Das Lebensraumprinzip machte die bloße Revision des 1. Weltkriegs für den Nationalsozialismus absolut unzureichend. „Die Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaßen und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen.“ [95] In den Grenzen von 1914 unterlag das deutsche Volk denselben verhängnisvollen Zwängen wie vorher: durch den Mangel an Raum und daher an Brot hätten die erforderlichen Lebensmittel und Rohstoffe nach wie vor gegen deutsche Industrieprodukte eingetauscht werden müssen. Überindustrialisierung, Rückgang der Bauernschaft und Abhängigkeit vom Weltmarkt hätten sich also fortgesetzt. Darum galt es, mit den bisherigen Traditionen der deutschen Außenpolitik prinzipiell zu brechen und einen Weg einzuschlagen, der dem arischen Volkskörper mit dem erforderlichen Ackerland auf Generationen hinaus die Zukunft sicherte.
Der notwendige Raum war nicht in neuen Kolonien zu suchen, nicht in „Kamerun“ – für Hitler ein Synonym für den Erwerb von Bodenkolonien. „Allerdings, eine solche Bodenpolitik kann nicht etwa in Kamerun ihre Erfüllung finden, sondern heute fast ausschließlich nur mehr in Europa.“ [96] Kolonien waren allenfalls für den Anbau exotischer Früchte von Interesse, außerdem konnte die Forderung nach Rückgabe der deutschen Kolonien als Verhandlungsgegenstand für einen Interessenausgleich mit Großbritannien dienen. Ernsthaft waren sie aber kein Zielpunkt der nationalsozialistischen Außenpolitik.
Kein antiimperialistisches Bündnis mit Russland
Im Prinzip legte der Verzicht auf die Wiederaufnahme deutscher Kolonialpolitik ein Bündnis mit den erwachenden Kolonialvölkern und mit Russland nahe, um Deutschland von den Fesseln des Versailler „Raubfriedens“ – wie Lenin das von Frankreich und Großbritannien auferlegte Friedensdiktat nannte – zu befreien. Zugleich war auf diesem Weg ein partielles Zusammengehen auch mit den USA möglich, da der kapitalistisch entwickeltste Staat unter der Leitlinie der „open door“ eine Politik der Auflösung der Kolonialreiche zugunsten des freien Welthandels betrieb. Von der sowjetischen Politik durch den Vertrag von Rapallo im Ansatz versucht, wäre eine solche antikoloniale und antiimperialistische Ausrichtung die fortschrittlichste Variante der deutschen Außenpolitik gewesen, gleich von welchen gesellschaftlichen Kräften getragen.
Hitler war strikt gegen diese Linie. Er erwähnte, dass die junge NSDAP schon in den Jahren 1920/21 aufgefordert worden war, „zwischen ihr und den Freiheitsbewegungen anderer Länder eine gewisse Verbindung herzustellen. Es lag dies auf der Linie des von vielen propagierten ‚Bundes der unterdrückten Nationen‘.“ Hauptsächlich, so fuhr er fort, kamen die Aufforderungen von Vertretern einzelner Balkanstaaten sowie Ägyptens und Indiens, die er als „schwatzhafte Wichtigtuer“ ohne machtpolitischen Rückhalt abtat. „Es gab aber nicht wenig Deutsche, besonders im nationalen Lager, die sich von solchen aufgeblasenen Orientalen blenden ließen“. [97]
Schon aus rassischen Erwägungen war er gegen derartige Überlegungen, denn als „völkischer Mann, der den Wert des Menschentums nach rassischen Grundlagen abschätzt, darf ich schon aus der Erkenntnis der rassischen Minderwertigkeit dieser sogenannten ‚unterdrückten Nationen‘ nicht das Schicksal des eigenen Volkes mit dem ihren verketten.“ Machtpolitisch würde das bedeuten, die eigene Stärke an die Schwäche untauglicher Bundesgenossen zu binden und sich somit selber zu schwächen. Am Beispiel Indiens verdeutlichte er seine Ablehnung. England würde Indien nur verlieren, wenn sich entweder seine Kolonialverwaltung rassisch zersetzen oder ein Aufstand der Inder erfolgreich sein würde. Beides wäre aber gleichermaßen undenkbar; die minderwertigen Inder seien völlig außerstande, die britische Herrschaft zu stürzen. Die Anhänger einer solchen Bündnispolitik würden also einem Phantom hinterherlaufen – „ganz abgesehen davon, dass ich als Germane Indien trotz allem immer noch lieber unter englischer Herrschaft sehe als unter einer anderen.“ [98]
Vor allem hätte eine antiimperialistische Politik des „Bundes der unterdrückten Nationen“ aus nationalsozialistischer Sicht eine vollständige Verkehrung der Fronten bewirkt. Sie lief nicht nur auf das Bündnis mit Russland, sondern auch auf die Gegnerschaft der weltbeherrschenden See- und Kolonialmacht Großbritannien hinaus. Großbritannien aber galt nach den Erfahrungen des ersten Weltkriegs als kaum besiegbar und war außenpolitisch der „germanische“ Wunschpartner des Nationalsozialismus. Umgekehrt schätzte Hitler die Sowjetunion nicht nur als Bündnispartner für ähnlich untauglich ein wie eine indische Freiheitsbewegung, sondern war Russland vor allem das Objekt der geforderten Bodenpolitik. Denn für den Nationalsozialismus stand unumstößlich fest, dass das „Volk ohne Raum“ sein territoriales Lebensrecht im Osten durchsetzen musste. „Das Recht auf Grund und Boden kann zur Pflicht werden, wenn ohne Bodenerweiterung ein großes Volk dem Untergang geweiht erscheint. Noch ganz besonders dann, wenn es sich dabei nicht um ein x-beliebiges Negervölkchen handelt, sondern um die germanische Mutter all des Lebens, das der heutigen Welt ihr kulturelles Bild gegeben hat. Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein. (…) Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“ [99]
