Der Ukraine-Krieg und die Frage des deutschen Imperialismus

Heiner Karuscheit

In einem Beitrag über die Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie „Der Ukraine-Krieg und die Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie“ hat der Verfasser dieser Zeilen sich angesichts des kürzlich beschlossenen 100 Mrd-Aufrüstungsprogramm der Berliner Regierung dagegen ausgesprochen, daraus gleich auf die Wiederauferstehung von Militarismus, Imperialismus und Kriegsvorbereitung zu schließen (https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2346). In Reaktion darauf hat Manfred Englisch den Beitrag als „anregend“, aber gleichzeitig als „verkürzend und somit irreführend“ kritisiert und dem entgegengehalten: „Die deutsche Bourgeoisie hat nie den Weg des Imperialismus verlassen“ (die Kritik steht im Anhang zu den folgenden Zeilen).

Doch was versteht der Kritiker unter „Imperialismus“, welchen Imperialismus hat die deutsche Bourgeoisie schon immer vertreten? Dazu hat er nichts Näheres gesagt, es sei denn, er meint mit „Imperialismus“ ein von ihm nebenher erwähntes Streben nach Hegemonie. Das heißt, wir müssen das Problem des Imperialismus selber aufrollen, um die bürgerliche Politik, insbesondere die möglicherweise zu erwartende Außen- und Militärpolitik besser einschätzen zu können.

1. Imperialismus als Monopolherrschaft

Die Frage nach dem Imperialismus führt als erstes zu der 1917 veröffentlichten Schrift Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Seit Stalin den Leninismus 1924 als „Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution“ definiert hatte, gehören die darin getroffenen Aussagen mehr oder minder zum ideologisch-politischen Kernbestand der kommunistischen Bewegung.1

Für Lenin selber war der Imperialismus ein Produkt des „Monopolkapitalismus“; er schrieb, dass „der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist“.2 Nach seinem eigenen Verständnis war der Imperialismus also an eine bestimmte ökonomische Formation gekoppelt, nämlich den Monopolkapitalismus, dessen Durchsetzung er auf die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert datierte und der das „höchste Stadium des Kapitalismus“ darstellen sollte.

Dieses Stadium war Lenin zufolge dem Wesen nach gekennzeichnet durch die Aufhebung der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Warenproduktion mit der Konsequenz: „Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, dass er charakterisiert werden muss als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus.“ Somit war dieser Imperialismus zugleich „der Vorabend der sozialistischen Revolution“.

Bleibt man bei der Koppelung des Imperialismus an die Ökonomie und setzt die Behauptung eines sterbenden Kapitalismus mit der realen wirtschaftlichen Entwicklung der damaligen Zeit in Beziehung, so muss man feststellen, dass eine großmaßstäbliche Industrialisierung, die sog. Hochindustrialisierung, in Deutschland erst nach der Reichseinigung 1871 einsetzte. Zwar hatte sich das Kapitalverhältnis schon vorher in der Wirtschaft ausgebreitet, aber rein zahlenmäßig dominierten noch lange die Verhältnisse der kleinen Warenproduktion von Bauern und Handwerkern. Erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg brachte das Kapital die vorkapitalistischen Verhältnisse endgültig zur Auflösung und gliederte die Restbestände an kleinen Warenproduzenten vollständig in seinen Kreislauf ein. Erst dann hatte die bürgerliche Produktionsweise die Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen nicht nur ergriffen, sondern auch umgewälzt.

Das bedeutet, dass zum Zeitpunkt des Wechsels vom 19. auf das 20. Jahrhundert, auf den Lenin den beginnenden Sterbeprozess des Kapitalismus aufgrund der Durchsetzung des Monopols datierte, die Industrialisierung noch in vollem Gange war und das Kapital ein weites Feld zur Verfügung hatte, um allein durch Ausdehnung der Lohnarbeit die lebendige Basis der Mehrwertproduktion zu erweitern.

