Fritz Gött
In verschiedenen Ausgaben der AzD findet sich eine intensiv geführte und kontrovers ausgetragene Diskussion zur „modernen (ökonomischen) Imperialismus-Theorie“ (z.B. zur Leninschen). Einer der Diskutanten, Alfred Schröder, hat dabei zugleich und ganz nebenbei auch einen Ausflug in die Antike unternommen. Er schrieb: „Imperialismus ist aber keine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts, ebenso wenig wie imperialistische Kriege eine Erfindung dieser Zeit sind. Imperialismus hat es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte seit der Staatenbildung gegeben und damit ebensolche Kriege. Man höre dazu Lenin: „Ein Beispiel: England und Frankreich haben im Siebenjährigen Krieg um Kolonien gekämpft, d. h. einen imperialistischen Krieg geführt (der ebenso auf Basis der Sklaverei und der Basis des primitiven Kapitalismus wie auf der Basis des hochentwickelten Kapitalismus möglich ist). Daraus ist ersichtlich, wie sinnlos es wäre, den Begriff Imperialismus schablonenhaft anzuwenden.“ / Hinter all diesen Kriegen stecken Rivalitäten zwischen Staaten um Einflußsphären, politische und militärische Macht, ökonomische Interessen und territoriale Ansprüche. Und in den jeweiligen Staaten gab es unterschiedliche soziale Kräfte (Stände/Klassen) und durch sie gebildete politische Gruppierungen, die die jeweiligen Kriege herbeiführten oder kritisierten. Die Untersuchung dieser Ereignisse ist das Thema der Geschichtsschreibung, vorzüglich als Geschichte von Klassenkämpfen. / Der Ukrainekrieg lässt sich mit imperialistischer Politik, wie wir sie seit wenigsten(s) zweitausend Jahren kennen, ganz ohne eine ökonomische Imperialismustheorie erklären. …“[1]
Diese Passage hat mich zu verschiedenen Fragestellungen geführt, die ich im Folgenden anreißen möchte:
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- Seit wann gibt es Kriege? Sind sie genetisch im Menschen angelegt?
- Sind imperialistische Kriege an die Existenz des Staates gebunden?
- Sind Kriege von Staaten immer imperialistisch?
- Wie sehen imperialistische Kriege im Altertum aus? (Beispiel Assyrien)
1. Seit wann gibt es Kriege?
Kriege in der Gegenwart sind im aktuellen Bewusstsein wieder allgegenwärtig. Kein Wunder, dass die öffentliche Diskussion hochkocht, ob der Krieg ein ständiger Begleiter der Gattung Mensch sei, ja, ob das Kriegerische in der menschlichen Natur seit Anbeginn und für immer verwurzelt ist.
Eine erst jüngst veröffentlichte „evolutionäre und archäologische Bestandsaufnahme“ der Gruppe um Harald Meller et. al. zum Thema „Die Evolution der Gewalt“ (2024) hat erneut aufgezeigt, dass dem nicht so ist.[2] Moderne Kriege sind, so die Autoren, kein Schicksal, sie werden gemacht. Man kann sie gegebenenfalls verhindern. Soldat sein ist erlernt, es gibt kein Krieger-Gen. Kriege sind barbarisch, dem Menschsein abträglich. Die Botschaft der Autoren ist klar. – Es gab und gibt dazu auch aktuelle Gegenpositionen im bürgerlichen Lager.[3] Sie sind jedoch nicht überzeugend, mögen sie auch dem politischen Zeitgeist entspringen.
Was sind Kriege, wie sollte man sie umschreiben? Etwa so: Kriege sind organisierte, bewaffnet ausgetragene, kollektive Gewaltanwendungen, dabei zumeist ideologisch unterfütterte und verherrlichte Auseinandersetzungen zwischen sozialen Gruppen oder Staaten. Der Krieg als institutionelles Unterwerfen oder Töten unterscheidet sich damit deutlich von einer privaten, zwischenmenschlichen Fehde oder einem individuellen, zumeist spontanen Gewaltausbruch. – Über die Zielsetzung von Kriegen und ihre Träger sagt diese ‚Definition‘ natürlich nichts.