Die Schlüsselrolle Großbritanniens
Von diesem Standpunkt aus analysierte Hitler den vorangegangen Weltkrieg und zog Schlußfolgerungen für das kommende Kriegsgeschehen. Zugunsten der Territorialpolitik gegen Russland hätte der Friede mit Großbritannien um jeden Preis gewahrt werden müssen. „Wenn europäische Bodenpolitik nur zu treiben war gegen Russland mit England im Bunde, dann war aber umgekehrt Kolonial- und Welthandelspolitik nur denkbar gegen England mit Russland.“ Bei dieser Alternative war ihm, so die Aussage von Mein Kampf, schon vor dem Weltkrieg klar gewesen: „Englands Geneigtheit zu gewinnen, durfte dann aber kein Opfer zu groß sein. Es war auf Kolonien und Seegeltung zu verzichten, der britischen Industrie aber die Konkurrenz zu ersparen.“ [100]
Diese einzig richtige Alternative eines Bündnisses oder wenigstens Stillhalteabkommens mit Großbritannien war nicht zustandegekommen, weil die deutsche Hinwendung zum Weltmarkt die Konkurrenz mit den Engländern geschürt hatte. Anstatt aber dann nicht nur eine halbe Schlachtschiffflotte zu bauen, sondern sich ganz auf diesen Kampf zu konzentrieren und Russland ruhigzuhalten, hatte die alte Reichsführung sich durch ihre Taktiererei Alle zu Feinden gemacht. Der einzige Bündnispartner bis zuletzt, der österreichische Vielvölkerstaat, war eine „staatliche Mumie“ gewesen, dessen einziger Wert im deutschen Bevölkerungsteil bestanden hatte. Die verluderte Habsburgermonarchie aber hatte sich vor allem damit beschäftigt, die fremden Völkerschaften zu hofieren, und dadurch das Deutsche Reich wie ein Mühlstein ins Verderben gezogen.
Das Verhältnis zu Großbritannien musste bei dieser Analyse zum Dreh- und Angelpunkt der künftigen Außenpolitik werden. Von den artverwandten Germanenstämmen der Angeln und Sachsen bewohnt, stand England Deutschland in Europa rassisch am nächsten, musste sich allerdings noch von jüdischem Einfluss befreien, denn das „Finanzjudentum wünscht, entgegen den Interessen des britischen Staatswohls, nicht nur die restlose wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands, sondern auch die vollkommene politische Versklavung.“ [101]
Großbritannien war aus dem Weltkrieg, obzwar Siegermacht, geschwächt hervorgegangen, während die Gegner das britischen Empire stärker geworden waren. Die britischen Positionen in Asien wurden von den USA und Japan gleichermaßen bedroht. Im Washingtoner Flottenabkommen von 1922 hatte England auf den Grundsatz des „Zwei-Mächte-Standards“ in der Seerüstung (die britische Flotte sollte mindestens so stark sein wie die der beiden nächsten Mächte zusammengenommen) verzichten müssen. Die Flottenstärke zwischen Großbritannien, den USA, Japan, Frankreich und Italien wurde auf das Verhältnis 5 : 5 : 3 : 1,75 : 1,75 festgelegt. Gleichzeitig nahm die Antikolonialbewegung einen großen Aufschwung, nicht zuletzt dank der Unterstützung der Sowjetunion, die eine Politik des Bündnisses der Arbeiterklasse mit den unterdrückten Völkern praktizierte. Würde auch Deutschland in offene Gegnerschaft zu England treten, würde dies nach Hitlers Analyse den Zusammenbruch des britischen Weltreichs bedeuten.
Aber es gab keine prinzipiellen Interessengegensätze. Deutschland konnte sich auf den Kontinent beschränken, auf Handels- und Flottenkonkurrenz ebenso wie auf neue Kolonien verzichten, ja den Engländern sogar Hilfe bei der Verteidigung des Empire anbieten und damit die Positionen der weißen Rasse in der Welt stärken. Umgekehrt müßte Großbritannien auf seine bisherige „balance of power“-Politik auf dem europäischen Kontinent verzichten, sprich Deutschland freie Hand auf dem Kontinent geben. Beide Mächte würden in ihren angestammten Sphären bleiben: England als Seemacht und Deutschland als Kontinentalmacht; Deutschland würde keine Weltpolitik und Großbritannien keine Kontinentalpolitik betreiben. Das schloß nicht aus, eine eigene Flotte aufzubauen und Kolonialambitionen anzumelden, aber im wesentlichen als Mittel zum Zweck, um die Engländer unter Druck zu setzen, und nicht als eigentliches Ziel.
Indem die Außenpolitik unter völkischen Gesichtspunkten durchdacht und völlig neu ausgerichtet wurde, löste sich also das alte machtpolitische Dilemma des Reiches (Mittellage auf dem Kontinent mit England als außerkontinentalem Gegner) in Nichts auf. Denn wie der Weltkrieg wenige Jahre zuvor gezeigt hatte, war Deutschland in der Lage, es mit Frankreich und Russland gleichzeitig aufzunehmen und hatte nur das britische Engagement der gegnerischen Koalition das Übergewicht verschafft. Als eine Konsequenz daraus bestimmte nicht länger das „perfide Albion“ aus dem vorangegangen Krieg das NS-Schrifttum.