Hilferding und der Ursprung der Monopoltheorie

Diese Phase der industriellen Entwicklung war bestimmt von der Schwerindustrie, die aufgrund der Eigenart ihrer Produktion von Grundstoffen (Kohle und Eisen) prädestiniert ist für die Bildung von Kartellen zur Erzielung von Surplusprofiten. Daraus und aus einigen Besonderheiten der damaligen Wirtschaftsorganisation speziell in Deutschland leitete der sozialdemokratische Ökonom Rudolf Hilferding in seinem 1910 veröffentlichten Werk über „Das Finanzkapital – Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus“ die Theorie eines neuen ökonomischen Stadiums ab, in dem die Bildung von Monopolen die Triebkräfte des Kapitalismus zum Erliegen bringen und diesen an sein Ende führen würde. Etwa um die Jahrhundertwende hätte der Kapitalismus seine letzte und höchste, unmittelbar an den Sozialismus heranführende Stufe erreicht.

Die von ihm vertretene Monopoltheorie basierte auf einem grundlegenden Unverständnis der kapitalistischen Produktionsweise, in dessen Zentrum ein falscher Begriff der Konkurrenz stand. Karl Marx hatte bei der Untersuchung dieser Produktionsweise u.a. herausgearbeitet, dass deren Bewegungsgesetze durch die Konkurrenz lediglich exekutiert, aber nicht hervorgebracht werden. Die Konkurrenz, so Marx, macht die inneren Gesetze des Kapitals “zu Zwangsgesetzen dem einzelnen Kapital gegenüber, aber sie erfindet sie nicht. Sie realisiert sie. Sie daher einfach aus der Konkurrenz erklären wollen, heißt zugeben, dass man sie nicht versteht.3 Zwar kann es in einzelnen Produktionszweigen unter gegebenen Bedingungen zu vorübergehenden Einschränkungen der Konkurrenz kommen, die jedoch immer wieder aufgehoben werden, ohne die Bewegung des Kapitals grundsätzlich aufhalten zu können.

Dagegen erklärte Hilferding die Konkurrenz zur Urheberin statt Vollstreckerin der kapitalistischen Funktionsgesetze und entwarf von diesem Ausgangspunkt aus seine Monopoltheorie, indem er die damalige Kartellbildung in der Schwerindustrie zur Bildung dauerhafter Monopole in allen Bereichen der Wirtschaft verallgemeinerte. Zugleich ließ er Industrie-, Handels- und Bankkapital miteinander verschmelzen, so dass der von ihm behauptete Monopolisierungsprozess in ein einheitliches, monopolistisches „Finanzkapital“ unter Herrschaft der Banken mündete. Auf diese Weise würde mit der Aufhebung der Konkurrenz und der Zentralisierung des Monopols das Ende der kapitalistischen Produktionsweise erreicht werden: „So erlischt im Finanzkapital der besondere Charakter des Kapitals.“4

Lohnarbeit und Kapital

Marx hatte andere Vorstellungen vom „besonderen Charakter“ des Kapitals. Er gründete sein ökonomietheoretisches Werk auf der elementaren Feststellung, dass „das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit den ganzen Charakter der Produktionsweise bestimmt“. (MEW 25, S.887). Von diesem zentralen Punkt ausgehend entschlüsselte er die immanenten Gesetze der Kapitalbewegung im Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion, von der Metamorphose der verschiedenen Formen des Kapitals und ihrer Verschlingung miteinander in der Zirkulation bis hin zur Verwandlung des Profits in den Durchschnittsprofit. Aus der Keimzelle des Kapitals heraus entwickelte er so die Entfaltung der Produktionsweise, getrieben von dem Zwang zur Verwertung des Werts.5

Dagegen enthält Hilferdings Studie über ein neues Stadium des Kapitalismus nicht einen eigenen Gedanken über den Zusammenhang von Lohnarbeit und Kapital. Stattdessen machte er die Konkurrenz zur Urheberin der Kapitalbewegung und erklärte zugleich die Kartellbildung zum Ende der Konkurrenz. Auf diese Weise konnte er ohne besondere theoretische Anstrengungen das Verlöschen der Triebkräfte des Kapitalismus sowie dessen nahenden Untergang verkünden und im selben Atemzug das Marxsche Werk für überholt erklären.

