Brzezinskis Vorherrschaftsstrategie und der Afghanistan-Konflikt

Von Heiner Karuscheit

Vorbemerkung

Das US-Vorgehen in Afghanistan wird vielfach auf die Globalstrategie zurückgeführt, die Brzezinski in dem Buch Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft entwickelt hat. In zwei Punkten ist dies unzweifelhaft richtig, nämlich a) im Ziel des Ausbaus und der Sicherung der amerikanischen Weltmachtstellung auf absehbare Zeit, und b) in der geopolitischen Konzentration auf den eurasischen Kontinent, dessen Kontrolle Grundbedingung der amerikanischen Vorherrschaft ist.

Darüber hinaus zeigen sich jedoch Unterschiede zwischen der von Brzezinski vorgeschlagenen Strategie und der augenblicklichen US-Politik, die möglicherweise mit dem Wechsel von Demokraten zu Republikanern zusammenhängen (Brzezinski ist ein führender demokratischer Politiker), möglicherweise aber auch auf einen weitergehenden Politikwechsel hindeuten. Der nachfolgenden Rezension von Brzezinskis Buch, die zuerst im August 1999 in den AzD (Nr. 68) erschienen ist, werden daher einige Vermutungen über diesen Wandel vorangestellt, die zur weiteren Diskussion anregen sollen:

(1) Brzezinski formuliert für die verschiedenen Teile der Welt eine Gleichgewichtspolitik, in der die USA als Garant der jeweiligen regionalen Stabilität fungieren. In dieser Politik sind militärische Einsätze nicht ausgeschlossen, aber als letztes Mittel vorgesehen. Dagegen zeichnet sich unter der gegenwärtigen Bush-Regierung eine Verschiebung von politischen zu militärischen Methoden ab, verbunden mit einer Destabilisierungspolitik, die ihrerseits nach militärischen Antworten (durch die USA) ruft.

(2) Neben Afghanistan zeigt sich dieser Wechsel am offenkundigsten im Nahen Osten, in der Palästina-Frage. Zielte die Clinton-Politik hier auf einen Ausgleich (Oslo-Abkommen) zwischen Israel und den Palästinensern unter amerikanischer Regie, so setzt die Bush-Administration einseitig auf Israel und eine militärisch fundierte Lösung des Konflikts.

(3) Wenn, dann könnte das Vorgehen auf dem Balkan in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Vorbild für diese Politik gewesen sein. Aus der schnellen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Bonn beim Zerfall Jugoslawiens Anfang der 90er Jahre zogen die USA (nach einigem Hin und Her) offenbar die Schlußfolgerung, dass das wiedervereinigte Deutschland sich anschickte, zur europäischen Hegemonialmacht zu werden. Eine solche Konstellation muss jedoch verhindert werden, denn in jeder Macht, die die Hegemonie über Europa gewinnt, gleich ob in deutscher, russischer oder russisch-deutscher Gestalt, erwächst ein potentieller Nebenbuhler um die Weltmacht. Die Konsequenz daraus war, die Konflikte zwischen den Volksgruppen in Bosnien (und die Widersprüche zwischen Deutschland, Großbritannien und Frankreich) zu schüren, bis ein direktes amerikanisches Eingreifen legitimiert war. Im Ergebnis führten das Bosnien-Abkommen von Dayton und der Kosovo-Krieg der NATO gegen die serbische Regionalmacht einen amerikanischen Frieden herbei, der alle wesentlichen Fragen ungeklärt lässt (siehe dazu Peter Gowan: Die Hintergründe des NATO-Krieges in Jugoslawien; in: AzD 69), aber die Möglichkeit bietet, jederzeit wieder einen kriegerischen Konflikt zu entfachen, um die europäischen Mächte zu spalten.

(4) Insofern hätte sich die unter Clinton häufig konstatierte Inkonsistenz der amerikanischen Außenpolitik in eine bestimmte Richtung aufgelöst, die auf dem Vorrang des Militärischen und einer Politik der Destabilisierung beruht. Zugunsten einer unilateralen Vorgehensweise scheinen die multilateralen Institutionen UNO und – mit Abstufungen – NATO zurückzutreten. Sie werden nur noch nach Bedarf eingeschaltet.