Folgt man der archäologisch gestützten Dokumentation von Meller et. al., so kann von eigentlichen Kriegen im obigen Sinne erst seit der Jungsteinzeit und dem Neolithikum gesprochen werden. Natürlich finden sich auch in der Altsteinzeit einzelne, zumeist individuelle Gewaltakte, jedoch keine Kriege. Mit dem Übergang des Menschen zur sesshaften und produktiven Lebensweise in vielen Teilen der Welt nehmen die territorialen Konflikte, Spannungen und Eigentumskonflikte unter den Menschen jedoch signifikant zu und erreichen im Krieg eine neue Qualität, was im Konkreten an den entsprechenden Örtlichkeiten und historischen Zeitumständen zu analysieren wäre. Das ist aber hier in seiner Fülle überhaupt nicht zu leisten.
Der Genosse Schröder koppelt nun alte imperialistische Kriege an die historische Existenz des Staates. Was uns erst einmal zur Frage veranlasst: Seit wann und wo gibt es den Staat?
2. Der Staat erscheint auf der Bildfläche
Die Frage, was Entstehung und Wesen des Staates ausmacht, treibt Marxisten seit langem um. Die Literatur dazu ist viel zu umfangreich, manchmal auch widersprüchlich, um sie hier zu referieren. Ich beschränke mich daher auf einige für unsere Fragestellung sinnige Anmerkungen:
Nach marxistischem Verständnis kann ein Staat nach dem Verfall der egalitären Urgesellschaft(en) entstehen. Dafür müssen aber die naturhistorischen, ökonomischen, sozialen und geschichtlichen Voraussetzungen stimmen.
„Die Geschichte zeigt, dass der Staat als besonderer Apparat der Zwangsanwendung gegen Menschen erst dort und dann entstand, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat – also eine Teilung in Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der anderen aneignen können, wo der eine den anderen ausbeutet.“[4] Wer diese klassische Umschreibung von Lenin übernimmt, sollte aber im Hinterkopf haben, dass der Staat nicht auf einen Schlag ins Rampenlicht der Geschichte tritt. Er wächst aus der Gesellschaft (mehr oder weniger friedlich oder im Konsens der Gemeinschaft) hervor, um sich dann im obigen Sinne zu wandeln. Also betrachten wir dabei einen Prozess, der je nach Ausgangslage lange dauern kann und dessen Entwicklungsgeschichte keineswegs gewalttätig verlaufen muss (es sei denn, ein Eroberer implantiert den Staat gleich von außen)
Irgendwann sind der Gewaltapparat und der Klassenstaat in vielen Teilen der Welt aber da, was jeweils konkret zu untersuchen und zu deuten wäre.
In seiner Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) hat F. Engels bereits auf drei verschiedene Typen der Staatsentstehung hingewiesen, hier also in Athen, Rom und bei den Deutschen. Das wird uns im Folgenden aber nicht beschäftigen. – Es gibt einfach viele Variationen der Entstehung des Staates, und wie gesagt, in Raum und Zeit.
Zu den viel älteren Zivilisationen: in Alt-Vorderasien, in Alt-Ägypten, am Indus usw. sowie der darin auftretenden Staatenbildung und ihren Kriegen hat sich der Autor Engels in seinen Arbeiten kaum oder nur sehr allgemein geäußert. Das kann nicht verwundern, da die damalige Archäologie und die wissenschaftliche Orientalistik der Zeit einfach noch in den Kinderschuhen steckten. Manche alte Zivilisationen, wie die am Indus waren auch noch gar nicht (wieder) entdeckt.
Heute wissen wir zum historischen Fragen- und Wissenskomplex Alt-Vorderasien und seinen Kulturen zwar mehr, aber längst nicht genug. Das liegt einerseits an den vielen aktuellen Kriegen im Nahen Osten und Umgebung, andererseits am Zustand und an den Bedingungen der heutigen Alt-Orientalistik. – Zudem stehen viele Ausgrabungen vor Ort gegenwärtig still.
Dennoch gibt das vorhandene Material zu Alt-Vorderasien Anschauungsstoff in einigen Fragen nach Krieg und Frieden. Darauf beziehe ich mich im Weiteren.
3. Ein Problem in der Frage: Ist jeder Krieg
der Stadtstaaten im Alten Orient ein imperialistischer?
