anfang der 50er Jahre längst nicht gefestigt. Im Prinzip hatten große Teile der deutschen Bourgeoisie Interesse an einer neuen Rapallo-Politik und der Ablösung von den USA. Als Stalin im März 1952 die Note zur bürgerlich-demokratischen Lösung der deutschen Frage veröffentlichte, war Adenauer in Bedrängnis geraten. Der Sozialismusbeschluß der SED im Juli 1952 hatte ihm Luft verschafft. Erst recht gab ihm der 17.Juni die Gelegenheit, das Wiedervereinigungsangebot als bloße Propaganda abzutun und den Spaltungsvorwurf an die SED zurückzugeben. Hatte er schon vorher behauptet, daß die angebotene Einheit Deutschlands bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung nicht ernst gemeint war, konnte er dies ab jetzt zu recht tun. Nach dem 17.Juni schwenkte die deutsche Bourgeoisie endgültig auf die Adenauersche Politik der Spaltung und Westbindung Deutschlands ein, die ab jetzt den außenpolitischen Grundkonsens der Bundesepublik bildete. Die SED entlastete Adenauer vom Spaltervorwurf, indem sie die Teilung Deutschlands von Osten aus vollendete und die Verantwortung dafür mit ihm teilte. Die DDR, vorher der Haupthebel für die Aufsprengung der US-geführten Einheitsfront, wurde zur Garantin der Spaltung Deutschlands und Europas.

1949 war die DDR nur der Not gehorchend gegründet worden, als Staat auf Zeit, eine aufgezwungene Zwischenstation auf dem Weg zu einem unabhängigen, demokratischen Gesamtdeutschland. Die eigentliche, innere Staatsgründung erfolgte durch den Sozialismusbeschluß im Juli 1952 und wurde im Juni 1953 durch sowjetische Panzer gegen das Proletariat exekutiert. Dieser „Sozialismus“ war das staatgewordene Kunstprodukt einer linksradikalen Politik. Sein Aufbau erfolgte nicht politisch, sondern mit den Mitteln der Administrierung und auf den Spitzen der Bajonette. Zugleich sorgte der Versuch, die Geschichte zu überholen und eine Etappe der Entwicklung zu überspringen, dafür, daß am Ausgang des 20.Jahrhunderts die mit Füßen getretenen Aufgaben der national-demokratischen Revolution erneut auf die Tagesordnung traten. Am Anfang wie am Ende der „sozialistischen“ DDR stand die Arbeiterklasse gegen ihren angeblich eigenen Staat. 1953 durch sowjetische Panzer gerettet, wurde er 36 Jahre später von eben dieser Arbeiterklasse gestürzt, als ihn keine sowjetische Armee mehr schützte.

Am 26.Juli 1953, nachdem Berija abgeurteilt und eine Schamfrist von sieben Wochen seit dem Aufbegehren der Arbeiterschaft verstrichen war, verkündete eine Resolution des ZKs der SED, daß der 17.Juni der „Versuch eines faschistischen Putsches“ gewesen sei, den „monopolkapitalistische und junkerliche Kreise Westdeutschlands als Helfer des amerikanischen Imperialismus“ mit Unterstützung einer „faschistischen Untergrundbewegung“ zusammen mit „Agenten des Ostbüros der SPD“ unternommen hätten. [66] Zwar habe die Partei einige Fehler gemacht, aber in der Grundlinie stets richtig gehandelt. Vor allem war es „auch richtig, daß unsere Partei Deutschland auf den Weg des Sozialismus führte und in der Deutschen Demokratischen Republik mit der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus begann. Diese Generallinie war und bleibt richtig.“ Diese Generallinie konnte nur im Bündnis mit den Gegnern Stalins in der sowjetischen Führung realisiert werden. Durch ihr Vorgehen flankierte die SED-Führung den Sieg der „Linken“ und Militärs in der UdSSR, deren Politik vom Sozialismus wegführte und den Boden für den Zerfall der Sowjetunion bereitete. Ulbrichts zum Scheitern verurteilter Übergang zum Sozialismus in der DDR und Chruschtschows Preisgabe des Stalinschen Programms des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion korrespondierten miteinander.

Im September 1953 fanden die (zweiten) Wahlen zum Bundestag statt. Vor dem 17.Juni hatte die CDU/CSU als sichere Verliererin gegolten und war ein hoher Wahlsieg für die SPD vorausgesagt worden. Jetzt wurde die Union mit 45,2% unangefochtene Wahlsiegerin (1949: 31,0%), die SPD erhielt nicht mehr als 28,8 % der Stimmen (1949: 29,2%), und die KPD verschwand mit 2,2% aus dem Bundestag (1949: 5,7%). In der Folgezeit machte sich der Weststaat auf den Weg zu einer ausreifenden parlamentarischen Demokratie. Nicht von imperialistischer Kolonialpolitik belastet wie England und Frankreich und infolge von NS-Zeit und Krieg nicht im selben Maße wie diese beiden Staaten von ständisch-vorbürgerlichen Relikten geprägt, wurde die BRD zum modernsten bürgerlichen Nationalstaat Europas.

Währenddessen blieb die DDR ökonomisch wie gesellschaftlich zurück. Siege konnte die SED nur auf dem Schlachtfeld der Ideologie erzielen. Dort siegte sie dafür um so gründlicher. Sie konnte und durfte nicht (an)erkennen, daß der westdeutsche Separatstaat auf dem Weg zur Normalität einer bürgerlich-parlamentarischen Republik war. Um die eigene Sonderexistenz zu rechtfertigen, mußte sie die BRD in steter Rechtsentwicklung, wenn nicht gar Faschisierung sehen und als im Kern imperialistisch-kriegstreiberisch anprangern. Auf dieser Basis wurde der 17.Juni zum „faschistischen Putschversuch“ und die Berliner Mauer zum „antifaschistischen Schutzwall“. Durch die Glaubensartikel vom revanchistischen „BRD-Imperialismus“ und der immerwährenden „Rechtsentwicklung“ wurde darüber hinaus eine Ideologie aufgebaut, die die in Westdeutschland Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre neu entstehende revolutionäre Bewegung mit einer schweren Hypothek belastete.