(5) Ein weiterer Unterschied betrifft die Energiefrage, die bei Brzezinski nur am Rande auftaucht. Dagegen mißt die heutige US-Regierung der Kontrolle über das Erdöl und seine Transportwege offenbar einen zentralen Stellenwert bei.

(6) Vordergründig liegt den Veränderungen der Wechsel von einem demokratischen zu einem republikanischen Präsidenten zugrunde, verbunden mit einer Verschiebung von der Wall Street (d. h. den Banken, die den Wahlkampf des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore finanzierten) zur Rüstungsindustrie. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß bestimmende Elemente der Bush-Politik bereits vorher praktiziert wurden (z. B. in Jugoslawien). Entscheidend ist daher die Frage, ob es sich um eine vorübergehende oder um eine langfristige Kurskorrektur handelt. Nachdem die USA ihre ökonomisch dominierende Position schon seit langem eingebüßt haben und nach dem Untergang der Sowjetunion auch politisch keine natürliche Vormachtstellung unter den kapitalistischen Staaten mehr behaupten können (die im Zeichen der Blockkonfrontation bis dahin unangefochten war) – setzen sie als letzte Karte auf das Militär, um ihre Vorherrschaft zu wahren? Und wenn ja, was liegt dem zugrunde, wenn der ökonomische Konkurrenzkampf durch den Übergang zu außerökonomischer Gewalt ersetzt wird?

(7) In diesem Zusammenhang stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Imperialismus. Um sie zu klären, ist nicht nur die bisherige marxistische Imperialismustheorie zu prüfen, die in verschiedener Hinsicht fehlerhaft erscheint. Darüber hinaus muß man sich auch mit der heutigen Auffassung von einem kollektiven Imperialismus auseinandersetzen, der gegenüber den Gegensätzen zwischen den kapitalistischen Staaten dominierend geworden sein soll.

Rezension: Zbigniew Brzezinski: „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“

Die gegenwärtige Außenpolitik der USA lohnt, sich mit dem soeben als Taschenbuch erschienenen Buch des Sicherheitsberaters von Präsident Carter zu beschäftigen (Fischer Taschenbuch 14358; Preis 19,80 DM).

Ausgangspunkt des Autors ist die Tatsache, dass die USA nach dem Zerfall der Sowjetunion zur einzigen Weltmacht geworden sind. In einem historischen Vergleich nimmt Brzezinski Bezug auf Rom, China, Spanien und Großbritannien, die in vergangenen Jahrhunderten eine ähnliche Rolle spielten, stellt im Vergleich jedoch heraus, dass die anderen Reiche letztlich nur Regionalmächte waren. Erst jetzt gibt es die im Wortsinn erste Weltmacht, denn: „Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zu halten (…). Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den persischen Golf“ (S. 41). Als „Teil des amerikanischen Systems“ fungiert zudem auch „das weltweite Netz von Sonderorganisationen, allen voran die internationalen Finanzorganisationen (…). Offiziell vertreten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank globale Interessen und tragen weltweite Verantwortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert, die sie mit der Konferenz von Bretton Woods aus der Taufe hoben.“ (S. 49)

Die Machtstellung seines Heimatlandes leitet er wesentlich nicht aus ökonomischer Überlegenheit als solcher ab, sondern aus der Fähigkeit, die vorhandenen wirtschaftlichen Potenzen militärisch umzusetzen. Die imperiale Macht Amerikas“ beruht in hohem Maße auf der überlegenen Fähigkeit, riesige wirtschaftliche und technologische Ressourcen umgehend für militärische Zwecke einzusetzen, auf dem nicht genauer bestimmbaren, aber erheblichen kulturellen Reiz des amerikanischen way of life sowie auf der Dynamik und dem ihr innewohnenden Wettbewerbsgeist der Führungskräfte in Gesellschaft und Politik.“ (S. 26)