Der nächste Gegner auf dem Kontinent war Frankreich, aber nur deswegen, weil dieses „immer mehr der Vernegerung anheimfallende Volk“ [102] sich jedem Ausbau der deutschen Stellung widersetzen würde: „So sehr wir heute auch alle die Notwendigkeiten einer Auseinandersetzung mit Frankreich erkennen, so wirkungslos bliebe sie in der großen Linie, wenn sich in ihr unser außenpolitisches Ziel erschöpfen würde. Sie kann und wird nur Sinn erhalten, wenn sie die Rückendeckung bietet für eine Vergrößerung des Lebensraumes unseres Volkes in Europa.“ [103] Im Gegensatz zur Schwerindustrie, die vor allem den Gewinn der lothringischen Eisenerze anstrebte, war Elsaß-Lothringen, d. h. ein „Germanenzug nach Westen“, kein entscheidendes Kriegsziel der Nazis.
Ebensowenig war ein erneuter Germanenzug nach Süden das Ziel. Deutschland hatte in Europa nur zwei mögliche Verbündete: England und Italien. [104] Italien war als Gegner Frankreichs der nächste Partner für die Auseinandersetzung mit dem Feind im Westen. Um es für ein Zusammengehen zu gewinnen, war allerdings auf die Rückgewinnung des von Deutschen bewohnten Südtirols zu verzichten, [105] das nach dem Weltkrieg entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen von Italien einverleibt worden war. Auf Basis seiner germanisch-ostwärtigen Orientierung konnte der Nationalsozialismus diesen Verzicht begründen, war allerdings vehementer Kritik von deutsch-nationaler Seite ausgesetzt. Aus diesem Grund sah sich Hitler zeitweise veranlasst, ein eigenes Buch zur Außenpolitik zu schreiben, das „Zweite Buch“ von 1928, das dann jedoch nicht veröffentlicht wurde.
Zwei Stufen zur Weltherrschaft
Die Vereinigten Staaten von Amerika waren in verschiedener Hinsicht Hitlers Vorbild. Ihre kapitalistische Produktionsweise und demokratische Regierungsform lehnte er ab, bewunderte sie jedoch wegen des gewaltigen Lebensraums und ihres technischen Fortschritts. Das Territorium hatten die amerikanischen Farmer sich durch die Ausrottung der indianischen Urbevölkerung angeeignet, so wie der germanische Lebensraum im Osten durch die Vernichtung der Slawen erobert werden musste. Den amerikanischen Aufstieg führte Hitler auf rassische Ursachen zurück. Die Einwanderung von Engländern, Deutschen und Skandinaviern hatte eine Auslese der Tüchtigsten ins Land gebracht. Die amerikanischen Einwanderungsgesetze reservierten den nordischen Völkern weiterhin die größten Kontingente, Romanen und Slawen sehr geringe und Japanern und Chinesen fast gar keine. Dadurch gelangten nach wie vor nur die rassisch wertvollsten Menschen in die USA. Außerdem gab es keine Standesschranken wie in Europa, so dass die Besten ungehindert aufsteigen konnten. Eine Folge waren die gewaltigen technischen Leistungen. Wenn Europa nicht bald aufwachte und seinerseits zu einer gezielten Rassenpolitik überging, würde es hoffnungslos zurückfallen. [106]
Aber auch die neue Welt war umgarnt vom Weltjudentum. „Juden sind die Regenten der Börsenkräfte der amerikanischen Union. Jedes Jahr läßt sie mehr zum Kontrollherrn der Arbeitskraft eines Einhundertzwanzig-Millionen-Volkes aufsteigen; nur ganz wenige stehen auch heute noch, zu ihrem Zorne, ganz unabhängig da.“ [107]
Obwohl die Vereinigten Staaten noch wenige Jahre zuvor dem Weltkrieg gegen Deutschland die letzte Wende gegeben hatten, schwieg sich Mein Kampf zur außenpolitischen Stellung der USA vollständig aus. Dasselbe geschah mit Japan, das Hitler als Beispiel für eine passiv „kulturtragende“ (also nicht kulturschöpferische) Nation anführte. Dieses Schweigen über zwei weltpolitisch entscheidende Mächte liegt in der auf Europa beschränkten Sichtweise von Mein Kampf begründet. Der Aufstieg des Reichs sollte sich nach der Vorstellung Hitlers in zwei Stufen vollziehen. In der ersten Stufe sollte Deutschland aus seiner jetzigen niedergedrückten Stellung zur führenden Macht auf dem europäischen Festland werden. Der dazu in Mein Kampf entwickelte Plan trug rein kontinentalen Charakter. Mithilfe Italiens sollte Frankreich in Schach gehalten werden, das Bündnis mit England den Territorialgewinn im Osten sicherstellen. Die weltpolitische Zurückhaltung in der ersten Stufe war geradezu die Bedingung für den Wiederaufstieg.
Erst wenn die erste Stufe erreicht war, kam die Stunde der Weltpolitik. Durch seine kontinentaleuropäische Stellung würde das neue Reich automatisch in den Kreis der Weltmächte treten, neben ihm Großbritannien und die USA sowie darüber hinaus Japan, Italien und gegebenenfalls Frankreich. Dann stand die zweite Stufe auf der Tagesordnung. Deren Inhalt war der Kampf um die Weltherrschaft, wobei aus dem künftigen Ringen der Giganten die rassisch wertvollste Macht als Sieger hervorgehen würde. Zuerst die Herrschaft in Europa, dann die Herrschaft in der Welt – so läßt sich dieser „Stufenplan“ umreißen. Als seine eigene Aufgabe betrachtete der Hitler von Mein Kampf das Erreichen der ersten Stufe, d. h. die Schaffung eines germanischen Großreiches durch die rassische Umformung und kontinentaleuropäische Ausdehnung Deutschlands. Die zweite Stufe lag in weiter Ferne und stellte sich wahrscheinlich erst seinen Nachfolgern. Daraus erklärt sich die weltpolitische Zurückhaltung von Mein Kampf.