Indem Marx von der Keimzelle des Kapitals ausgeht, dem Verhältnis zur Lohnarbeit, ergibt sich bereits auf abstrakter Ebene die Konsequenz, dass sich die Gesetze der Kapitalbewegung nur durch Aufhebung des Kapitalverhältnisses, d.h. durch eine soziale Revolution, aufheben lassen. Dagegen erfolgt die Aufhebung der Lohnarbeit in Hilferdings Theorie viel einfacher, nämlich durch die ökonomische Entwicklung als solche: „So erlischt im Finanzkapital der besondere Charakter des Kapitals.“

Zwar schrieb er in seinem Buch, dass die Diktatur der Finanzmagnaten durch den Zusammenprall der Klassen beendet werden müsste. Aber diese Feststellung war eine äußerliche Hinzufügung und ergab sich nicht aus der Logik seines Werks, das vielmehr ein friedliches Hinüberwachsen in den Sozialismus nahelegte; das entsprach auch der Position des Kautskyschen „Zentrums“, dem Hilferding nahestand. Außerdem erübrigte sich der Hinweis auf den Klassenkampf bald, denn die Errichtung der Weimarer Demokratie unter sozialdemokratischer Führung interpretierte Hilferding als Sieg der Politik über die Ökonomie, und damit war für ihn der Weg zum Sozialismus frei; er selber wurde unter der SPD-Regierung Reichsfinanzminister.

Mit seinem Werk erwarb er sich in der Vorkriegszeit den Ruf, führender Wirtschaftswissenschafter der II. Internationale zu sein. Karl Kautsky, der anerkannte theoretische Kopf der Sozialdemokratie, bezeichnete Das Finanzkapital als Fortsetzung des Marxschen Werks; der Autor hätte darin den theoretischen Reichtum des zweiten und dritten Bands des Kapitals gehoben und gleichzeitig die marxistische Ökonomie des 20. Jahrhunderts begründet.6

Lenins Weg zur Monopoltheorie

An der Spitze der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei gehörte Lenin im Ersten Weltkrieg zu den wenigen Vertretern der Arbeiterbewegung, die den Krieg von Anfang an für allseitig reaktionär hielten, die Politik der Vaterlandsverteidigung verurteilten und für die Niederlage der Bourgeoisie in jedem Land eintraten.

Um das Zustandekommen des Kriegs sowie den Übergang der sozialdemokratischen Parteien auf die Seite der Bourgeoisie ökonomisch zu erklären, griff er zurück auf das Werk Hilferdings, der im Weltkrieg zu den Kritikern der Vaterlandsverteidigung gehörte und 1917 Mitglied der linken USPD wurde, bevor er bald darauf wieder zur SPD zurückkehrte.

Er lobte Hilferdings Werk mit nur wenigen Abstrichen als „höchst wertvolle theoretische Studie“ und legte dessen Monopoltheorie seiner eigenen Schrift über den Imperialismus zugrunde. Die Behauptung einer ungebrochenen Monopolisierung relativierte er an anderer Stelle verschiedentlich, aber in allen wesentlichen Aussagen wiederholte er die von Hilferding vorgegebenen Einschätzungen, angefangen von einem Ende der Konkurrenz über die Ersetzung des Wertgesetzes durch ein Herrschaftsverhältnis bis hin zum Begriff des „Finanzkapitals“ als monopolistischer Verschmelzung von Bank- und Industriekapital. Politökonomisch lässt sich kein ernstlicher Unterschied zwischen Hilferding und Lenin feststellen.7

Das Ökonomieverständnis der II. Internationale

Neben der Berufung auf Hilferding zur ökonomischen Legitimierung seiner eigenen Imperialismusschrift bezog sich Lenin auf den liberalen britischen Imperialismuskritiker John Hobson, um eine Reihe politischer Schlussfolgerungen aus den ökonomischen Darlegungen zu ziehen. Die maßgeblichen Auswirkungen des kapitalistischen Monopols sah er im „Parasitismus“ sowie der Tendenz zu „Stagnation und Fäulnis“ und zur „Reaktion auf der ganzen Linie“, woraus er das Herannahen der sozialistischen Revolution folgerte.

