Das Regierungsprogramm und die soziale Frage

Von Heiner Karuscheit

(12. November 2009) Als der Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP unterzeichnet war, verkündete Westerwelle als Vorsitzender der Liberalen, die FDP habe sich „in allen Punkten durchgesetzt“. Wenn man den Vertragstext durchliest, kann man dies in der Tat meinen. Abgesehen von vielen Steuer- und anderen Versprechungen an den Mittelstand enthält die Vereinbarung zwei Absprachen zum Sozialstaat, die direkt den institutionalisierten Klassenkompromiss berühren, der die Bundesrepublik seit ihrer Gründung trägt.

In der Pflegeversicherung sollen die zusätzlichen Kosten ausschließlich vom Arbeitnehmer durch den Abschluss einer Privatversicherung aufgebracht werden (sog. „Kapitaldeckung“), und die Finanzierung der Krankenversicherung soll vollständig umgestellt werden auf „einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge“. Arbeitgeber sollen künftig nichts mehr zahlen; die Krankheitskosten würden ausschließlich von den Arbeitnehmern finanziert, und zwar in Form gleich hoher Beiträge für Alle anstelle der bisherigen „solidarischen“ Finanzierung entsprechend der Einkommenshöhe. Das ist die sog. „Kopfpauschale“, die vor wenigen Jahren schon einmal für heftige Auseinandersetzungen gesorgt hat.

Bislang war die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Versicherungssysteme durch „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ sowohl Ausdruck als auch Zement des Klassenkompromisses zwischen Kapital und Arbeit, der unter dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ der bürgerlichen Gesellschaftsordnung der Nachkriegszeit eine zuvor nicht vorhandene Stabilität verschafft hat. Nimmt man die Koalitionsvereinbarung für bare Münze, so würde eine der Säulen dieses „contrat social“ demnächst fallen. Ist das zu erwarten?

Um die Realisierungschancen dieser Vereinbarung einzuschätzen, müssen wir zu der politischen Konstellation zurückkehren, die vor vier Jahren die Bildung der großen Koalition herbeiführte.

Damals war die Union zur Wahl mit einem neoliberalen Deregulierungsprogramm angetreten, das die Agenda-Politik der rot-grünen Vorgängerregierung u. a. durch die Einführung der jetzt wieder aktuellen „Kopfpauschale“ noch zu toppen versprach. Statt jedoch den allseits erwarteten Sieg einzufahren, stürzte sie auf 35,2 % der Stimmen ab. Die SPD, die ihren Wahlkampf gegen den Neoliberalismus der Merkel-Partei geführt hatte, erhielt trotz aller Glaubwürdigkeitsdefizite 34,2 % der Stimmen – für heutige Verhältnisse ein Traumergebnis.

Angesichts der bereits kurz vor der Wahl absackenden Umfragewerte hatte Angela Merkel noch im letzten Augenblick den Steuerrechtler Kirchhof, der in ihrem Team bis dahin eine herausragende Rolle gespielt hatte, wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Nach der Wahl geschah dasselbe mit dem neoliberalen Kampfprogramm insgesamt, dessen Vorkämpfer Friedrich Merz sich später aus der Politik verabschiedete. Der Wahlausgang hatte vor Augen geführt, dass eine Politik der offenen Demontage des Sozialstaats, wie das die Neoliberalen verlang(t)en, den Status als Volkspartei gefährdete.

In der Folgezeit beschnitt die Koalitionsregierung unter Merkels Führung den Sozialstaat nur zurückhaltend; den größten Einschnitt bildete die Einführung der Rente mit 67. Eine strukturelle Umgestaltung der Krankenversicherung erfolgte nicht, es sei denn, man nennt den „Gesundheitsfonds“ so. Allerdings wurde der anteilige Arbeitgeberbeitrag bei 7 % eingefroren, während seit Januar 2009 die Arbeitnehmer 7,9 % zahlen müssen. Wie auf andere Weise die Einführung der Riester-Rente in der Altersversorgung bedeutet auch dies einen Bruch mit dem Prinzip der paritätischen Finanzierung, der aber, gemessen an den vorherigen Absichten, vergleichsweise gemäßigt ausfiel.

Indem Angela Merkel die neoliberale Ausrichtung der eigenen Partei und damit ihr eigenes Wahlprogramm als „Geschwätz von gestern“ über Bord warf und sich als Interessenvertreterin für den „kleinen Mann“ positionierte, konnte die Union bei der jetzigen Wahl ihre Verluste mit 33,8 % in Grenzen halten. Gleichzeitig setzte die nach dem Wahlschock eingeleitete „Sozialdemokratisierung“ der CDU/CSU zwei gegenläufige Entwicklungen in Gang:

Auf der einen Seite schmolz die Notwendigkeit der SPD als Garantin des Sozialstaats im Urteil der Wählermassen dahin. Schröders rot-grüne Agenda-Politik hatte die Axt nicht nur an den Sozialstaat, sondern auch an die Existenz der SPD als sozial verpflichtete Massenpartei gelegt. Angesichts des neoliberalen Wahlprogramms der Union von 2005 hatte Schröder persönlich noch das Kunststück fertig gebracht, einen Wahlkampf zu führen gegen eine Linie, die er selber acht Jahre lang verfolgt hatte. Aber damit war die Realität nur kurzfristig zu übertünchen. In dem Moment, wo die Union selber den Sozialstaat zu sichern versprach, wurde die SPD überflüssig. Mit gegenwärtig 23 % der Wählerstimmen muss sie ihr Ende als Volkspartei befürchten.