Zu Beginn dieses Abschnittes einige allgemeine Schlaglichter:
* Nach heutigem Wissensstand begann der Übertritt des Menschen von der sammelnden, aneignenden Lebensweise, d.h. die vom Sammler und Jäger zur produzierenden, d.h. zum Bodenbauer und Viehzüchter vor etwa zwölftausend Jahren im „fruchtbaren Halbmond“. Wir betrachten hier eine riesige Fläche: „Die altweltlichen Ursprünge des Neolithikums lassen sich in Vorderasien im Gebiet des sog. Fruchtbaren Halbmondes verorten, jener durch ausreichende Niederschläge versorgten Gunstregion, die sich vom Iran, Obermesopotamien und Anatolien im Norden bis über die Levante im Westen erstreckt.“ – Ein früherer Einstieg des Menschen als Bauer ist hier durchaus denkbar und wird in der Wissenschaft diskutiert.[5] – Der Landbau wird auch nicht von heute auf morgen in der ganzen Fläche gleichzeitig entstanden sein.
* Erste Großsiedlungen bzw. Städte wie Uruk erscheinen im 5. Jtsd. v. u. Zeitrechnung im Süden Mesopotamiens, der Norden folgt leicht verzögert nach. – Die Stadt und der Stadtstaat sind nicht unbedingt identisch, können aber ineinander übergehen.
* Der ‚reife‘ Staat hingegen taucht in Mesopotamien erst um das 4./3. Jtsd. v.u.Zt. auf, die Keilschrift um ca. 3300 v. u. Zt.
Wir haben nun in ganz Mesopotamien Dörfer, Großsiedlungen, Stadtstaaten, Regionalstaaten. Doch daraus sollte niemand eine kontinuierliche Reihenfolge ableiten, auch wenn auffällt, dass die komplexeren Strukturen im Land zunahmen. – Alles konnte im Einzelnen auch nebeneinander, ja auch im Rückwärtsgang der Formen und ihrer Bedeutung existieren. – Jeder Zuzug oder Abgang von Menschen, das Einbrechen neuer Invasoren z.B. aus den Bergvölkern, jeder Krieg im Lande veränderte Handelswege. Veränderte Wasserläufe, Klimaveränderungen usw. mischten die Karten im Verlauf (von Jahrtausenden) politisch, sozial, institutionell, klassenmäßig immer wieder neu auf. Der alte Orient war in ständiger Veränderung begriffen; ein Umstand, der auch die Geschichtsdarstellung erschwert und hier als Ganzes gar nicht erst versucht wird.
Die von mir oben verwendeten Daten stehen natürlich unter dem Vorbehalt, dass nicht neue archäologische Funde zu einer Modifizierung auffordern. Wer sich in die wissenschaftliche Literatur zum Alten Orient (in ihrer historischen Abfolge) einliest, stößt ständig auf entsprechende Korrekturen. Das sollte nicht Anlass für falsche Kontroversen sein.
Kriege zwischen den frühen Städten, Stadtstaaten und/oder Territorialreichen Alt-Vorderasiens fanden häufig statt. Doch waren sie auch immer imperialistisch?
Um diese Problemstellung in der Frühzeit Babyloniens aufzuzeigen, muss man u.a. einen Blick auf Süd-Mesopotamien im Altertum werfen, jene Gebiete zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris sowie angrenzende Flächen.
Landwirtschaft, die Haupterwerbsquelle der Menschen hier (neben Viehzucht, Fischfang, und dem Handel mit selbstproduzierten Fertigwaren) war nur möglich durch eine künstliche Be- und Entwässerung des Bodens. Diese Bewässerungslandwirtschaft in eher regenarmen Gefilden unterschied Süd-Mesopotamien vom Norden, wo weitgehend Regenfeldanbau möglich war. Geologisch gesehen gab es das Manko, dass Rohstoffe extrem rar waren. Das erzwang ihren Import durch Handel oder Raub. Die Landwirtschaft war hingegen durch die Gunst der Natur (die wasserführenden Flüsse, die angezapft werden konnten) und die Kooperation/Innovation seiner Menschen hoch produktiv und bildete die Grundlage jener vielen verschiedenen Hochkulturen, die hier entstanden sind. Bedroht war man jedoch ständig durch die mäandernden Flussverläufe/Zuflüsse, versalzende Böden, veränderte Grundwasserbedingungen, Klimaveränderungen, die sich auch in den Wasserständen von Euphrat, Tigris und ihren Deltas wiederfanden usw. Das alles erforderte kollektive Maßnahmen. Einerseits waren die Lebensgemeinschaften gezwungen, sich immer stärker in Dörfern, Großsiedlungen, ja Städten (mit einem Ring aus dörflichen Ansiedlungen) zusammenzuschließen. Dabei mussten neue Formen der Vergemeinschaftung und der Arbeitsteilung eingegangen werden, bis hin zum Staat.