Die Ursache des jetzigen Kriegs führte die Imperialismusschrift auf die Aufteilung der Welt unter Kapitalistenverbände und internationale Kartelle zurück, weshalb der Krieg als imperialistischer Krieg um eine Neuaufteilung der Welt geführt würde. In dem Zusammenhang betrachtete Lenin hohe Monopolprofite als Mittel, um Teile der Arbeiter zu bestechen und sie auf die Seite der eigenen Bourgeoisie gegen alle übrigen hinüberzuziehen.

Lenins Forderung, den imperialistischen Krieg in jedem Land in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, war wegweisend, um der Arbeiterbewegung eine neue Perspektive zu geben. Doch der Versuch, das Zustandekommen des Weltkriegs ökonomisch zu erklären, ging in die Irre. In dieser Frage blieb er dem Ökonomieverständnis der II. Internationale verhaftet. Die von Hilferding aufgestellte und von ihm übernommene Monopoltheorie widerspricht elementaren Erkenntnissen der Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte der Kapitalbewegung.

Ist die Monopoltheorie jedoch vom Boden der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie aus nicht zu begründen, hat dies unvermeidbar Konsequenzen für die Imperialismustheorie. Lenin selber hat darauf bestanden, dass „der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist“, und hat seine Imperialismustheorie auf dieser Basis entwickelt. Das heißt, dass zusammen mit der Monopoltheorie auch die darauf gestützte Imperialismustheorie nicht zu halten ist.

2. Der historische deutsche Imperialismus

Wenn aber die monopolistische, ökonomisch-prinzipielle Begründung des Imperialismus fehlerhaft ist – wie lässt sich dann die Aussage des Kritikers verstehen: Die deutsche Bourgeoisie hat nie den Weg des Imperialismus verlassen“?

Historisch begegnet uns der deutsche Imperialismus zunächst in der Weltpolitik, zu der Deutschland im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts überging. Nachdem Bismarck abgedankt hatte und die Außenpolitik des Reichs von bürgerlichen Kräften aus dem Umfeld der Nationalliberalen gestaltet werden konnte, meldete Deutschland den Anspruch auf ein großes Kolonialreich an, einen „Platz an der Sonne“, und ging an den Bau einer gewaltigen Schlachtflotte, um der führenden Seemacht Großbritannien die Zustimmung zu einer gleichberechtigten Weltmachtstellung abzutrotzen. Nach innen diente der Imperialismus dazu, das städtische Kleinbürgertum und möglichst Teile der Arbeiterschaft als Massenbasis für die Bourgeoisie zu gewinnen; der Deutsche Flottenverein mit Vertretungen in jeder größeren und kleineren Stadt organisierte als größte Massenorganisation im Kaiserreich die allgemeine Flottenbegeisterung.

Der ostelbische Militäradel hatte als agrarische Klasse kein Interesse an der Weltpolitik, trug sie jedoch im Rahmen des junkerlich-bürgerlichen Reichsgründungskompromisses mit, auf dem das Kaiserreich ruhte. Für ihn war entscheidend, dass seine innenpolitische und militärische Vorherrschaft nicht gefährdet wurde, ansonsten würde er sie mit allen Mitteln verteidigen. Das war 1914 der Fall, nachdem das Regierungsbündnis von Konservativen und Nationalliberalen 1909 in einem Steuerstreit über die Finanzierung der Schlachtflotte zerbrochen war und die junkerliche Machtstellung anschließend von allen Seiten angegriffen wurde, weshalb die Gutsbesitzer die Regierung in einen Krieg trieben, um ihre Vormacht durch einen großen militärischen Sieg zu sichern.8

Das Junkertum als Herr des Weltkriegs

Von Seiten der Bourgeoisie war dieser Krieg ein imperialistischer Krieg, an dem sie sich in Fortsetzung der Weltpolitik beteiligte, um die angestrebte Weltmachtstellung zu erreichen. Ihr vorrangiges Kriegsziel war dabei die Gewinnung der französischen und belgischen Atlantikhäfen, um den Ausgang in den Atlantik für den Seekrieg gegen Großbritannien zu öffnen; Gustav Stresemann, der führende Kopf der Bourgeoisie, erklärte noch wenige Wochen vor Kriegsende, dass der Krieg verloren sei, wenn nicht wenigstens die belgischen Nordseehäfen in deutscher Hand blieben.