Das unabänderliche Ziel der ersten Stufe war die Eroberung von Lebensraum im Osten. „Wollte man in Europa Grund und Boden, so konnte dies im großen und ganzen nur auf Kosten Russlands geschehen. Dann musste sich das neue Reich wieder auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben.“ [108] In einer Grundsatzrede vor den Spitzen der Reichswehr im November 1937 gab Hitler die damit identischen Kriegsziele des Dritten Reichs bekannt: „Wenn die Sicherheit unserer Ernährungslage im Vordergrund stände, so könne der hierfür notwendige Raum nur in Europa gesucht werden, nicht aber ausgehend von liberalistisch-kapitalistischen Auffassungen in der Ausbeutung von Kolonien. Es handele sich nicht um die Gewinnung von Menschen, sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum. Auch die Rohstoffgebiete seien zweckmäßigerweise in unmittelbarem Anschluß an das Reich in Europa und nicht in Übersee zu suchen. [109]
Russland als unverrückbares Siedlungsziel
Das vorgesehene Hauptkriegsobjekt wurde von Hitler als schwach eingeschätzt, weil Russland als ursprünglich germanische Staatsgründung durch die Oktoberrevolution von jüdisch-bolschewistischen Kräften übernommen worden war. „Seit Jahrhunderten zehrte Russland von diesem germanischen Kern seiner oberen leitenden Schichten. Er kann heute als fast restlos ausgerottet und ausgelöscht gelten. So unmöglich es dem Russen an sich ist, aus eigener Kraft das Joch des Juden abzuschütteln, so unmöglich ist es dem Juden, das mächtige Reich auf die Dauer zu erhalten. Er selbst ist kein Element der Organisation, sondern ein Ferment der Dekomposition. Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“ [110]
Seit diesen 1924 niedergeschriebenen Sätzen hatte sich an der getroffenen Einschätzung nichts Entscheidendes geändert. Im Gegenteil hatte der im finnischen Winterkrieg 1939/40 nur mühsam gegen einen winzigen Gegner errungene Sieg anscheinend demonstriert, dass die Rote Armee nach den Säuberungen im Offizierkorps kein ernstzunehmender Gegner war. Ihre Kampfkraft wurde äußerst gering bewertet. Als die Wehrmacht am 20. Juni 1941 nach Russland einbrach, erwarteten nicht nur Hitler und der deutsche Generalstab einen Sieg noch im selben Jahr; auch die führenden britischen und amerikanischen Militärs gingen vom baldigen Zusammenbruch des sowjetischen Widerstands aus.
Der Lebensraum im Osten erfüllte alle Erfordernisse einer völkischen Politik. Neben deutschen Bauernsöhnen sollten auch die bisher nach Amerika auswandernden Norweger, Schweden, Dänen und Niederländer hier einen Bauernhof erhalten. Hitler erwartete einen „Strom von Menschen“, weil der Bauer dort seine Heimat finden würde, wo er fruchtbaren Boden bekäme. [111] Mit der millionenfachen Vergrößerung der Bauernschaft in dem neuen germanischen Reich war der Ausgleich gegenüber dem industrialisierten deutschen „Altreich“ und der auch zahlenmäßige Vorrang des Landes gegenüber der Stadt sichergestellt. Die auf Generationen gesicherten Lebensmittel und Rohstoffe ließen den neuen Staat unabhängig vom Weltmarkt werden und damit konnte die „Bedarfs- und Ausgleichswirtschaft“ rundum Realität werden. Die slawische Restbevölkerung schließlich stand als Arbeitskräftereservoir für das „Herrenvolk“ zur Verfügung.
Seit sich im Winter 1942/43 die endgültige Kriegswende abzeichnete, bemühte sich Stalin um einen Separatfrieden mit Deutschland, weil er den Westmächten mißtraute. Der zögerliche Aufbau einer „zweiten Front“ im Westen (erst im Juni 1944 fand die alliierte Landung in der Normandie statt) ließ die sowjetische Führung befürchten, dass die Westmächte Russland und Deutschland sich zerfleischen lassen würden, um selber als lachende Dritte aus dem Völkergemetzel hervorzugehen. „Wenn Briten und Amerikaner wie bisher auf einen vollen Einsatz ihrer Kräfte im Westen des Kontinents, mit welchen Begründungen auch immer, verzichteten, dann musste der Vormarsch der Roten Armee von Stalingrad bis Berlin mit hohen Opfern erkauft werden und die Sowjetunion wäre bei Kriegsende so erschöpft, dass die nun erst ihr volles Potential in die Waagschale werfenden USA als stärkste ‚imperialistische‘ Macht den Frieden diktieren könnten. So lag es für Stalin nahe, auf dem Höhepunkt des Krieges den Versuch zu unternehmen, die Situation von 1939/41 wiederherzustellen. Dies war die ‚Ratio‘ der viel erörterten Friedensfühler, die Stalin von Ende 1942 bis zum Sommer 1944 mit abnehmenden Erfolgserwartungen nach Berlin hinüber ausstreckte.“ [112]
Alle Friedensbemühungen scheiterten an dem bedingungslosen Willen der Nationalsozialisten, den Lebensraumkampf bis zu Ende zu führen. „Es war Hitler, der jede Diskussion darüber ausschloß, weil für ihn der Ostkrieg sein eigentliches großes Ziel (…) war, in dem es, wie er immer wieder betonte, nur einen ‚klaren Sieg‘ oder ‚eine restlose Vernichtung‘ geben könne.“ [113] Noch am 3. August 1944, neun Monate vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, sagte der Reichsführer SS Himmler in einer Rede vor den Reichs- und Gauleitern der NSDAP aus Anlass des Aufstandsversuchs vom 20. Juli: „Das ist unverrückbar, dass wir die Volkstumsgrenze um 500 km herausschieben, dass wir hier siedeln. Es ist unverrückbar, dass wir ein germanisches Reich gründen werden. Es ist unverrückbar, dass zu den 90 Millionen die 30 Millionen übrigen Germanen dazukommen werden, so dass wir unsere Blutsbasis auf 120 Millionen Germanen vermehren. (…) Es ist unverrückbar, dass wir diesen Siedlungsraum erfüllen, dass wir hier den Pflanzgarten germanischen Bluts im Osten errichten“. [114] Und Hitler selber notierte im Postskriptum zu seinem „politischen Testament“ vom 29. April 1945: „Es muss weiterhin das Ziel sein, dem deutschen Volke Lebensraum im Osten zu gewinnen.“
Unter diesem Lebengesetz hatte der Kampf im Osten von Beginn an prinzipiell anderen Charakter als im Westen. Der Unterschied lag nicht darin – wie Kommunisten bis heute meinen -, dass im Westen eine bloß machtpolitische Auseinandersetzung zwischen imperialistischen Mächten stattfand, während im Osten der „Systemgegensatz“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus ausgetragen wurde. Der entscheidende Unterschied war, dass der Krieg im Osten als völkischer Vernichtungskrieg mit dem Ziel geführt wurde (in das jetzt auch das eroberte Polen einbezogen wurde), Platz für germanische Siedlerbauern zu schaffen. Die Landnahme setzte die Enthauptung der Ostvölker durch physische Liquidierung ihrer führenden Schichten, der Intelligenz und – im Falle der Sowjetunion – der kommunistischen Funktionäre voraus, um die restliche Bevölkerung teils zu vertreiben, teils zu versklaven und das Land von germanischen Wehrbauern besiedeln zu lassen (Generalplan Ost). „Im Osten ist Härte mild für die Zukunft“ war der Leitsatz, nach dem SS und Wehrmacht handelten, um die geplante „Volkskatastrophe“ (Hitler) der Slawen herbeizuführen.