Andererseits nahmen die Konflikte und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den entfernten Nachbarn zu, die sich ja ebenfalls im Stadium des Zusammenschlusses befanden, und die nicht bereit waren, ihre Errungenschaften, die Ortsgebundenheit und die Eigenständigkeit einfach aufzugeben. Militärische Anführer auf allen Seiten traten hervor, die aktiv wurden und später eine der Quellen für das Entstehen einer herrschenden Elite/Klasse in den jeweiligen Strukturen bildeten usw. – Noch wurde der Streit, der Krieg um Wasser, Land, freie Handelswege, Kriegsgefangene/Sklaven, im Namen und zu Nutzen der ganzen jeweils örtlichen/regionalen Gemeinschaft – gegen die Anderen – geführt. Das änderte sich später dann mit den privaten Kommandounternehmen neuer Führer mit Gefolgschaft oder mit dem staatlichen Herrschaftsanspruch der jeweiligen Herrscherclique, nunmehr im Interesse für sich selber. – Insgesamt lag die Ausdehnung von annektierten Flächen und die Einverleibung von Menschen im Krieg und danach nicht im Widerspruch zur Entwicklung der Produktivkräfte; sie waren sogar notwendig und unter den gegebenen Umständen unvermeidlich. Die Bewässerungswirtschaft und die agrarische Produktion – auf gegebenem Territorium und Niveau – erforderten es hier.
Was ich mit meinem Text nur sehr verkürzt andeuten konnte, ist natürlich viel zeitgestreckter, komplexer, zuweilen auch hypothetischer und dabei doch besser in der Fachliteratur beschrieben und gedeutet, auf die ich jetzt verweise.[6]
Für mich stellt sich nun die Frage: sind die Kriege und militärischen Konflikte, die in den Anfängen der Hoch-Zivilisation(en), in den jeweiligen Großsiedlungen und Stadt-Staaten des Alten-Orients stattgefunden haben, nun einfach und immer unter den Begriff imperialistisch zu subsumieren oder gegebenenfalls besser auch anders zu titulieren. Ich neige dazu, stelle das aber zur Disposition. So oder so wird man das Problem im Einzelnen und in seiner zeitlichen und örtlichen Gebundenheit zu untersuchen haben.
4. Imperialistische Kriege im Altertum:
Thesen – Fragen – Mutmaßungen
Imperien mit ihren (Raub- und Hegemonial-) Kriegen gab es natürlich sowohl im „Alten Orient“ wie in der „Antike“ Europas. Dazu einige Beispiele:
* Wer sich für die Frühzeit altorientalischer Kulturen interessiert, zeigt da z.B. auf das imperiale Territorial-Reich von Akkad (ca. 2340 – 2200 v. u. Zt.) oder auch auf die III. Dynastie von Ur (ca. 2112 – 2004 v. u. Zt.), usw.
* Bibelfeste Leser werden sich an Großreiche wie das der Assyrer, Ägyptens, Babylons oder der Neu- Hethiter erinnern.
* Wer Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (von 1917) gelesen hat, kennt dessen Meinung: „Kolonialpolitik und Imperialismus hat es auch vor dem jüngsten Stadium des Kapitalismus und sogar vor dem Kapitalismus gegeben. Das auf Sklaverei beruhende Rom trieb Kolonialpolitik und war imperialistisch. Aber ‚allgemeine‘ Betrachtungen über den Imperialismus, die den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen vergessen oder in den Hintergrund schieben, arten unvermeidlich in leere Banalitäten oder Flunkereien aus, wie etwa der Vergleich des ‚größeren Rom mit dem größeren Britannien‘“.
Imperialistische Kriege im Altertum wurden hauptseitig oder zur Gänze im politischen und ökonomischen Interesse der jeweiligen herrschenden Klasse geführt, die ja auch im Besitz des Staates war und sich seiner bediente. Da aber nicht jeder Stadt- oder Territorial-Staat gleich und immerfort zur Waffe griff, wird man wohl auch zusätzliche Informationen in die Betrachtung militärischer Gewalt einzubeziehen haben, so die nach der historischen Situation, dem Wollen und den tatsächlichen Möglichkeiten dieser gesellschaftlichen Einheiten in den Konflikten usw.