Allerdings drückte nicht die Bourgeoisie dem Krieg ihren Stempel auf, sondern tat dies sowohl militärisch als auch politisch der Militäradel mit dem von ihm kommandierten Landheer. Während in Großbritannien und Frankreich das Parlament auch im Krieg das Machtzentrum blieb, schob die Oberste Heeresleitung den ohnehin zahnlosen Reichstag gänzlich beiseite und errichtete spätestens mit dem Sturz Bethmann-Hollwegs eine Militärdiktatur. Die OHL diktierte auch den Frieden von Brest-Litowsk gemäß den Partikularinteressen des Königreichs Preußens, um dessen Vormachtstellung im Reich auszubauen.

Auf dem Boden der Leninschen Imperialismusschrift lässt sich der Charakter des Weltkriegs nicht entschlüsseln, obwohl Lenin sich darin weitaus mehr mit Deutschland als mit anderen Ländern befasste.9 Die grundlegende Schwäche des gewählten Erklärungsansatzes besteht darin, eine ökonomische Ursache für den Krieg zu suchen. Jedoch hatte der Weltkrieg seinen Ursprung nicht in der Ökonomie, sprich im Monopolkapitalismus, sondern in der Klassenkonstellation des Kaiserreichs, die das untergehende Junkertum die Flucht in den Krieg antreten ließ.

3. Der Siedlungsimperialismus des Dritten Reichs

Nachdem die Kriegsniederlage 1918 dem bürgerlichen Imperialismus durch den Verlust der Kolonien und die Zerstörung der Schlachtflotte ein Ende gesetzt hatte, unternahm die Bourgeoisie 1928 mit dem Bau von Panzerkreuzern den Anlauf zu einer neuerlichen Weltpolitik, die jedoch keine Zukunft hatte, weil der 1933 an die Macht gelangte Nationalsozialismus die Kolonialpolitik der Vorkriegszeit ablehnte. Sein rassisch fundiertes außenpolitisches Leitziel war die Gewinnung von Siedlungsland im Osten für das deutsche „Volk ohne Raum“.

Nach der begonnenen Umwandlung Deutschlands in einen Rassenstaat ging die NS-Führung nach Vorkriegen gegen Polen und Frankreich daran, dieses Ziel durch einen Siedlungs- und Vernichtungskrieg gegen Russland umzusetzen. Mit der millionenfachen Tötung sog. slawischer „Untermenschen“, um die Ostgebiete für die Besiedelung durch germanische Bauern frei zu machen, trug dieser Siedlungsimperialismus einen vollständig anderen Charakter als der bürgerliche Kolonialimperialismus des Kaiserreichs. Dazu kam die ebenfalls millionenfache Vernichtung des europäischen Judentums.

Eine untaugliche Faschismusdefinition

Diese Politik stellte in mehrfacher Hinsicht eine theoretische Herausforderung dar. Wie war die Rassenpolitik des Nationalsozialismus zu erklären? Wie vertrug sich ein Siedlungskrieg im 20. Jahrhundert mit der Moderne des industriellen Kapitalismus? Wie ließ sich die gezielte Tötung von Millionen von Arbeitskräften mit dem Begriff des Kapitals vereinbaren, dessen Existenz auf der Vernutzung menschlicher Arbeitskraft gründet?

