Neue Etappe der Hegemonialpolitik des deutschen Kapitals zur Verwandlung Europas in seine Homebase

Manfred Englisch (7./22.Juni 2022)

Es macht keinen Sinn, vor Aufrüstung und Weltkriegsgefahr zu erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange. Auch der Blick von Heiner Karuscheit1 auf die moderate Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie nach 1945 erzeugt eher Unbehagen, statt beruhigend zu wirken. Übertreibungen und emotionale Selbsthypnose sollten wir aber der olivgrünen Partei überlassen.

Mir erscheint der Untersuchungsrahmen, nur bezogen auf Militärpolitik, als verkürzend und somit irreführend, obgleich ich die nachgezeichnete Debatte alternativer Wege des deutschen Imperialismus aufschlussreich und anregend finde.

Warum verhält sich die politische Repräsentanz der BRD im friendly Fire des Ukrainekrieges so unterwürfig? Schließlich benutzen gerade die Vertreter des „neuen Europas“ in Polen und in der Ukraine, also die US-Vasallen, die Spitzen des deutschen Staates wie Fußabtreter ihrer großmäuligen Politik für „Ruhm & Ehre der Ukraine“ (Slawa Ukrajini). Aber die augenschein-liche Demut der SPD-Amtsträger im Bund sollte nicht zu falschen Schlussfolgerungen verführen. Im Wissen um die eigene ökonomische Stärke müssen deutsche Politiker nicht auf dicke Hose machen wie Halbstarke. Auch Putin sieht die deutsche Bundesregierung nur als folgsamen Untertanen der amerikanischen Supermacht und hat die eigenen Hoffnungen auf eine Achse mit der EU verworfen. Aus meiner Sicht ist Putins Russland aber auf die Provokationen von USA und UK in der Ukraine genauso reingefallen und in die aufgestellte Falle getappt wie 1979 die Sowjetunion in Afghanistan.

Von Karl Marx gibt es eine brilliante historische Untersuchung über den Aufstieg des russischen Zarismus2 – mit Lug, Trug und sklavischer Verstellung – vom tributpflichtigen Vasallen der Goldenen Horde zur Bedrohung des Westens. Lehrreich auch für unseren Kontext, nämlich herauszufinden, wie der deutsche Imperialismus als geschlagene Ex-Großmacht seinen Wiederaufstieg durchzieht. Schon Madame Merkel proklamierte in jeder Krise ihrer Regierungszeit das Versprechen, dass Deutschland stärker denn je am Ende der Krise dastünde als vorher.

Weiterführend ist zu fragen:

Ist die Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie Ausdruck einer strategischen Defensive?

Oder: Sind nicht expandierende Handelsmacht (ökonomische Strategie) und defensive Militärmacht zwei Seiten eines Bündels von Widersprüchen, deren Hauptseite „Hegemonie“ ist?

Um es vorwegzunehmen: Die deutsche Bourgeoisie hat nie den Weg des Imperialismus verlassen. Besiegt, zerteilt und gedemütigt in zwei Weltkriegen, musste sie Kreide fressen mit dem Credo: „Nie wieder …!“ und sich in diversen Bündnissen als gelittener Zahlmeister unterordnen. Geschickt hat sie zwischen den Siegermächten und ihren zerfallenden Imperien laviert, um eine enorme „Friedensdividende“ einzufahren, inklusive Vereinigung der deutschen Teilstaaten, flankiert in den letzten 30 Jahren von einem kontinuierlichen Schrumpfen der Bundeswehr als Territorialarmee, im Schatten der großen Militärmächte.

Nun spielt die Hysterie nach Beginn des russischen Angriffkrieges der konventionellen Runderneuerung der Bundeswehr in die Karten; ohne großes öffentliches Aufhebens werden die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes im Ringtausch mit moderner Waffentechnik aus deutscher Produktion versorgt, ebenso Griechenland. Rheinmetall beteiligt sich an weiteren europäischen Herstellern von Panzern und Kanonen. Die gigantische Aufrüstung könnte sogar zum New Deal gegen die Krise werden. Seit Krupps Kanonenschmiede vor dem 1. Weltkrieg wurde nicht mehr so laut nach schweren Waffen aus Deutschland geschrien.

Scholz als „Kanzler der Zeitenwende“

In Davos hat Scholz in seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsforum die strategische Neuorientierung bestimmt – Überschrift: Die Multipolare Welt ordnen – durch „neue Wege der Zusammenarbeit“ und Erfolge bilanziert, trotz Ukrainekrieg und trotz Pandemie.

https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-anlaesslich-des-jahrestreffens-des-world-economic-forum-am-26-mai-2022-in-davos-2044026

Auf Deutschland als führendes Mitglied von G7, NATO und EU sei Verlass. Die Zukunft der Ukraine, auch für Georgien und die Moldau liege in Europa ebenso wie für die Länder des westlichen Balkans. Finnland und Schweden, herzlich Willkommen in der NATO!