Bleibt eine weitere Frage, wann nämlich ein solcher Typus, jener der imperialistischen Politik und des imperialistischen Krieges in der „Alten Geschichte“ jeweils konkret auftauchte?
Die Zeitangaben des Gen. Schröder sind da recht unbestimmt, so wenn er wie oben zitiert schreibt: „mit imperialistischer Politik, wie wir sie seit wenigstens zweitausend Jahren kennen“. Rechnet man zurück, so landet man bei dieser Formulierung in der Zeitmarke 0 unserer europäischen Zeitrechnung (Plus – Minus). Ich unterstelle mal, der Autor hat da das Imperium Romanum, das römische Kaiserreich im Hinterkopf. Nur, auch das vorangegangene Republikanische Rom betrieb bereits imperiale Politik und schwang das Kriegsbeil. So in drei Kriegen mit Karthago (264-241/ 218-201/ 149-146/ v. u. Zt.). Wobei Lenin zu Recht anmerkte „der Krieg zwischen Rom und Karthago war auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg“.[7] Der 3. Punische Krieg war zudem auf Seiten Roms ein reiner Vernichtungskrieg zur Auslöschung Karthagos. – Kurz, der von A. Schröder gesetzte Zeitrahmen für imperialistische Politik/Waffengänge ist angesichts der Realgeschichte viel zu kurz gesetzt und müsste deutlich erweitert werden.
Wir wissen über den Waffengebrauch im Alten Orient einiges, über den Frieden bzw. den Friedensschluss vor Ort‘ zwischen potenten Kontrahenten jedoch weniger. Ein eher untypischer Abschluss ist jedoch ausführlich schriftlich/bildlich und in der Praxis dokumentiert: Der zwischen den Großreichen Alt-Ägypten (unter Ramses II.) und Hatti (den Alt-Hethitern aus Zentralanatolien, die ca. vom 17. Jh. – 1205 v. u. Zt. existierten). – Man hatte sich bereits Jahrzehntelang politisch und militärisch über die Einflussnahme und Vorherrschaft in Syrien und Palästina gestritten, doch dann eskalierte der Streit in einer großen Schlacht bei Kadesch am Orontes 1275 v. u. Zt. Trotz Siegesfanfaren auf beiden Seiten geht die Militärgeschichte heute von einem Patt der Kräfte und Ereignisse aus. Dem Schweigen der Waffen folgte viele Jahre später ein formaler Friedensvertrag (1259 v. u. Zt.): Titular „Vertrag des Friedens und schöner Bruderschaft auf ewig“. Diesem Staatsvertrag, der auch den Status quo besiegelte, lagen mit Sicherheit politische Überlegungen beider Seiten zu Grunde, nicht nur ein Nachdenken über Risiken und Kosten eines neuen militärischen Abenteuers. – Die Zeiten waren einfach anders.
Dahinter stand eine Machtverschiebung im Orient. Die Hethiter hatten nämlich das Groß-Reich Mitanni zerstört. Dadurch, sozusagen im Nebeneffekt, wurden die Assyrer mit ihrer alten Hauptstadt Assur am Tigris von der Fremdherrschaft Mitannis befreit, um nun aus eigener Kraft zu erneuter Größe aufzusteigen (/das Mittlere-Assyrische Reich, ca. 1353 -1076 v. u. Zt./). Ihre Expansion richtete sich dann sowohl gegen Babylon als auch ausgreifend gegen die Herrschaftsgebiete der Hethiter. Das dürfte bei den Hethitern den Gedanken forciert haben, sich mit Ägypten auszusöhnen. Auch die Ägypter werden diese Entwicklung Assyriens mit Argusaugen verfolgt haben, standen doch langfristig ihre eigenen Interessen in Syrien und Palästina auf dem Spiel. So war es in ihrem Interesse, nun ihrerseits mit den Hethitern zu kooperieren. Das Geheimnis dieses Vertrages ist keines: Man versicherte sich der Rückendeckung und der Unterstützung gegen einen Dritten. – Zudem hatten beide Seiten ja auch noch andere Projekte und Probleme zu bewältigen: Die ständige Konsolidierung des eigenen Herrschaftsbereiches über das eigene Stammgebiet hinaus, Raubzüge Ägyptens gegen Nubien, Zurückdrängung der Libyer von der eigenen ägyptischen „Flussoase Nil“, Hattis Abwehr gegen die Kaskäer vor der eigenen Haustür usw., alles Projekte, bei denen man nicht in die Gefahr eines Mehrfrontenkrieges geraten wollte. – Da half man sich doch gerne auch in Notsituationen, z.B., als bei Hatti eine Hungersnot ausbrach und Ägypten mit Kornlieferungen aushalf.
