Domenico Losurdo
In seinem 2011 auf Deutsch erschienenen Buch „Die Sprache des Imperiums. Ein historisch-philosophischer Leitfaden“ beschäftigte sich Domenico Losurdo im Kapitel „Antizionismus“ mit den ideologischen Wurzeln des Zionismus. Er wies an Hand der Schriften und Aufzeichnungen von Theodor Herzl – dem Begründer des Zionismus – nach, dass diese Ideologie zutiefst im kolonialistischen und rassistischen Denken des Westens des 19. Jahrhunderts wurzelt. Der auf der Doktrin des Zionismus aufgebaute und ihm bis heute verpflichtete Staat Israel ist daher nach Losurdo eine „koloniale Idee“. Die Gründung eines weißen Staats auf okkupiertem Land bei gleichzeitiger Ausrottung bzw. Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung gleicht den untergegangenen Siedlerstaaten in Südafrika, Rhodesien – heute Zimbabwe – und Algerien. (Andreas Wehr, Oktober 2023)
Eine unmissverständliche Losung kennzeichnet den Zionismus: »Gebt das Land ohne Volk einem Volk ohne Land!« (1). Wir haben es mit der klassischen Ideologie der kolonialen Tradition zu tun, die die eroberten oder begehrten Territorien immer als res nullius, als Niemandsland, betrachtet hat und immer geneigt war, die einheimischen Bevölkerungen auf eine unbedeutende Größe zu reduzieren; mit der Ideologie, die insbesondere den expansionistischen Vormarsch der nordamerikanischen Kolonisten begleitet hat. Wenn wir bei Nordau lesen, dass der Zionismus »ein Land, das heute eine Wüste ist«, in einen »blühenden Garten« verwandeln will (2), kommen wir nicht umhin, an Autoren wie Locke und Tocqueville zu denken, die das von den Indianern bewohnte Territorium eben als eine Wüste oder als eine »leere Wiege« bezeichneten (3).
Bei seiner Propaganda für den Zionismus empfiehlt sich Herzl folgendermaßen den Kanzleien der westlichen Großmächte: »Die meisten Juden sind keine Orientalen mehr«; »so möchten wir als Culturträger des Westens in diesen jetzt verseuchten, verwahrlosten Winkel des Orients Reinlichkeit, Ordnung und die geklärten Sitten des Abendlandes bringen «, in diesen »kranken« Winkel (4). Wenn sich die Juden in Palästina ansiedeln, können sie »den Krankheitswinkel des Orients assaniren«, »Cultur u. Ordnung« dorthin bringen und sogar »den Schutz der Christen im Orient« gewährleisten. Kurz und gut: »das einzige Culturelement, womit Palästina besiedelt werden kann, sind die Juden« (5).
Die Verherrlichung des Kolonialismus fällt beim Patriarchen des Zionismus sofort auf: die »Staaten, die an ihre Zukunft denken« führen eine »Kolonialpolitik«, ohne sie je aus den Augen zu verlieren. Und in diesen Kontext fügt sich die erstrebte Rückkehr der Juden nach Palästina ein: »Die zionistische Idee, die eine koloniale ist«, könne leichter in jenen Ländern verstanden werden, die sich mit Erfolg für die Eroberung überseeischer Territorien eingesetzt haben. Sich an die Engländer wendend, erklärt Herzl, dass er besonders auf ihre Unterstützung hoffe: »Die grossen Politiker Ihres Landes waren die ersten, welche die Notwendigkeit der kolonialen Ausbreitung erkannten. Darum weht die Fahne Grösser-Britanniens auf allen Meeren« (6).
Auch Herzl will sich auf diesen Weg machen: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen« (7). Das heißt, die jüdische Kolonisation Palästinas werde die Weltherrschaft des Westens verstärken, zumal sie den Weg nach Indien und nach China sicherer werden lasse (8). So wird sie sogar den »kürzesten Weg«, »die Heerstrasse der Culturvölker« nach Asien öffnen (9); in diesem Sinne sei »der Judenstaat ein Weltbedürfnis« (10).
Aus all diesen Gründen, werde diesem Staat eine erstrangige Aufgabe zufallen, zumal er ein Volk aufnimmt, »dessen Geschichte in der heiligen Schrift steht« (11). Auf die »Gesta Dei per Francos« sollen »Gottes Taten durch die Juden« folgen (12). Es handle sich nicht um ein abstrakt theologisches Motiv: »Die Juden werden eine grande nation werden«. Zu denken gibt der französische Ausdruck, der auf das expansionistische postthermidorianische Frankreich verweist: »Wir müssen wegen unseres künftigen Welthandels am Meere liegen und müssen für unsere maschinenmäßige Landwirthschaft im Grossen, weite Flächen zur Verfügung haben« (13). Sicher würden die Juden in Palästina zu Protagonisten »einer großartigen Kolonisation«; sie werden sich am Beispiel der Engländer inspirieren können, den »stärksten und kühnsten Kolonialunternehmern unter den Völkern« (14).
Wir haben es mit einem recht ehrgeizigen expansionistischen Plan zu tun. Es verwundert daher nicht, dass wir, wenn wir Herzls Tagebücher durchblättern, auf das Familienalbum des Kolonialismus und des Imperialismus zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert stoßen. Der Führer der zionistischen Bewegung sucht und vereinbart Kontakte mit Rhodes (dem Vorkämpfer des englischen Imperialismus, den er für etwas in Palästina zu realisierendes »Coloniales« gewinnen will (15); ebenso mit Cromer, der für Arendt die Verkörperung des britischen »imperialistischen Verwaltungsbeamten« ist, der »am Schicksal der eingeborenen Völker (…) desinteressiert« war und »eine neue Regierungsform«, eine »unmenschlichere Regierungsform als despotische Willkür« entwickelte (16); außerdem nimmt Herzl Kontakte mit Kipling auf, ganz zu schweigen von Joseph Chamberlain und Wilhelm II. Letzterer scheint einen unwiderstehlichen Zauber auszuüben: »Er hat wirklich kaiserliche Augen (…) Er lachte u. blitzte mich mit seinen Herrenaugen an«, er ist »ein Kaiser des Friedens« (17).