Auf der anderen Seite wandten sich die zahlreichen Anhänger einer neoliberalen Politik, die zuvor der Union ihre Stimme gegeben hatten, bei der diesjährigen Wahl der FDP zu und verschafften ihr mit 14,6 % Stimmenanteil das bislang beste Wahlergebnis.

Aber heißt das auch, dass alle Anliegen der FDP erfüllt werden, selbst wenn sie im Koalitionsvertrag stehen?

Bislang sind alle größeren Einschnitte in den Sozialstaat von den Sozialdemokraten oder unter ihrer Mitwirkung vorgenommen worden, von der Riester-Rente über die Hartz-IV-Gesetzgebung bis hin zur Rente mit 67. Keine unionsgeführte Regierung hätte eine vergleichbare Politik gegen eine SPD in der Opposition durchsetzen können.

Dasselbe gilt für das Steuerschenkungsprogramm der rot-grünen Regierung aus dem Jahr 2000, das den großen Konzernen ca. 100 Mrd. Euro an ersparten Steuern bescherte und den Steuersatz für Spitzenverdiener von 53 % auf jetzt 42 % senkte.

Würde nicht die Einführung der Kopfpauschale in der Krankenversicherung den Sozialdemokraten die Gelegenheit geben, sich in der Opposition neu zu formieren?

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, was die neue Regierung zur künftigen Regelung der Arbeitsbeziehungen, d. h. zum Verhältnis von Kapital und Arbeit selber, auf ihre Fahnen geschrieben hat oder vielmehr nicht geschrieben hat. Weder ist die paritätische Mitbestimmung im Koalitionsvertrag thematisiert noch wird eine weitere Lockerung des Kündigungsschutzes ins Auge gefasst, beides eine Herzensangelegenheit der FDP.

Insbesondere ein Angriff auf die paritätische Mitbestimmung würde die Gewerkschaften in ihrem sozialpartnerschaftlichen Lebensnerv treffen und schon im Ansatz ihren erbitterten Widerstand hervorrufen. Das bedeutet umgekehrt, dass die Union die Gewerkschaften als Träger der Klassenkooperation in ihre Politik einbeziehen will.

Die das Lohnverhältnis begleitenden Sicherungssysteme gegen Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit interessieren die Gewerkschaften nur sekundär. Beginnend mit dem Einstieg in die private Alterssicherung durch den IG-Metall-Funktionär Walter Riester als Minister für Arbeit und Soziales sind hier bislang alle Einschränkungen mit offener oder verdeckter Zustimmung der Gewerkschaften erfolgt, bestenfalls legte man pflichtgemäß Protest ein. Ob es sich die Gewerkschaften aber leisten können, einen Frontalangriff wie den Strukturbruch in der GKV zu tolerieren, der ihre im Arbeitsleben stehenden Mitglieder direkt betreffen würde, ist fraglich.

Der im Koalitionsvertrag angedeutete Umarmungskurs Merkels wird die weitere Ablösung der Gewerkschaften von der SPD befördern.

Es ist eine schiere Illusion der Linken zu glauben, dass diese Gewerkschaften durch die Krise nach links rücken. Sie rücken von der SPD ab, aber darüber hinaus halten sie es wie die Wittib Hurtig; sie gewähren ihre Gunst mal dem einen, mal dem anderen, und dazu gehört je nach Lage der Dinge auch die Partei Die Linke. Die parteipolitische Orientierung kann sich durchaus von Einzelgewerkschaft zu Einzelgewerkschaft unterscheiden und wird den Zerfall der Gewerkschaftsbewegung nur beschleunigen.

Häufig wird unterstellt, dass nach der Landtagswahl in NRW im Mai 2010 die Katze aus dem Sack gelassen würde. Aber ist in der Sozialstaatspolitik davon auszugehen? Es gibt genügend Gründe für die Kanzlerin und CDU-Parteivorsitzende, sich weiterhin als Anwältin des „kleinen Mannes“ zu profilieren, um der Union den Status als Volkspartei zu sichern.

Falls man die NRW-Wahl auf der Merkelschen Linie mit dem „Arbeiterführer“ Rüttgers an der Spitze gewinnt, warum soll man eine siegreiche Linie aufgeben und der SPD die Gelegenheit verschaffen, sich erneut als Sozialstaatspartei zu profilieren, statt sie weiter in die Enge zu treiben?

Die konkrete Regierungsvereinbarung zur Krankenversicherung sieht vor, dass zunächst eine Kommission eingesetzt wird, die ihren Bericht im Jahr 2011 vorlegen soll. Bis anschließend die Umstellung auf eine Kopfpauschale erfolgt wäre, würde die nächste Bundestagswahl ins Haus stehen. Was soll die Union daran hindern, 2011 unter Hinweis auf veränderte Verhältnisse, Krise, gesellschaftlichen Widerstand oder den Haushalt (bei Geringverdienern soll der Staat die Zahlung der Kopfpauschale übernehmen) die Strukturveränderung abzusagen?

Schließlich steht als Alternative weiterhin der Weg offen, den die große Koalition gegangen ist, nämlich keinen Frontalangriff auf den Sozialstaat zu führen, sondern dessen Leistungen abzubauen und seine Finanzierung langsam immer mehr auf die Versicherten zu verlagern.

Wahlpolitisch hat dieser Weg bisher zu einer kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung geführt, ohne in gleichem Maße die Flügelparteien zu stärken. Noch hält der „contrat social“ und gewährt der Bundesrepublik weiterhin eine hohe gesellschaftliche Stabilität. Aber es fragt sich, wie lange der Krug zum Brunnen gehen kann, bis er bricht.

(Erstveröffentlichung in der „Berliner Umschau“ vom 18. November 2009)

Letzte Änderung: 21.03.2016