Der Friedensschluss und Beistandspakt zwischen Ägypten und Hatti hielt über Generationen hinweg, gut 60 Jahre – bis zum Verschwinden der Alt-Hethiter aus der Geschichte.
Imperiale Kriege waren für eine so entwickelte Zivilisation wie das Neu-Assyrische-Reich (/ca. 883 – 609 v. u. Zt./) essenziell. Unter heutigen Geschichtsschreibern gilt dieses Gebilde als „Militärstaat par excellence“. Warum aber dieser ständige Expansionsdrang? Man könnte es sich für eine Antwort nun einfach machen und erklären: Diese Kriege lieferten das Beute- und Luxusmaterial für die hier jeweils hausende herrschende Klasse und gaben auch das Gut für seine Gefolgschaft; das Heer schuf den großen Raum für das Reich und seine hegemonialen Ansprüche, ermöglichte die Ausbeutung fremder Völker und einverleibter Gebiete, beseitigte alle Schranken für den überregionalen Handel usw. – Tatsächlich beherrschte dieses Assyrien auf seinem Zenit (zeitweilig): Zypern, Teile Ägyptens, Palästina, Syrien, Babylonien. Kriege mit Beute und Geländegewinnen wurden auch gegen die Völker Anatoliens, Kappadokiens sowie mit wechselndem Erfolg gegen Elam (des östlich und nordöstlich von Babylon gelegenen Berglandes) und das Reich Urartu (der Uraträer , um den Van-See in Armenien) geführt usw. – Soweit also eine gar nicht mal so falsche erste Antwort auf unsere oben gestellte Frage. Die Antwort wäre jedoch einseitig. Sie verdeckt nämlich eine weitere Problemstellung: Inwieweit war die Ökonomie Assyriens, seine gegebene altorientalische Produktionsweise im Stammgebiet am Tigris und darüber hinaus eigentlich in der Lage, die normalen Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu decken? Wie weit war die Naturbeherrschung mit den gegebenen Produktivkräften entwickelt und Praxis-tauglich? Gab es immanente Schranken oder Hemmnisse der „Altorientalischen Produktionsweise“, die eine Schlüsselantwort oder zumindest einen Hinweis auf das aggressive Auftreten Alt-Assyriens liefern könnte? Denn diese in vielen Ländern verbreiteten altorientalischen Produktionsweisen gingen ja irgendwann unter. Frühere Generationen von Marxisten haben die Problematik wohl in der Geschichtswissenschaft und unter der „Formationsfrage“ diskutiert – ohne abschließendes Ergebnis. Nur kenne ich mich in dieser Diskussion nicht genügend aus, um hier eine abwägende, provisorische Antwort gemäß heutigem Kenntnisstand zu geben.
Das Neu-Assyrische-Reich kollabierte im 7. Jh. v. u. Zt. unter den militärischen Schlägen einer Koalition aus Medern und Babyloniern, scheinbar auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Doch widerspruchsfrei war dieses Reich nie gewesen. Da gab es die ständigen Reibereien innerhalb der herrschenden Klasse, die auch schon mal in Palastrevolten oder Meuchelmord einmünden konnten; die Bevölkerung war stark sozial hierarchisiert, es gab neben dem Palast Freie, Abhängige und Sklaven, wobei die Aufzeichnungen der Zeit keinen Gedanken an eine soziale Revolution oder den Systemumsturz verzeichnen. Arbeitskräfte im Reich waren rar und mussten ständig requiriert werden. Jede Schwäche des assyrischen Staates in den eroberten oder Tribut-pflichtigen Gebieten gab den Unterworfenen die Chance zur Rebellion. Wurde sie ergriffen, so wurde seitens Assyriens stets mit Repressalien, Massen-Mord oder der Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsteile und ihrer Eliten in gänzlich andere Teile des Reiches geantwortet. Der assyrische Tyrann war verhasst. Je aufgeblähter das Reich nun wurde, desto überdehnter wurde es. Jeder Krieg forderte Gefallene und Opfer. Die Reihen der eigenen Krieger musste somit aufgefüllt werden, sei es durch die vorhandenen Bauern, gedungene Söldner, ja selbst durch ehemals gefangene und nun gepresste Kriegsgegner. Präsenz vor Ort bei den Annektierten war eine Notwendigkeit und band die Kräfte, die anderswo gebraucht wurden usw.