Ziel der amerikanischen Außenpolitik muss sein, die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren. (S. 306) Zu diesem Zweck formuliert er eine weltumspannende Geopolitik unter Berufung auf Harold Mackinder (S. 63). „Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, dass die ‚Barbaren‘völker sich nicht zusammenschließen“. (S. 65 f)

Geographisches Zentrum einer solchen Politik ist Eurasien. Es ist der größte Kontinent, umfasst zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen der Erde sowie nahezu 75 % der Erdbevölkerung, in seinem Boden und seinen Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Reichtums der Welt. Es ist „das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird“. (S. 54) Eine „Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent (ist) noch heute die Vorbedingung für globale Vormachtstellung“; es ist außerdem der Ort, auf dem Amerika irgendwann ein potentieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen könnte. (S. 64) Darum stellt Brzezinski sich die zentrale Aufgabe, im Hinblick auf Eurasien eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie zu entwerfen.“ (S. 16; Hervorhebung durch Brzezinski)

Diese Geostrategie ist im Prinzip simpel. Ihr A und O ist die Mächtebalance (balance of power), eine Gleichgewichtspolitik, die an die Europapolitik des britischen Empire anknüpft. Die amerikanische Außenpolitik muss „ihren Einfluß in Eurasien so einsetzen, daß ein stabiles kontinentales Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten als politischem Schiedsrichter entsteht.“ (S. 16) Diesen Kerngedanken spielt er für alle Schauplätze durch.

Russland, Nachfolger der Sowjetunion, der ehemaligen Hauptgegnerin der USA, hat nach Brzezinskis Auffassung seinen neuen Platz noch nicht gefunden. In seiner augenblicklichen Lage verfügt es nicht über die Kraft, erneut zur Weltmacht aufzusteigen. Ihm ist zu empfehlen, seine Großmachtphantasien aufzugeben und sich ganz bewusst auf eine Modernisierung, Europäisierung und Demokratisierung zuzubewegen. (S. 174) Allerdings besteht die Gefahr, dass es entweder durch ein Bündnis mit Europa oder durch die Unterwerfung der selbständig geworden mittelasiatischen Staaten neue Weltmachtambitionen entwickelt. Beide Möglichkeiten müssen daher abgeschnitten werden.

Der russische Weg nach Europa verläuft geographisch und politisch über die Ukraine. Der springende Punkt ist: Ohne die Ukraine kann Rußland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Russland durchaus ein Teil von Europa sein kann.“ (S. 177 f) Durch die Westbindung der Ukraine ist Russland also dauerhaft von Europa zu trennen. Fernziel ist eine deutsch-französisch-polnisch-ukrainische Partnerschaft (S. 127) unter amerikanischer Oberhoheit. Darin eingeschlossen ist der „NATO-Beitritt der Ukraine“ (S. 138 und 178) – nicht heute, aber nach einigen Jahren.

Für das Verhältnis Russlands zu Asien bilden Aserbeidschan und Usbekistan geopolitische Dreh- und Angelpunkte“ und verdienen Amerikas stärkste geopolitische Unterstützung. (S. 216) Usbekistan, volksmäßig der vitalste und am dichtesten besiedelte zentralasiatische Staat, stellt ein Haupthindernis für jede neuerliche Kontrolle Rußlands über die Region dar. Seine Unabhängigkeit ist von entscheidender Bedeutung für das Überleben der anderen zentralasiatischen Staaten.