Ein zweiter wichtiger Aspekt ist bei Herzl zu beachten. Er empfiehlt die Kolonisation Palästinas und den Zionismus auch als Gegenmittel gegen die revolutionäre Bewegung, die in der kapitalistischen Metropole anschwillt: es sei notwendig, »ein schreckliches Proletariat« in ein Territorium umzuleiten, das »nach Menschen schreit, die es bebauen sollen«. Indem sie sich von »einem surplus von Proletariern und Verzweifelten « befreit, könne die kapitalistische Metropole gleichzeitig die Kultur in die koloniale Welt exportieren: Mit dieser Vermehrung von Cultur u. Ordnung aber ginge Hand in Hand die Schwächung der Umsturzparteien. Darauf ist besonders nachdrücklich hinzuweisen, dass wir überall mit den Umstürzlern im Kampfe liegen u. thatsächlich die jungen studierenden Leute sowohl wie die jüdischen Arbeiter vom Socialismus u. Nihilismus abwenden, indem wir vor ihnen ein reineres Volksideal entfalten (18).
In Russland »bekehren sich die Sozialisten und Anarchisten zum Zionismus« und rücken ab von der vorhergehenden revolutionären Militanz (19). Herzl bringt hier ein Motiv ins Spiel, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts recht verbreitet war und seinen klassischen Ausdruck bei Rhodes findet: »Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden« (20). Für beide hier miteinander verglichenen Persönlichkeiten ist die koloniale Expansion das Gegenmittel gegen die sozialistische Subversion, der Angriff auf die Kolonialvölker ist die Kehrseite des Friedens, den man innerhalb der kapitalistischen Metropole zu erreichen hofft.
Dann hat also Arendt Recht, wenn sie 1942 Herzl negativ Lazare, einer anderen bedeutenden Figur der jüdischen Kultur, gegenüberstellt. Im Gegensatz zu Herzl versucht Lazare die Emanzipation der Juden nicht durch ein paar koloniale Zugeständnisse zu fördern, die den damaligen Großmächten abzuringen sind; vielmehr bezieht er den Kampf der Juden und den der anderen unterdrückten Völker, den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den kolonialen Rassismus in ein umfassendes antikolonialistisch und antiimperialistisch ausgerichtetes revolutionäres Vorhaben ein. Von hier aus der Vergleich zwischen den Leiden, die den Juden, und denen, die den Schwarzen in den afrikanischen Kolonien Deutschlands oder anderer Länder, den Arabern bei der kolonialen Expansion Italiens oder den seit Jahrhunderten von England unterdrückten Iren zugefügt worden sind. Von hier aus das Bestreben, die Völker, die aus verschiedenen Gründen und auf unterschiedliche Weise aus dem Westen und aus der herrschenden Macht auf internationaler Ebene ausgeschlossen worden sind, in einem einheitlichen Block zusammenzuschließen.
(1) Israel Zangwill, zit. in Schoeps, 1983, Zionismus, Texte zu seiner Entwicklung 2. überarbeitete Aufl., Fourier Gütersloh, S. 32.
(2) Max Nordau, 1913, Der Zionismus, vom Verfasser vollständig umgearbeitete und bis zur Gegenwart fortgeführte Auflage, hrsg. von der Wiener Zionistischen Vereinigung, Buchdruckerei Helios, Wien, S. 16.
(3) Vgl. Domenico Losurdo, 2010, Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, S. 293-95.
(4) Theodor Herzl, 1984-85, Zionistisches Tagebuch, in Briefe und Tagebücher, hrsg. von A. Bein et alii, Bd. 2, Propyläen, Berlin/Frankfurt; S. 156, 337, 678.
(5) Theodor Herzl, 1984-85, Bd. 2, a. a. O., S. 332, 617, 591.
(6) Theodor Herzl, 1920, Zionistische Schriften, hrsg. von I. Kellner, Jüdischer Verlag, Berlin-Charlottenburg, Bd. 1, S. 156; Bd. 2, S. 101-102.
(7) Theodor Herzl, 1920, a. a. O. Bd. 1, S. 68.
(8) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O. Bd. 2, S. 469-70, 592.
(9) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O. Bd. 2, S. 727, 332-33; vgl. auch Theodor Herzl, 1920, a. a. O. Bd. 2, S. 101.
(10) Theodor Herzl, 1920, a. a. O., Bd. 1, S. 44.
(11) Theodor Herzl, 1920, a. a. O. Bd. 1, S. 140.
(12) Theodor Herzl, 1933, Altneuland, Löwit, Wien, 10. Auflage, S. 117.
(13) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O. Bd. 2, S. 324, 156.
(14) Theodor Herzl, 1933, a. a. O. S. 18, 241-42.
(15) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O. Bd. 3, S. 327.
(16) Hanna Arendt, 1986, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, von der Autorin übersetzter und durchgesehener Text, Piper, München/Zürich, S. 307-308, 341-43.
(17) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O., Bd. 2, S. 664, 678, 676.
(18) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O. Bd. 2, S. 657, 713.
(19) Theodor Herzl, 1984-85, a. a. O., Bd. 2, S. 605.
(20) Zit. in Lenin, 1955, Werke Dietz, Berlin Bd. 22, S. 261.