Die Vernichtung des europäischen Judentums
Bis dahin hatten die Nationalsozialisten die Nürnberger Rassengesetze erlassen und eine rigorose Vertreibungspolitik gegen die Juden betrieben; erörtert worden war auch, sie konzentriert in Madagaskar anzusiedeln. Jetzt gingen Spezialeinheiten der SS im Schutze der weiträumig vorrückenden Wehrmacht daran, die jüdische Ostbevölkerung systematisch zu ermorden, und wurden die ersten Vernichtungslager eingerichtet. In diesem Zusammenhang wird regelmäßig die Reichstagsrede Hitlers vom 30. Januar 1939 zitiert. Darin führte er aus: „In der Zeit meines Kampfes um die Macht war es in erster Linie das jüdische Volk, das nur mit Gelächter meine Prophezeiungen hinnahm, ich würde einmal in Deutschland die Führung des Staates und damit auch des ganzen Volkes übernehmen und dann unter vielen anderen auch das jüdische Problem zur Lösung bringen. Ich glaube, dass dieses damalige schallende Gelächter dem Judentum in Deutschland unterdes wohl schon in der Kehle erstickt ist. Ich will heute wieder ein Prophet sein. Wenn es dem internationalen Finanzjudentum innerhalb und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!“ [115]
Auf diese Prophezeiung kam er im Laufe des Weltkriegs bei den verschiedensten Gelegenheiten, sowohl in öffentlichen Reden als auch in internen Äußerungen, immer wieder zu sprechen. Er habe die Juden ausdrücklich gewarnt; niemand könne ihm jetzt einen Vorwurf wegen der Umsetzung dieser Warnung machen. Darum wird in der Rede die verschlüsselte Ankündigung der kommenden Massenmorde gesehen, sobald der Krieg Gelegenheit dazu geben würde.
Bei genauerer Analyse des Wortlauts hat die Redepassage jedoch einen etwas konkreteren Inhalt, insofern die Vernichtung des europäischen Judentums nur unter einer Bedingung angedroht wird: nämlich wenn es zu einem erneuten Weltkrieg kommt. Das war aber zum Zeitpunkt der Rede noch offen. Würde es gelingen, den Stoß gegen die Sowjetunion zu führen, ohne dass Frankreich und die angelsächsischen Seemächte eingriffen, blieb der Krieg ein reiner Kontinentalkrieg, wie in Mein Kampf entwickelt. Ausschlaggebend dafür war das am Ende des ersten Weltkriegs von Frankreich und Großbritannien mit amerikanischer Unterstützung aus der Taufe gehobene Polen, von dem in Mein Kampf keine Rede war. [116]
Da Deutschland keine gemeinsame Grenze mit Russland hatte, musste zuerst der Nachbar im Osten gewonnen werden, sei es als besiegtes Land, sei es als Verbündeter, um gegen Russland vorzugehen. An der Polenfrage entschied sich zugleich die Haltung der Westmächte. Zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit (und zum Missfallen der junkerlichen „Konservativen“ in Diplomatie und Reichswehr) hatte Hitler im Januar 1934 eine gegenseitige Nichtangriffserklärung mit Polen vereinbart und weiterhin versucht, engere Beziehungen herzustellen. Bei der Verwirklichung des Münchener Abkommens vom Sommer 1938, das die sudetendeutschen Gebiete dem Reich und die Resttschechoslowakei seiner Gnade übergab, sicherte sich Polen das „Teschener Gebiet“, indem es – vermutlich in Absprache mit Deutschland – seine Truppen dort einmarschieren ließ.
Anschließend unternahm die Reichsführung den für den Charakter des künftigen Kriegs entscheidenden Schritt. Im Oktober 1938 unterbreitete sie der polnischen Regierung das Angebot einer „Globallösung“ aller offenen deutsch-polnischen Fragen. Darin wurde zum einen die Forderung nach Anschluss Danzigs ans Reich sowie einer exterritorialen Autobahn- und Eisenbahnverbindung nach Ostpreußen erhoben. Viel wichtiger (und weitaus weniger bekannt) war jedoch die Tatsache, dass diese Forderungen eingebettet waren in die Aufforderung zum gemeinsamen Vorgehen gegen Russland. Für diesen Fall wurde eine Ausdehnung Polens in die sowjetische Ukraine hinein in Aussicht gestellt.