Aserbeidschan ist aufgrund seiner geographischen Lage zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer der Sperrriegel auf dem Weg nach Süden, zum Iran und an den Persischen Golf. Außerdem ist es der Schlüssel zum Öl: „Ein unabhängiges Aserbeidschan kann dem Westen den Zugang zu dem an Ölquellen reichen Kaspischen Becken und Zentralasien eröffnen. (S. 177) Die zentralasiatische Region und das Kaspische Becken verfügen über Erdgas- und Erdölvorräte (…), die jene Kuwaits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellen.“ (S. 182) Dabei hat die „Pipeline-Frage (…) zentrale Bedeutung“. (S. 203) Amerikas primäres Interesse muss sein, dass keine einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und dass die Weltgemeinschaft ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr hat. (S. 215)

Der für die amerikanische Eurasienpolitik alles entscheidende Hebel ist Europa: „Vor allen Dingen aber ist Europa Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent. (…) Anders als die Bindungen an Japan verankert das Atlantische Bündnis den politischen Einfluss und die militärische Macht Amerikas unmittelbar auf dem eurasischen Festland. (S. 91) Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern.“ (S. 92) Dieses Abhängigkeitsverhältnis muss dem Grunde nach aufrechterhalten werden, ist in der gegebenen Form allerdings kein gesunder Zustand, weil aus der allzu offenkundigen Dominanz der USA Unruhe entstehen könnte.

Um die notwendige Stabilität zu sichern, muss Washington den Fortgang der europäischen Einigung unterstützen, denn deren Scheitern könnte die geopolitische Stabilität Europas – und Amerikas Platz darin gefährden. (S. 112) In solch einem Fall würde zumindest Deutschland vermutlich seine nationalen Interessen bestimmter und deutlicher geltend machen. Da das wiedervereinigte Deutschland als Vormacht Europas zum Konkurrenten der USA werden kann, muss es durch Frankreich ausbalanciert werden. Großbritannien kommt dafür nicht in Betracht; es wird von Brzezinski als einflussloses US-Anhängsel betrachtet. Zwar betreibt Frankreich immer wieder anti-amerikanische Politik, aber es ist nicht stark genug, um Amerika in den geostrategischen Grundlagen seiner Europapolitik zu behindern, und hat im Unterschied zu Deutschland nicht das Potential, um selbst die führende Macht in Europa zu werden. Folglich kann man seine Eigenheiten und sogar Ausfälle tolerieren. (S. 119) Langfristig liegt es im amerikanischen Interesse, Frankreich als Freund zu behandeln, um ein Gegengewicht zu Deutschland zu bilden. Frankreich (ist) ein maßgebender Partner bei der grundlegenden Aufgabe (…), ein demokratisches Deutschland auf Dauer fest in Europa einzubinden. (S. 119)

Ein solchermaßen gezähmtes Deutschland ist unverzichtbar, um durch die NATO-Erweiterung den US-Einfluss nach Osten auszudehnen, die Ukraine einzubinden und Rußland zu versöhnen. „Sollte die von den Vereinigten Staaten in die Wege geleitete NATO-Erweiterung ins Stocken geraten, wäre das das Ende einer umfassenden amerikanischen Politik für ganz Eurasien. Ein solches Scheitern würde die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, es würde den Plan eines expandierenden Europa zunichte machen, die Mitteleuropäer demoralisieren und möglicherweise die gegenwärtig schlummernden oder verkümmernden geopolitischen Gelüste Rußlands in Mitteleuropa neu entzünden. Für den Westen wäre es eine selbst beigebrachte Wunde (…) und für Amerika wäre es nicht eine regionale, sondern eine globale Schlappe.“ (S. 121 f)

Gegenüber den asiatischen Hauptländern empfiehlt Brzezinski dieselbe Gleichgewichtspolitik wie im Verhältnis Europa – Rußland und Frankreich – Deutschland. Er befürwortet eine regional stabile Dreiecksverbindung zwischen Amerika, Japan und China“, deren Kern ist, mit Japans Hilfe Chinas Übergewicht in der Region auszugleichen. (S. 275) Wenn die von ihm vorgeschlagene Politik befolgt wird, sieht der Autor gute Chancen, weltweit ein Mindestmaß an geopolitischer Stabilität herzustellen, welche die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass die amerikanische Hegemonie noch eine Weile erhalten und die Gefahr internationaler Anarchie gebannt bleibt. (S. 306)

Letzte Änderung: 21.03.2016