Festgelegt auf die Imperialismustheorie, hatte der VII. Weltkongress der Komintern den Faschismus 1935 als Herrschaft der am meisten reaktionären Elemente des Finanzkapitals, d.h. als eine Variante der monopolkapitalistischen Herrschaft definiert. Die Kriegs- und Vernichtungspolitik des NS-Staats lag zu diesem Zeitpunkt noch in der Zukunft, doch die Faschismusdefinition wurde nach 1945 nicht mehr diskutiert, sondern vielmehr wie die Imperialismustheorie für allgemeingültig erklärt, so dass auch die staatlich organisierten Massentötungen und die Siedlungspolitik aus dem Finanz- bzw. Monopolkapital hergeleitet werden mussten. Soweit überhaupt thematisiert, entledigte man sich dieser Herausforderung durch den Verweis auf den Halbsatz in der Imperialismusschrift, dass das Monopol „Reaktion auf der ganzen Linie“ bedeutet.

Bürgerliche Historiker befassten sich in der Nachkriegszeit intensiv mit der NS-Herrschaft, um die Rassenpolitik, das Siedlungsprogramm sowie die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Krieg zu erforschen. Währenddessen konzentrierten sich die Historiker von SED und DKP auf die Untersuchung der Verbindungen von Banken und Industrie mit dem 3. Reich. Hier fanden sie ein weites Feld vor, da das Kapital die Eigenschaft hat, sich mit jeder politischen Herrschaft zu arrangieren, um die Produktion von Profit zu betreiben. Deshalb gab es naturgemäß mehr als genug Beziehungen zur nationalsozialistischen Staatsmacht und konnte der Monopolkapitalismus umfassend entlarvt werden, ohne dass man dem spezifischen Charakter des Nationalsozialismus um ein Jota näher kam.10

4. BRD-Imperialismus und Monopolkapital

Damit sind wir bei der Frage angelangt, welchen „Weg des Imperialismus“ die deutsche Bourgeoisie nach dem Untergang des 3. Reichs fortgesetzt haben soll.

Als tonangebende westliche Besatzungsmacht brachten die USA in Westdeutschland mit Adenauer und der CDU eine Gruppierung der Bourgeoisie an die Macht, die sich sowohl politisch als auch ökonomisch von dem zuvor dominierenden Flügel unterschied. Bis dahin hatten die Nationalliberalen, die für das antidemokratische Bündnis mit dem Junkertum standen, die Führung des bürgerlichen Lagers innegehabt. Jetzt übernahm mit der CDU die Nachfolgepartei des katholischen Zentrums die Führungsrolle, während die Reste der Nationalliberalen in der FDP aufgingen. Außerdem wurde die Schwerindustrie als bisherige ökonomische Hauptstütze des rechten Flügels der Bourgeoisie durch die europäische Montanunion sowie die Kartellgesetzgebung entmachtet; an ihre Stelle als wirtschaftlicher Leitsektor trat die Automobilindustrie. Gleichzeitig etablierte die unter Aufsicht der westlichen Alliierten als parlamentarische Demokratie neu gegründete Bonner Republik eine bürgerliche Ordnung, die sich vom Staatsaufbau über das wiederaufgebaute Militär bis zur Außenpolitik nicht nur graduell von ihren Vorgängerstaaten unterschied.

Für die Vertreter der Imperialismustheorie gab es keine besonderen Unterschiede. Von der SED in Auftrag gegebene Werke wie „Imperialismus heute“ (1965) oder „Der Imperialismus der BRD“ (1971) propagierten auf vielen hundert Seiten, dass in der Bonner Republik derselbe Monopolkapitalismus-Imperialismus wie seit der Jahrhundertwende herrschte. Indem die Autoren aus dem gesellschaftlichen Gesamtgeschehen einzelne Momente wie die Wiederbewaffnung, die Forderungen der Vertriebenenverbände nach Wiedergewinnung der Ostgebiete oder die Weiterbeschäftigung von Nationalsozialisten im öffentlichen Dienst herausgriffen, konnten sie die Rückkehr von Militarismus und Revanchismus bis hin zur Faschisierung begründen.