Das Angebot lief im Kern darauf hinaus, Polen aus einem britisch-französisch-amerikanischen Schützling zu einem Vasallenstaat Deutschlands zu machen. Der polnische Staat blieb formal unabhängig und würde sich als Belohnung für den Frontenwechsel und die Kriegsteilnahme territorial vergrößern, wurde aber vollständig von Deutschland abhängig. Ein solches Herantreten an die polnische Frage war mit der nationalsozialistischen Ostorientierung vereinbar, weil für die vorgesehene Lebensraumerweiterung Polen selber zu klein war und nur Russland in Betracht kam. Stimmte Polen zu, musste Deutschland keinen Vorkrieg mit Frankreich führen und hatten die angelsächsischen Mächte keinen Anlass zum Eingreifen. Anders ausgedrückt: ein polnisches Ja zu dem deutschen Angebot machte eine europäische Begrenzung des Territorialkriegs gegen Russland möglich, ein polnisches Nein ließ einen erneuten Weltkrieg näher rücken.
Polen stimmte dem Angebot nicht sofort zu, wie Hitler offenbar erwartet hatte, sondern äußerte sich zurückhaltend. Seine endgültige Entscheidung hing vom Verhalten der Siegermächte des ersten Weltkriegs ab, darunter den USA. Die isolationistische Mehrheit in der us-amerikanischen Bevölkerung und im Kongress wollte auf keinen Fall wieder eine Verwicklung in europäische Angelegenheiten wie im Weltkrieg zuvor, sondern sah die vitalen Interessen der USA beschränkt auf den amerikanischen Doppelkontinent. Eine Minderheit von „Internationalisten“ mit Präsident Roosevelt an der Spitze bemühte sich dagegen mit aller Kraft, die Vereinigen Staaten in den künftigen europäischen Krieg hineinzuführen, um die Festsetzung in Europa zu erreichen, die im vorangegangenen Weltkrieg nicht geglückt war. Zu diesem Zweck stärkte Roosevelt nicht nur Frankreich und England den Rücken, sondern ließ auch Polen versichern, dass die USA in einem europäischen Krieg zwar nicht sogleich eingreifen könnten, diesen aber schließlich entscheiden würden. [117]
Die Nationalsozialisten konnten das seit Jahren zögerliche Verhalten des artverwandten Großbritanniens, mit Deutschland zusammenzugehen, nur mit dem Einfluss des Finanzjudentums erklären – warum sonst sollten die Engländer in einem erneuten Krieg mit Deutschland das Empire riskieren? Dasselbe betraf die Politik Roosevelts, der sich ungeachtet der Bevölkerungsstimmung in Europa engagierte. Damit geriet Hitlers strategische Grundannahme einer kontinentalen Beschränkung der „ersten Stufe“ in Gefahr. In dieser Situation richtete er darum seine Warnung an das „internationale Finanzjudentum innerhalb und außerhalb Europas“, sprich in Frankreich, Großbritannien und den USA, dass das europäische Judentum vernichtet würde, wenn der kommende Krieg als Weltkrieg geführt werden müsste.
Weltkrieg statt Kontinentalkrieg
Die polnische Regierung ließ sich auf das deutsche Angebot nicht ein, weil Polen sich selber als dritte Macht zwischen Deutschland und Russland sah. Darüber hinaus gab es im großpolnischen Nationalismus Strömungen, die auf eine Ausdehnung Polens nach Westen mindestens bis zur Oder und Neiße hinarbeiteten. In hoffnungsloser Überschätzung der eigenen militärischen Stärke und der Kriegsbereitschaft der Verbündeten ging man davon aus, dass ein Krieg gegen Deutschland mit einem baldigen gemeinsamen Sieg Polens und der Westmächte enden würde und Polen dann die deutsche Grenze im Osten diktieren könne.
Als die polnische Weigerung sich definitiv abzeichnete – offiziell wurde die Ablehnung am 26. März 1939 bekannt gegeben -, besetzten deutsche Truppen am 15. März die Resttschechoslowakei und nahmen durch das Vorschieben der südlichen Flanke die militärische Ausgangsposition für einen Umfassungsangriff auf Polen ein. Als Antwort darauf gab Großbritannien am 31. März eine förmliche Garantieerklärung für Polen ab. Dadurch verschloss sich der „Königsweg“ für die Raumerweiterung im Osten. Im August d. J. vereinbarten die UdSSR und Deutschland den Moskauer Vertrag, der Hitler die Möglichkeit gab, zuerst Polen und sodann Frankreich zu schlagen, um nach diesem Umweg im Juni 1941 die Sowjetunion anzugreifen, sein eigentliches Ziel.
An der Jahreswende 1944/45 schlug mit der gegen die amerikanischen Invasionstruppen gerichteten Ardennenoffensive der Versuch fehl, die USA zum Ausscheiden aus dem Krieg zu bewegen (die Offensive spekulierte auf die nach wie vor nicht kriegsgeneigte öffentliche Meinung in den USA, die bei hohen amerikanischen Verlusten Roosevelt zum Rückzug zwingen würde) und so das Kriegsglück doch noch zu wenden. Anschließend diktierte Hitler in den ersten Monaten des Jahres 1945 dem Sekretär der Reichskanzlei Martin Bormann in unregelmäßigen Abständen Reflexionen über seine eigene Politik und die Vergangenheit und Zukunft Europas, die insgesamt als sein „Politisches Testament“ bezeichnet werden. Als entscheidenden Fehler seinerseits benannte er dabei, das Ausmaß des jüdischen Einflusses in England, speziell auf den „Whiskysäufer“ Churchill, unterschätzt zu haben. Den Krieg mit Amerika bezeichnete er als „tragische Verstrickung. Ebenso vernunftwidrig wie unsinnig“. Die Ursache für diese Verstrickung sah er darin, dass Roosevelt als der „Auserwählte des Weltjudentums“ ausgerechnet zum selben Zeitpunkt wie er selber an der Macht war. Das bestätigt im Nachhinein, dass aus nationalsozialistischer Sicht das internationale Judentum für den Weltkrieg verantwortlich war. Dafür musste es, wie angekündigt, zur Rechenschaft gezogen werden.