Assyriens Zusammenbruch vollzog sich dann in rasender Geschwindigkeit. Die Gründungsstadt des Alt-Reiches Assur am Tigris fiel 614, die Hauptstadt Ninive erlag der Erstürmung 612. Die letzte ‚Fluchtburg‘ der Assyrer Harran wurde 610 vernichtet, die Entscheidungsschlacht bei Karkemisch am Euphrat trotz ägyptischer Hilfe 605 v. u. Zt. verloren. Das Assyrische Reich war Geschichte. Nur Trümmer, Staub und Erinnerung blieben. – Doch warum kollaborierte das Imperium, das ja in dieser Form lange existiert hatte? Da war einerseits nach vergangenen Niederlagen eine neue Stärke bei den Medern und Babyloniern, die sie zum Angriff auf Assyrien befähigte. Andererseits gab es das oben beschriebene Bündel an Widersprüchen der assyrischen Herrschaft. Entscheidend in diesem Krieg dürfte gewesen sein: Es rührte sich keine Hand bei den unterdrückten und ausgebeuteten Völkern und Menschen zur Verteidigung des schwächelnden assyrischen Regimes. Nur ein ehemaliger Kriegsgegner Assyriens, Ägypten schickte den Assyrern eigene Hilfstruppen zum Ersatz, aus Furcht vor einem erneuten Aufstieg Babylons zur Großmacht. Doch blieb ein Wunder für die Assyrer aus, denn auch Wunder bräuchten Ursachen, die es nicht gab.
Imperien kommen und gehen – sie alle werden fallen; eine Feststellung, die uns zu einem weiteren Fragenkomplex weiterleitet:
Was geschah nach dem Exitus des Neu-Assyrischen-Reiches? Die Sieger teilten die Beute. Die Meder besetzten das assyrische Kerngebiet bis zum Mittellauf des Tigris und drangen auch in den Norden bis Harran vor. Die Babylonier erhielten das übrige Mesopotamien, beanspruchten aber auch alle Gebiete westlich des Euphrat, also Syrien und Palästina. Das Spätbabylonische Reich stieg, wie von den Ägyptern befürchtet, zur neuen Großmacht auf. – Doch lange konnte man sich des Zugewinns nicht erfreuen. Nur einige Jahrzehnte später wurden die einstigen Sieger militärisch von den Persern (den persischen Achämeniden) unterworfen und übernommen (die Meder 550, Babylon, 539 v. u. Zt.). Übernommen kann man dabei durchaus wörtlich verstehen. Denn nach einem altbabylonischen Bericht öffnete die Stadt Babylon freiwillig ihre Tore und begrüßte den Sieger; dem lagen wohl Widersprüche unter den herrschenden Kräften Babylons (innerhalb von Palast und Tempel) zugrunde. Und die Meder? Ethnisch und kulturell waren sie mit den Persern verwandt, sie kapitulierten zwar, waren in der Mehrheit jedoch Perser-affin. Ihr ‚Adel‘ (nicht die Spitze) wurde von den Achämeniden als Partner angenommen und bewusst als kooptierter Teil der eigenen Elite ins wachsende persische Imperium integriert (in „die erste Weltmacht“ der Geschichte, wie es in den heutigen Annalen heißt).
Gut 200 Jahre später fiel das Perserreich dem makedonisch-griechischem Heerführer Alexander (heute genannt ‚der Große‘) bei seinem Raubzug in die Hände. Der Tod raffte ihn mit 33 Lebens-Jahren in Babylon dahin. Unter den Diadochen, den Generälen Alexanders und ihren Erbfolgekriegen, begann die Epoche und die Herrschaft des „Hellenismus“ im Orient – trotz alledem mit begrenzter Zeit- und Wirkungsdauer. Doch wie der Prophet der ununterbrochenen Bewegung, der Philosoph Hegel sagen könnte: Siehe, die Schuhe derer, die dich hinausgeleiten werden, stehen schon vor der Tür. – Hier also scharrte Rom mit den Füßen als das aufstrebende neue Imperium, eines unter anderen.
