Kein Sturm im Wasserglas

Die Angst der Bourgeoisie vor Möllemanns Manövern

Von Heiner Karuscheit

Die Dauer und Heftigkeit des Streits um die für antisemitisch erklärten Äußerungen des NRW-Landtagsabgeordneten Karsli und seines Schutzpatrons Möllemann mussten jeden politisch Denkenden aufhorchen lassen. Der Antisemitismus hat in der gesellschaftlichen Realität des heutigen Deutschland keine Wurzeln mehr, weder politisch noch sozial. Mit der Niederlage des Nationalsozialismus ist er politisch diskreditiert, und mit dem massiven Rückgang der ihn tragenden, kleinbürgerlichen Schichten in der Nachkriegszeit ist auch seine soziale Quelle versiegt. Was übrig bleibt, sind ideologische Relikte, die in der bürgerlichen Gesellschaft von heute keinen Nährboden mehr finden. Aber woher kam dann die Schärfe der Auseinandersetzung in den vergangenen Wochen?

Ein Grund war sicherlich das besondere Verhältnis zu Israel, das angesichts der deutschen Vergangenheit von dem Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber, zur „Staatsräson“ der Bundesrepublik erklärt wurde und hierzulande besonders von den „Antideutschen“ und den politisch korrekten links-grün-liberalen Erben der 68er Bewegung gepflegt wird. Hinzu kommt vor allem, dass hinter Israel die USA stehen. Seitdem die Bush-junior-Administration die amerikanische Zwischenposition zwischen Israel und den Palästinensern (Oslo-Prozess) aufgegeben hat und auf einen Konfrontationskurs gegen die arabische Nation eingeschwenkt ist, tendiert der Spielraum für eine eigenständige europäische und speziell deutsche Nahostpolitik gegen Null – mindestens so lange, wie Russland nicht gegen die Amerikaner Front macht. Über Israel hinaus legte es also das besondere Verhältnis zu den USA nahe, gegen Möllemann vorzugehen, wollte man nicht Gefahr laufen, dass der israelische Ministerpräsident Scharon den großen Bruder alarmierte.

Die eigentliche Triebkraft war jedoch nicht außenpolitischer, sondern innenpolitischer Natur. Das von Möllemann initiierte und von Westerwelle übernommene „18%-Projekt“ der FDP hat nur dann eine Realisierungschance, wenn drei Wählerströmungen zusammenkommen. Die erste findet sich in dem alten bürgerlich-kleinbürgerlichen Wählerstamm der FDP, der allerdings seinem Umfang nach gewaltig zusammengeschrumpft ist und überdies sowohl von der Union als mittlerweile auch von der SPD als Parteien der „Mitte“ bedient wird, so dass die FDP seit Jahren um ihr Überleben kämpfen muss. Daher hat man als zweite Strömung die Wähler der „Spaßpolitik“ entdeckt, d. h. diejenigen, die regelmäßig die Berliner „Love Parade“ bevölkern und ihre Zukunft in den „Big Brother“-Containern von RTL sehen. Das wirtschaftsliberale Wahlprogramm der FDP, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach Entstaatlichung und Steuersenkung steht, schlägt die Brücke zwischen diesen beiden Strömungen. Sind die einen aus ökonomischem Interesse gegen Steuern und Staat, so die anderen aus Beschränktheit. In Guido Westerwelle haben beide Richtungen ihren gemeinsamen Repräsentanten gefunden.

Wenn man ernsthaft daran denkt, die FDP zur Volkspartei zu machen, muss aber noch eine weitere Strömung dazukommen, und die ist woanders zu suchen, nämlich bei den bisherigen Protest- oder Nichtwählern. In einem Gastkommentar im „Neuen Deutschland“ vom 27.Mai 2002 spielte Möllemann auf diese Perspektive an. Die Wählerschichten, die er dabei ins Auge fasste, rekrutieren sich aus den sogenannten „Modernisierungsverlierern“, Arbeitern und Arbeitslosen. Das Problem ist nur, dass die Öffnung zu diesen Schichten zwar Wählerstimmen bringt, sich aber bestenfalls eine Wahlkampagne lang mit den anderen Strömungen verträgt. Die Massen der unteren Schichten klammern sich überall in Europa an die „Nation“ und den national verfassten Sozialstaat als Schutzschild gegen die Angriffe, welche die Bourgeoisie mit Hilfe ihrer Sturmgeschütze namens „Modernisierung“, „Globalisierung“ und „europäische Einigung“ gegen eben diesen Sozialstaat führt. Das heißt, sie verkörpern das Gegenteil des gegenwärtigen Wirtschafts- und Spaßliberalismus der FDP, und die Hinwendung zu ihnen würde daraus auf Dauer eine andere Partei machen.

Daher rührte die panische Reaktion der FDP-Vorderen, von dem „Wirtschaftsliberalen“ Döring aus Baden-Württemberg über den Bundestags-Fraktionschef Gerhardt bis zur „Freiheitsliberalen“ Hamm-Brücher. Die Öffnung zur Spaßpolitik haben sie noch mit Magengrimmen toleriert, aber bei den unteren Schichten hört die Gemütlichkeit auf.

Die Panik beschränkte sich nicht auf die FDP. Die gesamte bürgerliche Klasse fürchtet, dass eine neue rechte Partei innenpolitisch die Parteiendemokratie und wirtschaftspolitisch den Internationalismus des Kapitals unterminieren würde. In einem Kommentar der Financial Times Deutschland vom 10. Juni hieß es ganz unverblümt: „Die Wirtschaft sollte die FDP nicht unterstützen, bis die Partei ihren Vizechef abgesetzt hat.“ Die Angst ist um so größer, da Alle wissen, dass das Potential für eine solche Partei vorhanden ist und nur darauf wartet, organisiert zu werden.

Daher war die „Karsli-Affäre“ nur ein hochgespieltener Anlass, um Möllemann durch den Zentralrat der Juden, der hierbei als Speerspitze der Bourgeoisie diente, mit der Moralkeule des Antisemitismus in die Schranken zu weisen. Und dem FDP-Politiker blieb angesichts der vereinten „antifaschistischen“ Front der Bourgeoisie nichts anderes übrig, als einen Rückzieher zu machen, weil wenige Monate vor der Bundestagswahl keine neue politische Formation aus dem Boden zu stampfen ist. Wie es allerdings nach den Wahlen aussieht, bleibt abzuwarten.

Wenn Charly Kneffel in seinem Kalaschnikow-Kommentar vom 30. Mai die Auseinandersetzung der letzten Wochen daher einen „merkwürdigen Streit“ nennt, in dem die Linke keinen Blumentopf gewinnen könne, weil die „eine Seite so schlecht wie die andere“ ist, hat er recht. Aber er hat unrecht, wenn er auf Seiten von Möllemann (und Walser) „den alten abenteuerlichen deutschen Imperialismus“ wittert. So wenig wie für einen neuen Antisemitismus gibt es im begonnenen 21. Jahrhundert Grundlagen für den „alten Imperialismus“. Das imperialistische Zeitalter ist wie der Faschismus nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Die politischen Herausforderungen von heute sind anderer Natur, und um ihnen zu begegnen, sollte man sich von der Fixierung auf vergangene Wahrheiten lösen.


Zuerst veröffentlicht in: Kalaschnikow-Online

Letzte Änderung: 21.03.2016