Es war also nicht der Antisemitismus im allgemeinen, der die Nazis zum Rassenmord schreiten ließ. Das Wesen des Nationalsozialismus war die Siedlungspolitik. Dagegen war der Antisemitismus als solcher zwar ein untrennbarer Bestandteil der NS-Ideologie, musste aber nicht zwingend in Form des Völkermords umgesetzt werden, sondern konnte auch weiterhin als Vertreibungspolitik praktiziert werden. Darum spricht vieles dafür, dass es tatsächlich das Zustandekommen der „internationalen“ Kriegskonstellation war, das die Naziführung dazu brachte, das „internationalistische Verschwörervolk“ dafür büßen zu lassen. Darum wurden die europäischen Juden jetzt in den Vernichtungsprozess einbezogen, der die Volkskatastrophe der slawischen Völker herbeiführen sollte. Nach dem Anfang in Russland wurde auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 die Ausrottung der Juden auch im mittleren und westlichen Teil des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs in Gang gesetzt. Und da sie rein zahlenmäßig in dem Geschehen dominierten, wurde es umso schwerer, hinter den Ziffern der gemeinsam ermordeten Juden und Slawen die agrarisch-bäuerliche Triebkraft der Vernichtungspolitik zu entdecken.
Durch den Kriegsverlauf (Niederwerfung Polens und Frankreichs) befand sich der Nationalsozialismus 1941 nicht nur in der Ausgangslage, um seinen eigentlichen Krieg gegen Russland zu führen; dieser Krieg musste jetzt auch gewonnen werden, um den Weltkrieg zu bestehen, der sich entgegen Hitlers Plänen entwickelt hatte. Die Blitzkriegsführung der Wehrmacht war nicht zuletzt ökonomisch bedingt, weil Deutschland keinen länger währenden Abnutzungskrieg durchstehen konnte. Daran änderte sich trotz der Herrschaft über Mitteleuropa von Frankreich bis Polen nichts Prinzipielles. Diese Stellung war nicht blockadefest. Das Verbleiben der Engländer im Krieg und das zunehmende Engagement der Amerikaner machte das Reich, je länger der Krieg dauern würde, umso abhängiger von russischen Lebensmittel- und Rohstofflieferungen. In einer ungeahnten Verkürzung der Zeitspannen, in gewissem Sinn sogar einer Umkehr der Stufenplanung, führte das Reich bereits einen Weltkrieg, ohne zuvor das angestrebte Kontinentalimperium erobert und gesichert zu haben. Darum war der Barbarossa-Feldzug des Jahres 1941 zugleich eine Flucht nach vorn. Russland musste jetzt nicht mehr nur als Siedlungsobjekt unterworfen werden, sondern auch, um den Ermattungskrieg gegen die angelsächsischen Seemächte zu bestehen.
In der festen Annahme, dass der Russlandkrieg in längstens vier Monaten siegreich beendet sei, gab die Reichsführung den sog. „Z-Plan“ in Auftrag, der den Bau einer riesigen Überwasserflotte vorsah, und ließ Pläne für einen „Weltblitzkrieg“ ausarbeiten. Sie sahen die Eroberung der britischen Nahoststellung, die Festsetzung in Afghanistan mit Zielrichtung Indien, um „Druck auf Großbritannien auszuüben und es gleichsam in letzter Minute zum ‚Ausgleich‘ mit Hitler zu veranlassen“, [118] sowie den Aufbau einer strategischen Operationsbasis gegen die USA in Nordwestafrika und auf den vorgelagerten atlantischen Inselgruppen vor. Daraus resultiert einmal mehr die Schwierigkeit, den roten Faden in der Entwicklung des Kriegstheaters zu erkennen. Ohne Begriff von den Triebkräften des Nationalsozialismus musste es scheinen, als ob Hitler völlig prinzipienlos teils jede sich bietende Gelegenheit zur Machterweiterung wahrnahm, teils zur Flucht nach vorn gezwungen wurde und auf diesem Weg auch den Griff nach der Weltherrschaft unternahm. Getrieben von reiner Machtgier (die Marxisten fügten hinzu: im Interesse des Kapitals) schreckte er auch vor verbrecherischen Formen der Kriegführung wie in Russland und vor der irrationalen Judenvernichtung nicht zurück. Erklären konnte man damit letzten Endes nichts.