Anmerkung: Der Hegemon Europas hat in den Ländern des südöstlichen Europas direkt investiert und sieht seine wirtschaftliche Dominanz überall bestätigt. Das jüngste EU-Mitglied Kroatien wird 2023 den Euro als Währung einführen. Das deutsche Kapital erobert ohne Kanonendonner den Kontinent. Und es hat den Ehrgeiz, die neue Weltordnung zu gestalten via Europa als dritte Kraft neben den USA und China.

Daraus folgt seine Absage an eine bipolare Welt. De-Globalisierung oder „Decoupling“ seien Holzwege, die nicht funktionieren. Es sei auch falsch, China in der Welt zu isolieren. Deutschland bleibe als Industrieland dem Freihandel und nicht dem Protektionismus verpflichtet. Für mehr Multilateralismus und für mehr internationale Zusammenarbeit!

Zusammengefasst klingt diese Agenda weder demütig noch kleinlaut, sondern offenbart eine klare Perspektive deutscher Hegemonialpolitik in Europa mit einer eigenen Strategie für Afrika, Lateinamerika und den Indo-Pazifischen Raum, die sich nicht hinter den anglo-amerikanischen Machtkartellen versteckt. Wer bei Scholz Führung bestellt, bekommt sie. Dagegen wirkt der Oppositionssprecher Merz tatsächlich wie ein Gentleman-Eintänzer auf der Atlantiklinie von „Queen Elizabeth II“, der herausfallend aus der Zeit die Kanonenbootpolitik von Wilhelm Zwo beschwört. Die Bundesmarine bekommt aber keine Flugzeugträger wie die Royal Navy, auch wenn Scholz anders als Merkel der Kanzler mit der Euro-Bazooka ist.

Sicherheit durch Atomwaffen in Deutschland

Zum Schluss meiner kleinen Einlassung möchte ich den Blick auf die Massenbasis für die Zeitenwende richten, die sich eben gerade nicht auf eine Änderung der Militärpolitik reduzieren lässt. Deshalb gewinnt auch der Katastrophismus der neuen und alten Friedensbewegung, der den atomaren Overkill beschwört, wenig Zulauf. Zum ersten Mal erlebt sogar die Zustimmung zur Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden eine gesellschaftliche Mehrheit. Dieser Sinneswandel ist vor allem manifest bei Anhängern von Die Grünen/Bündnis 90. Eine mehrheitliche Ablehnung findet sich nur unter AfD-Anhängern.

https://www.ndr.de/der_ndr/presse/mitteilungen/Erstmals-Mehrheit-fuer-US-Atomwaffen-in-Deutschland-Panorama-Umfrage-belegt-Meinungsumschwung,pressemeldungndr23206.html

Das ist nicht nur ein Niederschlag des manipulativen Bellizismus in Politik und Medien, sondern hat auch einen rationalen Kern historischer Erfahrung.

Wozu dient eine Nuklearbewaffnung? Üblicherweise als wirksamer Abschreckungsschutz gegen Angriffe von außen. M. W. ist außer Israel noch nie ein atomar bewaffnetes Land von Nachbarstaaten bekriegt bzw. mit Distanzwaffen auf seinem Territorium beschossen worden. Zwar gab es auch militärische Scharmützel zwischen Pakistan, Indien und China (alles Atommächte). Stets kam aber nur konventionelle Militärtechnik zum Einsatz. Hinzu kommt, dass der Einsatz atomarer Waffen international geächtet ist und nach Hiroshima und Nagasaki als globales Tabu erscheint. Wenn die atomare Aufrüstung für die Demokratische Volksrepublik Korea eine Lebensversicherung gegen Angriffskriege ist, warum sollten hier nicht auch Menschen daran glauben!? Der sozialliberale Philosoph Habermas hat schon recht mit seiner Feststellung, dass noch nie eine Atommacht einen (bis zur letzten Konsequenz der nationalen Kapitulation geführten) Krieg verloren habe. Das wird nicht allein dadurch falsch, weil Großmächte mit nuklearer Bewaffnung ihre Interventionskriege in Vietnam und Afghanistan verloren haben.

Auf dieser Massenbasis wird auch die Zustimmung in Deutschland wachsen zu einer atomaren Teilhabe an der von Frankreich favorisierten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft außerhalb der NATO, die nach dem Brexit nicht mehr von den Briten blockiert werden kann. Leider werden linke Strömungen und Organisationen hier nur wenig Einfluss darauf haben. Und der Pazifismus von Pastoren sowieso nicht.

1 H. Karuscheit, Der Ukrainekrieg und die Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie, https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2346

2 Karl Marx, Enthüllungen der diplomatischen Geschichte des 18. Jahrhunderts, Suhrkamp Frankfurt a. M. 1980; Karl Marx, Die Geschichte der Geheimdiplomatie im 18. Jahrhundert, Olle & Wolter Verlag Berlin 1977, dt. Erstausgabe mit Kommentaren von D.B. Rjasanow & B. Rabehl, unterschlagen in MEGA und MEW; Auszüge im SPIEGEL 21/1977, »Der letzte Wille des Dschingis Khan« – DER SPIEGEL