Jenseits der Imperialismustheorie

Doch so richtig die Kritik im Einzelfall sein mochte, so verquer war das daraus konstruierte Propagandabild eines ewigen, alle Zeitläufte überstehenden deutschen Imperialismus. Gefangen in den Fesseln einer für unverrückbar erklärten Imperialismustheorie, negierte man nicht nur, dass die Bundesrepublik einen anderen Charakter trug als ihre Vorgängerstaaten; vor allem negierte man, welche weitergehenden Fragen zum Verhältnis von Ökonomie, Gesellschaft und Politik die wechselnden deutschen Staatsordnungen aufwarfen.

Während der Kapitalismus die Produktionsverhältnisse in Deutschland schon seit langem beherrschte, hatte es auf dieser gleichbleibenden ökonomischen Basis ganz unterschiedliche staatliche Überbauten gegeben: anfangs eine halbabsolutistische Militärmonarchie, dann die totgeborene Demokratie von Weimar, anschließend der nationalsozialistische Rassenstaat und schließlich die bürgerliche Bonner Republik. Kein vergleichbares Land in Europa hatte im Zeitraum weniger Jahrzehnte einen solchen Wandel der Staatsformen erlebt wie Deutschland.

Die Staatswechsel waren regelmäßig verbunden mit weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, wobei, um es noch einmal zu betonen, das Kapitalverhältnis über alle Veränderungen hinweg die wirtschaftliche Reproduktion der Gesellschaft bestimmte. Es gab und gibt für den Marxismus also genügend Grund, sich mit dem Zusammenhang und Widerspruch von ökonomischer Basis und politischem Überbau auseinander zu setzen. Doch eine solche Aufgabe stellt sich auf dem Boden der Imperialismustheorie nicht. In der II. Internationale von dem führenden sozialdemokratischen Ökonomen Hilferding als Monopoltheorie entwickelt und im Weltkrieg von Lenin durch den Begriff des Imperialismus erweitert, um die von ihm vertretene Revolutionspolitik ökonomisch zu fundieren, ist die Monopol- und Imperialismustheorie ungeeignet, um die gesellschaftliche Entwicklung zu begreifen.

Als Monopoltheorie widerspricht sie ökonomisch den von Hilferding nicht verstandenen Bewegungsgesetzen des Kapitals, und klassenpolitisch führt der Ansatz des Imperialismusbegriffs, das politische Geschehen direkt aus der Ökonomie, sprich dem Monopol abzuleiten, in die Irre. Es ist deshalb an der Zeit, dass wir uns verabschieden – nicht von Lenin, der an der Seite des revolutionären Proletariats den Kampf gegen den Opportunismus und Nationalismus der Parteien der II. Internationale aufnahm, sondern von der Imperialismustheorie.

Schlussbemerkung: Weltmachtambitionen und die nukleare Realität

Außen- und militärpolitisch hat die Bourgeoisie nach der erneuten Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg einen neuen Weg eingeschlagen, den sie auch nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit fortgesetzt hat, um ihren Wiederaufstieg zu bewerkstelligen. Wie in dem eingangs erwähnten Artikel beschrieben, beruhte die gewählte Strategie auf zwei Pfeilern: zum einen einer breit gefächerten Bündnispolitik, zu der nach Auflösung der Sowjetunion neben der Mitgliedschaft in Nato und EU auch die Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland gehörte. Zum zweiten gehörte dazu eine Politik der militärischen Zurückhaltung, um die Vertrauensbasis bei den Bündnispartnern zu erhalten.

Der Ukraine-Krieg hat die Politik der militärischen Selbstbeschränkung abrupt beendet und den Beschluss zu einer umfangreichen Aufrüstung herbeigeführt. Aber Waffen ersetzen keine Politik. Zusammen mit dem Rüstungsbeschluss hat daher in der politischen Klasse eine Diskussion eingesetzt, wie eine künftige Sicherheitsstrategie aussehen soll, die Außen- und Militärpolitik in einer neuen Konzeption miteinander verbindet.