Das Scheitern des Siedlungskriegs
In der ganzen Zeit machte sich die ungeliebte Notwendigkeit, gegen die Engländer Krieg zu führen, anstatt gemeinsam mit ihnen den arischen Lebenskampf zu bestehen, immer wieder bemerkbar. Zunächst hoffte Hitler nach den Siegen über Polen und Frankreich, Großbritannien zu einer anderen Politik zu bewegen. Aber selbst die großzügige Geste am Ende des deutsch-französischen Kriegs, die deutschen Panzerspitzen vor Dünkirchen anzuhalten, um dem britischen Expeditionskorps die Gelegenheit zur Rückkehr nach England zu geben, wurde nicht honoriert. Dennoch ging er weiterhin von einem kurzen Schlagabtausch zwischen „Gentlemen“ aus, in der Erwartung, die beiden Gegner würden sich bei ihrem Duell so schätzen lernen, dass die Engländer nach einem Ko-Schlag an die Seite Deutschlands gegen die USA treten würden, um dort den Einfluss des Judentums zu brechen. Die zum Aufstand gegen ihre Kolonialherren bereiten Araber und Inder wurden hingehalten, weil Hitler nach wie vor gegen die Zerschlagung des Empire war. Alles, was die Arier jetzt verloren, müssten sie später wieder erobern. Nachdem das Zusammengehen mit Japan aus einem Mittel, um Großbritannien und die USA unter Druck zu setzen, zu einem realen Kriegsbündnis geworden war, sinnierte Hitler darüber, dass mit seiner Hilfe wichtige Positionen der Arier in Ostasien verloren gingen und dass unweigerlich der Zeitpunkt des Kampfes gegen die gelbe Rasse herannahen würde. Von den Juden befreit, die ihre „Wirtsvölker“ gegeneinander hetzten, würde es am Ende des großen Kriegs eine gemeinsame Weltherrschaft der arischen Kernvölker in Europa und den USA unter germanischer Führung geben. [119]
Zwei grundlegende Fehleinschätzungen brachten die nationalsozialistische Strategie zu Fall. Grundsätzlich hatte Hitler mit seiner Annahme völlig recht, dass eine erneute britisch-deutsche Auseinandersetzung das Ende der britischen Weltmachtstellung bedeuten würde. In der Tat sank Großbritannien durch den Weltkrieg zu einem Juniorpartner der USA herab, der zuerst seine Handlungsfreiheit und sodann das Empire verlor. Hitlers Schlussfolgerung, dass England darum an die Seite Deutschlands treten müsse, war trotzdem falsch. Den Engländern war klar, dass jeder erneute größere Krieg sie das Empire kosten könne. Darum betrieben sie in den 30er Jahren eine europäische Friedenspolitik um fast jeden Preis. Der kritische Punkt war erreicht, als sich zeigte, dass die weitere Erhaltung des Friedens nur um den Preis Hitlers zu haben war: die Entstehung eines kontinentaleuropäischen Großreichs, auf dessen Wohlwollen Großbritannien künftig angewiesen war. Solcherart vor die Wahl gestellt zwischen dem Erhalt der Empire und dem Erhalt ihrer Unabhängigkeit, entschlossen sie sich, lieber das Empire zu riskieren und den Kampf aufzunehmen.
Die andere und letztlich tödliche Fehleinschätzung betraf die Sowjetunion. Bei einem Sieg im Osten hätte der nationalsozialistische Staat den Krieg mit den angelsächsischen Mächten auf unabsehbare Zeit weiterführen und zumindest auf ein „Patt“ hoffen können. Aber die Sowjetunion war nicht die erwartete leichte Beute. Durch die Kollektivierung und Industrialisierung seit Ausgang der 20er Jahre hatte sie die für die Führung eines modernen Kriegs unabdingbare große Industrie geschaffen. Im Unterschied zu den Westmächten nahm die sowjetische Führung Mein Kampf auch ernst. „Die These von der zu geringen und zu späten Beachtung von Hitlers Buch scheint nach allem, was wir feststellen konnten, soweit die Westmächte, einschließlich der USA, in Frage kommen, im wesentlichen zutreffend.“ Dagegen hatten Stalin und wahrscheinlich die ganze sowjetische Führung Hitlers Buch in russischer Übersetzung vollständig gelesen. [120] Seit Mitte der 30er Jahre bereitete sich der Sowjetstaat politisch und militärisch auf den herannahenden Krieg vor. Die Nazis begriffen nicht, dass die Säuberungen im Offizierskorps Ende der 30er Jahre die Rote Armee zwar vorübergehend schwächten, dauerhaft aber die Voraussetzung dafür waren, durch Einbeziehung der Millionenmassen der Kolchosbauern die bis dahin bestehende Kaderarmee in ein Massenheer umzuwandeln.
Nur einem Zweifrontenkrieg wäre die Sowjetunion möglicherweise nicht gewachsen gewesen. Es muss offen bleiben, welche Auswirkungen ein japanischer Angriff im Fernen Osten in der Kriegslage des Spätsommers 1941 gehabt hätte, als der Sowjetstaat am Rande der Niederlage stand. Es gab kein „historisches Gesetz“, das die Niederlage des Nationalsozialismus und das Überleben des Arbeiter- und Bauernstaats garantierte. Aber der „Antikomintern-Pakt“ zwischen Deutschland, Japan und Italien war das Papier kaum wert, auf dem er stand. So konnte die UdSSR nach den gewaltigen Verlusten der ersten Monate ihre Streitkräfte reorganisieren. Sie überflügelte das Reich letztlich in der Rüstung wie in der Kampfkraft der Armee und hätte auch ohne die Hilfslieferungen aus dem Westen und ohne dessen militärisches Eingreifen den Sieg errungen.
Die unerwartete Versteifung des Widerstands, der sich u. a. im Aufflammen des Partisanenkriegs zeigte, war nicht zuletzt eine Folge der deutschen Besatzungspolitik, die gezielt auf die geplante Volkskatastrophe hinarbeitete, um das Land siedlungsreif zu machen. Darum wurde auch der Aufbau einer Armee aus kriegsgefangenen Sowjetsoldaten immer wieder verzögert, bis es zu spät war, als dass die schließlich ab Oktober 1944 aufgestellte „Wlassow-Armee“ noch kriegswirksam werden konnte. Die Naziführung wollte keinerlei Bedingungen in Kauf nehmen, die eine an der Seite Deutschlands siegreiche russische Exilarmee stellen würde. Sie wollte schrankenlose Handlungsfreiheit für das Herrenvolk beim Aufbau des germanischen Ostimperiums. Die bäuerlich-rassische Antriebskraft des Siedlungskriegs verhinderte zugleich seinen Erfolg.