Bliebe eine letzte Bemerkung von mir in diesem kleinen Aufsatz: Die hier angedeuteten imperialistischen Kriege der alten Griechen und Römer auf dem Territorium Vorderasiens zeigen uns was? Hier trafen ja nicht nur antike Militärtechnologie und Heeresverfassung auf die „Heerscharen des Orients“, sondern hier prallten im Weiteren auch „Antike Produktionsweisen“ und Altorientalische Gegebenheiten in Ökonomie und Gesellschaft aufeinander. Die Frage für mich lautet: was kam dabei heraus? Auch Marxisten sind dazu (erneut) analytisch gefragt.
Quellenangabe und Anmerkungen
[1] Passage A. Schröder, in: AzD, Nr. 96, Mai 2023, S.20
[2] Harald Meller / Kai Michel / Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. München: dtv, 2024. / Harald Meller u. Michael Schefzik (Hrsg.): Krieg. Eine Archäologische Spurensuche. Begleitband zur Sonderausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale). Halle (Saale): Theiss, 2015. // – Anmerkung: Autoren wie H. Meller et. al. vertreten eine evolutionäre, faktenbasierte Geschichtsschreibung; Marxisten unterscheiden sich in einer Reihe von Fragen beim Thema weltanschaulich und methodisch von ihnen. Das wird deutlich, wenn man ältere Arbeiten marxistischer Couleur zum Vergleich heranzieht. So: Walter Hollitscher: Aggression im Menschenbild. Marx, Freud, Lorenz. Frankfurt/Main: Verl. Marxistische Blätter GmbH, 1970. – Siehe auch vom gleichen Autor die sechsbändige Taschenbuchausgabe „Natur und Mensch im Weltbild der Wissenschaft“, die in den 80er Jahren sowohl in der DDR wie in der BRD verlegt wurden. / – Was beide hier vorgestellten Wissenschafts-Strömungen verbindet, ist die Abscheu dem Krieg gegenüber. Aufmerksamkeit unsererseits wäre angebracht, ohne die Differenzen zu verwischen.
[3] Studien wie die von Meller et. al. kommen für manche Kreise heute zu Unzeiten, wo man doch lieber von Kriegstüchtigkeit denn von Friedenstüchtigkeit und Verhandlungen reden möchte. – Eine subtil vorgetragene Gegenposition zu Meller et al. (ohne diese Autoren zu benennen) findet sich in einen Artikel der „Zeit“: Urs Willmann: Als der Krieg in die Welt kam. Ist Gewalt angeboren oder erlernt? Und wann begann das organisierte Töten? in: Die Zeit, Nr. 50, 28. Nov. 2024, S.31
[4] Zitat aus: W. I. Lenin: Über den Staat. Vorlesung an der Swerdlow-Universität, 11. Juli 1919. / Textabschnitt von mir zitiert nach: W.I. Lenin. Marx-Engels-Marxismus. Grundsätzliches aus Schriften und Reden. Berlin: Dietz Verl, 7. Aufl., 1971. S.467
[5] Ein Aspekt der aktuellen Diskussion, Uwe Ebbinghaus: Die steinernen Rätsel der ersten Monumentalbauten. In der Südosttürkei nahe der syrischen Grenze werden seit Jahren faszinierende Ruinen aus der Jungsteinzeit ausgegraben. Ein Ausflug zur Baukunst der letzten Jäger und Sammler. in: FAZ, 13. Dez. 2024, S.13
[6] Ich stütze mich hier auf die Arbeiten: H. Klengel: Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien. in: J. Herrmann u. I. Sellnow (Hrsg.): Beiträge zur Entstehung des Staates. Berlin: Akademie-Verlag, 1973, S. 36 – 55. / H. Klengel: Städte, Staaten, Großreiche – Mesopotamien und Kleinasien (bis 539 v. Chr.). (1997) in: Frühe Hochkulturen. Stuttgart: Theiss, 2003. S.124 – 225. / Eine aktualisierte Faktenübersicht (aus nichtmarxistischer Feder) zur „frühdynastischen Periode“ siehe: Gebhard J. Selz: Sumerer und Akkader. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: C. H. Beck, 4. aktual. Aufl., 2022. // – Anmerkung: Horst Klengel (1933 – 2019) gehörte zu den innovativsten marxistisch denkenden Althistorikern im Bereich Alter Orient; er hat sowohl in der DDR wie nach der Wiedervereinigung in Westdeutschland akademisch gearbeitet und publiziert.
[7] W. I. Lenin, zitiert nach: Horst Dieter / Rigobert Günther: Römische Geschichte bis 476. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990, 3. Aufl., S.6