In ersten Reaktionen forderten einige Diskussionsteilnehmer, militärisch unabhängig von den USA zu werden und die EU unter deutsch-französischer Führung als vierte Weltmacht neben den USA, China und Russland zu etablieren. Allerdings waren das bislang nur Einzelmeinungen und ist fraglich, ob sie sich durchsetzen werden. Diese Bourgeoisie ist nach 1945 nicht aus eigener Kraft an die Macht gekommen, sondern wurde von Washington dorthin gesetzt; der bis heute gezahlte Preis dafür ist die zur „Staatsräson“ erhobene Mitgliedschaft in der Nato.

Ob die bürgerliche Führung die Entschlossenheit aufbringt, sich von den USA zu lösen, hängt wesentlich von der Nuklearfrage ab, denn als Folge der letzten Kriegsniederlage verfügt Deutschland über keine Atomwaffen und wird wohl auch in Zukunft keine besitzen. Ohne eigene Nuklearwaffen ist eine Weltmachtrolle jedoch undenkbar, weshalb die einzig realistische Perspektive darin besteht, dass die Atommacht Frankreich ihrem deutschen Bündnispartner (in welcher Form auch immer) eine Mitsprache an der „force de frappe“ einräumt bzw. anstelle der USA eine atomare Sicherheitsgarantie für Deutschland ausspricht. Ob die französische Bourgeoisie jedoch zu einem solchen Schritt bereit ist, steht in den Sternen. Und wenn überhaupt, wird erst dann eine Mehrheit in der deutschen Bourgeoisie bereit sein, Washington den Rücken zu kehren.

Noch hat die Debatte über die künftige Außen- und Sicherheitspolitik gerade erst begonnen, und welchen Ausgang sie nehmen wird, wissen wir nicht. Was wir allerdings wissen, ist, dass die Propagandaformel vom immerwährenden deutschen Imperialismus ungeeignet ist, sie zu verstehen.

 

1 Michael Vogt: Über den Begriff des Marxismus-Leninismus; in: AzD 47/1989

2 Alle Zitate Lenins ohne weitere Nachweise aus der Imperialismusschrift (Broschüre) bzw. LW 22, S. 189-309.

3 Grundrisse, S. 638; Hervorhebung von mir; HK. Ebenso die klare Aussage Marx‘ in Kapital Band 1: die Konkurrenz „herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf“. (MEW 23, S.618) ###

4 Hierzu die ausführliche Auseinandersetzung mit Hilferding in den Aufsätzen zur Diskussion Nr. 39/1987: „Kapital und Monopol – Zur Kritik der Monopoltheorie bei Hilferding und Lenin“; dort auch die Zitatnachweise

5 In dem kürzlich erschienenen Buch „Eine zufällige Begegnung in Venedig“ über die „Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem“ (Dietz Verlag Berlin) beschreibt der griechische Ökonom Jannis Milios, wie neben England auch im venezianischen Handelsstaat des Mittelalters freie Lohnarbeiter auf die Bühne der Geschichte getreten sind und mit ihnen das Kapitalverhältnis entstehen konnte. Die Studie ist ein hervorragendes Beispiel „marxistischer Erneuerung“.

6 1947 ließ die SED eine Neuauflage von Hilferdings Werk drucken, zu der das Politbüromitglied Fred Oelßner ein Vorwort von 30 Seiten beisteuerte, worin er das Werk wie Kautsky als „bedeutsame Weiterentwicklung der marxistischen ökonomischen Theorie“ empfahl.

7 Zur Kritik an Lenins Monopoltheorie Klaus Winter: „Monopolkapitalismus und Finanzkapital – Zur Problematik beider Begriffe in Lenins Imperialismusschrift“; in: AzD 39/1987; im Internet unter: https://www.kommunistische-debatte.de/?page_id=363

8 H.Karuscheit: Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg; VSA, Hamburg 2013

9 H.Karuscheit: Der Erste Weltkrieg und die Fehler der Leninschen Imperialismustheorie; in: Aufsätze zur Diskussion Nr. 70 (2001) = https://kommunistische-debatte.de/?page_id=1432

10 Der Autor ist dabei, in Fortsetzung seiner bisherigen Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg und zur Republik von Weimar eine Studie zur Frage nach dem besonderen Charakter des Nationalsozialismus zu erarbeiten.